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Liebe

In Genf beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Tolstoi trifft hier die Gräfin Alexandra Andrejewna Tolstoi, eine Base seines Vaters, Hofdame der Großfürstin Maria Nikolojewna. Tolstoi war neunundzwanzig, Gräfin »Alexandrine« vierzig Jahre alt; in Anbetracht des verhältnismäßig geringen Altersunterschiedes widerstrebte es Tolstoi, sie als Tante anzuerkennen; er nennt sie scherzhaft »Großmutter«. Zwischen den beiden entspringt eine schwärmerische Freundschaft, die bis zum Tode der Gräfin im Jahre 1904 währt.

Tolstoi verfällt dem Zauber der großzügigen, reichbedachten und einheitlichen Natur dieser Frau, so daß er ausruft, er würde sich in sie verlieben, wenn der Altersunterschied nicht wäre. Wie er im Kaukasus nicht erwartet hatte, daß er sich in Marianna, ein einfaches Kosakenmädchen, verlieben könnte, so glaubt er hier nicht daran, daß sein Gefühl zu der Gräfin Alexandra Andrejewna mehr als Freundschaft sei. Wäre ihm der Gedanke gekommen, daß es Liebe sein könnte, so hätte er sofort wieder angefangen, dieses Gefühl zu analysieren, was wieder zu seiner Ablehnung geführt hätte, da die Wirklichkeit ja nie seinem Ideal zu entsprechen vermochte. Letzteres in diesem Falle auch darum nicht, weil Alexandra Andrejewna zum Hof, zu jener Aristokratie gehörte, der Tolstoi Haß und Verachtung entgegenbrachte.

Die schwärmerische Freundschaft zwischen Tante und Neffen beruhte auf Gegenseitigkeit.

Tolstoi vermerkt in seinem Tagebuch: »Alexandrine ist ein prächtiges Geschöpf«, »Alexandrine hat ein wunderbares Lächeln«.

Die Gräfin ihrerseits berichtet in ihren sehr ansprechenden Tolstoi-Erinnerungen:

»Unser Zusammensein (in Genf) verlief aufs schönste; wir sahen uns täglich, machten Ausflüge in die Berge und genossen das Leben durchaus.

Mit welcher Naivität glaubten wir damals beide an die Möglichkeit, mit einem Schlage ein anderer Mensch werden, sich gänzlich wandeln zu können, vom Kopf bis zu den Füßen, auf den bloßen Wunsch hin. Obwohl das unseren, ja nicht mehr ganz jugendlichen Jahren keineswegs entsprach, gaben wir uns ganz unbefangen der Selbsttäuschung hin, da wir seelisch viel jünger waren, als man es gewöhnlich in unserem Alter ist.

Wir waren fürchterliche Enthusiasten und Analytiker, liebten das Gute ehrlich, verstanden aber nicht, es richtig anzufassen. Leo war schon damals voller Ablehnung, aber es war mehr Verstandes- als Herzenssache. Seine Seele war ebensowohl zum Glauben als zur Liebe geboren, was immer wieder zum Ausdruck kam, ohne daß er selbst sich dessen bewußt wurde.

Unsere Gespräche neigten sich meist religiösen Themen zu, wir verstanden einander aber wohl kaum. Wie hätte ich damals auch die ganze Mannigfaltigkeit seiner außerordentlichen Natur erfassen können! Geradezu lächerlich die Erinnerung, wie ich mich bemühte, ihn auf meine Weise umzumodeln, und er meine idealen Theorien fast mit Bekreuzigungen abwehrte, und wie sich daraus außer endlosen Debatten nichts ergab, was aber unserer weiteren Annäherung keinerlei Abbruch tat.«

Obwohl die Gräfin Alexandra Andrejewna zu der ihm verhaßten vornehmen Gesellschaft gehört, hindert ihn das nicht daran, ihren inneren Wert anzuerkennen, während er Valeria allein wegen ihrer Schwärmerei für die große Welt verurteilte, trotzdem sie bereit war, dieser Welt um des Geliebten willen zu entsagen. Alexandra Andrejewna liebt er, weil er weiß, daß sie in Anbetracht des Altersunterschiedes nicht seine Frau werden kann; hätte seine Liebe Forderungen an sie gestellt, so wären sofort innere Hemmungen entstanden, er hätte seine Ablehnung der Gesellschaft auch auf den Gegenstand seiner Liebe übertragen, Schmerz und Erbitterung über die Enttäuschung an der Hofdame ausgelassen und sich ebenso von ihr abgekehrt wie von Valeria. Hier berührten ihn diese Dinge aber nicht tiefer, da sein Gefühl zu der Gräfin für sein Bewußtsein im Rahmen der Freundschaft verblieb, und so werden die beiden trotz des elfjährigen Altersunterschiedes, der Verschiedenheit ihrer Ansichten und Gewohnheiten in wenigen Tagen enthusiastische Freunde. Ganz unbefangen nähert er sich ihr und ergeht sich im Tagebuch in verzückten Ausführungen über sie.

Jene Tagebucheintragung über »Alexandrine«, die »ein prächtiges Geschöpf sei« und »ein wunderbares Lächeln habe« wurde am 11. Mai vorgenommen; am nächsten Tage vermerkt er: »Liebe würgt mich, sinnliche und ideale Liebe«, und so darf man wohl mit Sicherheit annehmen, daß sich auch diese Eintragung, in der sich die Natur seines Gefühls rückhaltlos verrät, auf die Gräfin Alexandrine bezieht. Im Laufe von sechs Wochen sahen sie sich fast täglich.

»Nach dem Osterfest wollte er nach Vevey fahren, wo wir viele gemeinsame Bekannte hatten«, berichtet die Gräfin. »Auf meine Bitte beurlaubte die Großfürstin mich. Welch ein Ausflug und aufs neue welch eine Reihe entzückender freudiger Tage!«

Als der Urlaub der Gräfin abgelaufen war, besuchte Tolstoi sie »ständig« in Genf, oft in Begleitung zweier Freunde, »und ihre Streiche wollten kein Ende nehmen«. Von einem dieser Streiche während eines Aufenthalts der Gräfin mit den Kindern der Großfürstin in Vevey berichtet uns »Alexandrine«:

»Wir hatten uns gerade zu Tisch gesetzt, als ein Kellner mir mit geheimnisvoller Stimme zuflüsterte, daß jemand mich unten erwarte. Ich erriet, um was es sich handelte, und stieg schnell in die Halle hinab, in deren Mitte ›sie‹ wieder standen (Tolstoi und seine beiden Freunde), in lange Mäntel gehüllt, mit federgeschmückten, phantastischen Hüten. Noten lagen, in Nachahmung fahrender Musikanten, auf dem Fußboden, als Instrumente dienten Stöcke. Bei meinem Erscheinen setzte eine unsagbare Kakophonie ein, eine richtige Katzenmusik. Stimmen und Stöcke überboten sich. Ich kam fast um vor Lachen, und die Kinder der Großfürstin waren untröstlich, daß sie der Vorstellung nicht beigewohnt hatten.«

Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie unbefangen sich Tolstoi zu geben vermochte, wenn die Unmittelbarkeit seines Erlebens nicht durch Grübeleien gehemmt wurde. Solche Jungenstreiche hinderten ihn nicht daran, Tolstoi zu bleiben, sie zeugen nur von dem Reichtum seiner Natur, von überschäumendem Temperament. Bei der Leidenschaftlichkeit seines Liebesverlangens merkt er nicht, daß sein Gefühl für Alexandra Andrejewna mehr als Freundschaft ist. In ihrer Gegenwart berauscht er sich an der Natur, wie einst in der Jugend, als »sie« ihm erschien. Nach einem Ausflug mit der Gräfin am 13. Mai, also am Tage nach jenem Bekenntnis, daß Liebe ihn »würge«, vermerkt er im Tagebuch:

»Die Natur vor allem spendet uns diesen höchsten Lebensgenuß: Vergessen des eigenen, unerträglichen Ich. Man spürt nicht mehr, wie man lebt, es gibt weder Vergangenheit, noch Zukunft; allein die Gegenwart wickelt sich reibungslos ab, wie ein Knäuel, und entschwindet.«

Über die Verschmelzung von Liebe und Naturempfinden sagt er in seinen »Reisebetrachtungen«:

»In meiner Jugend suchte und wählte ich zwischen zwei Gegensätzen; jetzt begnüge ich mich mit einem harmonischen Schwanken. Das ist das einzige gerechte Lebensgefühl. Naturschönheit weckt in mir immer dieses Gefühl, das zwischen Freude und Demut, Hoffnung und Verzweiflung, Schmerz und Genuß liegt. Und wenn ich an dieses Gefühl komme, mache ich halt. Ich kenne es schon, suche den Knoten nicht zu lösen, sondern begnüge mich mit diesem Schwanken.«

In Luzern bringt ihn die Herzensträgheit der Menschen wieder gegen die europäische Kultur auf. Anlaß ist der in der bekannten Novelle »Luzern« geschilderte Vorfall, wie die satten Hotelgäste einem fahrenden Musiker lauschen, es aber unterlassen, ihm eine Gabe zu reichen. Tolstoi reist nach Deutschland, das ihm mehr zusagt, und kommt in Frankfurt am Main wieder mit der Gräfin Alexandra Andrejewna zusammen. Das Wiedersehen bringt ihm aufs neue Freude und Beruhigung; er vermerkt im Tagebuch:

»Die teure Sascha! Sie ist wunderbar, reizend. Ich kenne keine bessere Frau.«

Die Koseform »Sascha«, die im Russischen besonders intim und innig klingt, bestätigt noch einmal, daß ihn mit der Gräfin nicht nur Freundschaft, sondern auch beglückende Liebe verband, die er nach seinem schmerzlichen Roman mit Valeria als besonders wohltuend empfand.

Von seiner Liebe zu Valeria durch dieses neue Gefühl geheilt, kehrt Tolstoi voll froher Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft nach Rußland zurück. Gleich nach seiner Ankunft in Moskau schreibt er der Gräfin:

»Ewige Unruhe, Arbeit, Kampf, Entbehrungen, das sind notwendige Bedingungen, denen kein Mensch auch nur auf einen Augenblick zu entrinnen hoffen darf. Nur ehrliche Unruhe, Kampf und Arbeit, auf Liebe beruhend, ist das, was man Glück nennt. Ach was, Glück ist ein törichtes Wort; nicht Glück, sondern – einem ist wohl; unehrliche Unruhe aber, auf Eigenliebe beruhend, das ist Unglück. Da haben Sie in gedrängtester Form die Veränderung meiner Lebensanschauung, die in letzter Zeit in mir vorgegangen ist. Um rechtschaffen zu leben, muß man streben, irren, kämpfen, fehlgehen, beginnen und verwerfen, ewig ringen und verlieren. Ruhe aber ist seelische Niedertracht.«

Jetzt hat Tolstoi jemand, dem er von seinem Sehnen und Sinnen, Streben und Erleben schreiben kann. Er darf sich ungehemmt aussprechen in dem sicheren Gefühl, daß jedes seiner Worte auf liebevolles Eingehen und Verständnis stoßen wird.

Wie teuer auch der Gräfin Tolstois Briefe waren, wie sehr auch ihrerseits diese Freundschaft Liebe war, ersehen wir aus diesen Zeilen ihres Schreibens vom 30. März 1858:

»Den ganzen Tag habe ich mich gefreut und gelächelt, wenn ich ihn (Tolstois Brief) in meiner Tasche knistern spürte, – mich darüber gefreut, daß Sie mich lieben, und besonders darüber, daß Sie meiner in lichten und guten Augenblicken Ihres Lebens gedenken.«

Immer, wenn er mit der Gräfin zusammenkommt, ist er ruhig und glücklich. Der Wunsch, zu heiraten, ist zwar nicht erloschen, er sieht sich gelegentlich unter den jungen Mädchen seines Bekanntenkreises um, aber es kommt zu keiner ernsteren Annäherung. Er macht der Prinzessin P. S. Stscherbatowa den Hof, auch Katharina Tjutschewa, der Tochter des bedeutenden Lyrikers, ist ein bißchen in die Fürstin A. A. Obolenskaja verliebt. Seine Ansicht über Katharina Tjutschewa erinnert an die über Valeria. »Die Tjutschewa wäre gut, wenn schlimme Eitelkeit und etwas Trockenes und Unappetitliches ihr nicht in Herz und Sinn steckte, was sie wohl von ihren alten Weiblein übernommen hat«, schreibt er, unter Anspielung auf den Hof, ironisch an Alexandra Andrejewna.

Tolstoi lebt in diesen Jahren bald in Moskau, bald in Petersburg, verkehrt in literarischen Kreisen, schließt neue Bekanntschaften mit Schriftstellern, besucht den aristokratischen Englischen Klub, hört viel Musik und ist seelisch ruhig, was auf seine Beziehungen zu der Gräfin Alexandra Andrejewna zurückzuführen sein dürfte. Er vermerkt im Tagebuch:

»Alexandrine ist Anmut, Freude, Trost. Ich habe noch keine Frau getroffen, die ihr auch nur bis ans Knie reichte.«


Als er aber im Frühjahr 1858 wieder ganz aufs Land zieht, wird ihm der unbefriedigte Geschlechtstrieb zur Qual. In seinem Tagebuch stoßen wir auf Eintragungen dieser Art:

»Ungeheure geschlechtliche Begierde, die sich bis zu körperlicher Erkrankung steigert. Nichts hindert mich so am Arbeiten« ,… »Begierde quält mich, Faulheit, Wehmut und Niedergeschlagenheit. Alles scheint sinnlos. Das Ideale ist unerreichbar. Ich habe mich bereits zugrunde gerichtet. Arbeit, ein bißchen Ansehen, Geld – wozu das alles? Materieller Genuß – auch das wozu? Bald kommt ewige Nacht. Mir scheint immer, daß ich bald sterben werde.«

So gedrückt ist Tolstois Stimmung in der ländlichen Einsamkeit. Nichts freut ihn mehr, er kann nicht mehr recht arbeiten, das ungestillte Verlangen nach dem Weibe macht ihn krank.

Am 20. April vergleicht sich Tolstoi mit einem Stein, um den »das Gras hervordringt, er selbst aber ist tot«.

Noch wenige Tage vor dem Augenblick, da er ausruft: »Ich bin verliebt wie noch nie in meinem Leben!« Am 2. Mai klagt er der Freundin: »Es ist so häßlich, so traurig jetzt auf dem Lande. Eine Kälte und Dürre in der Seele, daß einen das Grauen packt. Das Leben hat keinen Zweck. Gestern überfielen mich diese Gedanken mit solcher Gewalt, daß ich mich ernstlich fragte: Wem tue ich Gutes? Wen liebe ich? Niemand! Und nicht einmal Trauer, nicht einmal Tränen habe ich für mich selbst! Kalt, auch die Reue. Es sind bloß Betrachtungen, die ich anstelle. Nur allein meine Arbeit bleibt. Und was ist meine Arbeit? Nichtigkeit – man bohrt herum, tut geschäftig, das Herz aber zieht sich zusammen, verdorrt, stirbt ab.«

Als das Leben und Weben des Frühlings ringsum ihn ganz erfaßt, spricht Liebessehnsucht aus jedem seiner Worte, die wie ein Beten klingen:

»Ich trat auf den Balkon hinaus. Dunkle, sternklare Nacht. Nebelhafte Sterne, klare Sterne, Sternhaufen, Glanz, Dunkel, Umrisse erstorbener Bäume. Das ist Er. Nieder auf dein Angesicht vor Ihm und schweige!«

Und aus seinem Brief aus diesen Tagen an Alexandra Andrejewna weht die Ergriffenheit eines Heiden vor dem Frühlingswunder der erwachenden Liebe. Aus jedem Wort klingt der Jubel eines leidenschaftlichen Herzens, in dem neues Leben erblüht:

»Großmama! Es ist Frühling!

Was für ein prächtiges Leben haben die guten Menschen; sogar solche wie ich haben es gut. In der Natur, in der Luft, in allem liegt Hoffnung, Zukunft, eine herrliche Zukunft ,… Manchmal betrügt man sich und glaubt, daß nicht nur die Natur Hoffnung und Zukunft hat, sondern unsereins auch, und das tut dann wohl ,… Ich weiß sehr gut, wenn ich nüchtern überlege, daß ich eine alte, gefrorene, noch dazu in Soße gekochte Kartoffel bin; aber der Frühling wirkt so stark auf mich, daß ich mich mitunter über kühnen Träumen ertappe, ich wäre eine Pflanze, die sich jetzt erst entfaltet, zugleich mit anderen, und nun schlicht, ruhig und freudig auf Gottes Welt wachsen soll. Aus dieser Veranlassung geht in mir um diese Zeit eine so gründliche innere Aufräumearbeit, Säuberung und Neuordnung vor, wie sie ein Mensch, der nicht selbst dieses Gefühl erlebt hat, sich unmöglich vorstellen kann. Alles Alte – hinaus ,… Platz der Wunderblume, deren Knospen schwellen und die mit dem Frühling wächst!«

Die Frühlingssäuberung greift tief. »Alles Alte – hinaus!« und weiter: »Alle Konventionen der Welt, alle Faulheit, alle Selbstsucht, alle Laster, alle verworrenen unklaren Neigungen, alles Bedauern, sogar alle Reue – alles hinaus! ,…«

Und am 10./13. Mai schreibt er ins Tagebuch:

»Ein herrlicher Pfingsttag. Welkender Faulbaum in knorrigen Arbeitshänden; Wassilij Dawydkins jubelnde Stimme (während der Messe im Kirchenchor). Aksinja flüchtig gesehen. Sie ist sehr schön. All diese Tage vergeblich auf sie gewartet. Heute im großen alten Walde. Ich Narr, Schuft. Roter Sonnenbrand, die Augen ,… Ich bin verliebt wie noch nie im Leben. Kein einziger anderer Gedanke. Ich quäle mich.«

Darum also empfindet er sich als Pflanze, die sich entfaltet, um schlicht, ruhig und freudig auf Gottes Welt zu wachsen. Bedrückte Stimmung, Schmerz und Last der Einsamkeit sind verflogen, jedem ihm Nahestehenden möchte er von seiner Liebe erzählen, der Gräfin Alexandra Andrejewna sendet er einen langen Brief, dem Freunde Feth am 12. Mai ein kurzes leidenschaftliches Zettelchen: »Welch ein Pfingsttag das gestern war! Welch eine Messe, mit welkendem Faulbaum, grauem Haar und leuchtend rotem Kattun, und heiße Sonne!«

»Es ist Frühling!« und er möchte jeden Menschen lieben, sein Glück mit jedem teilen, das ihn ganz erfüllt, das ihn gut macht, möchte lieben und geliebt werden.

Alexandra Andrejewna antwortet ihm:

»Ich habe mehr als einmal bemerkt, daß die beste Art, einen Brief von Ihnen zu erhalten, ist, sich daran zu machen, Ihnen zu schreiben. Oft habe ich meinen Brief noch hier unter der Feder, während Ihrer bereits eintrifft. Vielleicht ist das ein bißchen Magnetismus oder Seeleneinklang, denn mich deucht, daß wir oft in derselben Tonart singen, obwohl es scheint, als sängen wir in verschiedener Tonlage.«

Glück und Liebe ist da, zwei liebende und geliebte Frauen, Aksinja und Alexandrine, die einander ergänzen. Die erstere ist »sauber, frisch, nicht häßlich und schlicht«, sie hat »schwarze glänzende Augen, eine tiefe Stimme, den Geruch von etwas Frischem und Starkem um sich, eine hohe Brust, die die Bluse hebt«; die andere hat ein wunderbares Lächeln, ist Enthusiastin und Analytikerin, singt in einer Tonlage mit ihm, geht den ganzen Tag freudig lächelnd umher, weil in ihrer Tasche ein Brief von dem geliebten Manne knistert, der ihr in lichten und guten Stunden seines Lebens schreibt.

Unter dem Einfluß der Liebe schwillt Tolstois strotzende Lebenskraft übermächtig an, und froh und beglückt »tritt er« gleich dem Helden der Byline Mikula Seljaninowitsch, »in die Morgenfrühe hinaus aufs Feld« und schreitet, nach Bauernart, wie sein rüstigster und fleißigster Arbeiter Jufan (weshalb er jede Landarbeit scherzweise »Jufanerei« nennt), »die Ellenbogen breit gespreizt«, hinter dem Pfluge her, den er mühelos hebt und führt. Die körperliche Arbeit tut ihm so wohl, daß er nicht merkt, wie die Zeit vergeht; warm strömt das Blut durch die Adern, der Kopf ist klar und frei, im ganzen Körper spürt er eine so heitere Leichtigkeit, daß ihm scheint, seine Beine schritten ganz unbeschwert, ganz von selbst aus. Nach dem Arbeitstag kehrt er freudig angeregt und hungrig nach Hause zurück, ißt mit Appetit, schläft ein Stündchen und eilt in den Haselnuß- und Ahornforst, durch den die Sonnenstrahlen fluten, um hier mit der Geliebten zusammenzukommen, mit der Bäuerin, die ebenso stark und lebensfroh ist wie er. Mit ihr fühlt er sich »munter, leicht und ruhig«.

Mit ihr sein, ist wie mit der Natur sein, sie macht ihn empfänglich für alle Schönheit der Gotteswelt. Wieder empfindet er Selbstverleugnung als »Hochmut«, als »Zuflucht vor verdientem Unglück, Rettung vor dem Neid auf das Glück anderer«.

Zwei Frauen sind zugleich in Tolstois Leben, beherrschen es, ergänzen einander; die eine macht ihn »munter, leicht und ruhig«, die andere ist »die Pflegerin seiner Seele«.

Froh und beglückt schreibt er im Herbst an den Freund und bedeutenden Lyriker Feth: »Herzchen, Onkelchen, Fethchen! Bei Gott, mein Herzchen, ich liebe Sie auch ganz furchtbar. Das ist alles. Geschichten schreiben ist dumm und schamlos. Verse machen ,… Meinetwegen machen Sie welche, doch einen guten Menschen lieb haben ist auch sehr angenehm. Aber man mag tun, was man will, zwischen Mist und Bilsenkraut dichtet man plötzlich doch etwas.«

Jetzt lockt die Stadt Tolstoi gar nicht mehr. Er sitzt fest auf dem Lande, lernt das Landleben schätzen, weil die heitere Liebe einer gesunden, sauberen und hübschen Bäuerin ihn beruhigt hat, Einsamkeit und Schwermut ihn nicht mehr quälen, das Leben wieder Sinn und Zweck hat, neuen Wert gewinnt. Seine Liebe ist so groß und stark, daß er alle Menschen liebt, die ganze Gotteswelt. Die Natur ist ihm »Führerin zur Religion«, aus ihr ist ihm Läuterung entstanden, eine innere »Aufräumearbeit« geht vor sich, alles Alte muß hinaus, »alle Konventionen der Welt, alle Faulheit, alle Selbstsucht, alle Laster, alle verworrenen, unklaren Neigungen, alles Bedauern, sogar alle Reue«. Eine »Neuordnung« beginnt, das Fundament eines neuen Gebäudes wird gelegt, eine Weltanschauung erfaßt und befestigt, zu der er sich bis an sein Lebensende bekennt.

Darum sind jetzt »alle Bauern ungemein gescheit und gut geworden«, darum hat er »mit allen Bauern den Osterkuß getauscht (ihre Bärte riechen erstaunlich angenehm nach Frühling), Birkensaft getrunken, gelbe und lila Blumen gesammelt«, und »ein Gefühl der Freude darüber empfunden, daß Leo Tolstoi lebt und atmet, und ein Gefühl der Dankbarkeit gegen jemand, weil er Leo Tolstoi zu atmen erlaubt hat«.

Die so jäh über ihn hereingebrochene Liebe bereitet ihm aber nicht allein Freude; sie schreckt ihn auch. Er ist geneigt, sie abzuschütteln, denn diese Liebe ist nicht das, was er erwartet hatte.

Kaum vier Wochen nach dem Beginn des Verhältnisses, am 15./16. Juni 1858, vermerkt er im Tagebuch: »Ich habe sie satt.«

Ein Jahr später: »Nur mit Ekel denke ich an Aksinja, an ihre Schultern.« (3. Mai 1859.)

Aber nach weiteren sechs Monaten, am 9. Oktober 1859, gesteht er: »Ich fahre fort, ausschließlich Aksinja zu sehen.«

Mit der Zeit werden Liebe und Anhänglichkeit immer stärker. Wieder ein halbes Jahr später, am 12. Mai 1860 bekennt er: »Sie nicht gesehen. Aber gestern ,… es wird mir sogar unheimlich, wie nahe sie mir steht

Nicht nur körperlich, auch moralisch fühlt er sich ihr verbunden, als seiner Frau: »Sie ist nirgends zu finden, habe nach ihr gesucht. Es ist nicht mehr das Gefühl des Hirsches, sondern das des Gatten zu seiner Frau. Seltsam, ich suche das frühere Gefühl der Übersättigung wieder hervorzurufen und kann es nicht.« (26. Mai 1860.)

Aksinja gehört zu ihm, verwächst mit Sinn und Sein. Jahre vergehen, doch wird er ihrer nicht überdrüssig, das Gefühl der Übersättigung, das er bisher bei allen Frauen bald empfunden hat, stellt sich nicht ein, er spricht nicht von Wollust, denn wirkliche Liebe kennt nicht Wollust und Übersättigung. Die Natur selbst reguliert unmittelbar das Sexualleben des Menschen, und wo dessen Ziel nicht Genuß um des Genusses willen, sondern Befriedigung und Ruhe ist, duldet die Natur keine Maßlosigkeiten. Nur das unvollkommene, unbefriedigt bleibende Gefühl sucht, ewig ungestillt und gereizt, Lösung und Entspannung in sexueller Ausschweifung, in gesteigerter Wollust, die bald zu Übersättigung, zu Überdruß führt. Darum wird auch das Objekt oft gewechselt, um durch den Reiz der Neuigkeit, durch sexuelle Neugierde das fehlende Gefühl zu ersetzen, wie auch Tolstoi es immer wieder getan hat, bevor er Aksinja kennenlernte. Seitdem ist sein Begehren nicht mehr auf das Weib im allgemeinen, auf alle Frauen gerichtet, sondern allein auf die eine, die ihm Erfüllung und Ruhe gibt. Seinen künstlerischen Niederschlag hat das Verhältnis zu Aksinja in der Novelle »Der Teufel« gefunden, in deren Helden Irtenew Tolstoi sich selber schildert.

Mit einer Bäuerin ließ sich Tolstoi-Irtenew nur aus »Gesundheitsrücksichten« ein und »um sich frei in seinem Denken zu fühlen« und hatte keineswegs erwartet, daß dieser Verkehr zu etwas Dauerndem führen könnte. Er dachte, diese Frau sei etwas ebenso Zufälliges und Flüchtiges in seinem Leben, wie alle übrigen, aber wenn das Verlangen nach dem Weibe ihn überfiel und er ruhelos wurde, so war diese Unruhe jetzt »nicht mehr gegenstandslos«, deutlich sah er gerade jene vertrauten schwarzen, glänzenden Augen, hörte er jene tiefe Stimme, spürte er jenen Duft von etwas Frischem und Starkem, jene hohe Brust, die das Hemd hob und senkte – und alles das in dem wohlbekannten Haselnuß- und Ahornforst, von hellem Sonnenlicht überflutet. »Wenn es nötig ist, mache ich Schluß, und alles ist aus«, sagte er sich, schien ihm doch der Verkehr mit der Bäuerin – er nannte ihn nicht einmal Verhältnis – etwas ganz Nebensächliches. Aber wenn das Verlangen, sie zu sehen, in ihm erwachte, dann überkam es ihn mit einer solchen Gewalt, daß er an nichts anderes denken konnte.

Sie ist ihm nah und vertraut, so nah, wie bisher nie eine Frau, und mit größerem Recht als Marianna gegenüber kann er von ihr sagen: »Ich liebe diese Frau mit wahrhaftiger Liebe, das erste und einzige Mal in meinem Leben«, denn mit ihr »ist er nicht nur glücklich, sondern ruhig«. Sein Leben lang bleibt ihm die Erinnerung an Aksinja mit dem Empfinden von etwas Sonnigem verbunden, von etwas Frischem, Belebendem, dessen Berührung ihn von aller Unruhe heilt, mit der Vorstellung von Frühling und Waldesduft.

Und wie die Bäuerin in seinem Empfinden ihm allmählich zur Gattin wird, so dringt in sein Unbewußtes unmerklich auch ihre Innenwelt ein. Es ist die starke, gesunde, naturnahe Welt des Bauern. Vielleicht war es Aksinja, die durch ein gutmütiges Scherzwort über seine gepflegten Herrenhände, die vor jeder körperlichen Arbeit zurückschreckten, ihn veranlaßt hat, hinter dem Pfluge herzugehen, die Sense zu führen. Und als er die Bauernarbeit erst kennengelernt hatte, lernte er sie auch lieben. Seine Liebe führte ihn einem neuen Leben zu. Was bisher trotz aller Bemühungen unerreichbar geblieben war, kommt nun von selbst, mit und durch Aksinja. Durch sie lernt er den Bauern verstehen und das einfache, gesunde Leben des werktätigen Volkes schätzen. Durch das Sexuelle kommt er zum Sozialen.

»Zwischen Mist und Bilsenkraut« vergißt er aber auch nicht seine Berufung. 1859 schreibt er die Novelle »Eheglück«, in der er unter dem Einfluß seines neuen Lebens sich mit der vornehmen Welt auseinandersetzt, sein Verhalten zu Valeria Arsenjewa rechtfertigt und seine Ansicht über das einfache Volk sehr bestimmt ausspricht: »Dieses Volk ist überall prächtig; je näher man es kennt, um so mehr liebt man es.«

Im März 1859 fährt er nach Petersburg, um die Gräfin Alexandra Andrejewna wiederzusehen, mit der er »zehn der glücklichsten Tage« verbringt. Auf der Rückreise meldet er ihr aus Moskau, er habe beschlossen, »der lieben Pflegerin seiner Seele« jede Woche zu schreiben.

Während der Zeit von Ende 1858 bis zum Herbst 1859 schwankte sein Verhältnis zu Aksinja. Er konnte sich innerlich noch nicht damit abfinden, daß er in eine Bäuerin »verliebt ist wie noch nie im Leben«, aber seit dem Herbst 1859 legt sich sein Widerstreben und es bildet sich zwischen den beiden ein jahrelang währendes Liebesverhältnis aus.

Durch das Sexuelle erschließt sich ihm auch das Soziale. Zum ersten Male war das im Kaukasus so, als er das Kosakenmädchen Marianna liebte; durch Aksinja findet er endgültig den Weg zum Volke. Nicht mehr als neunzehnjähriger Schwärmer, sondern als Mensch, dessen Wesen mit diesem Volk bluthaft verknüpft ist: durch die Milch der Amme, durch die Pilger und Gottesleute, durch die geliebte Frau, die Bäuerin, die ihm seinem Gefühl nach Gattin ist. Tolstoi, der die vornehme Gesellschaft verachtet, weil sie ihm die Reinheit genommen und sein Verlangen nach idealer Liebe nicht befriedigt hat, wendet sich dem Volke zu, lernt das gesunde, werktätige Leben des Bauern lieben, schreitet als Pflüger über Acker und Feld.

Nun ist »sie« da, aber nicht »mit langem schwarzem Zopf, immer schön und traurig«, sondern in weißem gesticktem Hemd, rotbraunem Rock, grellrotem Tuch, barfuß, frisch und munter – die Verkörperung der Natur in ihrer Ursprünglichkeit und unerschöpflichen Kraft. Sie hat ihn der wirklich großen Welt, dem Allmenschlichen, der Allwelt zugeführt, und nunmehr fühlt er sich eins mit dieser Welt: nicht mehr verstandesgemäß, sondern im Herzen.

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»Ein anderes tut jetzt not«, sagt er im Hinblick auf seine große Welt: »Nicht wir müssen uns bilden, sondern wir müssen sehen, Bauernkindern wenigstens ein bißchen von dem beizubringen, was wir wissen. Er, der Bauer, braucht das, wohin euch euer Leben gebracht hat, eure zehn nicht durch Arbeit verbrauchten Generationen. Ihr hattet Muße, um zu forschen, zu denken, zu leiden, so gebt ihm doch das, wozu ihr euch durchgerungen habt, das allein braucht er; ihr aber verhüllt euch vor ihm, dem ägyptischen Priester gleich, mit geheimnisvollem Mantel, vergrabt das Talent in der Erde, das euch die Geschichte anvertraut hat.«

Im Jahre 1859 – zehn Jahre nach dem ersten mißlungenen Versuch – eröffnet Tolstoi in Jasnaja Poljana eine Freischule, die von allen damaligen Schultypen bewußt abweicht; liebevollstes Eingehen auf die Eigenart der Kindesseele ist hier der beherrschende Grundsatz. Er schreibt an die Gräfin Alexandra Andrejewna:

»Ich habe eine poetische, entzückende Beschäftigung, von der ich mich nicht losreißen kann, das ist die Schule. Da sie aber eben umgebaut wird, so findet der Unterricht im Garten unter den Apfelbäumen statt. Da sitzt der Lehrer und rundherum die Schulkinder, Gras kauend und mit Linden- und Ahornblättern klatschend. Der Lehrer unterrichtet nach meinen Ratschlägen, aber doch nicht allzu gut, was die Kinder auch fühlen. Sie lieben mich mehr. Wir unterhalten uns manchmal drei bis vier Stunden, und keiner langweilt sich. Es läßt sich gar nicht erzählen, was das für Kinder sind; man muß sie sehen. Unter den Kindern unseres geschätzten Standes habe ich nie etwas Ähnliches gesehen. Denken Sie nur, im Laufe von zwei Jahren ist trotz völligen Mangels an Disziplin nie eines gestraft worden. Nie etwas von Faulheit, Grobheit, dummen Scherzen, unanständigen Redensarten. Das Schulhaus ist jetzt völlig ausgebaut. Drei große Zimmer – eines rosa, zwei blau – sind für den Unterricht bestimmt, in dem größten Zimmer befindet sich außerdem ein Museum. Auf Regalen an den Wänden sind Steine, Schmetterlinge, Skelette, Gräser, Blumen, physikalische Apparate usw. untergebracht. Sonntags ist das Museum für alle geöffnet, und der Deutsche aus Jena (der ein prächtiger Jüngling geworden ist) macht Experimente. Einmal in der Woche ist botanischer Unterricht, dann gehen wir alle in den Wald nach Blumen, Gräsern und Pilzen. Der Unterricht ist auf die Zeit von acht bis zwölf und nachmittags von drei bis sechs festgesetzt, er dauert aber immer bis zwei Uhr, weil man die Kinder nicht aus der Schule jagen kann, – sie wollen immer mehr haben. Abends übernachtet oft mehr als die Hälfte im Garten, in einer Basthütte.«

So hat dieser Mensch – den einer seiner Schüler, Wassilij Morosow, als »starken, glatten und häßlichen Mann mit schwarzem, zigeunerhaftem Bart, langen Haaren, wie bei uns, breiter Nase« beschreibt – den Weg zu der ihm früher verschlossenen, wirklich großen Welt gefunden und ist in der Urwüchsigkeit und Naturhaftigkeit seines Wesens inmitten der Bauernkinder selber das größte Kind.

In den Erholungsstunden ist er ihr Kamerad, während des Unterrichts zugleich Lehrer und Schüler, der von den Kindern reines, geschmeidiges Russisch lernt, zusammen mit ihnen die Natur der heimatlichen Wälder und Felder studiert und Blumen, Gräser und Pilze für das Schulherbarium sammelt.

Kostbare, bezeichnende Einzelzüge gibt uns Morosow:

»›Los, alle über mich her! Ob ihr mich wohl unterkriegt!‹ ruft er (Tolstoi) den Kindern an einem frostkalten Wintertage zu. Und wir umringen ihn, hängen uns vorn und hinten an ihn, suchen ihm ein Bein zu stellen, werfen mit Schneeballen nach ihm, stürzen über ihn her, klettern an seinem Rücken empor und mühen uns eifrig ab, ihn umzuwerfen. Aber er ist noch eifriger als wir und schleppt uns auf sich umher, einem starken Bullen gleich. Nach einer Weile sinkt er vor Müdigkeit, meist aber um des Spaßes willen, in den Schnee. Unbeschreiblicher Jubel! Wir machen uns sofort daran, ihn unter Schnee zu vergraben, werfen uns in einem Haufen auf ihn und schreien: ›Zu klein der Haufen! Zu klein der Haufen!‹«

Im Sommer 1860 reist Tolstoi ins Ausland, zu seinem schwer erkrankten Bruder Nikolai. Der Tod dieses edlen Menschen, über den Tolstoi schreibt: »Wir liebten und achteten ihn höher als irgendeinen anderen auf der Welt«, erschüttert ihn tief.

Erst im April 1861, nachdem er Deutschland, Italien, Frankreich, England und Belgien besucht hat, kehrt er nach Jasnaja Poljana zurück und widmet sich wieder seiner Schule. Außerdem übernimmt er das Amt eines »Friedensvermittlers«; diese hatten bei der Durchführung des Befreiungsgesetzes (1861) in Streitsachen zwischen den Gutsbesitzern und ihren früheren Leibeigenen zu entscheiden. Tolstoi vertritt hierbei die Interessen der wehrlosen Bauern mit so unerbittlicher Gerechtigkeit, daß er den Adel gegen sich aufbringt.

Sein Verhältnis zu Aksinja hat er wieder aufgenommen, und wie einst im Kaukasus, als er aus Liebe zu Marianna ein Kosakenmädchen heiraten und Kosak werden wollte, erwägt er jetzt den Gedanken, sein Herrenleben aufzugeben, sich eine Hütte zu bauen, sein Land an die Bauern zu verteilen und ein Bauernmädchen zu heiraten. Bezeichnenderweise wendet er sich in dieser Angelegenheit an seine Schüler um Rat. Von ihnen hat er die Beherrschung der klaren, knappen und genauen Sprache des Volkes und das Leben des Bauern richtig sehen gelernt, wie dies in seiner kurz vorher beendeten Erzählung »Polikuschka« zum Ausdruck kommt. Nun scheint ihm auch ihre Meinung über die ihn bewegenden, schwerwiegenden Pläne wertvoll. Wassilij Morosow berichtet, wie Tolstoi während einer Unterhaltung mit seinen Schülern plötzlich erklärte:

»›Hört, was ich mir ausgedacht habe: ich will mein Gut, überhaupt das herrschaftliche Leben aufgeben, unter die Bauern gehen, am Ende des Dorfes mir ein Blockhaus bauen, ein Bauernmädchen heiraten, arbeiten wie ihr alle, mähen, pflügen, jede Arbeit tun.‹ ›Na, und wo willst du mit deiner Habe hin?‹ fragten wir. ›Welche Habe? Das Land? Wir wollen es unter alle verteilen, es soll euer und unser sein, alle sollen daraus Nutzen ziehen.‹ ›Wie aber, wenn man dich auslacht? Wenn man sagt: Seht, das ist der heruntergekommene Gutsherr Tolstoi, er ist zum Bettler geworden, arbeitet selbst – wirst du dich da nicht schämen?‹ fragten wir. ›Worin seht ihr denn da eine Schande? Daß man selbst arbeitet? Nein! Schande und Schmach ist es, daß ich nicht arbeite, daß ich besser lebe als ihr, ja, dessen schäme ich mich. Ich esse, trinke, fahre spazieren, spiele Klavier, es ödet einen aber immer irgendwie an, man sagt sich: ein Nichtstuer bist du ,…‹ Es war eine neue und seltsame, äußerst schwierige Frage für uns«, fährt Morosow fort. »Wir waren alle verstummt. Schließlich aber lösten sich die Zungen und wir begannen das schwierige Problem zu erörtern, wie man wohl Leo Nikolajewitsch verheiraten, wie man ihn unterbringen, ihm das beste, möglichst arbeitsame Mädchen zur Frau aussuchen könne. Heiraten sei nicht schwer, das dicke Ende komme aber oft hinterher; eine Frau sei keine Bastsandale, man könne sie nachher nicht ohne weiteres abstreifen ,… Er saß da, blickte alle an, stellte Fragen und machte sich Notizen in seinem Heftchen.«

Die Kinder in ihrer Unbefangenheit und Geradsinnigkeit sollten ihm helfen, diese schwerwiegenden Fragen zu lösen, die er selbst noch nicht zu lösen vermochte.

Da er Aksinja liebte, dachte er damals an keine »standesgemäße« Heirat, was unter anderem aus seinem Brief an die Gräfin Alexandra Andrejewna vom 14. Mai 1861 ersichtlich ist: »Nach einem Jahr der Freiheit trage ich jetzt nicht ohne Vergnügen ein vierfaches Joch, 1. die Wirtschaft, 2. die Schule, 3. die Zeitschrift, 4. das Vermittleramt, und diese vier will ich, ob gut oder schlecht, jedenfalls aber gern und eifrig auch weiter tragen, solange Leben und Kraft reichen. So daß ich hoffe, keine Notwendigkeit zu verspüren, noch ein fünftes Joch, nämlich das Ehejoch, auf mich zu nehmen. Moskau habe ich in dieser Hinsicht wohlbehalten passiert.«

Die vier Joche sind leicht, weil sie durch ein fünftes, durch seine Liebe zu Aksinja aller Schwere enthoben werden. Nur weil diese Liebe nicht öffentlich sanktioniert ist, erkennt er sie nicht an. Er findet in ihr Ruhe und Befriedigung, klagt nicht mehr über quälende Begierde, die seine Schaffenskraft untergräbt, sondern arbeitet freudig und mit Genuß nicht nur für sich, sondern auch für den Nächsten, geht auf in seiner Schule, ist als Friedensvermittler Verteidiger und Beschützer des Volkes. Aber obwohl ihm all das durch Aksinja kommt und er bekennt, daß ihn das Gefühl des Gatten zu seiner Frau mit ihr verbindet, kann er sich nicht entschließen, sie in sein Haus zu nehmen, geschweige denn sie nach der Scheidung von ihrem Manne zu heiraten. Trotz aller Verachtung gegen die vornehme Gesellschaft und seiner Liebe zum einfachen Volk, ist er doch so sehr von Standesvorurteilen befangen, daß er diesen letzten Schritt nicht wagt, ja seine Liebe zu der Bäuerin als Verirrung empfindet und erschrocken ausruft: »Es wird mir sogar unheimlich, wie nahe sie mir steht!« Als aber Aksinjas Mann aus Moskau eintrifft und der Gärtner Tolstoi vorschlägt, ihm einstweilen eine andere Frau zu beschaffen, lehnt er das »voll Ekel« ab und bleibt Aksinja treu.

Durch sein Eintreten als Friedensvermittler für die Bauern bringt er den Adel dermaßen gegen sich auf, daß man ihm mit Haß und Verachtung begegnet; er erhält Briefe mit Herausforderungen zum Duell, mit Todesdrohungen, er wird verhöhnt, verspottet, vor der Regierung verleumdet: er soll sich mit revolutionärer Wühlarbeit befassen, eine Geheimdruckerei in seinem Hause haben.

Da seine Vermittlertätigkeit ihm viel Mühe und Arbeit machte und die Ergebnisse seiner Anstrengungen ihn nicht befriedigten, gibt er sein Amt schließlich auf. Wie gehässig die Stimmung gegen den Volksfreund war, kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß ein höherer Polizeioffizier, stark angetrunken, im Adelsklub in Tolstois Gegenwart ausruft: »Rausgeschmissen hat man dich! Den Friedensvermittler, den Lehrmeister, den Grafen rausgeschmissen! Und warte nur, es kommt noch besser, auch aus deinem Lehramt wird man dich verjagen!«

Trotzdem kann sich Tolstoi nicht entschließen, mit der aristokratischen Gesellschaft zu brechen; stärker als seine Liebe zu Aksinja und zum einfachen Volke sind die Bande, die ihn mit seinem Stande verknüpfen. Nicht umsonst hat er einmal voll Stolz erklärt, er gehöre zu jenen hundertzweiundzwanzig jungen Leuten in Rußland, vor denen sich alle Türen öffnen, die als Salz der Nation gelten,

Wohl denkt er an eine Heirat, aber nicht mit Aksinja, sondern mit einem Mädchen aus seinen Kreisen. In seinem Tagebuch stoßen wir auf vielsagende Eintragungen. Beim Anblick eines Knaben bei Bekannten ruft er aus: »Auch ich könnte schon solch einen Sohn haben!« Es macht ihn »neidisch, Feths Familienglück zu sehen.« »Ich muß heiraten und einen eigenen Winkel haben.« »Ich muß heiraten – dieses Jahr oder nie!«

All diese Dinge empfindet er als so quälend, daß er in einen gereizten, krankhaften Zustand gerät, sich mit Turgenjew überwirft – es kommt zwischen den beiden durch Tolstois Schuld beinahe zu einem Duell – und schließlich zu einer Kumyskur Kumys ist gegorene Stutenmilch. ins Gouvernement Samara reist. Zwei seiner Lieblingsschüler nimmt er zur Gesellschaft mit; der eine dieser Bauernjungen ist Wassilij Morosow. Unterwegs besucht er in Moskau eine Jugendfreundin, die Frau des Hofarztes Behrs, und ihre Familie.

Während er (im Sommer 1862) in den Kirgisensteppen weilt, findet in Jasnaja Poljana eine Haussuchung statt. In maßloser Wut klagt er der Freundin Alexandra Andrejewna und bittet um ihre Hilfe:

»Nette Leute sind Ihre Freunde! All die Potapows, Dolgorukijs und Araktschejews und die Rawelins sind doch Ihre Freunde! Man schreibt mir aus Jasnaja: Am 1. Juli kamen drei Troikas mit Gendarmen vorgefahren ,… und nahmen eine Haussuchung vor. Was sie suchten, ist bis heute noch unbekannt. Einer von Ihren Freunden, ein schmutziger Oberst, las all meine Briefe und Tagebücher, die ich erst nach meinem Tode dem Freunde anzuvertrauen gedachte, der mir dann am nächsten stehen würde; er las ferner zwei Briefwechsel, für deren Geheimhaltung ich alles in der Welt gegeben hätte, – und fuhr weg mit der Erklärung, er hätte nichts Verdächtiges gefunden. Ein Glück für mich und diesen Ihren Freund, daß ich nicht dabei war; ich hätte ihn totgeschlagen. Wie nett! Wie schön! So verschafft die Regierung sich Freunde! Wenn Sie mich von meiner politischen Seite kennen, so wissen Sie, daß ich immer und besonders seit meiner Liebe zur Schule völlig gleichgültig gegen die Regierung gewesen bin und noch gleichgültiger gegen die heutigen Liberalen, die ich von ganzer Seele verachte. Ich bin voller Erbitterung und Ekel, beinahe voller Haß gegen diese liebe Regierung. Einmal schrieb ich Ihnen, daß man kein stilles Asyl im Leben suchen darf, sondern arbeiten, schaffen, leiden muß. Das ist alles möglich, aber man müßte erst von diesen Räubern, deren Wangen und Hände mit parfümierter Seife gewaschen sind und die so freundlich lächeln, weit weg sein. Ich gehe wirklich noch, wenn ich länger lebe, in ein Kloster – nicht um zu beten, das ist meiner Ansicht nach nicht nötig, sondern um die ganze Schändlichkeit der Entartung nicht zu sehen, die sich in Epaulettes und Krinolinen selbstzufrieden großtut. Pfui! Wie können Sie, ein so ausgezeichneter Mensch, in Petersburg leben! Das werde ich nie verstehen, – oder Sie haben schon den Star auf beiden Augen, daß Sie nichts sehen.

Diese Angelegenheit kann und will ich nicht auf sich beruhen lassen. Meine ganze Tätigkeit, in der ich Glück und Ruhe gefunden hatte, ist vernichtet. Das Volk sieht mich nicht mehr als einen ehrlichen Mann an – welchen Ruf ich in jahrelangem Bemühen erworben habe –, sondern als Verbrecher, Brandstifter und Falschmünzer, der nur dank seiner Schlauheit mit einem blauen Auge davongekommen ist. ›Na, Bruder, haben sie dich? Jetzt rede uns noch von Ehrlichkeit und Gerechtigkeit – dich selber hätten sie fast in Ketten gelegt.‹ Von den Gutsbesitzern gar nicht erst zu reden, da schreit alles vor Entzücken. Teilen Sie mir bitte möglichst schnell mit, wie kann ich einen Brief an den Kaiser schreiben und ihn vorlegen? Ich habe keinen anderen Ausweg, als eine ebenso öffentliche Genugtuung, wie es die Beleidigung war (gutmachen läßt sich die Sache schon nicht mehr), oder ich muß Rußland verlassen, wozu ich schon fest entschlossen bin.

Ich werde laut verkündigen, daß ich meine Güter verkaufe, um Rußland zu verlassen, wo ich nie wissen kann, ob man mich, meine Schwester, meine Frau, meine Mutter nicht im nächsten Augenblick in Fesseln schlägt und auspeitscht, – und darum gehe ich fort!«

Hier spricht die herrische Eigenliebe und der Haß des Feudalen, dessen Vorfahren den Lehnsherren gleich waren, und verletzte Menschenwürde und Schmerz darüber, daß seine jahrelangen eifrigen Bemühungen nun vernichtet sind, die Liebe und das Vertrauen seiner Bauern, jener Welt zu gewinnen, in der er »Glück und Beruhigung gefunden«, aus der auch sie, Aksinja, stammt. Jetzt scheint ihm alles verloren, und er will diese unvollkommene Welt verlassen, in ein Kloster gehen, als Auswanderer in die Fremde ziehen – ein Mensch, den die böse Welt von Haus und Hof vertrieben hat.

Die einzige Rettung wäre »eine ebenso öffentliche Genugtuung« wie es die Beleidigung war. Tolstoi wendet sich mit seiner Beschwerde an den Kaiser und erreicht es, daß ihm der Monarch durch einen Flügeladjutanten sein Bedauern über den Vorfall ausspricht.

In dieser Zeit der Erregung und Erbitterung beginnt seine Werbung um Sofia Andrejewna Behrs.


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