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Irrwege

»Die Natur ist besser als der Mensch«, sagt Tolstoi, »sie kennt keinen Zwiespalt, sie ist immer folgerichtig. Man muß sie überall lieben, denn sie ist überall schön und immer und überall tätig.

Der Mensch freilich versteht es, alles zu verderben, und Rousseau hat vollkommen recht, wenn er sagt, daß alles, was aus Menschenhänden kommt, nichts taugt. Dem Menschen fehlt es überhaupt an Einheitlichkeit. Es ist sein Verhängnis, daß er zu Zwiespältigkeit verurteilt ist.«

Zum ersten Male lernt Tolstoi diesen Zwiespalt kennen, als er im Sommer 1847 als Neunzehnjähriger aus Kasan nach Jasnaja Poljana kam. Abneigung und Haß gegen die Gesellschaft, die unter seinem unschönen Äußeren seinen inneren Wert nicht erkannt hat, flammen seitdem immer wieder in ihm auf, bald heftiger, bald schwächer, je nachdem sein Sexualleben mehr oder weniger befriedigend verläuft.

Vorerst äußert sich seine Abkehr von der großen Welt und das daraus zum ersten Male erwachende Streben nach einer vereinfachten Lebensführung in jugendlich überspannter Weise durch Pantoffeln und Schlafrock, der ihm zugleich als Anzug und Bettzeug dient. Nach dem Bruch mit der aristokratischen Gesellschaft wendet er sich aus Protest dem anderen Extrem zu, seinen Hörigen, den leibeigenen Bauern, die er bisher kaum bemerkt, kaum als Menschen anerkannt hat, und will nun ihnen sein Leben widmen.

Turgenjews »Aufzeichnungen eines Jägers« und D. W. Grigorowitschs »Anton Pechvogel«, eine der ersten Erzählungen der russischen Literatur aus dem Bauernleben, in der das schwere Schicksal des rechtlosen Leibeigenen dargestellt wird, zwei Werke, die den stärksten Einfluß auf Tolstoi ausübten, mögen mit den Anlaß dazu gegeben haben, daß er sich seinen Bauern zuwendet, wie seinerzeit der Besuch des Gouverneurs von Sibirien die Sucht nach militärischem Glanz und Heldentum in ihm entfachte. Darüber, wie er zu diesem Entschluß kam, berichtet er in der Erzählung »Der Morgen eines Gutsherrn«:

»Ganz früh am Morgen stand er auf, vor allen anderen im Hause, und schritt, qualvoll erregt durch ein verborgenes, unklares Jugenddrängen, ziellos in den Garten hinab, von dort in den Wald, und wanderte inmitten der maienhaft kräftigen, strotzenden und doch geruhsamen Natur lange umher, allein, gedankenlos, bedrängt von einem überquellenden Gefühl, für das er keinen Ausdruck fand. Bald gaukelte ihm seine junge Phantasie mit allem Zauber des noch Unbekannten die wollüstige Gestalt des Weibes vor, und er meinte, dies also sei das Verlangen, das er nicht zu deuten vermochte. Aber ein anderes, höheres Gefühl sagte: ›Das ist es nicht‹, und zwang ihn, weiter zu forschen. Bald erhob sich sein unerfahrener, feuriger Geist höher und höher in das Gebiet des Abstrakten und erfaßte, wie es ihm schien, die Gesetze des Seins, und mit stolzer Genugtuung überließ er sich diesem Gedanken. Wiederum aber sprach das höhere Gefühl: ›Das ist es nicht!‹ und zwang ihn wiederum, erregt zu forschen.

Gedankenlos, wunschlos, wie es immer so ist nach einer Kraftanspannung, legte er sich auf den Rücken unter einen Baum und blickte auf die durchsichtigen Morgenwölkchen, die über ihm am tiefen, unendlichen Himmel dahinzogen. Plötzlich, ohne jeden Grund, traten ihm Tränen in die Augen und Gott weiß auf welche Weise kam ihm die klare Erkenntnis, daß die Liebe und das Gute Wahrheit und Glück ist, und zwar die einzige Wahrheit und das einzig mögliche Glück auf Erden.

Das höhere Gefühl sagte diesmal nicht mehr: ›Das ist es nicht!‹ Er richtete sich halb auf und prüfte seinen Gedanken. ›Das ist es, das ist es!‹ sagte er begeistert zu sich, und begann all seine früheren Ansichten, alle Erscheinungen des Lebens auf diese eben entdeckte, wie ihm schien, ganz neue Wahrheit hin zu prüfen.

›Wie töricht ist doch all das, was ich bisher wußte, woran ich glaubte, was ich liebte!‹ sagte er zu sich. ›Liebe, Aufopferung, das ist das einzig wahre, vom Zufall unabhängige Glück!‹ wiederholte er und lachte dabei und fuchtelte mit den Armen.

›Also muß ich das Gute tun, um glücklich zu sein‹, dachte er, und lebhaft erstand vor ihm seine ganze Zukunft, aber nicht mehr abstrakt, sondern in Bildern, als Landwirt sah er sich tätig. Er sah vor sich ein gewaltiges Arbeitsfeld für sein ganzes Leben, das er dem Guten widmen und bei dem er folglich glücklich sein werde. Er braucht auch nicht erst nach einem Gebiet der Betätigung zu suchen: es ist da; er hat eine natürliche Pflicht zu erfüllen, er hat seine Bauern ,… Und welch erfreuliche und dankbare Tätigkeit eröffnet sich ihm hier: einzuwirken auf dieses schlichte, empfängliche, unverdorbene Volk, es der Armut zu entreißen, für seinen Wohlstand zu sorgen, ihm die Bildung zu übermitteln, die er selber durch Glücksfall genießt, es von den Lastern zu befreien, die Unbildung und Aberglauben erzeugt haben, seine Sittlichkeit zu heben, es das Gute lieben zu lehren ,… ›Welch eine glänzende, glückliche Zukunft! Und für all dieses werde ich, der ich das alles doch für mein eigenes Glück tue, ihre Dankbarkeit genießen und sehen, wie ich Tag für Tag dem ins Auge gefaßten Ziel näher komme. Eine herrliche Zukunft! Wie habe ich das bloß vorher nicht zu sehen vermocht?‹«

Bezeichnend ist, daß auch diese Offenbarung, dem Wohl seiner Bauern, des Volkes zu leben, ihm durch die Natur, vor allem durch das Weib zuströmt. Alles, was er unternimmt, wird um des Genusses willen getan: »Glänzende, glückliche, herrliche Zukunft ,… All das tue ich für mein eigenes Glück ,… Genieße ihre Dankbarkeit ,…« Alles entspringt dem Sexualtrieb. Immer will er belohnt, anerkannt sein, Glück erwerben, »sie« gewinnen, ohnedem hat nichts im Leben Wert für ihn und erscheint ihm innerlich nicht gerechtfertigt. Der gesunde Egoismus der guten Tat, die einer ungeheuren Liebessehnsucht oder der Liebe entspringt, spricht aus allem, was er unternimmt. Die Natur, verkörpert im Sehnsuchtsbild von »ihr«, in der »wolllüstigen Gestalt des Weibes«, weckt in ihm »die klare Erkenntnis, daß die Liebe und das Gute Wahrheit und Glück ist.« Die treibende Achse ist bei ihm immer und überall »sie«, die ungeheure Sexualkraft des Genies.

Er will sich, seine ganze Zukunft, seine ganzes Leben der Liebe zum Nächsten, der Selbstaufopferung hingeben, gerade so wie der geliebten Frau. Jetzt wird »sie« durch seine Bauern ersetzt, wobei die Hingabe an seine Leibeigenen Seligkeit, Entzücken, Glück, kurz Lustgefühle auslöst, ganz so wie die ersehnte Hingabe an »sie«.

Und auch hier wieder begnügt sich Tolstois feuriges Ungestüm nicht mit einer bestimmten, begrenzten Aufgabe. Wie er vorher alle Wissenschaften auf einen Schlag bewältigen wollte, so will er jetzt mit eins auf das Volk »einwirken, es der Armut entreißen, für seinen Wohlstand sorgen, ihm Bildung vermitteln, es von den Lastern befreien, seine Sittlichkeit heben, es das Gute lieben lehren.«

Zu dem Außergewöhnlichen, das er früher erstrebte, als er Held, Muster des ›comme il faut‹, Gelehrter, Philosoph sein wollte, kommt nun der Volksbeglücker hinzu, der Wohltäter des empfänglichen, unverdorbenen Volkes, der Bauern.

Jede Regung seiner angespannten, unbefriedigten Sexualität, worauf sie auch gerichtet sein mag, wird von krankhaften, »grundlosen« Tränen begleitet. Der Besitz eines Weibes erschüttert ihn ebenso tief wie ein neuer Gedanke, der sein ganzes Wesen erfüllt: »Tränen traten ihm in die Augen.«

Mit aller Leidenschaft sucht Tolstoi seinen neuen Lebenszweck zu verwirklichen. Er greift seinen notleidenden Bauern mit Gelddarlehen unter die Arme, teilt Korn an sie aus, überläßt ihnen einen Teil seines Waldbestandes, verbietet die körperliche Züchtigung, eröffnet eine Freischule. Und doch, trotz eifrigster Bemühungen, verläuft das alles völlig ergebnislos, kannte und verstand er doch das einfache Volk, dem er Wohltaten erweisen wollte, noch gar nicht. So rufen denn alle seine Bestrebungen Unverständnis und Mißtrauen hervor. In jahrhundertelanger Versklavung haben die Bauern sich daran gewöhnt, ihre Herren als Ausbeuter zu betrachten, und Tolstoi stößt überall auf Ablehnung, Widerstreben, passive Resistenz, vielleicht auch auf dumpf brütenden Haß, und sehr bald überkommt ihn »ein aus Ermattung, Scham, Ohnmacht und Reue gemischtes Gefühl«.

Die aristokratische Gesellschaft hat er, das Volk ihn abgelehnt, was dazwischen liegt, besteht für ihn nicht, weder jetzt noch später, und Verzweiflung ergreift ihn. Er hat sich noch nicht gefunden, noch nicht zur Feder gegriffen, wenn auch einige unbewußte erste Schritte bereits getan sind: mehrere Versuche, ein Tagebuch zu führen und sich Lebensregeln auszuarbeiten.

Enttäuscht verläßt er im Herbst 1847 Jasnaja Poljana und reist nach Petersburg. Er kehrt in die so heftig von ihm abgelehnte große Welt zurück, zu der er gehört und in der er es ebenso schlimm treibt, wie der Leichtsinnigsten einer. Spiel, Trinkgelage, Weiber füllen seine Tage und Nächte aus. Als Zwanzigjähriger schreibt er Anfang 1848 an seinen Bruder Sergej, der sich durch ein vollendetes ›comme il faut‹ auszeichnete und dem Ljowotschka in allem nachzuahmen bemüht war, er habe beschlossen, »in alle Ewigkeit« in Petersburg zu bleiben. »Ich weiß, du wirst mir einfach nicht glauben, daß ich mich geändert habe, du wirst sagen: ›Das habe ich schon zwanzigmal gehört, und doch wird aus dir nichts Gescheites. Du bist der größte Nichtsnutz‹, aber nein, ich habe mich ganz anders gewandelt, als bei meinen früheren Wandlungen; früher pflegte ich zu mir zu sagen: ›Ich will mal ein anderer werden‹, jetzt aber sehe ich, daß ich mich geändert habe, und sage: ›Ich bin ein anderer geworden‹.«

Diese Änderung besteht darin, daß er zu der Überzeugung gelangt ist, »man könne von Betrachtung und Philosophie nicht leben, sondern müsse ein positives Leben führen, das heißt, ein praktischer Mensch werden«. Um das zu verwirklichen, muß er sich vor allem um den Rang eines Staatsbeamten bemühen; daß er keinen Amtstitel führt, quält ihn. Darum will er in den Staatsdienst treten, wozu er sich der juristischen Abschlußprüfung an der Universität unterziehen muß. Über diesen Versuch berichtet er: »Ich wußte buchstäblich nichts und habe erst acht Tage vor den Prüfungen angefangen, mich vorzubereiten. Ich lernte die Nächte durch und erhielt die Kandidatenreife für bürgerliches und für Strafrecht, obwohl ich mich zu jedem dieser beiden Fächer nicht länger als eine Woche vorbereitet hatte.« Aber nach diesem erfolgreichen Anfang »brechen alle seine guten Absichten zusammen«, er gibt die Sache auf und teilt seinem Bruder mit, er habe nun beschlossen, in ein Gardekavallerie-Regiment einzutreten. Aber auch daraus wird nichts: »Der Frühling war gekommen, und der Zauber des Landlebens zog mich wieder aufs Gut.«

Drei Jahre verstürmt er dann zwischen Jasnaja Poljana und Moskau, zwischen Sich-Suchen und Sich-Vergessen; zwischen asketischen Selbstbetrachtungen, ja Selbstpeinigungen und großstädtischen Sinnenfreuden.

Im Jahre 1850 schreibt er in sein Tagebuch: »Im Winter vor drei Jahren lebte ich in Moskau, lebte sehr liederlich, ohne Dienst, ohne Beschäftigung, ohne Zweck und Ziel ,… In der Moskauer Gesellschaft ist die Lage ›eines jungen Mannes‹, bei dem Bildung, ein guter Name und ein Einkommen von Zehn- bis Zwanzigtausend zusammentreffen, sehr angenehm und vollkommen sorglos. Alle Salons stehen ihm offen, auf jedes heiratsfähige Mädchen hat er Aussichten.« Es ist die schlimmste Zeit seiner Wirren, das Leben hat für ihn Sinn und Inhalt verloren. Soweit er noch strebt, sind auch seine Bemühungen auf das Äußere gerichtet: er will »ein praktischer Mensch«, will reich werden, vorteilhaft heiraten, wobei Liebe und Gegenliebe in seinen Gedanken keine Rolle mehr spielen, eine gut bezahlte Stellung antreten. Vor allem aber gilt es, seine wirtschaftliche Lage in Ordnung zu bringen, denn das glänzende Leben »eines jungen Mannes der Gesellschaft« übersteigt seine Mittel; vor allem gerät er durch Spielverluste in Schulden. Aber der Reichtum kommt nicht, im Gegenteil, es geht ihm so schlecht, daß er seine Uhr versetzen, seinen Wirtschaftsinspektor um eine Überweisung von hundert Rubeln bitten muß.

Immer wieder arbeitet er sich Lebensregeln aus. 1850 sind es Regeln fürs Spiel, Regeln beim Spiel, Regeln für gesellschaftlichen Umgang; er schreibt sich selbst vor, »schwierige Lagen zu wählen, die Unterhaltung nach Möglichkeit immer zu beherrschen; laut, langsam und deutlich zu sprechen; Gespräche nach Möglichkeit selbst anzuknüpfen und abzubrechen; Verkehr mit gesellschaftlich Höherstehenden zu suchen; vor der Zusammenkunft mit solchen sich darüber klar zu werden, in welche Beziehungen mit ihnen zu treten sei; nicht immerfort bei einem französischen Gespräch ins Russische, bei einem russischen ins Französische überzugehen; auf Bällen wichtige Damen aufzufordern; wenn er verlegen wird, nicht verwirrt abzubrechen, sondern fortzufahren; nach Möglichkeit kühl zu sein und keinerlei Eindrücke sich anmerken zu lassen.«

Im Januar 1851 schreibt er ins Tagebuch: »Von den drei möglichen Mitteln zur Verbesserung meiner Lage, nämlich: 1. Eintritt in einen Spielerkreis erlangen, und wenn ich Geld habe, spielen; 2. Aufnahme in die große Welt erlangen und unter gewissen Umständen heiraten; 3. eine gut bezahlte Anstellung antreten, – habe ich fast alle versäumt. Jetzt scheint mir noch ein viertes Mittel möglich, nämlich von Kirejewskij Geld aufzunehmen.«

Am 16. Dezember 1851 vermerkt er: »Immer früh aufstehen, des Morgens Briefe schreiben und eine Novelle ,… Mittag zu Hause essen und am Abend beim Fürsten Andrej Iwanowitsch spielen und der Fürstin den Hof machen ,…« Teure Restaurants, Zigeuner, Kartenspiel, Billard, kleine und große Bälle, Tanzstunden, Picknicks, die Zerstreuungen der großen Welt führen zu seinem »völligen wirtschaftlichen Zerfall«.

Schließlich, nachdem alle seine Pläne zusammengebrochen sind – weder ist er reich geworden, noch hat er eine gute Partie gemacht, noch eine einkömmliche Stellung gefunden –, flieht er aus Moskau nach Jasnaja Poljana, fährt aber auch hier in der nahen Gouvernementsstadt Tula mit dem gleichen leichtsinnigen Leben fort, in dem Trinkgelage, Frauen und Karten die Hauptrolle spielen.

Doch wenn er in Jasnaja Poljana ist, erlebt er in dieser Zeit auch freundliche Abende in der Gesellschaft seiner Tante Jergolskaja:

»Ich entsinne mich noch jener langen Herbst- und Winterabende, sie sind mir als wunderbare Erinnerung im Gedächtnis verblieben. Diesen Abenden verdanke ich meine besten Gedanken, meine besten Seelenregungen. Man sitzt im Lehnstuhl, liest, sinnt, lauscht zuweilen auf Tantchens immer gütiges freundliches Gespräch mit Natalia Petrowna oder Dunja, ihrem Dienstmädchen, wechselt ein paar Worte mit ihr, und sitzt wieder da, liest, sinnt ,… Damals hätte man sagen können: Wer in diesem Lehnstuhl sitzt, der ist glücklich, und dieser Glückliche war ich. Und wirklich, ich war tatsächlich glücklich, wenn ich in diesem Lehnstuhl saß. Nach meinem üblen Leben in Tula, bei den Nachbarn, mit Karten, Zigeunern, Jagd, törichter Eitelkeit, fährt man nach Hause zurück, geht zu ihr, wechselt nach alter Gewohnheit einen Handkuß mit ihr – ich küsse ihre liebe energische Hand, sie meine beschmutzte, lasterhafte –, begrüßt einander, auch nach alter Gewohnheit, in französischer Sprache, scherzt ein bißchen mit Natalia Petrowna und setzt sich in den ruhigen Lehnstuhl. Sie weiß um all mein Tun und Lassen, bedauert es, macht mir aber niemals Vorwürfe, sondern begegnet mir stets mit derselben gleichmäßigen Herzlichkeit und Liebe ,…«

Wenn dieser ganze Lebensabschnitt als wenig fruchtbar für seine Entwicklung anzusprechen ist, so brachte er ihn doch seiner Berufung dadurch näher, daß Tolstoi zuletzt mit größerer Regelmäßigkeit sein Tagebuch führt, sich daran gewöhnt, seine Gedanken zu Papier zu bringen, und damit an jene Selbstbeobachtung, die sich allmählich zur Beobachtung des Erlebens und der Beziehungen der Menschen überhaupt erweitert. Zum ersten Male entschlüpft ihm die Bemerkung, er müsse des Morgens »eine Novelle aus dem Zigeunerleben« schreiben, also etwas, was ihm im Augenblick am nächsten lag und am besten bekannt war. Gleichviel, ob diese Absicht ausgeführt wurde oder nicht, der Vermerk an sich spricht von dem Erwachen eines Dranges, dessen er sich bisher nicht bewußt war. Allmählich findet er den Weg zu einem Ausgleich seiner Mißerfolge bei der Jagd nach »ihr«: das literarische Schaffen. Die stillen Herbstabende in »Tantchens« Gesellschaft mit ihrem Lesen und Sinnen sind bereits ein erster Hinweis auf die spätere Lebensführung des Dichters.

Seine wirtschaftliche Lage war inzwischen so unhaltbar geworden, daß er sich mit dem Gedanken trug, »vor seinen Schulden, insbesondere aber vor seinen Gewohnheiten« blindlings zu flüchten. Als der Verlobte seiner Schwester W. P. Tolstoi abreiste, um nach Sibirien zurückzukehren, wo er ein Amt bekleidete, »sprang Leo Nikolajewitsch zu ihm in den Wagen und ist vielleicht nur darum nicht mit nach Sibirien gereist, weil er keine Mütze auf dem Kopf hatte«.

Endlich bot sich ihm ein Ausweg durch den Besuch seines ältesten Bruders Nikolai in Jasnaja Poljana. Der Rat des stets vernünftigen, rücksichtsvollen, seelisch lauteren Bruders, der als Offizier im Kaukasus diente und dem der Jüngere immer Liebe und Achtung entgegengebracht hatte, veranlaßt diesen sich ihm anzuschließen. Am 20. April 1851 reisen beide Brüder über Moskau und Kasan nach dem Kaukasus ab.

Für Tolstoi beginnt damit ein neuer Lebensabschnitt; beglücktes Naturempfinden, erste Liebe und erstes erfolgreiches dichterisches Schaffen kennzeichnen ihn vor allem.


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