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Die Wurzeln

Der frühe Tod seiner Mutter Maria, einer geborenen Prinzessin Wolkonskaja, die im achten Ehejahre starb, als der kleine Leo – Ljowotschka – noch nicht zwei Jahre alt war, beeinflußte nachdrücklich die Entwicklung einer ungestillten Sehnsucht nach Mutterliebe im Herzen des Knaben, der ohne mütterliche Wärme und Zärtlichkeit aufwuchs. Dieses Dürsten nach mütterlicher Anteilnahme und Zärtlichkeit verließ ihn nicht bis ins späte Alter, was vielleicht am deutlichsten in dieser Tagebucheintragung aus dem Jahre 1906 zum Ausdruck kommt:

»Den ganzen Tag über ein stumpfer, qualvoller Zustand. Gegen Abend wandelt sich dieser Zustand in Rührung, in das Verlangen nach Zärtlichkeit, Liebe. Ich wollte mich wie ein Kind an ein liebendes, mitfühlendes Wesen schmiegen und ergriffen weinen und mich trösten lassen ,… Das ist meine höchste Vorstellung von reiner Liebe, aber nicht kalter, göttlicher, sondern irdischer, warmer, mütterlicher Liebe. Zu ihr zog mich der beste Teil meiner müden Seele.«

Nicht nur, daß Tolstoi sich seiner Mutter nicht erinnern konnte, er hatte auch keinerlei Vorstellung von ihr bewahrt. »Seltsamerweise hat sich kein einziges Bild von ihr erhalten,« berichtet er, »so daß ich sie mir als reales körperliches Wesen nicht vorstellen kann«, und er fügt hinzu: »Ich bin teilweise froh darüber, denn so lebt in meiner Vorstellung allein ihr geistiges Bild, und alles, alles, was ich über sie weiß, ist schön, und das wohl nicht allein darum, weil alle, die mir von meiner Mutter gesprochen haben, bestrebt waren, nur Gutes über sie zu sagen, sondern weil wirklich sehr viel dieses Guten an ihr war.«

Die Gräfin war sehr begabt und für ihre Zeit ungemein gebildet. »Außer dem Russischen, das sie – entgegen der damaligen Nachlässigkeit – fehlerfrei schrieb, beherrschte sie vier Sprachen: Französisch, Deutsch, Englisch und Italienisch.« Es wurde von ihr berichtet, »daß sie zuweilen auf Bällen im Ankleideraum ihre Freundinnen um sich versammelte und ihnen so spannende Märchen erzählte, daß niemand tanzen ging, während die Musik spielte und die Kavaliere in den Sälen vergeblich auf ihre Damen warteten. Ihre beste Eigenschaft aber war die, daß sie, nach den Erzählungen der Dienerschaft, zwar jähzornig, aber beherrscht war. ›Sie konnte über und über rot werden, ja in Tränen ausbrechen,‹ erzählte ihre Zofe, ›gebrauchte aber nie ein grobes Wort.‹ Solche kannte sie auch gar nicht.«

Eine andere Eigenschaft seiner Mutter war ihr »Gleichmut gegen das Urteil der Menschen und eine Bescheidenheit, die so weit ging, daß sie bemüht war, die geistigen, sittlichen und Bildungsvorzüge zu verbergen, die sie vor andern voraus hatte. Es war, als fühlte sie sich durch diese Überlegenheit beschämt.«

Neben diesen kennzeichnenden Charakterzügen, die sie auch auf ihre Kinder übertragen hat, stach ihre Liebe zu allen »Beleidigten und Erniedrigten« hervor, zu denen wohl auch sie sich infolge ihres unschönen Äußeren zählte. Diese vom Schicksal Benachteiligten waren Wallfahrer, Pilger, Blöde; zu ihnen fühlte sich ihre unbefriedigte Frauenseele hingezogen.

Tolstoi hat seine Mutter in der Prinzessin Maria Bolkonskaja (»Krieg und Frieden«) dargestellt, der er auch Züge seiner Tante Osten-Sacken und seiner Schwester Maria verlieh.

»Da war die Pilgerin Fedoßjuschka, eine fünfzigjährige, kleine, stille, pockennarbige Frau, die bereits über dreißig Jahre lang barfuß und in Büßerketten einherging. Prinzeß Maria hatte sie besonders gern. Als Fedoßjuschka einst im dunklen Zimmer, nur beim Schein eines heiligen Lämpchens, aus ihrem Leben erzählte, überkam Prinzeß Maria jählings so unwiderstehlich der Gedanke, Fedoßjuschka allein habe den rechten Weg durchs Leben gefunden, daß sie beschloß, selbst auf die Wanderschaft zu gehen. Nachdem Fedoßjuschka zu Bett gegangen war, dachte Prinzeß Maria lange darüber nach und entschied schließlich, daß sie – wie seltsam es auch scheinen möge – auf die Wanderschaft gehen müsse. Ihre Absicht vertraute sie nur ihrem Beichtiger, Vater Akinfij, einem Mönche an, der ihr Vorhaben billigte. Unter dem Vorwand eines Geschenks für die Pilgerinnen besorgte sich Prinzeß Maria die vollständige Ausstattung einer Wallfahrerin: Hemd, Bastsandalen, Kaftan und schwarzes Kopftuch. Oft, wenn sie an die geheimnisvolle Kommode trat, blieb Prinzeß Maria zögernd stehen und überlegte, ob es nicht an der Zeit sei, ihr Vorhaben auszuführen ,…

Oft, wenn sie den Erzählungen der Pilgerinnen lauschte, begeisterte sie sich an ihren schlichten Worten, die für sie aber voll tiefen Sinnes waren, so daß sie mehrmals nahe daran war, alles im Stich zu lassen und aus dem Hause zu fliehen. In ihrer Vorstellung sah sie sich bereits mit Fedoßja im groben Gewande, mit Stab und Schultersack auf staubigen Wegen dahinziehen und ohne Neid, ohne menschliche Liebe, ohne Wunsch von einem Wallfahrtsort zum andern pilgern und schließlich dahin, wo nicht Kummer, noch Seufzen, sondern ewige Freude und Seligkeit herrscht. ›Ich komme an eine Stätte und bete da; bevor ich mich eingewöhnt, sie lieb gewonnen habe, ziehe ich weiter. Und so wandre ich, bis ich zusammenbreche, und mich hinlege, und irgendwo sterbe, und endlich in den stillen Hafen komme, wo es nicht Kummer noch Seufzen gibt‹, dachte Prinzeß Maria. Aber wenn sie dann ihren Vater und insbesondere den kleinen Koko sah, erlahmte sie in ihrem Entschluß, weinte im stillen und fühlte, daß sie eine Sünderin war, liebte sie doch Vater und Neffen mehr als Gott.«

Tolstoi hatte nicht nur das Äußere seiner Mutter geerbt – »Prinzeß Maria war sehr häßlich und plump« –, sondern auch ihre Begabung und ihre vornehmsten Eigenschaften, Wahrhaftigkeit und Schlichtheit, und tief im Unbewußten Liebe zu den »Gottesleuten.«

Das begabte und empfindsame Kind, das Mutterliebe nicht gekannt hatte, fühlte sich vom Schicksal benachteiligt und schmiegte sich an jede Frau, die ihm die Mutter zu ersetzen suchte. Das waren: die Kinderwärterin Praskowja Issajewna, die Tante Alexandra Iljinitschna Osten-Sacken und »Tantchen« Tatjana Alexandrowna Jergolskaja.

Tolstois grundlegende Charakterzüge bildeten sich während seiner Kindheits- und Knabenjahre fast ausschließlich unter weiblichem Einfluß aus. Nimmt man hinzu, daß darüber hinaus seine Wesenheit vom weiblichen Elternteil, von der Mutter stammte, so wird seine außerordentliche Empfänglichkeit für alles Weibliche erklärlich, das ihm von seinen Erzieherinnen zufloß, die ebenfalls außergewöhnliche Menschen waren, feinnervig und tief, und schwere Prüfungen durchgemacht hatten.

So zeichnet Tolstoi die Gestalt der alten Wärterin in seinen Erinnerungen:

»Soweit ich mich an mich selbst erinnere, erinnere ich mich auch an sie, an ihre Liebe und Zärtlichkeit, die ich aber erst jetzt voll zu schätzen weiß, während es mir damals gar nicht in den Sinn kam, welch ein seltenes, prächtiges Geschöpf diese alte Frau war. Sie sprach nicht nur niemals über sich, sondern dachte wohl auch nie an sich; ihr ganzes Leben war Liebe und Aufopferung. Ich war so an ihre selbstlose, zärtliche Liebe zu uns (Kindern) gewöhnt, daß ich mir niemals die Frage stellte: Ist sie wohl glücklich? Ist sie zufrieden?«

Seine Tante väterlicherseits Gräfin A. I. Osten-Sacken, ein verwickelter, schwergeprüfter Mensch, hatte scheinbar den nachhaltigsten Einfluß auf Tolstoi, da sie in vielem an seine Mutter erinnerte; auch sie war tief religiös und zeichnete sich ebenfalls durch ihre Liebe zu den »Beleidigten und Gekränkten« aus.

Sie war in sehr jugendlichem Alter mit dem reichen baltischen Grafen K. I. Osten-Sacken verheiratet worden. Aber ihr Mann wurde bald nach der Hochzeit irrsinnig, schoß in einem Anfall von Verfolgungswahnsinn mit einer Pistole auf sie und versuchte wenig später, ihr mit einem Rasiermesser die Zunge abzuschneiden. Er mußte in einer Irrenanstalt untergebracht werden.

Sie war eine wahrhaft religiöse Frau. Tolstoi berichtet: »Ihre Lieblingsbeschäftigung bestand im Lesen von Heiligenleben, in Gesprächen mit Pilgern, Blöden, Mönchen und Nonnen, von denen einige immer bei uns im Hause wohnten, andere Tante nur besuchten ,… Tante war nicht nur äußerlich religiös – hielt die Fasten ein, betete viel, verkehrte mit Menschen, die einen frommen Lebenswandel führten, wie zu ihrer Zeit der Staretz Leonid im Kloster Optina –, sondern befleißigte sich auch selbst eines wahrhaft christlichen Lebenswandels, suchte nicht nur jeden Prunk und jede Dienstleistung anderer zu vermeiden, sondern war auch bemüht, nach Möglichkeit selbst andern zu dienen. Geld hatte sie nie, denn alles, was sie besaß, verteilte sie an Bedürftige ,… In Nahrung und Kleidung war sie so schlicht und anspruchslos, wie es sich nur denken läßt. Sie war immer gleich herzlich und gütig sowohl gegen vornehme Herren und Damen als gegen Nonnen, Pilger und Pilgerinnen.«

Das religiöse Gefühl, das ihre Seele erfüllte, war dermaßen allem übrigen übergeordnet, daß sie sich nicht zu ärgern, nie gekränkt zu sein vermochte, den weltlichen Dingen nicht die Wichtigkeit beimaß, die man ihnen gewöhnlich zulegt. Sie starb im Kloster Optina.

Tolstois dritte Erzieherin war Tatjana Alexandrowna Jergolskaja, deren Einfluß auf sein Leben sich über viele Jahrzehnte erstreckte; er berichtet in seinen Erinnerungen:

»Als kleines Mädchen verlor sie Vater und Mutter und wurde von meiner Großmutter aufgenommen, die ihr die gleiche Erziehung wie den eigenen Töchtern angedeihen ließ. Sie war eine Verwandte meines Vaters ,… Sie wurde von allen zärtlich geliebt und man konnte auch nicht anders als sie ihres festen, entschlossenen und zugleich aufopfernden Charakters wegen lieben.

Sie hat meinen Vater wohl geliebt, und Vater liebte sie wieder, doch hat sie ihn in ihrer Jugend nicht geheiratet, damit er meine reiche Mutter heiraten konnte, und später tat sie es nicht, um das reine, poesieumhauchte Verhältnis zu ihm und uns nicht zu trüben. Unter ihren Papieren, in einem perlengestickten Brieftäschchen befindet sich ein Zettel, geschrieben sechs Jahre nach dem Tode meiner Mutter, dieses Inhalts: »Den 16. August 1836. Nikolas hat mir heute einen seltsamen Vorschlag gemacht, nämlich ihn zu heiraten, seinen Kindern Mutter zu sein und sie niemals zu verlassen. Ich habe den ersten Vorschlag zurückgewiesen und versprochen, den zweiten zu erfüllen, solange mein Leben währt.« Das hat sie niedergeschrieben, aber nie weder zu uns noch sonst zu jemandem davon gesprochen.

Das Vorherrschende an ihr war Liebe, aber (wie sehr hätte ich gewünscht, daß es anders wäre!) Liebe zu einem einzigen Menschen, meinem Vater. Erst von diesem Mittelpunkt aus verbreitete sich ihre Liebe über alle Menschen.

Tantchen Tatjana Alexandrowna hatte den größten Einfluß auf mein Leben. Dieser Einfluß bestand vor allem darin, daß sie mich bereits in meiner Kindheit erkennen lehrte, welch geistiger Genuß in selbstloser Liebe liegt. Sie hat mich das nicht in Worten gelehrt, sondern durch ihr ganzes Wesen infizierte sie mich mit Liebe. Ich sah, ich fühlte, wie wohl es ihr tat so zu lieben, und begriff das Glück der Liebe. Zweitens hat sie mich die Schönheit eines Lebens in Einsamkeit, ohne Hast, erkennen gelehrt.

Nie belehrte sie uns in Worten darüber, wie wir leben sollten, nie hielt sie uns Moralpredigten. Die ganze moralische Klärung vollzog sich in ihrem Innern, nach außen hin traten nur ihre Werke, nein, auch nicht ihre Werke, die gab es nicht, sondern ihr ganzes Leben, dieses stille, sanfte, demütige Leben, das nicht unruhige, mit sich selbst liebäugelnde, sondern stille, unaufdringliche Liebe ausstrahlte.«

Das sind die Frauen, die Leo Tolstoi erzogen und auf die Ausbildung seines Charakters mitbestimmend eingewirkt haben. Den mutterlosen Kindern schenkten sie die Fülle ihrer ungestillten Liebe, vor allem dem kleinen Ljowotschka, dem jüngsten der vier Brüder.

Die Wärterin Praskowja Issajewna, die ergebene, aufopferungsfreudige Sklavin mit dem liebevollen, mitleidigen Herzen. Alexandra Osten-Sacken, ein innerlich gebrochener Mensch, selbstlos, fromm, weltabgekehrt. Und schließlich »Tantchen« Jergolskaja, die Anmutige, Schöne, Feine, die ihrer Liebe entsagt hat, um die Existenz des geliebten Mannes zu sichern.

Die erste war die Schlichtheit selbst, die zweite geistig wohl ein wenig gestört. Die Nervenerschütterung, die sie in jungen Jahren durch ihren Mann, den tobsüchtigen Irren, erlitten, führte zu stiller, krankhafter Religiosität, zu einer Vorliebe für Wallfahrer, Schwachsinnige, Mönche und Nonnen, von denen es im Tolstoischen Hause noch von der Zeit der Mutter her wimmelte. Dieses im Namen Christi vagabundierende Rußland mit seinen Geschichten und Legenden beeinflußte natürlich den kleinen Leo auf das nachdrücklichste. Die dritte dieser Frauen übertrug ihre entsagende Liebe zu dem Grafen Nikolai Iljitsch in restloser Hingabe auf seine Kinder und wirkte insbesondere durch ihre Lauterkeit auf Ljowotschka ein.

Hier also liegen die Wurzeln von Tolstois Charakter: ungewöhnliche Empfindsamkeit, Güte, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Anhänglichkeit und Religiosität, wozu sich von der Mutter her außerordentliche Begabung und feinste Empfänglichkeit für Natureindrücke und Musik gesellen. Durch große Empfindsamkeit zeichnete er sich sein Leben lang aus.

Schon als Kind hatte er eine Schwäche für Tränen, weshalb er von seinen Brüdern auch »Heulliese« genannt wurde. Sehr oft drückte sich bei ihm Mitleid und Liebe durch Tränen aus. In »Kindheit« erzählt er, er habe vor Reue darüber geweint, weil er schlecht über den deutschen Lehrer gedacht hatte, der die Kinder doch so liebte und so gut war; er habe geweint, als er am Tage vor der Abreise nach Moskau von dem geliebten Windhund Milka Abschied nahm, den er dabei auf die Schnauze küßte; laut geschluchzt habe er beim Anblick einer aus dem Nest gefallenen jungen Krähe oder eines jungen Hundes, der getötet werden sollte, oder eines Huhns, das der Küchenjunge in die Küche brachte.

Vielleicht war das gesteigerte Mitleid mit anderen Lebewesen die unbewußte Äußerung desselben Gefühls zu sich selbst wegen seiner Verwaistheit. Schon in diesem zarten Alter ist seine übergroße Sensibilität mit der krankhaften Erscheinung hysterischer Tränenergüsse verknüpft, was späterhin noch ausgeprägter zutage tritt, wenn auch aus anderen Anlässen, aber hier wie dort auf übergroßer Sexualität beruht, die keinen normalen Ausfluß findet.

Die Atmosphäre des Tolstoischen Hauses mit den Gottesleuten, der verkrampften Religiosität der Gräfin Osten-Sacken, der wahrhaft keuschen Tatjana Jergolskaja, die über einen unerschöpflichen Liebesreichtum verfügte, drückte seinen Stempel nicht nur Ljowotschka, sondern ebensowohl seinen Geschwistern auf.

Der innerlich gefestigtste war Nikolai. Beim Tode der Gräfin Maria befand sich der Achtjährige in einem Alter, in dem sich die grundlegenden Wesenszüge des Kindes unter dem Einfluß des ruhigen Lebens an der Seite der Mutter in gewissem Maße schon ausgebildet hatten. Als Ältester hielt er es für seine Pflicht, die jüngeren Geschwister zu begönnern, für sie einzutreten und sie, wo es nötig war, zu trösten. Tolstoi erzählt:

»In früher Kindheit – ich weiß nicht, wie es gekommen war – sagten wir Sie zu ihm. Er war ein ungewöhnlicher Knabe und später ein ungewöhnlicher Mann. Er zeichnete sich vor allem durch feines künstlerisches Empfinden aus, durch außerordentliches Gefühl für das Maß, gutmütig fröhlichen Humor, ungewöhnliche, unerschöpfliche Phantasie und eine in sich wahrhaftige, von höchster Ethik getragene Weltanschauung, und all das ohne jegliche Überheblichkeit. Seine Vorstellungskraft war so lebhaft, daß er stundenlang, ohne stecken zu bleiben oder auch nur zu stocken, Märchen, Gespenstergeschichten oder humoristische Geschichten nach der Art der Radcliffe erzählen konnte und zwar mit solcher Überzeugtheit von der Wirklichkeit des Erzählten, daß er vergaß, daß es Erfindung war.

Einmal, als ich fünf, Mitjenka sechs, Serjosha sieben Jahre alt war, erklärte er uns, er wisse ein Geheimnis, nach dessen Enthüllung alle Menschen glücklich sein würden: es würde dann weder Krankheiten, noch irgendwelche Unannehmlichkeiten mehr geben, niemand mehr würde seinem Nächsten zürnen, alle einander lieben und »Ameisenbrüder« werden. Er meinte wohl die Mährischen Brüder Unübersetzbares Wortspiel; mährisch heißt russisch »morawskij«, Ameise »murawejny«., von denen er gelesen oder gehört haben mochte, in unserer Sprache aber hießen sie Ameisenbrüder. Ich entsinne mich noch, daß mir das Wort ›Ameisenbrüder‹ besonders gefiel, da es mich an Ameisenhaufen erinnerte ,…«

Wenn Nikolai seinen Brüdern auch von der »Ameisenbruderschaft« mitgeteilt hatte, so war ihnen doch das Hauptgeheimnis – »was man tun müsse, damit die Menschen kein Unglück mehr kannten, sich nicht mehr stritten und ärgerten, sondern immer glücklich wären« – verborgen geblieben; Nikolai versicherte, er hätte es auf ein grünes Stäbchen geschrieben und dieses am Wege, am Rande der Erdschlucht vergraben, im Park von Jasnaja Poljana.

Außer diesem Stäbchen gab es noch einen »Fanfaronenberg«, auf den Nikolai seine Brüder zu führen versprach, falls sie »alle dazu erforderlichen Bedingungen erfüllten.« Tolstoi fährt fort:

»Ich denke jetzt, daß Nikolenka von den Freimaurern (franc-maçons) gelesen oder gehört haben mag, von ihren Bestrebungen, die Menschheit glücklich zu machen, von dem geheimnisvollen Aufnahmeritual ihres Ordens, wohl auch von den Mährischen Brüdern, und bei seiner lebhaften Phantasie, bei seiner Liebe zu den Menschen, zum Guten hat er das alles verschmolzen, sich alle diese Geschichten ausgedacht, sich selbst an ihnen gefreut und uns damit den Kopf verdreht.

Das Spiel ›Ameisenbrüder‹ bestand darin, daß wir unter Stühle krochen, die mit Kissen verdeckt, mit Tüchern verhangen wurden, während wir, aneinander geschmiegt, im Dunkel hockten. Ich entsinne mich, daß ich dabei ein ganz besonderes Gefühl von Liebe und Rührung empfand und dieses Spiel sehr liebte.«

Aus dem Spiel der Halbwaisen, die sich aneinanderschmiegten, spricht Mitleid mit sich selbst. Der Vater hat sich den kleinen Kindern wohl nur wenig gewidmet, sie ganz der Obhut ihrer Erzieherinnen überlassend, die gleichfalls an den Spielen der Kinder nicht teilnahmen. Trotz aller Liebe der Tanten fühlten sich die Kinder, die von der Mutter eine ungewöhnliche Empfindsamkeit geerbt hatten, ohne mütterliche Zärtlichkeit vereinsamt. Über dieses ungestillte Liebessehnen, aus dem allmählich »Liebe zur Liebe« wurde, berichtet Tolstoi:

»Ich will noch einen Seelenzustand erwähnen, in dem ich mich in früher Kindheit mehrmals befand und der, wie ich meine, sehr wichtig war, wichtiger als viele, viele späteren Gefühle. Er ist darum wichtig, weil dieser Zustand eine erste Liebeserfahrung war, nicht Liebe zu irgend jemand, sondern Liebe zur Liebe, Liebe zu Gott, – ein Gefühl, das ich später nur selten empfand. Wenn es aber doch da war, so verdanke ich das wohl dem Umstand, daß der Grund dazu in meiner frühesten Jugend gelegt wurde.

Das Ideal der Ameisenbrüder, die sich liebevoll aneinanderschmiegten, bloß nicht unter zwei mit Tüchern verhängten Stühlen, sondern unter dem ganzen Himmelszelt, alle Menschen auf der Welt umfassend, ist für mich noch das gleiche geblieben. Und wie ich damals glaubte, daß es ein grünes Stäbchen gäbe, auf dem das Geheimnis geschrieben steht, wie man alles Böse in den Menschen vernichten und ihnen unendliches Glück bringen könne, so glaube ich auch jetzt, daß es diese Wahrheit gibt.«

Das Gefühl der Verlassenheit, das Mitleid mit sich selbst und den Geschwistern, das unbestimmte Verlangen nach innerlicher Beruhigung trieben das Kind zum Gebet, das im Unbewußten an die Mutter gerichtet war, die einzige Quelle unversiegbarer Liebe und Zärtlichkeit, die dem kleinen Leo so sehr fehlten. Ihr Bild in seiner Vorstellung ist von höchster Liebe umweht.

Die andächtige Stimmung währt länger als das eigentliche Gebet.

»Nach dem Gebet wickelt man sich in die Decke, es ist einem leicht, licht und froh ums Herz, Sehnsuchtsbilder jagen einander, doch was ist ihr Inhalt? Sie sind unfaßlich, aber voll lauterer Liebe und Hoffnung auf ein lichtes Glück. Das Lieblingsspielzeug aus Porzellan, das Häschen oder das Hündchen, wird in die Ecke des Daunenkissens gedrückt, und ich freue mich, wie gut, warm und gemütlich es da liegt. Dann bete ich noch, daß Gott alle Menschen glücklich und zufrieden mache, daß morgen schönes Wetter zum Spazierengehen sein möge, drehe mich auf die andere Seite, Gedanken und Traumbilder verwirren sich, verblassen, und ich schlafe ein, still, ruhig, das Gesicht noch tränennaß.«

Hier liegen die Quellen der ungestillten und unstillbaren Liebessehnsucht, der »Liebe zur Liebe«, die sich ins Krankhafte, bis zu hysterischen Tränen steigert, die Tolstoi sein Leben lang vergoß. Hier liegen auch die Quellen der innerlichen Vereinsamung und Religiosität des Dichters, der unter dem Einfluß von Pilgern, Gottesnarren, Mönchen, Nonnen und andern Gottesleuten heranwuchs, zu denen ja auch seine Erzieherinnen gehörten. Der an dem gastfreudigen Hause der Wolkonskij-Tolstoi nahe vorüberführende »Große Weg« vom Kloster Troizk bei Moskau nach Kijew, zu den Grabstätten der Katakombenheiligen, und nach dem Heiligen Lande, führte auch Tolstoi der Liebe zur Menschheit, der All-Liebe zu.

Die Erzählungen der Wallfahrer von Wandern und Leiden, ihr Durst nach Trost und Wunder, ihre Hoffnung auf die Befreiung vom Joch der Leibeigenschaft allein durch die Zuversicht auf Gottes Barmherzigkeit weckten Mitleid, Glauben und eine fast religiöse Verehrung der Liebe zur Liebe im Herzen des heranwachsenden Kindes. So wird auch im späteren Leben der Wunsch des im Privatleben unglücklichen Dichters begreiflich, ein geistig Armer, »Narr in Christo« zu sein, worüber er seinem Freunde Strachow berichtet. Ein fahrender Gottesnarr wollte er sein, der niemand Leid zufügt und nichts besitzt als sein härenes Hemd.

Auch seine Forderung, man solle sich gegen das Böse nicht auflehnen, entsprießt demselben Boden. Die Saatkörner, die in die zarte Kindesseele gefallen waren, gingen auf und wurden zum elementaren Seelenfeld des Genies. Alles, was der Dichter in früher Kindheit erworben hatte, verblieb ihm auf immer.

Das sind die Wurzeln seiner Wesenheit; zerrüttet durch sein verfehltes Liebes- und Eheleben, brachen sie bei dem Enttäuschten schließlich wieder aus dem dunklen Erdreich des Unbewußten hervor: verkrüppelt und krank.


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