Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

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Reise Lugano-Paris-Erlenbach

August, September 1911

Abfahrt 26. August 1911. Mittag. Die schlechte Idee: Gleichzeitig Beschreibung der Reise und der innerlichen Stellungnahme zueinander, die Reise betreffend. Ihre Unmöglichkeit durch einen vorüberfahrenden Wagen mit Bäuerinnen erwiesen. Die heroische Bäuerin (delphische Sibylle). Einer lachenden schläft im Schoß eine, die aufwachend winkt. Durch die Beschreibung von Maxens Gruß wäre falsche Feindschaft in die Beschreibung gekommen.

Ein Mädchen, die spätere Alice R., steigt in Pilsen ein. Der während der Fahrt bestellte Kaffee wird für den Restaurateur durch grüne kleine Zettel, die an die Fenster geklebt werden, angezeigt. Man muß ihn aber mit Zettel nicht nehmen und bekommt ihn auch ohne. Zuerst kann ich sie nicht sehen, weil sie neben mir sitzt. Erste gemeinschaftliche Tatsache: Ihr eingepackter Hut fliegt auf Max hinunter. So kommen Hüte schwer durch die Waggontüren herein und leicht durch die großen Fenster wieder hinaus. – Max zerstört wahrscheinlich die Möglichkeit einer späteren Beschreibung, indem er als Ehemann, um der Erscheinung die Gefährlichkeit zu nehmen, etwas sagen muß, dabei das Wichtigste ausläßt, das Lehrhafte hervorhebt und ein wenig verhäßlicht. – »Tadellos «, »herausfeuern«, »Null komma fünf Beschleunigung«, »prompt«, Nesthäkchen im Bureau (Verwechseln der Hüte im Bureau, Annageln der Kipfel), unser Witz mit der Karte, die sie in München schreiben wird, die wir von Zürich an ihr Bureau schicken werden und in der es heißt: »Das Vorausgesagte ist leider eingetroffen ... falscher Zug ... jetzt in Zürich ... zwei Tage vom Ausflug verloren.« Ihre Freude. Sie erwartet aber von uns als Ehrenmännern, daß wir nichts zuschreiben. Automobil in München. Regen, rasche Fahrt (zwanzig Minuten), Kellerwohnungsperspektive, Führer ruft Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus, die Pneumatiks rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinemathographen, das Deutlichste: die unverhängten Fenster der ›Vier Jahreszeiten‹, die Spiegelung der Lampen im Asphalt wie im Fluß.

Waschen der Hände und Gesichter in einer »Kabine« auf dem Bahnhof in München.

Koffer im Waggon gelassen. Die Alice in einem Waggon untergebracht, wo eine Dame, die mehr zu fürchten war als wir, ihr ihren Schutz anbietet, was mit Begeisterung angenommen wird. Verdächtig.

Maxens Schlaf im Coupé. Die zwei Franzosen, der eine dunkle lacht immerfort, einmal darüber, daß ihn Max kaum sitzen läßt (so streckt er sich aus), dann darüber, daß er einen Augenblick benützt und Max nicht liegen läßt. Max im Baldachin seines Havelocks. Die Zigaretten des andern mächtigen Franzosen. Essen in der Nacht. Eindringen dreier Schweizer. Einer raucht. Einer, der dann auch nach dem Aussteigen der andern zwei zurückbleibt, ist zuerst unwesentlich, klärt sich erst gegen Morgen auf. Bodensee. Leichtsinnig wie vom Quai aus gesehen. – Die Schweiz während der ersten Morgenstunden sich selbst überlassen. Ich weckte Max beim Anblick einer (Zeichnung einer Brücke) derartigen Brücke und verschaffte mir dadurch den ersten starken Eindruck von der Schweiz, trotzdem ich sie schon lange aus innerer in äußerer Dämmerung anschaue. – Der Eindruck aufrechter, selbständiger Häuser in St. Gallen ohne Gassenbildung. – Winterthur. – Mann in der beleuchteten Villa in Württemberg, der um zwei Uhr in der Nacht auf der Veranda sich über das Geländer beugt. Tür ins Schreibzimmer geöffnet. – Die schon wachenden Rinder in der schlafenden Schweiz. – Telegraphenstangen: Querschnitt von Kleiderhaken. – Erbleichen der Matten bei steigender Sonne. – Erinnerung an das strafhausähnliche Stationsgebäude in Cham, dessen Aufschrift in biblischem Ernst ausgeführt ist. Fensterschmuck scheint trotz seiner Armut gegen Vorschriften zu verstoßen. In zwei weit auseinanderliegendcn Fenstern des großen Hauses stehen, vom Wind bewegt, dort ein großes, hier ein kleines Bäumchen.

Lump auf dem Bahnhof in Winterthur mit Stöckchen, Gesang und einer Hand in der Hosentasche.

Anfrage im Fenster: Wie wird Zürich, die erste große schweizerische Stadt, aus den Einzelhäusern gebildet sein?

Geschäftliche Unternehmungen in Villen.

Viel Gesang in Lindau auf dem Bahnhof in der Nacht.

Patriotische Statistik: Flächeninhalt einer in der Ebene auseinandergezogenen Schweiz. Fremde Schokoladenfirmen.

Zürich. Heraufsteigen des Bahnhofs aus einigen ineinandergegangenen Bahnhöfen der letzten Erinnerung – (Max nimmt es für A + x in Besitz)Anspielung auf die Theorie des »Verschwommenen«, die den Ausgangspunkt des Buches ›Anschauung und Begriff‹ von Felix Weltsch und mir bildet. Das Verschwommene wird dort mit dem graphischen Symbol A + x bezeichnet. .

Historischer Eindruck fremden Militärs. Fehlen dieses Eindrucks beim eigenen – Argument des Antimilitarismus.

Schützen in Zürich auf dem Bahnhof. Unsere Furcht vor dem Losgehen der Gewehre, wenn sie laufen.

Plan von Zürich wird gekauft.

Auf einer Brücke hin und zurück wegen Unentschlossenheit über die zeitliche Aufeinanderfolge von kaltem, warmem Baden und Frühstücken.

Limmatrichtung, Uraniasternwarte.

Hauptverkehrsader, leere Elektrische, Pyramiden von Röllchen im Vordergrund einer Auslage eines italienischen Herrenmodewarengeschäftes.

Nur Künstlerplakate (Kurhotels, Festspiel ›Marignano‹ von Wiegand, Musik von Jermoli).

Erweiterungsbau eines Warenhauses. Beste Reklame. Jahrelanges Aufpassen der ganzen Bevölkerung. (Dufayel.) Briefträger als erste Kuttenträger des herankommenden Südens und Westens schauen wie in Nachthemden aus. Kästchen vor sich hergetragen, Briefe geordnet wie die »Planeten«»Planeten«. Aus dem Tschechischen genommener Ausdruck für die kleinen Kuverts, aus deren Menge ein abgerichteter Papagei das »Schicksalslos« hervorzieht. auf dem Weihnachtsmarkt, hoch gehäuft darüber. Seeanblick. Starkes Sonntagsgefühl bei der Einbildung, hier Bewohner zu sein. Luftreservoir des Sees, nicht zu bebauen. Reiter. Aufgescheuchtes Pferd. Erzieherische Inschrift, vielleicht Relief der Rebekka am Brunnen. Die Ruhe der Inschrift und des Reliefs über der förmlich stark geblasenen Glasform des fließenden Wassers.

Altstadt: Enge steile Gasse, die ein Mann in blauer Bluse schwer herunterläuft. Über Stiegen.

Erinnerung an das vom Verkehr bedrohte Klosett vor Saint Roche in Paris.

Frühstück im alkoholfreien Restaurant. Butter wie Eidotter. ›Zürcher Zeitung‹.

Großmünster, alt oder neu? Männer gehören an die Seiten. Der Küster weist uns bessere Plätze an. Wir folgen ihm, da es in unserer Richtung des Hinausgehens ist. Da er, als wir schon beim Ausgang sind, zu glauben scheint, wir finden diese Plätze nicht, kommt er quer durch die Kirche auf uns los. Wir stoßen einander hinaus. Viel Lachen.

Max: Verwirrung der Sprachen als Lösung nationaler Schwierigkeiten. Der Chauvinist kennt sich nicht mehr aus.

Bad in Zürich: Nur Männerbad. Einer am andern. Schweizerisch: Mit Blei ausgegossenes Deutsch. Zum Teil keine Kabinen, republikanische Freiheit des Sichausziehens vor seinem Kleiderhaken, ebenso Freiheit des Schwimmeisters, mit einer Löschspritze das volle Sonnenbad zu leeren. Dieses Leermachen wird übrigens nicht grundloser gewesen sein, als die Sprache unverständlich ist. Springer: mit auf dem Geländer auseinandergespreizten Füßen springt er erst aufs Sprungbrett und erhöht dadurch den Schwung. – Einrichtung einer Badeanstalt erst bei längerer Benützung zu würdigen. Kein Schwimmunterricht. Irgendein Naturheilkundiger mit langem Haar benimmt sich einsam. Niedrige Seeufer.

Freikonzert des Offizierverkehrsvereins. Unter den Zuhörern ein Schriftsteller mit Begleiter, der in ein mit kleinen Zeilen gefülltes Notizbuch schreibt und nach Beendigung einer Programmnummer von seinem Begleiter fortgezogen wird.

Keine Juden. Max: Die Juden haben sich dieses große Geschäft entgehen lassen. Anfang: Bersaglieri-Marsch. Ende: Pro-Patria-Marsch. Freikonzerte ihrer selbst wegen gibt es in Prag nicht (Luxembourgpark), nach Max republikanisch.

Keller-ZimmerGottfried Keller. versperrt. Verkehrsbureau. Helles Haus hinter dunkler Gasse. Terrassenhäuser am rechten Ufer der Limmat. Blauweiß geflammte Fensterläden. Langsam gehende Soldaten sind Polizisten. Tonhalle. Polytechnikum nicht gesucht und nicht gefunden. Stadthaus. Mittagessen im ersten Stock. Meilener Wein. (Sterilisierter Wein frischer Trauben.) Eine Kellnerin aus Luzern nennt uns die Züge dahin. Erbsensuppe mit Sago, Bohnen mit gerösteten Kartoffeln, Zitronencreme. – Anständige, kunstgewerbliche Häuser. Abfahrt zirka drei Uhr nach Luzern um den See. Die leeren, dunklen, hügeligen, waldigen Ufer des Zuger Sees in vielen Landzungen. Amerikanischer Anblick. Widerwillen auf der Reise gegen Vergleiche mit noch nicht gesehenen Ländern. Große Panoramen im Luzerner Bahnhof. Rechts vom Bahnhof Skating-Rink. Wir treten unter die Diener und rufen: »Rebstock.« Ist das Hotel unter den Hotels wie die Diener unter den Dienern? Brücke (nach Max) teilt wie in Zürich See von Fluß. Wo ist die deutsche Bevölkerung, welche die deutschen Aufschriften rechtfertigt? Kursaal. Die sichtbaren (deutschen) Schweizer in Zürich schienen nicht Hoteliertalente zu sein, hier, wo sie es sind, verschwinden sie, vielleicht sind sogar die Hoteliers Franzosen. Die leere Ballonhalle gegenüber. Das Hineingleiten des Luftschiffs schwer vorstellbar. Roller-Rink, berlinisches Aussehen. Obst. Das Dunkel der Strandpromenade bleibt am Abend abgegrenzt unter den Baumwipfeln. Herren mit Töchtern oder Dirnen. Schaukeln der bis zur untersten scharfen Kante sichtbaren Boote. Lächerliche Empfangsdame im Hotel, lachendes Mädchen führt immerfort weiter hinauf ins Zimmer, ernstes, rotwangiges Stubenmädchen. Kleines Treppenhaus. Versperrter eingemauerter Kasten im Zimmer. Froh, aus dem Zimmer heraus zu sein. Hätte gern Obst genachtmahlt. Gotthard-Hotel, Mädchen in Schweizer Tracht. Aprikosenkompott, Meilener Wein. Zwei ältere Frauen und ein Herr sprechen über das Altern. Entdeckung des Spielsaales in Luzern. Ein Franc Entree. Zwei lange Tische. Wirkliche Sehenswürdigkeiten sind häßlich zu beschreiben, weil es förmlich vor Wartenden geschehen muß. An jedem Tisch ein Ausrufer in der Mitte, mit zwei Wächtern nach beiden Seiten hin.

Höchsteinsatz fünf Francs. »Die Schweizer werden gebeten, den Fremden den Vortritt zu lassen, da das Spiel zur Unterhaltung der Gäste bestimmt ist.«

Ein Tisch mit Kugel, einer mit Pferden. Croupiers in Kaiserrock. »Messieurs, faites votre jeu« – »marquez le jeu« – »les jeux sont faits« – »sont marqués« – »rien ne va plus.« Croupiers mit vernickelten Rechen an Holzstangen. Was sie damit können: Ziehen das Geld auf die richtigen Felder, sondern es, ziehen Geld an sich, fangen von ihnen auf die Gewinnfelder geworfenes Geld auf. Einfluß der verschiedenen Croupiers auf Gewinnchancen oder besser: der Croupier, bei dem man gewinnt, gefällt einem. Aufregung vor dem gemeinsamen Entschluß, zu spielen, man fühlt sich im Saal allein. Das Geld (zehn Francs) verschwindet auf einer sanft geneigten Ebene. Der Verlust von zehn Francs wird als eine zu schwache Verlockung zum Weiterspielen empfunden, aber doch als Verlockung. Wut über alles. Ausdehnung des Tages durch dieses Spiel.

 

Montag 28. August. Mann in hohen Stiefeln frühstückt an der Wand. Dampfer zweiter Klasse. Luzern am Morgen. Schlechteres Aussehen der Hotels. Ehepaar liest Briefe von zu Hause mit Zeitungsausschnitten über Cholera in Italien. Die schönen Wohnsitze nur sichtbar von einer Seefahrt aus, man fährt auch auf ihrem Niveau. Wechselnde Gestalt der Berge. Vitznau, Rigibahn. See durch Blätter gesehen, südlicher Eindruck. Überraschung durch die plötzliche Ebene des Zuger Sees. Heimatliche Wälder. Bahn fünfundsiebzig erbaut, nachschauen im alten ›Über Land und Meer‹. Historischer englischer Boden, hier gingen sie noch kariert und mit Favoris. Fernrohr. Jungfrau weit, Rotunde des Mönches, schwankende heiße Luft bewegt das Bild. Hingelegte Handfläche des Titlis. Durchschnittener Brotlaib eines Schneefeldes. Von oben wie von unten falsche Beurteilung der Höhen. Unentschiedener Streit über die schräge oder ebene Lage des Bahnhofs von Arth-Goldau. Table d'hôte. Schwarze Frau, ernst, scharfer Mundanfang, schon unten neben dem Waggon gesehen, sitzt in der Halle. Englisches Mädchen bei der Abfahrt, jeder Zahn ringsherum gleich. Kleine Französin steigt in das Nebencoupé, erklärt mit ausgestrecktem Arm unser volles Coupé für nicht »complet« und treibt ihren Vater zum Einsteigen und ihre unschuldig und dirnenhaft aussehende ältere kleine Schwester, die mich mit ihren Ellbogen an den Hüften kitzelt. Mehr mit den Zähnen gesprochenes Englisch der alten Dame rechts von Max, für das man den Namen einer Grafschaft sucht. Fahrt Vitznau-Flüelen, Gersau, Beckenried, Brunnen (lauter Hotels), Schillerstein, Tellplatte, ausgelassenes Rütli, zwei Loggien in der Axenstraße (Max dachte sich hier mehrere, weil man auf Photographien immer diese zwei sieht), Urner Becken, Flüelen. Hotel Sternen.

 

Dienstag 29. August. Dieses schöne Zimmer mit Balkon. Die Freundlichkeit. Zu sehr eingesperrt von Bergen. Ein Mann und zwei Mädchen, in Wettermänteln, hintereinander, gehen am Abend durch die Halle, mit Bergstöcken; als sie schon alle auf der Treppe sind, werden sie durch eine Frage des Zimmermädchens aufgehalten. Sie danken, sie wissen schon Bescheid. Auf eine weitere Frage über ihre Bergpartie: »Es war auch nicht so leicht, das kann ich Ihnen sagen.« In der Halle schienen sie mir aus ›Miss Dudelsack‹,eine Operette von Fritz Grünbaum und Heinz Reichert. auf der Treppe Max aus Ibsen, mir dann auch. Vergessener Gucker. Auf der Bahn erfährt man, daß morgen sogar eine alte Dame nach Genua fährt. Jungen mit Schweizer Fahne. Seebad im Vierwaldstätter See. Ehepaar. Rettungsring. Spaziergänger auf der Axenstraße. Schönstes Bad, weil man sich selbständig einrichten konnte. Fischerinnen in weißgelbem Kleid. Einsteigen in die Gotthardbahn. Milchgemischtes Wasser unserer Flüsse. Die ungarische Blume. Die dicken Lippen. Exotische Linie vom Rücken zum Hintern. Der schöne Mann dort bei den Ungarn. Bespuckt in Italien den Boden mit Weintraubenschalen, die aber dem Süden zu verschwinden. Jesuitengeneral auf dem Bahnhof in Göschenen. Plötzliches Italien, hingeworfene Tische vor den Osterien, ein junger Mann in allen Farben, der sich nicht halten konnte, Handbewegungen der Abschied nehmenden Frauen (Nachahmung einer Art Zwickens), schwarze hochgekämmte zur Seite eines Bahnhofes, hellrosa Häuser, verwischte Aufschriften. Später verschwindet das Italienische oder der Schweizer Kern tritt vor. Frauen in dem Bahnwärterhäuschen, erinnert an Kampf. Tessinfälle, ruckweise Fälle überall. Deutsches Lugano. Lärmende Palästra. Post neu gebaut. Hotel Belvedere. Konzert im Kurhaus. Kein Obst.

 

30. August. Von vier Uhr bis elf Uhr nachts mit Max an einem Tisch, zuerst im Garten, dann im Lesezimmer, dann in meinem Zimmer. Vormittag war Bad, Post.

 

31. August. Uhrzeigerhaftes Auftauchen der Schneeberge auf dem Rigi.

 

Freitag 1. September. Abfahrt zehn Uhr fünf von Place Guglielmo Teil. – Schablonenhafte Analogie des Rücksitzes im Wagen und im Schiff. Gerüst für Tuchbespannung auf den Booten wie bei Milchwagen. – Jede Schiffsladung ein Angriff.

Fahrt ohne Gepäck, Hand frei, um den Kopf zu halten. – Gandria: ein Haus hinter dem andern aufgesteckt, Loggien mit farbigen Tüchern, keine Vogelperspektive, Gassen und keine Gassen. S. Margarita mit Springbrunnen auf der Landungsstelle. Villa mit zwölf Zypressen bei Oria. Man kann und wagt sich in Oria ein Haus nicht vorzustellen, dessen Front eine Terrasse mit griechischen Säulen hat – ausgebrannte Häuser nur im Brand richtig. Mamette: mittelalterlicher Zauberhut auf einem Glockenturm. Esel in dem Laubengang früher, eine Hafenplatzseite entlang. Osteno. Der Geistliche in Damengesellschaft. Besondere Unverständlichkeit der Ausrufe. Bei Sätzen kann das Unverständnis drin herumkriechen. Kind im Fenster hinter dem Pissoirtunnel. Kitzelnder Anblick der Eidechsenbewegung an einer Mauer. Fallendes Haar der Psyche. Auf Rädern vorüberfahrende Soldaten und als Matrosen verkleidete Diener des Hotels.

Carlotta-Ilex. Stein-Eiche; abgezogene Haut von kleinen Tieren. Passiflora: physikalisches Balancier-Kunststück. Bambus. Mit Greisenskalps umwickelte Palmenstämme. Bux (Myrte). Aloe (Doppelsägen). Zeder (eine von ihren Ästen umquirlte Lärche), hängende schlaffe ausgeläutete Glocken (Fuchsien), Jubäa (Nashornstamm), Platane. Kakteen. Magnolien (unzerreißbare Blätter ). Australische Farren (Palmen). Zarter Lorbeer. Kugelförmiger Rhododendron. Eukalyptus: entblößter Muskelstamm. Zitronen. Papyrus: dreikantiger Schaft, oben binsenförmig. Sich selbst umschlingende Glycine, riesige Platane. Banane.

Kinder auf der Landungsbrücke in Menaggio, Vater, der auf ihre Kinder stolze Körper der Frau.

Im Wagen Vorüberfahrende zeigen einander die italienischen Jungen.

Staatsmann mit halboffenem Mund (Villa Carlotta).

Französin mit der Stimme meiner Tante und Strohsonnenschirm mit verfaserter dichter Umrandung schreibt in ein kleines Notizbuch über montagne usw. – Schwarzer Mann im Boot in der Umrahmung der Reifen stehend, über die Ruder gebeugt. Zollbeamter überschaut und durchkramt rasch ein Körbchen, als sei alles ein Geschenk für ihn. Italiener im Zug Porlezza-Menaggio. Jedes an einen gerichtete italienische Wort dringt in den großen Raum der eigenen Unkenntnis und beschäftigt daher, ob verstanden oder unverstanden, durch lange Zeit; das eigene unsichere Italienisch kann sich gegenüber der Sicherheit des Italieners nicht halten und wird, ob verstanden oder nicht verstanden, leicht überhört. – Witz des rückfahrenden Zuges von Menaggio, hübscher Gesprächsstoff. – Bootshäuser aus Stein mit Terrassen und Schmuck jenseits der Straße vor den Villen. Große Geschäfte mit Altertümern, Bootsführer: peu de commerce. – Zollkutter (Erzählung von Kapitän Nemo und ›Reise durch die Sonnenwelt‹).Kapitän Nemo ist die Hauptfigur in Jules Vernes 1869 veröffentlichtem Roman ›Vingt mille lieues sous les mers‹. – ›Die Reise durch die Sonnenwelt‹ ist der stark abgekürzte deutsche Titel für Jules Vernes 1877 erschienenen Roman ›Hector Servadac. Voyages et aventures à travers le monde solaire‹.

 

2. September. Samstag. Zittern des Gesichts im kleinen Dampfer. Geschürzte Vorhänge (braun mit weißer Randzeichnung) vor den Läden (Cadenabbia). Bienen im Honig. Einsame verdrießliche Frau mit kurzem Oberleib, Sprachlehrerin. Korrekter Herr mit hochgezogenen Hosen. Seine Unterarme schweben über dem Tisch, als umfaßten die Hände statt Messer und Gabelgriff das Ende einer Lehne. Kinder im Anblick der schwachen Raketen: encore un – Zischen – Armeaufstrecken. Schlechte Fahrt im kleinen Dampfer. Mitbeteiligungen an der Bewegung zu groß. Zuwenig hoch, um die frische Luft zu spüren und die Gegend frei zu überblicken, der Lage der Heizer angenähert. Bad zwischen Castagnola und Gandria auf von uns erbauten Sitzen. Vorbeiziehende Gruppe: Mann, Kuh und Frau. Sie erzählt. Schwarzer Turban, loses Kleid. – Herzklopfen der Eidechsen. Aufwand von Energie eines Herrn: spätes Servieren im Lesezimmer, gleichzeitig Bier, Wein, Fernet Branca, Ansichtskarten, leichtes Seufzen. Kleiner Junge des Wirtes streckt mir, ohne daß ich früher mit ihm gesprochen hätte, auf Ermahnung seiner Mutter den Mund zum Gutenachtkuß hin. Hat mir geschmeckt. – Gandria: statt Gassen Kellertreppen und Kellerkorridore. Ein Junge wird geschlagen, dumpfer Klang geklopfter Betten. Von Efeu überwachsenes, am Rand mit Efeu bespritztes Haus. In Gandria Näherin am Fenster ohne Jalousien, Vorhänge und Scheiben. Wir stützen einander auf dem Weg vom Badeplatz nach Gandria, so müde sind wir. Feierlicher Zug von Booten hinter einem kleinen schwarzen Dampfer. Junge Herren in Betrachtung von Bildern, kniend, hockend auf dem Landungssteg in Gandria, einer ganz weiß, als Mädchenfreund und Lustigmacher uns wohl bekannt. – In Porlezza am Abend auf dem Quai. Ein schon vergessener Franzose mit Vollbart bringt beim Wilhelm-Tell-Denkmal seine Merkwürdigkeit wieder in Erinnerung. Dieses Denkmal mit Ausflußrohr einer Küchenwasserleitung, Messing aus Stein.

 

3. September, Sonntag. Ein Deutscher mit Goldzahn, an dem sich sein Beschreiber auch bei sonstiger Unklarheit des Eindrucks festhalten kann, bekommt um dreiviertelzwölf noch eine Eintrittskarte in die Schwimmanstalt, trotzdem sie um zwölf gesperrt wird, worauf ihn gleich im Innern der Schwimmeister in unverständlichem, daher etwas strengem Italienisch aufmerksam macht. Durch dieses Italienisch auch innerhalb seiner Muttersprache verwirrt, fragt der Deutsche stammelnd, warum man ihm dann eine Fahrkarte bei der Kassa verkauft habe, und beklagt sich, daß man ihm eine Fahrkarte verkauft hat, und führt an, man hätte ihm keine Fahrkarte mehr verkaufen dürfen. Aus der italienischen Antwort hört man durch, daß er ja noch fast eine Viertelstunde zum Baden und Anziehen Zeit habe. Tränen geweint. – Auf dem Faß im See gesessen. Hotel Belvedere: »Alle Anerkennung dem Wirt, aber das Essen ist miserabel.«

 

4. September. Cholera-Informationen: Verkehrsburau, ›Corriere della Sera‹, Norddeutscher Lloyd, ›Berliner Tageblatt‹, Stubenmädchen bringt Informationen eines Berliner Arztes, je nach der Gruppierung und dem eigenen körperlichen Zustand ändert sich der durchschnittliche Charakter dieser Nachrichten, bei der Abfahrt von Lugano nach Proto Ceresio, ein Uhr fünf, ist er ziemlich günstig. – Flüchtige Begeisterung für Paris, im Wind, der den vor uns gehaltenen ›Excelsior‹ vom 3. September bläht, mit dem wir zu einer Bank laufen. Auf der Brücke über den Luganosee sind noch einige Plätze für Reklametafeln zu vermieten...

 

ad Freitag. Die drei Kerle treiben uns von der Schiffsspitze, weil vielleicht der Steuermann freien Ausblick auf das Licht vorn haben muß, schieben dann aber eine Bank hin und setzen sich selbst. Ich hätte gern gesungen.

 

Freitag. Unter den Augen des Italieners, der uns zur Reise nach Turin (Ausstellung) rät und dem wir zunicken, durch Handschlag bekräftigter gemeinsamer Entschluß, um keinen Preis nach Turin zu fahren. Lob der reduzierten Karten. Radfahrer macht Rundfahrten auf der Seeterrasse eines Hauses in Porto Ceresio. Peitsche, die statt des Riemens nur ein kleines Schwänzchen aus Roßhaar hat. Fahrender Radfahrer hält neben ihm trabendes Pferd an einem Strick.

 

Mailand: Führer in einem Geschäft vergessen. Zurückgegangen und [ihn] gestohlen. Im Hof der Mercanti Apfelstrudel gegessen. Gesundheitskuchen. Teatro Fossati. Alle Hüte und Fächer in Bewegung. Lachen eines Kindes in der Höhe. Programm verklebt durch einen Reklamezettel. Eine ältere Dame im Männerorchester. Poltrone. – Ingresso. – Orchester in einer Ebene mit dem Zuschauerraum. Reklame von Lancia, aufgenommen in die Plafonddekoration eines Salons. Alle Fenster der Rückwand offen. Großer starker Schauspieler mit zart getupften Nasenlöchern, deren Schwarz auffallend bestehen bleibt, wenn auch die Ränder des zurückgebogenen Gesichtes im Licht verschwimmen. Mädchen mit hohem, dünnem Hals läuft mit kurzen Schritten und steifen Ellenbogen aus dem Zimmer und läßt die zum hohen Halse passenden hohen Stöckel ahnen. Überschätzung des Lachens, denn vom nicht verstehenden Ernstsein zum Lachen ist es weiter als vom eingeweihten Ernstsein. Bedeutung jedes Möbelstückes. Fünf Türen in beiden Stücken für jeden Fall. Nase und Mund eines Mädchens niedergeleuchtet von den gemalten Augen. Herr in der Loge öffnet beim Lachen den Mund bis zu einem rückwärtigen Goldzahn, der dann den Mund ein Weilchen so offen hält. Auf andere Weise nicht zu erreichende Einheit zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie es jene ist, die sich für und gegen den Zuschauer bildet, der die Sprache nicht versteht.

Junge Italienerin mit sonst jüdischem Gesicht, das sich im Profil ins Unjüdische verschiebt. Wie sie aufstand, die Hände zur Brüstung vorstreckte und nur der schmale Körper zu sehen war, ohne die Verbreiterung der Arme und Schultern, wie sie zu den Fensterpfosten die Arme ausbreitete, wie sie sich mit beiden Händen an einem Pfosten festhielt, im Zugwind wie an einem Baum. Sie las eine Detektivbroschüre, um die sie ihr kleiner Bruder lange vergebens gebeten hat. Ihr Vater nebenan mit scharf gekrümmter Nase, während ihre an der gleichen Stelle eben sanft, darum jüdischer gebogen war. Sie sah mich öfters an, aus Neugierde, ob ich mit meinem lästigen Hinsehen nicht doch endlich aufhören möchte. Ihr Kleid aus Rohseide. Dicke große duftende Dame neben mir, die ihr Parfüm mit dem Fächer in der Luft verteilt. Ihr vieles Fleisch hält es im flachen Fluß nicht aus und steigt gleich hinter den Zehen in die Höhe. Ich fühle mich neben ihr eintrocknen. – Im Gepäckraum hat der Blechschirm der Gasflamme die Form eines flachen Mädchenhutes. Unterhaltend verschiedene Gitter in den Häusern. Unter den Bogen der Einfahrt zur Scala haben wir sie gesucht und waren gegenüber ihrer einfachen abgekratzten Fassade über diesen Irrtum auch dann nicht erstaunt, als wir auf den Platz hinaustraten.

Wachsende Billigung des sich ins Innere der Stadt hin steigernden Verkehrs, bis man auf dem Domplatz nichts sieht als langsam das Denkmal Vittorio Emmanuels umfahrende Elektrische, sich abwendet und ein Hotel sucht.

Freude über die Verbindung zwischen den zwei Zimmern, die durch eine Doppeltüre hergestellt ist. Jeder kann eine Tür öffnen. Max hält dies auch für Ehepaare passend. – Zuerst einen Gedanken niederschreiben, dann vorlesen, nicht vorlesend schreiben, da dann nur der im Innern vollzogene Anlauf gelingt, während das weiter noch zu Schreibende sich losmacht. – Gespräch über Scheintod und Herzstich an einem Caféhaustischchen auf dem Domplatz. Mahler hat auch den Herzstich verlangt. Die beabsichtigte Zeit des Aufenthaltes in Mailand schrumpft unter diesem Gespräch trotz eines kleinen Widerstandes von meiner Seite sehr zusammen. – Der Dom belästigt mit seinen vielen Spitzen. – Entwicklung des Entschlusses, nach Paris zu fahren: der Augenblick in Lugano über dem ›Excelsior‹, Reise nach Mailand infolge des nicht ganz freiwilligen Einkaufes der Karten nach Mailand über Porto Ceresio, von Mailand nach Paris aus Angst vor der Cholera und aus dem Verlangen nach Belohnung für diese Angst. Überdies Berechnung der finanziellen und zeitlichen Vorteile dieser Reise.

I. Rimini–Genua–Nervi (Prag).

II. Oberitalienische Seen, Mailand–Genua (Prag) (Schwanken zwischen Locarno und Lugano).

III. Maggiore auslassen, Lugano, Mailand, Städtereise bis Bologna.

IV. Lugano–Paris.

V. Lugano–Mailand (mehrere Tage)–Maggiore.

VI. in Mailand: direkt nach Paris (evtl. Fontainebleau).

VII. ausgestiegen in Stresa. Damit bekommt die Reise zum erstenmal einen guten Rückblick und Vorblick, sie ist ausgewachsen und wird deshalb um die Taille gefaßt. So klein wie in der GalerieGemeint ist (im Rückblick) die Galerie Vittorio Emmanuele in Mailand. habe ich Menschen noch nie gesehen. Max behauptet, die Galerie sei nur so hoch, als man auch im Freien Häuser sieht, ich leugne es mit einem vergessenen Einwand, wie ich mich überhaupt immer für diese Galerie einsetzen werde. Sie hat fast keinen überflüssigen Schmuck, hält den Blick nicht auf, scheint infolgedessen, sowie auch infolge ihrer Höhe kurz, erträgt aber auch das. Sie bildet ein Kreuz, durch das die Luft frei weht. Vom Dach des Domes aus scheinen die Menschen gegenüber der Galerie größer geworden. Ich kann mich mit der Galerie vollständig darüber trösten, daß ich die alt-römischen Überbleibsel nicht gesehen habe. Transparente Überschrift in der Tiefe des Flurs über dem Bordell: Al vero Eden. Starker Verkehr mit der Gasse meist durch einzelne. Hin und her in den schmalen Gassen der Umgebung. Sie sind rein, haben trotz ihrer Schmalheit mehrere Bürgersteige, einmal sehen wir aus einer schmalen Gasse in einer anderen rechtwinklig einbiegenden im letzten Stockwerk eines Hauses eine Frau am Fenstergitter lehnen. Ich war damals in allem leicht und entschlossen und fühlte, wie immer in solcher Laune, meinen Körper schwerer geworden. Die Mädchen sprachen ihr Französisch wie Jungfrauen. Mailänder Bier riecht wie Bier, schmeckt wie Wein. Max bedauert Geschriebenes nur während des Schreibens, später niemals. Max führt aus Angst eine Katze im Lesezimmer spazieren. –

Das Mädchen, dessen Bauch im Sitzen über und zwischen den auseinandergereckten Beinen unter dem durchscheinenden Kleid zweifellos unförmlich war, während er, als sie aufstand, sich zerzog wie eine Theaterdekoration hinter Schleiern und einen schließlich erträglichen Mädchenleib bildete. Die Französin, deren Süßigkeit für den abschließenden Blick sich vor allem in den runden und doch detaillierten, plauderhaften und anhänglichen Knien zeigte. Eine befehlshaberische Denkmalsfigur, die das eben verdiente Geld in den Strumpf schiebt. – Der Greis, der auf einem Knie die beiden Hände übereinanderlegt. – Die bei der Tür, deren böses Gesicht spanisch, deren Einlegen der Hände in die Hüften spanisch ist und die sich in einem miederartigen Kleid aus Präservativseide streckt. – Bei uns entfremden die deutschen Mädchen in Bordellen ihre Gäste auf ein Weilchen ihrer Nation, hier tun es die französischen. Vielleicht ungenügende Kenntnisse dieser heimischen Verhältnisse. – Gestrafte Leidenschaft für Eisgetränke: ein Grenadine, zwei Aranciate im Theater, eins in der Bar am Corso Emmanuele, ein Sorbet im Kaffeehaus in der Galerie, ein französisches Mineralwasser Thierry, das mit einemmal die Wirkungen alles Früheren enthüllt. Trauriges Schlafengehen im Anblick eines stark italienischen weitgreifenden Prospektes vom Bett aus, der durch ein etwas vorspringendes Fenster einer Seitenfront erzeugt wird. Trostloses Erwachen mit dem trockenen Druck gegen alle Rachenwände. – Gar nicht beamtenmäßige Eleganz der Wachleute, wenn sie, die ausgezogenen Zwirnhandschuhe in der einen Hand, das Stöckchen in der andern, einen Dienstweg machen.

 

5. September. Banca Commerciale auf dem Scalaplatz. Briefe von zu Hause. – Karte an den Chef. – Staunender Eintritt in den Dom zwischen Portieren, braun wie in Cadenabbia. – Verlangen, ein Architekturbild des Doms zu liefern, weil der Dom rundherum eine reine Darstellung der Architektur ist, im größten Teil keine Bänke, wenige Standbilder an den Säulen, wenige und nur dunkle Bilder an den fernen Wänden hat und die einzelnen Besucher auf den Bodenplatten als Maßstäbe seiner Größe aufgestellt sind oder als Maßstäbe seiner Ausdehnung sich bewegen. – Erhaben, aber viel zu rasch an die Galerie erinnernd. – Unverantwortlich, ohne Notizen zu reisen, selbst zu leben. Das tödliche Gefühl des gleichförmigen Vergehens der Tage ist unmöglich. – Aufstieg zum Domdach. Ein vorausgehender junger Italiener erleichtert uns den Aufstieg, indem er eine Melodie summt, den Rock auszuziehen versucht, durch Ritzen schaut, durch die nur Sonnenlicht zu sehen ist und immer auf die Ziffern tippt, welche die Stufenanzahl anzeigen. – Ausblick von der vorderen Dachgalerie. Der Mechanismus der Elektrischen unten ist etwas verdorben, so schwach rollen sie, nur durch die Biegung der Geleise geführt. Ein Schaffner eilt schief und niedergedrückt, von unserem Standpunkt aus gesehen, zu seiner Elektrischen und springt auf. – Ein Wasserspeier in Mannsgestalt, dem Wirbelsäule und Gehirn herausgenommen, damit das Regenwasser einen Weg hat. – In jedem der großen farbigen Fenster herrscht die in den einzelnen Bildern immer wiederkehrende Farbe eines Kleides vor. – Max: Bahnhof in der Auslage eines Spielzeuggeschäftes, Schienen, die sich zum Kreis schließen und nirgends hinführen, ist und bleibt der stärkste Eindruck von Mailand. In der Auslage wäre die Zusammenstellung des Bahnhofs mit dem Dom durch das Streben, die Mannigfaltigkeit des Lagers zu zeigen, erklärlich. – Von der Hintertür des Doms schaut man einer großen Dachuhr gerade ins Gesicht. – Max: Weg zum Kastell durch seinen Anblick erspart. – Teatro Fossati. – Fahrt nach Stresa. Reliefbewegungen der im gefüllten Coupé Schlafenden. Liebespaar. – Nachmittags in Stresa.

 

Mittwoch 6. September. Böswerden, abends Erfindungen von Hotels.

 

Donnerstag, 7. September. Bad, Briefe, Abfahrt. – Schlaf in der Öffentlichkeit.

 

Freitag, 8. September. Reise. Italienerpaar, angeblich Frau Salus. Geistlicher. Amerikaner. Die zwei kleinen Französinnen mit viel Fleisch um den Popo. Montreux. Die Beine gehen einem auseinander auf den großen Pariser Straßen. – Fußbad von der Kante des Bettpfostens aus. – Nachtlämpchen der Sommerlokale. – Die Anlage der Place de la Concorde, die die Attraktionen in die Ferne schiebt, so sie der Blick leicht findet, aber nur, wenn er sie sucht.

 

École Florentine (XV. Jahrhundert): Apfelszene.Bilder im Louvre. – Tintoretto: Suzanne. – Simone Martini (1284-1344): Jésus Christ marchant au Calvaire. (École de Sienne) – Mantegna: (1431–1506): La Sagesse victorieuse des Vices (École Vénitienne) – Tizian (1477–1576): Le Concile de Trente. – Raffael: Apollo und Marsyas. – Velásquez (1599–1660): Portrait de Philippe IV Roi d'Espagne. – Jacob Jordaens (1593–1678): Le concert après le repas. – Rubens: Kermesse.

 

Confiserie de l'enfant gâté, Rue des Petits Champs. – Wäscherinnen im Morgennegligé. – Rue des Petits Champs, so eng, daß sie ganz im Schatten bleibt. Selbst wenn die eine Häuserreihe ganz beschienen ist, dieser Unterschied in der Beleuchtung sehr nah aneinandergerückter Häuser. – Le sou du soldat, societé anonyme. Capital 1 mill., Avenue de l'Opéra. – Robert, Samuel. – Ambassadeur: Trommelwirbel mit einer im Doppel-S sich ankündigenden Blasmusik, vor der im »eur« die Trommlerstäbe noch im Schwung sich heben und still sind. – Gare de Lyon. Hosenträgerersatz der Erdarbeiter sind Schärpen in vielen Farben um den Leib, was hier, wo Schärpen offizielle Bedeutung haben, auch demokratisch wirkt. Ich wußte nicht recht, ob ich verschlafen war, und beschäftigte mich im Wagen und den ganzen Vormittag damit. Achtgeben, daß man die Kindermädchen nicht für französische Gouvernanten deutscher Kinder hält. – Prise de Salins 17 mai 1668, par Mr. La Farge.Bilder im Schloß von Versailles. Im Fond ein Rotgekleideter auf weißem, ein Dunkler auf dunklem Pferd, erholen sich von der Belagerung einer Stadt im Hintergründe, auf einem Ausritt bei heranziehendem Gewitter. – Voyage de Louis XVI à Cherbourg, 23 juin 1786. Das Boot mit Ludwig wird, während er mit der gegen Cherbourg ausgestreckten Hand eine Bemerkung zu den hinter ihm stehenden Höflingen macht, vor allem zu einem, der die Hand auf die Brust legt, von den Bootsleuten, je drei Reihen auf jeder Seite, auf den zusammengebundenen Rudern ans Land getragen. Frauen, leicht gekleidet, schwingen sich vom Land entgegen, ein Mann schaut durch ein Teleskop. Der Wagen wartet. Aus andern Booten wird man auf Stegen aussteigen müssen, einer wird gerade hier vorgezogen. – Bivouak de Napoléon sur le champ de bataille de Wagram, nuit du 5 au 6 juillet 1809. Napoleon sitzt allein, das eine Bein auf einen niedrigen Tisch gelegt. Hinter ihm ein rauchendes Lagerfeuer. Die Schatten seines rechten Beines und der Tisch- und Sesselbeine liegen vorn strahlenförmig um ihn. Stiller Mond. Die Generäle im entfernten Halbkreis schauen ins Feuer und auf ihn. –

Die charakteristische Flächenlage: Hemden, Wäsche überhaupt, Servietten im Restaurant, Zucker, große Räder der meist zweirädrigen Wagen, Pferde einzeln hintereinandergespannt, flächige Dampfer auf der Seine, die Balkone teilen die Häuser in die Quere und verbreitern diese flächigen Querschnitte der Häuser, die flachgedrückten breiten Kamine, die zusammengelegten Zeitungen. –

 

Das gestrichelte Paris: die aus den flachen Kaminen herauswachsenden hohen dünnen Kamine mit den vielen kleinen blumentopfartigen – die äußerst stummen alten Gaskandelaber – die Querstriche der Jalousien, denen sich in den Vorstädten die gestrichelten Schmutzabdrücke auf der Hauswand anfügen – die dünnen Leisten auf den Dächern, die wir in der Rue Rivoli sahen – das gestrichelte Glasdach des Grand Palais des Arts – die strichweise geteilten Fenster der Geschäftsräume – die Gitter der Balkone – der aus Strichen sich bildende Eiffelturm – die größere Strichwirkung der Seiten- und Mittelleisten der Balkontüren gegenüber unseren Fenstern – die Sesselchen im Freien und die Caféhaustischchen, deren Beine Striche sind – die goldspitzigen Gitter der öffentlichen Gärten.

 

Wie leicht Grenadine mit Selter beim Lachen durch die Nase geht (Bar vor der Opéra Comique).

 

Perronkarte, dieser rohe Eingriff ins Familienleben ist unbekannt.

 

Allein im Lesezimmer mit einer schwerhörigen Dame, der ich mich, als sie anderswohin schaute, nutzlos vorgestellt habe und die den von mir angezeigten Regen draußen für noch weiter andauernde Schwüle hält. Sie legt Karten nach einem seitwärts liegenden Buch, in das sie angestrengt schaut, den Kopf auf die zur Faust geschlossene Hand gestützt, in der wohl hundert noch unverbrauchte kleine beiderseitig bedruckte Miniaturkarten liegen. Neben mir, den Rücken mir zugewendet, liest ein alter schwarzgekleideter Herr die ›Münchner Neuesten Nachrichten‹. – Ein starker dickflüssiger Regen. – Gefahren mit einem jüdischen Goldarbeiter. Er ist aus Krakau, etwas über zwanzig Jahre alt, war zweieinhalb Jahre in Amerika, hat jetzt in Paris zwei Monate gelebt und nur vierzehn Tage Arbeit gehabt. Schlecht gezahlt (nur zehn Francs täglich), schlechter Geschäftsboden. Wenn einer neu in eine Stadt kommt, weiß er nicht, was seine Arbeit wert ist. Schönes Leben in Amsterdam. Lauter Krakauer. Man weiß jeden Tag, was in Krakau Neues ist, denn immer fährt einer hin oder kommt einer von dort. Gassenlang wird nur polnisch gesprochen. Großer Verdienst in New York, denn dort verdienen alle Mädchen viel und können sich putzen. Damit kann sich Paris nicht vergleichen, der erste Schritt auf die Boulevards zeigt das. Aus New York weggefahren, weil seine Leute doch hier sind und weil sie ihm geschrieben haben: wir leben in Krakau und verdienen auch, wie lange wirst du eigentlich noch in Amerika bleiben? Ganz richtig. Begeisterung für das Leben der Schweizer. Das müssen ja riesenstarke Leute werden, wenn sie so auf dem Land leben und Viehwirtschaft treiben. Und die Flüsse! Die Hauptsache ist doch, daß man nach dem Aufstehn in fließendes Wasser kommt. – Er hat langes, geringeltes, nur gelegentlich von den Fingern durcharbeitetes Haar, starken Glanz in den Augen, langsam gekrümmte Nase, Höhlungen unten in den Wangen, amerikanisch geschnittenen Anzug, zerfranstes Hemd, überhängende Socken. Sein Koffer ist klein, er trägt ihn aber beim Aussteigen wie eine Last. Sein Deutsch unruhig gemacht von englischen Betonungen und Wendungen, der Jargon kann sich ausruhn, so stark ist das Englische. Lebhaftigkeit nach der durchfahrenen Nacht. »Sie sind Österreicher? Ja. Sie haben auch so einen Regenkragen. Das haben alle Österreicher.« Ich beweise durch Vorzeigen der Ärmel, daß es kein Kragen, sondern ein Mantel ist. Er bleibt weiter dabei, daß alle Österreicher Kragen haben. Sie werfen ihn so über. Er wendet sich dabei zu einem Dritten und zeigt ihm, wie sie das machen. Er tut so, als befestige er etwas hinten am Hemdkragen, nickt mit dem Körper, um zu sehn, ob es hält, zieht dann dieses Etwas zuerst über den rechten, dann über den linken Arm und hüllt sich schließlich ganz ein, bis ihm, wie man erkennt, gerade angenehm warm wird. Bewegungen der Beine zeigen, trotzdem er sitzt, wie leicht und geradezu sorglos ein Österreicher in so einem Kragen gehen kann. Es ist fast gar kein Spott dabei, es wird vielmehr vorgebracht wie von einem, der Reisen gemacht und daher einiges gesehen hat. Etwas Kindlichkeit mischt sich zu.

 

Mein Spaziergang im dunklen Gärtchen vor dem Sanatorium. Morgenturnen mit Absingen eines ›Wunderhorn‹-Liedes, das einer auf dem Piston vorbläst.

Der Sekretär, der jeden Winter Fußreisen macht, nach Budapest, Südfrankreich, Italien. Bloßfüßig, nährt sich dann nur von Rohkost (Schrotbrot, Feigen, Datteln), wohnte mit zwei andern vierzehn Tage lang in der Gegend um Nizza, meist nackt in einem verlassenen Hause. Dickes kleines Mädel, das sich häufig in der Nase bohrt, gescheit, aber nicht besonders hübsch ist, eine Nase ohne Zukunft hat, Waltraute heißt und von der ein Fräulein sagt, daß sie etwas Strahlendes habe.

Die Säulen im Speisesaal, über die ich im Prospekt nach der Abbildung (hoch, glänzend, Marmor durch und durch) erschrak, derentwegen ich mich während der Überfahrt auf dem kleinen Dampfer verwünschte und die schließlich sehr bürgerlich aus Ziegeln gebaut waren, schlechte Marmorzeichnung tragen und auffallend niedrig sind.

Lustiges Gespräch eines Mannes im Birnbaum meinem Fenster gegenüber mit einem mir nicht sichtbaren Mädchen im Erdgeschoß.

Angenehmes Gefühl, als der Arzt wieder und wieder mein Herz abhorchte, den Körper immer wieder anders gelegt haben wollte und nicht ins reine kommen konnte. Besonders lange betastete er die Herzgegend, es dauerte so lange, daß es fast gedankenlos schien.

Streit der Frauen nachts im Coupé, dessen Lampe sie verhängt haben. Wie die liegende Französin aus dem Dunkel schrie und die von ihren Füßen an die Wand gedrückte, schlecht französisch sprechende ältere Frau sich nicht zu helfen wußte. Nach der Meinung der Französin sollte sie von diesem Platz weggehn, ihr vieles Gepäck auf die andere Seite, den Rücksitz, transportieren und sie dort ausstrecken lassen. Der griechische Arzt aus meinem Coupé gab ihr in schlechtem, klarem, scheinbar auf der deutschen Sprache basiertem Französisch ausdrücklich Unrecht. Ich holte den Schaffner, der sie auseinandersetzte.

 

Schön wieder mit jener Dame beisammen, die übrigens auch eine Schreibnärrin ist. Sie trägt eine Schreibmappe bei sich, mit viel Briefpapier, Karten, Federn und Bleistiften, was im ganzen sehr anfeuernd ist.

Jetzt ist es hier wie in einer Familie. Draußen regnet es, die Mutter legt Karten und der Sohn schreibt. Sonst ist niemand im Zimmer. Da sie schwerhörig ist, könnte ich ihr auch Mutter sagen.

Trotz meines äußersten Widerwillens gegen das Wort »Typus« halte ich es doch für wahr, daß durch die Naturheilkunde und was damit zusammenhängt ein neuer Typus entsteht, den zum Beispiel Herr Fellenberg, den ich allerdings nur oberflächlich kenne, repräsentiert. Leute mit dünner Haut, ziemlich kleinem Kopf, übertrieben reinlich aussehend, mit ein, zwei kleinen, nicht zu ihnen gehörigen Einzelheiten (bei Hr. F. fehlende Zähne, Bauchansatz), größere Magerkeit, als sie zur Anlage ihres Körpers passend scheint, das heißt unterdrücktes Fett, Behandlung ihrer Gesundheit, als wenn es eine Krankheit wäre oder zumindest ein Verdienst (womit ich nicht tadle), mit allen sonstigen Folgen eines so forcierten Gesundheitsgefühls.

 

In der Opéra Comique auf der Galerie. In der ersten Reihe ein Herr im Gehrock und Zylinder, in einer der letzten ein Mann im Hemd (das er vorn noch eingelegt hat, um die Brust frei zu bekommen), bereit, ins Bett zu steigen.

 

Der Trompetenbläser, den ich für einen lustigen glücklichen Menschen gehalten hätte (denn er ist beweglich, hat scharfe Einfälle, sein Gesicht ist von blondem Bart niedrig umwachsen und endet in einem Spitzbart, er hat gerötete Wangen, blaue Augen, ist praktisch angezogen), hat mich heute im Gespräch über seine Verdauungsbeschwerden mit einem Blick angesehn, der auffallend mit gleicher Stärke aus beiden Augen kam, die Augen förmlich spannte, mich traf und schief in die Erde ging.

 

Nationale Streitigkeiten in der Schweiz. Biel, eine vor ein paar Jahren ganz deutsche Stadt, ist durch Einwanderung vieler französischer Uhrmacher in Gefahr, französiert zu werden. Der Tessiner Kanton, der einzige italienische, will von der Schweiz los. Es gibt eine Irredenta. Die Italiener haben nämlich im siebengliedrigen Bundesrat keine Vertretung, sie käme ihnen bei ihrer kleinen Zahl (vielleicht 180 000) nur in einem neungliedrigen zu. Man will aber die Zahl nicht ändern. Die Gotthardbahn war deutsches Privatunternehmen, hatte deutsche Beamte, die gründeten eine deutsche Schule in Bellinzona, jetzt, da sie staatlich ist, wollen die Italiener italienische Beamte und Aufhebung der deutschen Schule. Und über das Schulwesen hat tatsächlich nur die Kantonalregierung zu entscheiden. Gesamtbevölkerung: zwei Drittel Deutsche, ein Drittel Franzosen und Italiener.

 

Der kranke griechische Arzt, der mich mit seinem Husten mitten in der Nacht aus dem Coupé vertrieb, kann, wie er behauptet, nur Hammelfleisch vertragen. Da er in Wien übernachten muß, bat er mich, ihm den deutschen Ausdruck aufzuschreiben.

 

Trotzdem es regnete, ich später ganz allein war, mein Unglück mir immer gegenwärtig ist, im Speisesaal Gesellschaftsspiele gespielt wurden, an denen ich mich wegen Unfähigkeit nicht beteiligte, ja trotzdem ich endlich nur Schlechtes schrieb, fühlte ich doch weder das Häßliche noch das Entehrende, weder das Traurige noch das Schmerzliche dieses übrigens organischen Alleinseins – wie wenn ich nur aus Knochen bestünde. Wobei es mir Freude machte, daß ich oben auf dem Block meiner verstopften Därme ein bißchen Appetit zu spüren glaubte. Die Dame, die sich in einem Zinngeschirr Milch holte, kam zurück und fragte mich, ehe sie sich in ihre Karten wieder einarbeitete: »Was schreiben Sie eigentlich? Beobachtungen? Tagebuch?« und da sie wußte, daß sie meine Antwort nicht verstehen würde, fragte sie gleich weiter: »Sind Sie Student?« Ich antwortete, ohne an ihre Schwerhörigkeit zu denken: »Nein, aber ich habe studiert«, während sie schon wieder Karten legte, ich mit diesem Satz allein blieb und, durch sein Gewicht gezwungen, sie noch eine Weile ansah.

 

Wir sind zwei Männer an einem Tisch mit sechs oder sieben Schweizer Frauen. Wie sich da die entferntesten Schüsseln, wenn ich nur halbwegs den Teller leer habe oder aus Langeweile im Saal herumschaue, erheben, in den Händen der Frauen (ich rede sie Frau und Fräulein durcheinander an) sich rasch nähern, und wenn ich danke und nichts mehr will, auf dem gleichen Weg langsam zurückgehn.

 

›Le siège de Paris‹ par Francisque Sarcey: 19. Juli 1870 Kriegserklärung. Die fallenden Berühmtheiten einiger Tage. – Wechselnder Charakter des Buches selbst, während es den wechselnden Charakter von Paris beschreibt. – Lob und Tadel gleicher Dinge. Die Ruhe von Paris nach Niederlagen ist einmal der französische Leichtsinn, einmal die französische Widerstandsfähigkeit. – 4. September nach Sedan Republik – Arbeiter und Nationalgarden schlagen auf Leitern mit Hämmern das N von den öffentlichen Gebäuden – noch acht Tage nach Proklamierung der Republik war die Begeisterung so groß, daß man für die Befestigungsarbeiten keine Leute bekommen konnte. – Die Deutschen sind im Anmarsch. – Pariser Witze: Mac-Mahon war bei Sedan gefangen, Bazaine hatte Metz übergeben, endlich haben die zwei Armeen ihre Vereinigung vollzogen. – Die befohlene Zerstörung der Vorstädte – drei Monate keine Nachrichten. – Niemals hatte Paris einen solchen Appetit wie am Anfang der Belagerung. Gambetta organisierte die Erhebung der Provinz. Einmal glückte es, einen Brief von ihm zu bekommen. Statt aber genaue Daten mitzuteilen, nach denen alles brannte, schrieb er nur, que la résistance de Paris faisait l'admiration de l'univers. – Thiers bereist die Höfe. – Verrückte Klubversammlungen. Eine Frauenversammlung im Gymnase Triat. »Wie sollen die Frauen ihre Ehre gegenüber den Feinden schützen?« Mit dem doigt de Dieu oder besser le doigt prussique. Il consiste en une sorte de dé en caoutchouc que les femmes se mettent au doigt. Au bout de ce dé est un petit tube contenant de l'acide prussique. Kommt ein deutscher Soldat, wird ihm die Hand gereicht, er wird gestochen und angespritzt. – Das Institut schickt mit Luftballon einen Gelehrten aus zur Untersuchung der Sonnenfinsternis in Algier. – Man aß Kastanien vom vorigen Jahr, die Tiere des Jardin des Plantes. – Es gab ein paar Restaurants, wo man bis zum letzten Tag alles bekommen konnte. – Dieser Sergeant Hoff, der wegen seiner Preußenmorde als Rächer seines Vaters so berühmt geworden war, der verschwand und für einen Spion gehalten wurde. – Zustand der Armee: Einzelne Vorposten trinken Brüderschaft mit den Deutschen. – Louis Blanc vergleicht die Deutschen mit Mohikanern, die Technik studiert haben. – Am 5. Januar beginnt das Bombardement. Macht nicht viel. Es war befohlen, wenn man Granaten schießen hört, sich niederzuwerfen. Straßenjungen, auch Erwachsene stellten sich zu Pfützen und riefen von Zeit zu Zeit »Gare l'obus«. – Eine Zeitlang war General Chauzy in Paris die Hoffnung, er verlor wie alle andern, man wußte auch schon damals keinen Grund für seine Berühmtheit, trotzdem war die Begeisterung in Paris so stark, daß Sarcey, noch als er sein Buch schreibt, eine vage grundlose Bewunderung für Chauzy in sich fühlt. – Ein Tag aus dem damaligen Paris: Auf den Boulevards war es sonnig und schön, ruhige Spaziergänger, gegen Hôtel de Ville verändert es sich, dort ist eine Revolte der Kommunarden mit vielen Toten, Truppen, Exzessen. Am linken Ufer zischen die preußischen Granaten. Quai und Brücken sind still. Zurück zum Théâtre Français. Das Publikum kommt aus einer Vorstellung der ›Mariage de Figaro‹. Die Abendblätter erscheinen gerade, dieses Publikum sammelt sich in Gruppen um die Kioske, in den Champs Elysées spielen Kinder, Sonntagsspaziergänger sehen neugierig einer Kavallerie-Eskadron zu, welche mit Trompeten vorüberreitet. – Aus einem deutschen Brief an die Mutter: »Tu n'imagines pas comme ce Paris est immense, mais les Parisiens sont de drôles de gens; ils trompettent toute la journée.« – Vierzehn Tage war kein warmes Essen in Paris. – Ende Jänner Ende der viereinhalbmonatlichen Belagerung.

 

Kameradschaftlicher Verkehr alter Frauen im Coupé. Erzählungen von alten Frauen, die von Automobilen überfahren wurden, ihre Mittel auf der Reise: niemals Sauce essen, das Fleisch herausnehmen, die Augen während der Fahrt geschlossen halten, aber dabei..... zum Obstboden essen, kein hartes Kalbfleisch, Herren bitten, einen über die Gasse hinüberzuführen, Kirschen sind das schwerste Obst, die Rettung der alten Frau.

 

Siamesencoupé im Mailänder Bahnhof.

 

Junges italienisches Ehepaar im Zug nach Stresa mischt sich mit einem andern im Zug nach Paris. Ein Ehemann ließ sich nur küssen und gab beim Hinausschaun aus dem Fenster nur seine Schulter für ihre Wange her. Als er in der Hitze den Rock auszog und die Augen schloß, schien sie ihn genauer anzusehn. Hübsch war sie nicht, sie hatte nur dünnes Lockenhaar um das Gesicht. Die andere aber mit dem Schleier, von dessen blauen Tupfen einer öfters ein Auge verdeckte, deren Nase zu bald abgeschnitten schien, deren Falten um den Mund jugendliche Falten waren, für die Zwecke ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit. Ihre Augen fuhren, wenn sie das Gesicht senkte, hin und her, wie ich es bei uns nur bei Leuten mit Augengläsern gesehn habe.

 

Bemühungen aller Franzosen, mit denen man in Berührung kommt, schlechtes Französisch wenigstens für den Augenblick zu verbessern.

 

Junger, schlecht rasierter Geistlicher mit dem Ansichtskartenreisenden, der zu Dutzenden gepackte Karten vorzeigt, die der Geistliche bespricht. Ich schaue ihn, auch ein wenig durch die Hitze beeinflußt, so aufmerksam an, daß ich ihm schließlich mit dem ganzen Stiefelabsatz in die Kutte trete. »Niente«, sagt er und spricht weiter, immer mit starkem, durch italienische »Ah!« angezeigtem Atemzusetzen.

 

Mit den unsicheren Entschlüssen bezüglich des Hotels im Innern unseres Wagens sitzend, scheinen wir auch den Wagen unsicher zu kutschieren, einmal in eine Nebengasse zu führen, dann ihn wieder in die Hauptrichtung zurückzuziehn; und das im Vormittagsverkehr der Rue de Rivoli in der Nähe der Hallen.

Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick, wie wenn ich jetzt in diesem Zimmer erwacht wäre, während ich doch von der Nachtfahrt so müde bin, daß ich nicht weiß, ob ich imstande sein werde, für den ganzen Tag in diese Gassen hinauszulaufen, besonders wie ich sie jetzt von oben aus, noch ohne mich, sehe.

 

Anfang der Pariser Mißverständnisse. Max kommt in mein Hotelzimmer herauf und ist darüber aufgeregt, daß ich noch nicht fertig bin und mir das Gesicht wasche, während ich früher doch gesagt hätte, daß wir uns nur ein wenig waschen und gleich weggehn sollen. Da ich mit Wenigwaschen nur das Waschen des ganzen Körpers ausgeschlossen, dagegen gerade das Waschen des Gesichtes gemeint habe und damit eben noch nicht fertig bin, verstehe ich seine Vorwürfe nicht und wasche das Gesicht weiter, wenn auch nicht so genau wie früher, während sich Max mit dem ganzen Schmutz der Nachtfahrt in seinen Kleidern auf mein Bett setzt, um zu warten. Er hat die Gewohnheit und führt sie auch jetzt vor, beim Vorwürfemachen den Mund, aber auch das ganze Gesicht süßlich zusammenzuziehn, als suche er dadurch einerseits das Verständnis seiner Vorwürfe zu befördern und als wolle er andererseits zeigen, daß nur dieses süßliche Gesicht, das er gerade hat, ihn davon abhalte, mir eine Ohrfeige zu geben. Darin, daß ich ihn zu diesem Heuchlerischen gegen seine Natur zwinge, liegt noch ein eigner Vorwurf, den er mir dann zu machen scheint, wenn er verstummt und sein Gesicht, um sich von dem Süßlichen zu erholen, in der entgegengesetzten Richtung, also vom Mund weg, sich auseinanderspannt, was natürlich viel stärker wirkt als das erste Gesicht. Ich dagegen verstehe es (so war es auch in Paris), so vor Müdigkeit in mich zurückgefallen zu sein, daß mich der Einfluß solcher Gesichter überhaupt nicht erreicht, weshalb ich dann in meinem Jammer so mächtig sein kann, geradewegs aus der vollkommensten Gleichgültigkeit und ohne jedes Schuldgefühl mich ihm gegenüber entschuldigen zu können. Das beruhigte ihn damals in Paris, wenigstens scheinbar, so daß er mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor allem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur, wie frisch Max war, wie er sicher zu irgendeinem Paris paßte, das ich gar nicht bemerkte, wie er jetzt, aus seinem dunklen Hinterzimmer kommend, zum erstenmal seit einem Jahr in der Sonne auf einen Pariser Balkon trat und sich dessen würdig bewußt war, während ich leider deutlich müder war als bei meinem ersten Hinaustreten auf den Balkon ein Weilchen vor Maxens Kommen. Und meine Müdigkeit in Paris kann nicht durch Ausschlafen, sondern nur durch Wegfahren beseitigt werden. Manchmal halte ich das sogar für eine Eigentümlichkeit von Paris.

Ich habe das eigentlich ohne Widerwillen geschrieben, auf den Fersen war er mir aber bei jedem Wort.

Ich bin zuerst gegen die Cafés Biard, weil ich glaube, daß man dort nur schwarzen Kaffee bekommt. Er zeigt sich, daß auch Milch zu haben ist, wenn auch nur mit schlechtem schwammigem Gebäck. Es ist fast die einzige Verbesserung, die mir für Paris eingefallen ist, daß man besseres Gebäck in diesen Cafés anschaffen soll. Später komme ich darauf, vor dem Frühstück, während Max schon sitzt, in den Seitengassen herumzulaufen und Obst zu suchen. Auf dem Weg zum Café esse ich immer ein bißchen weg, damit Max nicht zu sehr staunt. Als wir in einem guten Caféhaus bei der Station der Versailler Dampfbahn den gelungenen Versuch machen, Apfelstrudel und Mandelgebäck aus einer Bäckerei unter den Augen eines über uns in der Tür lehnenden Kellners aufzuessen, führen wir das auch im Café Biard ein und finden, daß man dadurch, abgesehen vom Genuß des feinen Gebäcks, zum deutlicheren Genuß des eigentlichen Vorteils dieser Cafés kommt, nämlich des vollständigen Unbeachtetseins bei ziemlich leerem Lokal, guter Bedienung, nahe allen Menschen hinter dem Pult und vor der immer geöffneten Ladentür. Nur muß man sich damit abfinden, daß der Boden gekehrt wird, was wegen des unmittelbar von der Gasse hereinkommenden, an dem Pult sich hin und her schiebenden Besuches häufig geschieht und wobei auch von der Gewohnheit nicht abgesehen wird, die Gäste nicht zu beachten.

Beim Anblick der kleinen Bars auf der Versailler Dampfbahnstrecke scheint es für ein junges Ehepaar leicht, eine solche Bar zu eröffnen und dabei ein ausgezeichnetes, interessantes, risikoloses, nur zu bestimmten Tageszeiten anstrengendes Leben zu führen. Sogar auf den Boulevards werden zwischen zwei Seitengassen an der Spitze eines keilförmigen Häuserblocks solche billige Bars im Seitendunkel herangeschoben.

Die Gäste in kalkbespritzten Hemden um die Tischchen der Vorstadt-Gasthäuser.

Das Rufen einer Frau mit einem kleinen Bücherhandwagen am Abend auf dem Boulevard Poissonière. Blättert, blättert meine Herren, sucht euch alles aus, was daliegt, wird verkauft. Ohne zum Einkaufen zu drängen, ohne auch aufdringlich hinzusehen, nennt sie innerhalb ihres Rufens gleich den Preis des Buches, das einer der Umstehenden in die Hand nimmt. Sie scheint nur zu verlangen, daß rascher geblättert wird, rascher die Bücher in den Händen wechseln, was man verstehen kann, wenn man zusieht, wie hie und da einer, zum Beispiel ich, langsam ein Buch aufhebt, langsam und wenig darin blättert, langsam es hinlegt und endlich langsam weggeht. Das ernste Nennen der Preise von Büchern, deren Unanständigkeit so lächerlich ist, daß man sich einen Kaufabschluß unter den Augen des ganzen Publikums zuerst nicht vorstellen kann.

Um wieviel mehr Entschlußkraft das Kaufen eines Buches vor dem Laden als drinnen verlangt, weil dieses Aussuchen eigentlich nur ein freies Überlegen ist bei zufälliger Gegenwart der ausliegenden Bücher.

Sitzen auf den zwei einander zugewendeten Sesselchen in den Champs Elysées. Viel zu lang aufbleibende Kinder spielen noch im Halbdunkel, in dem sie die von ihnen in den Sand gezogenen Striche nicht mehr gut sehen.

Die geschlossene Badeanstalt mit einer in der Erinnerung türkisch wirkenden Außenbemalung. Sie ist eisengrau beleuchtet mitten am Nachmittag, weil Sonnenlicht nur durch die Lücken der oben ausgespannten Tücher in einer Ecke mit einzelnen Strahlen kommt und unten das Flußwasser verdunkeln hilft. Großer Raum. In einer Ecke eine Bar. Die Schwimmeister jagen hier und drüben das Bassin entlanglaufend einander die Kundschaften ab. Sie treten an den Besucher vor seiner Kabine von der Seite drohend heran und verlangen mit unverständlichen oder beharrlichen Reden ein Sperrgeld. Ein Verlangen in unverständlicher Sprache scheint mir diskret vorgebracht. Grands bains du Pont Royal. In den Ecken stehen auf den Stufen Leute, die sich gründlich mit Seife abwaschen. Das Seifenwasser um sie herum rührt sich nicht. Man sieht durch die Lücken zum Fluß zu etwas sich vorbeibewegen, es sind Dampfer. Die Ärmlichkeit dieses Schwimmvergnügens zeigt sich, als zwei mit einem alten Seelentränker sich unterhalten, der, von einer Wand weggeschoben, schon an die gegenüberliegende stößt. Kellergeruch. Schöne grüne Gartenbänke. Viel Deutsch. In einer Schwimmschule hängt über Wasser ein Knotenstrick zum beliebigen Turnen herunter. Wir fragen nach Musée Balzac, ein hübscher Junge mit von der Nässe aufgebauschter Frisur erklärt uns, daß wir das Musée Grevin (ein Panoptikum) meinen. Dienstbereit läßt er sich seine Kabine aufmachen, bringt einen kleinen Führer (vielleicht ein Neujahrsgeschenk eines Etablissements) und findet auch dort das Musée Balzac nicht. Wir haben uns schon innerlich fortwährend bedankt, da wir das voraussahen, und auch dringend abgeraten, es zu suchen. Es steht ja auch im Bottin nicht.

Eine dicke Placeuse in der Komischen Oper nimmt uns ziemlich von oben herab etwas Trinkgeld ab. Ich dachte, es liege daran, daß wir mit unseren Theaterkarten in der Hand etwas zu sehr Schritt für Schritt hintereinander heraufgekommen waren, und nahm mir vor, am nächsten Abend in der Comödie der Placeuse in ihre Augen hinein das Trinkgeld zu verweigern, während ich jetzt, vor ihr und mir mich schämend, gar als alle andern ohne Trinkgeld hineinkamen, ein großes Trinkgeld gab. Ich brachte in der Comödie auch meinen Satz heraus, in dem ich das Trinkgeld etwas meiner Meinung nach »nicht Unumgängliches« nannte, mußte aber doch wieder zahlen, als die diesmal magere Placeuse klagte, sie sei von der Verwaltung nicht entlohnt, und das Gesicht zur Schulter neigte.

Stiefelputzszene am Anfang. Wie die Kinder, die die Wache begleiten, im gleichen Schritt die Treppe hinuntergehen. Eindruck der obenhin gespielten Ouvertüre, so daß die zu spät Kommenden einen leichten Eintritt haben. So pflegte man sonst nur Operetten herzunehmen. Richtige Einfalt der Inszenierung. Schläfrige Statisten, wie bei allen Vorstellungen, die ich in Paris gesehen, während sie bei uns oft schlecht zurückgehaltene Lebendigkeit haben. Der Esel für den ersten Akt ›Carmen‹ vor dem Theatereingang in der engen Gasse von Theaterleuten und etwas Straßenpublikum umgeben, wartet, bis die kleine Eingangstür frei wird. Ich kaufe auf der Freitreppe fast mit Bewußtsein eines jener falschen Programme, wie sie vor allen Theatern verkauft werden. Eine Ballerine tanzt für Carmen in der Schmugglerkneipe. Wie ihr stummer Körper beim Gesang Carmens arbeitet. Später Tanz Carmens, der aber doch wegen ihrer Verdienste in der bisherigen Vorstellung eigentlich viel schöner ist. Es sieht aus, als hätte sie vor der Vorstellung einige eilige Lektionen bei der Hauptballerine genommen. Das Rampenlicht macht ihre Sohlen weiß, wenn sie am Tisch lehnt, jemandem zuhört und die Füße unter dem grünen Rock gegeneinander spielen läßt.

Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn dieser zum Beispiel in Goethes Tagebuch liest, daß dieser am 11. Januar 1797 den ganzen Tag zu Hause »mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt« war, so scheint es diesem Menschen, daß er selbst noch niemals so wenig gemacht hat.

Für den letzten Akt sind wir schon zu müde (ich war es schon für den vorletzten) und gehen weg und setzen uns in eine Bar gegenüber der Opéra Comique, wo Max in seiner Müdigkeit mich mit Sodawasser ganz bespritzt und ich in meiner Müdigkeit vor Lachen mich nicht halten kann und mir die Grenadine durch die Nase jage. Inzwischen fängt wohl der letzte Akt an, wir wandern nach Hause. Auf diesem Platz wurde mir wohl nach der Hitze im Theater, wo ich die heiße Luft durch das offene Hemd an meine Brust gefächelt hatte; die Nachtluft, das Sitzen im Freien, das Ausstrecken der Beine auf einen städtischen Platz hinaus, obwohl die erleuchtete große Theaterfassade mit den Seitenlichtern der Kaffeehäuser ausreichte, den kleinen Platz, besonders seinen Boden, bis unter die Tischchen hin wie ein Zimmer zu beleuchten.

Herr im Foyer, der zwei Damen unterhält, in einem Frackanzug, der etwas lose hängt und der, wenn er nicht neu wäre, nicht hier getragen würde und besser paßte, historisch sein könnte. Monokel fallen gelassen und wieder aufgenommen. Klopft, wenn das Gespräch stockt, unsicher mit seinem Stock auf. Steht immer mit Armzuckungen, wie wenn er jeden Augenblick die Absicht hätte, mit ausgestrecktem Arm seine Damen mitten durch die Menge zu fuhren. Ausgesogene, abgenützte Gesichtshaut.

Eigenschaft der deutschen Sprache, im Munde von Ausländern, die sie nicht beherrschen und meist auch nicht beherrschen wollen, schön zu werden. Soweit wir Franzosen beobachtet haben, konnten wir niemals sehen, daß sie sich über unsere Fehler im Französischen freuten oder auch nur diese Fehler hörenswert fanden, und selbst wir, deren Französisch nur wenig französisches Sprachgefühl hervorbringen kann ... [hier abgebrochen]

Die von mir aus glücklichen Köche und Kellner, die nach dem allgemeinen Essen Salat, Bohnen und Erdäpfel essen, Mischungen davon in großen Schüsseln machen, von jeder Speise nur wenig nehmen, obwohl ihnen viel gereicht wird, und von der Ferne so aussehen wie Köche und Kellner bei uns. – Kellner, dessen Mund und Bärtchen elegant zusammengezogen ist und der mich an einem Tag, meiner Meinung nach nur deshalb bedient, weil ich müde, ungeschickt, gedankenlos und unsympathisch bin und daher selbst mir kein Essen verschaffen könnte, während er es mir bringt, fast ohne es zu merken.

Bei Duval am Boulevard Sebastopol in der Abenddämmerung. Drei Gäste im Lokal verstreut. Die Kellnerinnen leise miteinander redend. Die Kassa noch leer. Ich bestelle einen Joghurt, dann noch einen. Die Kellnerin bringt es still, das Halbdunkel des Lokals trägt zu der Stille auch bei, sie nimmt auch still die Bestecke weg, die für das Abendessen auf meinem Platz vorbereitet waren und mich beim Trinken hindern könnten. Es war mir sehr angenehm, Duldung und Verständnis für meine Leiden bei einer Frau ahnen zu können, die so still war.

Lächerliches Restaurant in der Rue Richelieu. Gedrängt voll. Häßlicher Anblick des Rauches vor Spiegelscheiben. Regelmäßig verteilte, mit Hüten vollgehängte Kleiderrechen wie Bäume. Sitte der Geländer zwischen Tischen. Gleich nachdem die Täuschung des ungeschickten Ausländers, wo ein geländerartiger Rahmen sei, müsse auch eine Glasscheibe stecken, dadurch aufgeklärt wird, daß man frech in die Scheibe schaut, in der man das Spiegelbild entfernter Gäste zu sehen meint und durch den Gegenblick einsieht, daß man es mit wirklichen Gesichtern zu tun hat – fühlt man, wie solche Geländer zwischen aneinandergestellten Tischen gerade viel für die Annäherung tun.

Im Louvre von einer Bank zur andern. Schmerz, wenn eine ausgelassen wird. – Gedränge im Salon Carré, erregte Stimmung, gruppenweises Stehn, wie wenn die Mona Lisa gerade gestohlen worden wäre. – Annehmlichkeit der Querstangen vor den Bildern, an denen man lehnen kann, besonders im Saal der Primitiven. – Dieser Zwang, mit Max seine Lieblingsbilder anzusehen, da ich zu müde bin, selbst hinzuschauen. – Bewundernder Aufblick. – Die Kraft einer großen jungen Engländerin, die mit ihrem Begleiter im längsten Saal von einem Ende zum andern geht.

Anblick Maxens, wie er vor Aristide unter einer Straßenlaterne ›Phädra‹ liest und sich bei dem kleinen Druck die Augen verdirbt. Warum folgt er mir niemals? – Ich profitiere leider noch davon, da er mir auf dem Weg zum Theater alles erzählt, was er auf der Gasse, während ich genachtmahlt habe, aus seiner ›Phädra‹ herausgelesen hat. Kurzer Weg, Anstrengung Maxens, mir alles, alles zu erzählen, auch Anstrengung meinerseits. Militärisches Schauspiel im Foyer. Soldaten regeln nach militärischen Grundsätzen das Vortreten des einige Meter von der Kassa zurückgedrängten Publikums.

Vermeintliche Claqueurin in unserer Reihe. Ihr Applaus scheint dem Stockaufschlagen des über uns im letzten Rang beschäftigten Oberclaqueurs zu folgen. Sie klatscht mit so weit vorgebeugtem abwesendem Gesicht, daß sie, wenn der Applaus zu Ende ist, erstaunt besorgt die Innenfläche ihrer durchbrochenen Handschuhe anschaut. Fängt aber gleich wieder an, wenn es nötig wird. Klatscht aber schließlich auch selbständig und ist gar keine Claqueurin.

Das Gefühl der Ebenbürtigkeit gegenüber dem Stück, das die Theaterbesucher haben müssen, um gegen Ende des ersten Aktes anzukommen und reihenlang Leute zum Aufstehen zu bringen. – Eine Dekoration, die fünf Akte durch stehenbleibt, trägt viel zum Ernst bei und ist, selbst wenn sie nur aus Papier besteht, solider als eine wechselnde aus Holz und Stein.

Eine gegen das Meer und die blaue Luft gehaltene Säulengruppe, in der Höhe von Schlingpflanzen überwachsen. Unmittelbarer Einfluß des Gastmahles von Veronese, auch Claude Lorrains.

Der, ob geschlossen, sich öffnend oder offen, gleich ruhig geschwungene Mund Hippolytes.

Oenone, leicht in dauernde Stellung geratend, einmal aufgerichtet, die Beine eng vom Tuch umbunden, den Arm gehoben, mit ruhiger Faust, trägt sie einen Vers vor. Viele langsame Verhüllungen der Gesichter mit den Händen. Graue Farbe der Berater der Hauptpersonen.

Unzufriedenheit mit der Darstellerin der Phädra in der Erinnerung an die Befriedigung, die ich über die Rachel als Mitglied der Comédie Française hatte, wann immer ich von ihr gelesen habe. Bei so überraschendem Anblick, wie es die erste Szene ist, wo Hippolyte den unbewegten manneslangen Bogen neben sich hält, mit der Absicht, sich dem Pädagogen anzuvertrauen, und den ruhigen stolzen Blick ins Publikum gerichtet seine Verse wie ein Festgedicht aufsagt, hatte ich wie oft schon früher, den allerdings sehr schwachen Eindruck, daß es zum erstenmal geschieht, und in meine übrige Bewunderung mischte sich die Bewunderung des gleich erstmaligen Gelingens.

Rationell eingerichtete Bordelle. Die reinen Jalousien der großen Fenster des ganzen Hauses herabgelassen. In der Portiersloge statt eines Mannes ehrbar angezogene Frau, die überall zu Hause sein könnte. Schon in Prag habe ich immer den amazonenmäßigen Charakter der Bordelle flüchtig bemerkt. Hier ist es noch deutlicher. Der weibliche Portier, der sein elektrisches Läutewerk in Bewegung setzt, der uns in seiner Loge zurückhält, weil ihm gemeldet wird, daß gerade Gäste die Treppe herabkommen, die zwei ehrbaren Frauen oben (warum zwei?), die uns empfangen, das Aufdrehen des elektrischen Lichtes im Nebenzimmer, in dem die unbeschäftigten Mädchen im Dunkel oder Halbdunkel saßen, der Dreiviertel-Kreis (wir ergänzen ihn zum Kreis), in dem sie um uns in aufrechten, auf ihren Vorteil bedachten Stellungen stehen, der große Schritt, mit dem die Erwählte vortritt, der Griff der Madame, mit dem sie mich auffordert, während ich mich zum Ausgang hingezogen fühle. Unmöglich mir vorzustellen, wie ich auf die Gasse kam, so rasch war es. Schwer ist es, die Mädchen dort genauer anzusehen, weil sie zu viele sind, mit den Augen blinzeln, vor allem zu nahe stehen. Man müßte die Augen aufreißen, und dazu gehört Übung. In der Erinnerung habe ich eigentlich nur die, welche gerade vor mir stand. Sie hatte lückenhafte Zähne, streckte sich in die Höhe, hielt mit der über der Scham geballten Faust ihr Kleid zusammen und öffnete und schloß gleich und schnell die großen Augen und den großen Mund. Ihr blondes Haar war zerrauft. Sie war mager. Angst davor, nicht zu vergessen, den Hut nicht abzunehmen. Man muß sich die Hand von der Krempe reißen. Einsamer, langer, sinnloser Nachhauseweg.

Ansammlung der Besucher vor dem Öffnen des Louvre. Die Mädchen sitzen zwischen den hohen Säulen, lesen im Baedeker, schreiben Ansichtskarten.

Venus von Milo, deren Anblick bei dem langsamsten Umgehen schnell und überraschend wechselt. Leider eine erzwungene (über Taille und Hülle), aber einige wahre Bemerkungen gemacht, zu deren Erinnerung ich eine plastische Reproduktion nötig hätte, besonders darüber, wie das gebogene linke Knie den Anblick von allen Seiten mitbestimmt, manchmal aber nur sehr schwach. Die erzwungene Bemerkung: Man erwartet, daß über der aufhörenden Hülle der Leib sich gleich verjüngt, er wird aber zunächst noch breiter. Das fallende, vom Knie gehaltene Kleid.

Der Borghesische Fechter, dessen Vorderanblick nicht der Hauptanblick ist, denn er bringt den Beschauer zum Zurückweichen und ist verstreuter. Von hinten aber gesehen, dort, wo der Fuß zuerst auf dem Boden ansetzt, wird der überraschte Blick das festgezogene Bein entlang gelockt und fliegt geschützt über den unaufhaltsamen Rücken zu dem nach vorn gehobenen Arm und Schwert.

Die Métro schien mir damals sehr leer, besonders wenn ich es mit jener Fahrt vergleiche, als ich krank und allein zum Rennen gefahren bin. Das Aussehen der Métro unterliegt auch abgesehen vom Besuch dem Einfluß des Sonntags. Die dunkle Stahlfarbe der Wände überwog. Die Arbeit der die Waggontüren auf- und zuschiebenden und dazwischen sich hinein- und herausschwingenden Schaffner stellte sich als eine Sonntagnachmittagsarbeit heraus. Die langen Wege zur Correspondance wurden langsam gegangen. Die unnatürliche Gleichgültigkeit der Passagiere, mit der sie die Fahrt in der Métro hinnehmen, wurde deutlicher. Das Sich-gegen-die-Glastüre-Wenden, das Aussteigen einzelner an unbekannten Stationen weit von der Oper wird als launenhaft empfunden. Sicher ist in den Stationen trotz der elektrischen Beleuchtung das wechselnde Tageslicht zu bemerken, besonders wenn man gerade heruntergestiegen ist, merkt man es, besonders dieses Nachmittagslicht, knapp vor der Verdunkelung. Die Einfahrt in die leere Endstation der Porte Dauphine, Menge von sichtbar werdenden Röhren, Einblick in die Schleife, wo die Züge die einzige Kurve machen dürfen nach so langer geradliniger Fahrt. Tunnelfahrten in der Eisenbahn sind viel ärger, (hier) keine Spur von der Bedrückung, die der Passagier unter dem wenn auch zurückgehaltenen Druck der Bergmassen fühlt. Man ist auch nicht weit von den Menschen, sondern eine städtische Einrichtung, wie zum Beispiel das Wasser in den Leitungen. Das Zurückspringen beim Aussteigen, mit dem dann folgenden verstärkten Vorgehen. Dieses Aussteigen auf ein gleiches Niveau. Meist verlassene kleine Schreibzimmer mit Telephon und Läutewerk dirigieren den Betrieb. Max schaut gern hinein. Schrecklich war der Lärm der Métro, als ich mit ihr zum erstenmal im Leben vom Montmartre auf die großen Boulevards gefahren bin. Sonst ist er nicht arg, verstärkt sogar das angenehme ruhige Gefühl der Schnelligkeit. Die Reklame von Dubonnet ist sehr geeignet, von traurigen und unbeschäftigten Passagieren gelesen, erwartet und beobachtet zu werden. Ausschaltung der Sprache aus dem Verkehr, da man weder beim Zahlen noch beim Ein- und Aussteigen zu reden hat. Die Métro ist wegen ihrer leichten Verständlichkeit für einen erwartungsvollen und schwächlichen Fremden die beste Gelegenheit, sich den Glauben zu verschaffen, richtig und rasch im ersten Anlauf in das Wesen von Paris eingedrungen zu sein.

Die Fremden erkennt man daran, daß sie oben, schon auf dem letzten Absatz der Métrotreppe, sich nicht mehr auskennen, sie verlieren sich nicht wie die Pariser aus der Métro übergangslos in das Straßenleben. Auch stimmt beim Herauskommen die Wirklichkeit erst langsam mit der Karte überein, da wir auf diesen Platz, wo wir jetzt nach dem Heraufkommen hingestellt sind, niemals zu Fuß oder zu Wagen gekommen wären, ohne Führung der Karte.

Die Erinnerung an Spaziergänge in Anlagen ist immer schön, Freude daran, daß es noch so hell ist, aufpassen, daß es nicht rasch dunkel wird, davon und von der Müdigkeit ist Gangart und Herumschauen beherrscht. Die straffe Fahrt der Automobile auf der großen glatten Straße. Das rotgekleidete Orchester, das im Lärm der Automobile im kleinen Gartenrestaurant unhörbar nur zum Genuß der nächsten Umgebung auf den Instrumenten arbeitet. Nie gesehene Pariser führen einander an der Hand. Verbranntes erdfarbenes Gras. Männer in Hemdärmeln mit ihren Familien im Halbdunkel der Bäume, zu denen der Zutritt schon vorher verboten war. Hier war das Fehlen der Juden am auffallendsten. Der Rückblick zur kleinen Dampfbahn, die sich aus einem Karussell abgewickelt und weggefahren zu sein scheint. Der Weg zum See.Bois de Boulogne. Meine stärkste Erinnerung vom ersten Anblick dieses Sees ist der gebeugte Rücken des Mannes, der, zu uns ins Boot, unter das gespannte Tuchdach geneigt, uns die Fahrkarte reichte. Wahrscheinlich infolge meiner Sorge um die Karte und meiner Unfähigkeit, den Mann zu einer Erklärung zu zwingen, ob das Boot den See umfahre oder zur Insel übersetze und ob es Haltestellen habe. Deshalb habe ich mich so in ihn verschaut, daß ich ihn manchmal allein über den See gerade so stark, aber ohne Boot gebeugt sah. Viele Leute in Sommerkleidern auf der Landungsstelle. Boote mit ungeschickten Ruderern. Niedriges Seeufer ohne Geländer. Langsame Fahrt, erinnert mich an Spaziergänge, die ich vor einigen Jahren jeden Sonntag allein gemacht habe. Herausziehen der Füße aus dem Wasser auf dem Bootsgrund. Beim Anhören unseres Tschechisch Erstaunen der Passagiere, sich mit derartig Fremden in ein Boot gesetzt zu haben. Viele Menschen auf den Abhängen des Westufers, eingepflanzte Stöcke, ausgebreitete Zeitungen, Mann mit seinen Töchtern flach im Gras, wenig Lachen, niedriges Ostufer, bei uns schon seit langem abgeschaffte Wegbegrenzung aus kleinen, aneinandergefügten gebogenen Hölzchen, geeignet, Schoßhündchen vom Rasen abzuhalten, ein wilder Hund läuft über die Wiesen, ernst arbeitende Ruderer mit einem Mädchen in ihrem schweren Boot. Ich lasse Max besonders einsam bei einer Grenadine im Dunkel am Rande eines halb leeren Cafégartens, wo nahe eine Straße vorübergeht, die wieder von einer andern unbekannten förmlich flüchtig gekreuzt wird. Automobile und Wagen fahren von dieser dunklen Kreuzungsstelle in noch wüstere Gegenden. Ein großes eisernes Gitter gehört vielleicht zum Verzehrungssteueramt, ist aber geöffnet und läßt jeden durch. In der Nähe sieht man das grelle Licht des Lunaparks, das die Unordnung dieses Halbdunkels vergrößert. So viel Licht und so leer. Auf dem Weg zum Lunapark und zu Max zurück stolpere ich vielleicht fünfmal.

Montag, 11. September. Auf dem Asphaltpflaster sind die Automobile leichter zu dirigieren, aber auch schwerer einzuhalten. Besonders wenn ein einzelner Privatmann am Steuer sitzt, der die Größe der Straßen, den schönen Tag, sein leichtes Automobil, seine Chauffeurkenntnisse für eine kleine Geschäftsfahrt ausnützt und dabei an Kreuzungsstellen sich mit dem Wagen so winden soll wie die Fußgänger auf dem Trottoir. Darum fährt ein solches Automobil knapp vor der Einfahrt in eine kleine Gasse, noch auf dem großen Platz in ein Tricycle hinein, hält aber elegant, tut ihm nicht viel, tritt ihm förmlich nur auf den Fuß, aber während ein Fußgänger mit einem solchen Fußtritt desto rascher weitereilt, bleibt das Tricycle stehen und hat das Vorderrad gekrümmt. Der Bäckergehilfe, der auf diesem der Firma gehörigen Wagen bisher vollständig sorglos mit jenem den Dreirädern eigentümlichen schwerfälligen Schwanken dahingefahren ist, steigt ab, trifft den Automobilisten, der ebenfalls absteigt, und macht ihm Vorwürfe, die durch den Respekt vor einem Automobilbesitzer gedämpft und durch die Furcht vor seinem Chef angefeuert werden. Es handelt sich nun zuerst darum, zu erklären, wie es zu dem Unfall gekommen. Der Automobilbesitzer stellt mit seinen erhobenen Handflächen das heranfahrende Automobil dar, da sieht er das Tricycle, das ihm in die Quere kommt, die rechte Hand löst sich ab und warnt durch Hin- und Herfuchteln das Tricycle, das Gesicht ist besorgt, denn welches Automobil kann auf diese Entfernung bremsen. Wird es das Tricycle einsehen und dem Automobil den Vortritt lassen? Nein, es ist zu spät, die Linke läßt vom Warnen ab, beide Hände vereinigen sich zum Unglücksstoß, die Knie knicken ein, um den letzten Augenblick zu beobachten. Es ist geschehen und das still dastehende verkrümmte Tricycle kann schon bei der weiteren Beschreibung mithelfen. Dagegen kann der Bäckergehilfe nicht gut aufkommen. Erstens ist der Automobilist ein gebildeter lebhafter Mann, zweitens ist er bis jetzt im Automobil gesessen, hat sich ausgeruht, kann sich bald wieder hineinsetzen und weiter ausruhn und drittens hat er von der Höhe des Automobils den Vorgang wirklich besser gesehn. Einige Leute haben sich inzwischen angesammelt und stehen, wie es die Darstellung des Automobilisten verdient, nicht eigentlich im Kreise um ihn, sondern mehr vor ihm. Der Verkehr muß sich inzwischen ohne den Platz behelfen, den diese Gesellschaft einnimmt, die überdies nach den Einfällen des Automobilisten hin und her rückt. So ziehen zum Beispiel einmal alle zum Tricycle, um den Schaden, von dem so viel gesprochen worden ist, einmal genauer anzusehen. Der Automobilist hält ihn nicht für arg (einige halten in mäßig lauten Unterredungen zu ihm), trotzdem er sich nicht mit dem bloßen Hinschauen begnügt, sondern rundherum geht, oben hinein und unten durch schaut. Einer, der schreien will, setzt sich, da der Automobilist Schreien nicht braucht, für das Tricycle ein; er bekommt aber sehr gute und sehr laute Antworten von einem neu auftretenden fremden Mann, der, wenn man sich nicht beirren läßt, der Begleiter des Automobilisten gewesen ist. Einige Male müssen einige Zuhörer zusammen lachen, beruhigen sich aber immer mit neuen sachlichen Einfällen. Nun besteht eigentlich keine große Meinungsverschiedenheit zwischen Automobilisten und Bäckerjungen, der Automobilist sieht sich von einer kleinen freundlichen Menschenmenge umgeben, die er überzeugt hat, der Bäckerjunge läßt von seinem einförmigen Armeausstrecken und Vorwürfemachen langsam ab, der Automobilist leugnet ja nicht, daß er einen kleinen Schaden angerichtet hat, gibt auch durchaus dem Bäckerjungen nicht alle Schuld, beide haben Schuld, also keiner, solche Dinge kommen eben vor usw. Kurz, die Angelegenheit würde schließlich in Verlegenheit ablaufen, die Stimmen der Zuschauer, die schon über den Preis der Reparatur beraten, müßten abverlangt werden, wenn man sich nicht daran erinnern würde, daß man einen Polizeimann holen könnte. Der Bäckerjunge, der in einer immer untergeordnetere Stellung zum Automobilisten geraten ist, wird von ihm einfach um einen Polizisten geschickt und vertraut sein Tricycle dem Schutz des Automobilisten an. Nicht mit böser Absicht, denn er hat es nicht nötig, eine Partei für sich zu bilden, hört er auch in Abwesenheit des Gegners mit seinen Beschreibungen nicht auf. Weil man rauchend besser erzählt, dreht er sich eine Zigarette. In seiner Tasche hat er ein Tabaklager. Neu Ankommende, Uniformierte, und wenn es auch nur Geschäftsdiener sind, werden systematisch zuerst zum Automobil, dann zum Tricycle geführt und erst dann über die Details unterrichtet. Hört er aus der Menge von einem weiter hinten Stehenden einen Einwand, beantwortet er ihn auf den Fußspitzen, um dem ins Gesicht sehen zu können. Es zeigt sich, daß es zu umständlich ist, die Leute zwischen Automobil und Tricycle hin- und herzuführen, deshalb wird das Automobil mehr zum Trottoir in die Gasse hineingefahren. Ein ganzes Tricycle hält, und der Fahrer sieht sich die Sache an. Wie zur Belehrung über die Schwierigkeiten des Automobilfahrens ist ein großer Motoromnibus mitten auf dem Platz stehengeblieben. Man arbeitet vorn am Motor. Die ersten, die sich um den Wagen niederbeugen, sind seine ausgestiegenen Passagiere im richtigen Gefühl ihrer näheren Beziehung. Inzwischen hat der Automobilist ein wenig Ordnung gemacht und auch das Tricycle mehr zum Trottoir geschoben. Die Sache verliert ihr öffentliches Interesse. Neu Ankommende müssen schon erraten, was eigentlich geschehen ist. Der Automobilist hat sich mit einigen alten Zuschauern, die als Zeugen Wert haben, förmlich zurückgezogen und spricht mit ihnen leise. Wo wandert aber inzwischen der arme Junge herum? Endlich sieht man ihn in der Ferne, wie er mit dem Polizisten den Platz zu durchqueren anfängt. Man war nicht ungeduldig, aber das Interesse zeigt sich sogleich aufgefrischt. Viele neue Zuschauer treten auf, die auf billige Weise den äußersten Genuß der Protokollaufnahme haben werden. Der Automobilist löst sich von seiner Gruppe und geht dem Polizisten entgegen, der die Angelegenheit sofort mit der gleichen Ruhe aufnimmt, welche die Beteiligten erst durch halbstündiges Warten sich verschafft haben. Die Protokollaufnahme beginnt ohne lange Untersuchung. Der Polizist zieht aus seinem Notizbuch mit der Schnelligkeit eines Bauarbeiters einen alten schmutzigen, aber leeren Bogen Papier, notiert die Namen der Beteiligten, schreibt die Bäckerfirma auf und geht, um dies genau zu machen, schreibend um das Tricycle herum. Die unbewußte unverständige Hoffnung der Anwesenden auf eine sofortige sachliche Beendigung der ganzen Angelegenheit durch den Polizisten geht in eine Freude an den Einzelheiten der Protokollaufnahme über. Diese Protokollaufnahme stockt bisweilen. Der Polizist hat sein Protokoll etwas in Unordnung gebracht, und in der Anstrengung, es wieder herzustellen, hört und sieht er weilchenweise nichts anderes. Er hat nämlich den Bogen an einer Stelle zu beschreiben angefangen, wo er aus irgendeinem Grunde nicht hätte anfangen dürfen. Nun ist es aber doch geschehen, und sein Staunen darüber erneuert sich öfters. Er muß den Bogen immerfort wieder umdrehen, um den schlechten Protokollanfang zu glauben. Da er aber von diesem schlechten Anfang bald abgelassen und auch anderswo zu schreiben angefangen hat, kann er, wenn eine Spalte zu Ende ist, ohne großes Auseinanderfalten und Untersuchen unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat. Die Ruhe, die dadurch die Angelegenheit gewinnt, läßt sich mit jener früheren, durch die Beteiligten allein erreichten, gar nicht vergleichen.


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