Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

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1913

11. Februar. Anläßlich der Korrektur des ›Urteils‹ schreibe ich alle Beziehungen auf, die mir in der Geschichte klargeworden sind, soweit ich sie gegenwärtig habe. Es ist dies notwendig, denn die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen, und nur ich habe die Hand, die bis zum Körper dringen kann und Lust dazu hat:

Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre größte Gemeinsamkeit. Allein bei seinem Fenster sitzend, wühlt Georg in diesem Gemeinsamen mit Wollust, glaubt den Vater in sich zu haben und hält alles, bis auf eine flüchtige traurige Nachdenklichkeit für friedlich. Die Entwicklung der Geschichte zeigt nun, wie aus dem Gemeinsamen, dem Freund, der Vater hervorsteigt und sich als Gegensatz Georg gegenüber aufstellt, verstärkt durch andere kleinere Gemeinsamkeiten, nämlich durch die Liebe, Anhänglichkeit der Mutter, durch die treue Erinnerung an sie und durch die Kundschaft, die ja der Vater doch ursprünglich für das Geschäft erworben hat. Georg hat nichts; die Braut, die in der Geschichte nur durch die Beziehung zum Freund, also zum Gemeinsamen lebt, und die, da eben noch nicht Hochzeit war, in den Blutkreis, der sich um Vater und Sohn zieht, nicht eintreten kann, wird vom Vater leicht vertrieben. Das Gemeinsame ist alles um den Vater aufgetürmt, Georg fühlt es nur als Fremdes, Selbständig-Gewordenes, von ihm niemals genug Beschütztes, russischen Revolutionen Ausgesetztes, und nur weil er selbst nichts mehr hat als den Blick auf den Vater, wirkt das Urteil, das ihm den Vater gänzlich verschließt, so stark auf ihn.

Georg hat so viel Buchstaben wie Franz. In Bendemann ist »mann« nur eine für alle noch unbekannten Möglichkeiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von »Bende«. Bende aber hat ebenso viele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka.

Frieda hat ebensoviel Buchstaben wie F. und den gleichen Anfangsbuchstaben, Brandenfeld hat den gleichen Anfangsbuchstaben wie B. und durch das Wort »Feld« auch in der Bedeutung eine gewisse Beziehung. Vielleicht ist sogar der Gedanke an Berlin nicht ohne Einfluß gewesen und die Erinnerung an die Mark Brandenburg hat vielleicht eingewirkt.

 

12. Februar. Ich habe bei der Beschreibung des Freundes in der Fremde viel an Steuer gedacht. Als ich nun zufällig, etwa ein Vierteljahr nach dieser Geschichte, mit ihm zusammenkam, erzählte er mir, daß er sich vor etwa einem Vierteljahr verlobt habe.

Nachdem ich die Geschichte gestern bei Weltsch vorgelesen hatte, ging der alte Weltsch hinaus und lobte, als er nach einem Weilchen zurückkam, besonders die bildliche Darstellung in der Geschichte. Mit ausgestreckter Hand sagte er: »Ich sehe diesen Vater vor mir«, und dabei sah er ausschließlich auf den leeren Sessel, in dem er während der Vorlesung gesessen war.

Die Schwester sagte: »Es ist unsere Wohnung.« Ich staunte darüber, wie sie die Örtlichkeit mißverstand und sagte: »Da müßte ja der Vater auf dem Klosett wohnen.«

 

28. Februar. Ernst Liman kam auf einer Geschäftsreise am Morgen eines regnerischen Herbsttages in Kontantinopel an und fuhr nach seiner Gewohnheit – er machte diese Reise schon zum zehnten Male –, ohne sich um irgend etwas sonst zu kümmern, durch die im übrigen leeren Gassen zu dem Hotel, in dem er zu seiner Zufriedenheit stets zu wohnen pflegte. Es war fast kühl, der Sprühregen flog in den Wagen herein, und ärgerlich über das schlechte Wetter, das ihn während der ganzen diesjährigen Geschäftsreise verfolgte, zog er das Wagenfenster in die Höhe und lehnte sich in eine Ecke, um die etwa einviertelstündige Wagenfahrt, die ihm bevorstand, zu verschlafen. Da ihn aber die Fahrt gerade durch das Geschäftsviertel führte, kam er zu keiner Ruhe, und die Ausrufe der Straßenverkäufer, das Rollen der Lastfuhren, wie auch anderer, ohne nähere Untersuchung sinnloser Lärm, zum Beispiel das Händeklatschen einer Volksmenge, störte seinen sonst festen Schlaf.

Am Ziel seiner Fahrt erwartete ihn eine unangenehme Überraschung. Bei dem letzten großen Brand in Stambul, von dem Liman auf der Reise wohl gelesen hatte, war das Hotel Kingston, in dem er zu wohnen pflegte, fast vollständig niedergebrannt, der Kutscher aber, der dies natürlich gewußt hatte, hatte mit vollständiger Gleichgültigkeit gegen seinen Passagier dessen Auftrag dennoch ausgeführt und ihn stillschweigend zu der Brandstätte des Hotels gebracht. Nun stieg er ruhig vom Bock und hätte auch noch die Koffer Limans abgeladen, wenn ihn dieser nicht bei der Schulter gepackt und geschüttelt hätte, worauf dann der Kutscher allerdings von den Koffern abließ, aber so langsam und verschlafen, als hätte nicht Liman ihn davon abgebracht, sondern sein eigener geänderter Entschluß. Das Erdgeschoß des Hotels war noch zum Teil erhalten und durch Lattenverschläge oben auf allen Seiten leidlich bewohnbar gemacht worden. Eine türkische und eine französische Aufschrift zeigte an, daß das Hotel in kurzer Zeit schöner und moderner als früher wieder aufgebaut werden sollte. Doch war das einzige Anzeichen dessen die Arbeit dreier Taglöhner, welche mit Schaufeln und Hacken abseits Schutt aufhäuften und einen kleinen Handkarren damit beluden.

Wie sich zeigte, wohnte in diesen Trümmern ein Teil des durch den Brand arbeitslos gewordenen Hotelpersonals. Ein Herr in schwarzem Gehrock und hochroter Krawatte kam auch sofort, als Limans Wagen angehalten hatte, herausgelaufen, erzählte dem verdrießlich zuhörenden Liman die Geschichte des Brandes, wickelte dabei die Enden seines langen dünnen Bartes um seine Finger und ließ davon nur ab, um Liman zu zeigen, wo der Brand entstanden war, wie er sich verbreitet hatte und wie endlich alles zusammengebrochen war. Liman, der während dieser ganzen Geschichte kaum die Blicke vom Boden abgewendet und die Klinke der Wagentür nicht losgelassen hatte, wollte gerade dem Kutscher den Namen eines anderen Hotels zurufen, in das er ihn fahren sollte, als der Mann im Gehrock ihn mit erhobenen Armen bat, in kein anderes Hotel zu gehn, sondern diesem Hotel, in dem er doch immer zufrieden gewesen war, treu zu bleiben. Trotzdem dies gewiß nur eine leere Redensart war und niemand sich an Liman erinnern konnte, wie auch Liman kaum einen der männlichen und weiblichen Angestellten, die er in der Tür und in den Fenstern erblickte, wiedererkannte, so fragte er doch als ein Mensch, dem seine Gewohnheiten lieb sind, auf welche Weise er denn augenblicklich dem abgebrannten Hotel treu bleiben solle. Nun erfuhr er – und mußte unwillkürlich über die Zumutung lächeln –, daß für frühere Gäste dieses Hotels, aber nur für solche, schöne Zimmer in Privatwohnungen vorbereitet seien, Liman müsse nur befehlen und er werde sofort hingeführt werden, es sei ganz in der Nähe, er werde keinen Zeitverlust haben und der Preis sei aus Gefälligkeit und da es sich ja doch um einen Ersatz handle, ganz besonders niedrig, wenn auch das Essen nach Wiener Rezepten womöglich noch besser und die Bedienung noch sorgfältiger sei als in dem früheren, in mancher Beziehung doch unzureichenden Hotel Kingston.

»Danke«, sagte Liman und stieg dabei in den Wagen. »Ich bleibe in Konstantinopel nur fünf Tage, für diese Zeit werde ich mich doch nicht in einer Privatwohnung einrichten, nein, ich fahre in ein Hotel. Nächstes Jahr aber, wenn ich wiederkomme und Ihr Hotel wieder aufgebaut ist, werde ich gewiß nur bei Ihnen absteigen. Erlauben Sie!« Und Liman wollte die Wagentüre zuziehn, deren Klinke nun der Vertreter des Hotels ergriffen hatte. »Herr!« sagte dieser bittend und sah zu Liman auf.

»Loslassen!« rief Liman, rüttelte an der Tür und gab dem Kutscher den Befehl: »Ins Hotel Royal.« Aber sei es, daß der Kutscher ihn nicht verstand, sei es, daß er auf das Schließen der Tür wartete, jedenfalls saß er auf seinem Bock wie eine Statue. Der Vertreter des Hotels aber ließ die Tür durchaus nicht los, ja er winkte sogar einem Kollegen eifrig zu, sich doch zu rühren und ihm zu Hilfe zu kommen. Besonders von irgendeinem Mädchen erhoffte er viel und rief immer wieder »Fini! also Fini! Wo ist denn Fini?« Die Leute an den Fenstern und in der Türe hatten sich in das Innere des Hauses gewendet, sie riefen durcheinander, man sah sie an den Fenstern vorüberlaufen, alle suchten Fini.

Liman hätte wohl den Mann, der ihn am Wegfahren hinderte und dem offenbar nur der Hunger den Mut zu einem solchen Benehmen gab, mit einem Stoß von der Tür entfernen können – das sah der Mann auch ein und wagte deshalb gar nicht, Liman anzusehn –, aber Liman hatte auf seinen Reisen schon zu viele schlechte Erfahrungen gemacht, um nicht zu wissen, wie wichtig es ist, in der Fremde, und sei man noch so sehr im Recht, jedes Aufsehen zu vermeiden, er stieg deshalb ruhig nochmals aus dem Wagen, ließ vorläufig den Mann, der krampfhaft die Tür hielt, unbeachtet, ging zum Kutscher, wiederholte ihm seinen Auftrag, gab ihm noch ausdrücklich den Befehl, rasch von hier wegzufahren, trat dann zu dem Mann an der Wagentüre, faßte seine Hand scheinbar mit gewöhnlichem Griff, drückte sie aber im geheimen so stark im Gelenk, daß der Mann mit dem Schrei »Fini«, der gleichzeitig Befehl und Ausbruch seines Schmerzes war, fast aufsprang und die Finger von der Klinke löste.

»Sie kommt schon! Sie kommt schon!« rief es da von allen Fenstern, und ein lachendes Mädchen, die Hände noch an der knapp fertig gewordenen Frisur, lief mit halb geneigtem Kopf aus dem Hause auf den Wagen zu. »Rasch! In den Wagen! Es gießt ja«, rief sie, indem sie Liman an den Schultern faßte und ihr Gesicht ganz nahe an seines hielt. »Ich bin Fini«, sagte sie dann leise und ließ die Hände streichelnd seine Schultern entlangfahren.

›Man meint es ja nicht gerade schlecht mit mir‹, sagte sich Liman und sah lächelnd das Mädchen an, ›schade, daß ich kein Junge mehr bin und mich auf unsichere Abenteuer nicht einlassen.‹ »Es muß ein Irrtum sein, Fräulein«, sagte er und wandte sich seinem Wagen zu, »ich habe Sie weder rufen lassen noch beabsichtige ich, mit Ihnen wegzufahren.« Vom Wagen aus fügte er noch hinzu: »Bemühen Sie sich nicht weiter.«

Aber Fini hatte schon einen Fuß auf das Trittbrett gesetzt und sagte, die Arme über ihrer Brust gekreuzt: »Warum wollen Sie sich denn von mir nicht eine Wohnung empfehlen lassen?« Müde der Belästigungen, die er hier schon ausgestanden hatte, sagte Liman, sich zu ihr herausbeugend: »Halten Sie mich bitte nicht länger mit unnützen Fragen auf! Ich fahre ins Hotel und damit genug. Geben Sie Ihren Fuß vom Trittbrett herunter, sonst kommen Sie in Gefahr. Vorwärts, Kutscher!« – »Halt!« rief aber das Mädchen und wollte sich nun ernstlich in den Wagen schwingen. Liman stand kopfschüttelnd auf und verstellte mit seiner gedrungenen Gestalt die ganze Tür. Das Mädchen suchte ihn fortzustoßen und gebrauchte hierzu auch den Kopf und die Knie, der Wagen fing auf seinen elenden Federn zu schaukeln an, Liman hatte keinen rechten Halt. »Warum wollen Sie mich denn nicht mitnehmen? Warum wollen Sie mich denn nicht mitnehmen?« wiederholte das Mädchen immerfort.

Gewiß wäre es Liman gelungen, das allerdings kräftige Mädchen wegzudrängen, ohne ihr besondere Gewalt anzutun, wenn nicht der Mann im Gehrock, der sich bisher, als sei er von Fini abgelöst, ruhig verhalten hatte, nun, als er Fini wanken sah, mit einem Sprung hinzugeeilt wäre, Fini hinten gehalten und gegenüber Limans immerhin schonender Abwehr mit dem Einsetzen aller Kraft das Mädchen in den Wagen zu heben versucht hätte. Im Gefühl dieses Rückhaltes drang sie auch tatsächlich in den Wagen, zog die Tür zu, die überdies von außen auch zugestoßen wurde, sagte wie für sich »Nun also« und ordnete zuerst flüchtig ihre Bluse und dann gründlicher die Frisur. »Das ist unerhört«, sagte Liman, der auf seinen Sitz zurückgefallen war, zu dem ihm gegenübersitzenden Mädchen.

 

2. Mai. Es ist sehr notwendig geworden, wieder ein Tagebuch zu führen. Mein unsicherer Kopf, F., der Verfall im Bureau, die körperliche Unmöglichkeit, zu schreiben, und das innere Bedürfnis danach.

 

Valli ging hinter dem Schwager, der morgen zur Waffenübung nach Tschortkov einrückt, aus unserer Tür hinaus. Merkwürdig die in diesem Ihm-Folgen liegende Anerkennung der Ehe als Einrichtung, mit der man sich bis in den Grund hinein abgefunden hat.

 

Die Geschichte der Gärtnerstochter, die mich vorgestern in der Arbeit unterbrach. Ich, der ich durch die Arbeit meine Neurasthenie heilen will, muß hören, daß der Bruder des Fräuleins, er hat Jan geheißen und war der eigentliche Gärtner und voraussichtliche Nachfolger des alten Dvorsky, ja sogar schon Besitzer des Blumengartens, sich vor zwei Monaten im Alter von achtundzwanzig Jahren aus Melancholie vergiftet hat. Im Sommer war ihm verhältnismäßig wohl, trotz seiner einsiedlerischen Natur, da er wenigstens mit den Kunden verkehren mußte, im Winter dagegen war er ganz verschlossen. Seine Geliebte war eine Beamtin – uřUNICEF – ein gleichfalls melancholisches Mädchen. Sie gingen oft zusammen auf den Friedhof.

 

Die riesige Menasse bei der Jargonvorstellung. Irgend etwas Zauberhaftes, das mich bei seinen Bewegungen im Zusammenklang mit der Musik ergriff. Ich habe es vergessen.

 

Mein dummes Lachen, als ich heute der Mutter sagte, daß ich Pfingsten nach Berlin fahre.Es handelt sich um einen Besuch bei Felice Bauer. »Warum lachst du?« sagte die Mutter (unter einigen andern Bemerkungen, darunter »Drum prüfe, wer sich ewig bindet«, die ich aber alle abwehrte, mit Bemerkungen wie »Es ist nichts« usw.) »Aus Verlegenheit«, sagte ich und war froh, einmal etwas Wahres in dieser Sache gesagt zu haben.

Die B.Eine Gouvernante, die in Kafkas Kinderjahren für ihn von Bedeutung war. gestern getroffen. Ihre Ruhe, Zufriedenheit, Unbefangenheit und Klarheit, trotzdem sich in den letzten Jahren ihr Übergang zur alten Frau vollzogen hat, diese schon damals lästige Fülle bald die Grenze steriler Fettleibigkeit erreicht haben wird, in den Gang eine Art Sichwälzens und Sichschiebens mit Vorstoßen oder besser Vortragen des Bauches gekommen ist und am Kinn – beim kurzen Anblick nur am Kinn – Barthaare sich aus dem frühem Flaume ringeln.

 

3. Mai. Die schreckliche Unsicherheit meiner innern Existenz.

Wie ich die Weste aufknöpfe, um dem Herrn B. meinen Ausschlag zu zeigen. Wie ich ihn in ein Nebenzimmer winke.

Der Ehemann ist von einem Pfahl – man weiß nicht, von wo der kam – von hinten getroffen, niedergeworfen und durchbohrt worden. Auf dem Boden liegend, klagt er mit erhobenem Kopf und ausgebreiteten Armen. Später kann er sich auch schon für einen Augenblick schwankend erheben. Er weiß nichts anderes zu erzählen, als wie er getroffen wurde, und zeigt die beiläufige Richtung, aus der seiner Meinung nach der Pfahl gekommen ist. Diese immer gleichen Erzählungen ermüden schon die Ehefrau, zumal der Mann immer wieder eine andere Richtung zeigt.

 

4. Mai. Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers, das eiligst und mit mechanischer Regelmäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen.

An einem frühen Morgen, die Gassen waren noch leer weit und breit, öffnete ein Mann, er war bloßfüßig und nur mit Nachthemd und Hose bekleidet, das Tor eines großen Mietshauses in der Hauptstraße. Er hielt beide Türflügel fest und atmete tief. »Du Jammer, du verfluchter Jammer«, sagte er und sah scheinbar ruhig zuerst die Straße entlang, dann über einzelne Häuser hin. Verzweiflung also auch von hier aus. Nirgends Aufnahme.

 

24. Mai. Spaziergang mit Pick.

Übermut, weil ich den ›Heizer‹ für so gut hielt. Abends las ich ihn den Eltern vor, einen besseren Kritiker als mich während des Vorlesens vor dem höchst widerwillig zuhörenden Vater gibt es nicht. Viele flache Stellen vor offenbar unzugänglichen Tiefen.

 

5. Juni. Die innern Vorteile, welche mittelmäßige literarische Arbeiten daraus ziehen, daß ihre Verfasser noch am Leben und hinter ihnen her sind. Der eigentliche Sinn des Veraltens.

Löwy, Geschichte von der Grenzüberschreitung.

 

21. Juni. Die Angst, die ich nach allen Seiten hin ausstehe. Die Untersuchung beim Doktor, wie er gleich gegen mich vordringt, ich mich förmlich aushöhle und er in mir, verachtet und unwiderlegt, seine leeren Reden hält.

Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als in mir sie zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.

Ein großer Mann in einem bis zu den Füßen reichenden Mantel klopfte an einem kalten Frühlingsmorgen gegen fünf Uhr mit der Faust an die Tür einer kleinen Hütte, die in einer kahlen hügeligen Gegend stand. Nach jedem Faustschlag horchte er, in der Hütte blieb es still.

 

1. Juli. Der Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit. Nur mir gegenübergestellt sein. Vielleicht werde ich es in Riva haben.

Vorvorgestern mit Weiß, Verfasser der ›Galeere‹.Der hochbegabte Erzähler und Dramatiker Ernst Weiß, der Kafka später recht nahestand. Sein erster Roman ›Die Galeere‹ erschien 1913. Spätere Werke u. a. ›Tiere in Ketten‹, ›Mensch gegen Mensch‹, ›Nahar‹, ›Stern der Dämmerung‹, ›Männer in der Nacht‹. Er floh 1933 nach Frankreich, tötete sich selbst, als die Deutschen Paris besetzten. Jüdischer Arzt, Jude von der Art, die dem Typus des westeuropäischen Juden am nächsten ist und dem man sich deshalb gleich nahe fühlt. Der ungeheure Vorteil der Christen, die im allgemeinen Verkehr die gleichen Gefühle der Nähe immerfort haben und genießen, zum Beispiel christlicher Tscheche unter christlichen Tschechen. Das Hochzeitsreisepaar, das aus dem Hotel de Saxe trat. Am Nachmittag. Einwerfen der Karte in den Briefkasten. Zerdrückte Kleider, schlaffer Schritt, trüber lauer Nachmittag. Wenig charakteristische Gesichter für den ersten Blick.

 

Das Bild der dreihundertjährigen Romanowfeier in Jaroslawl an der Wolga. Der Zar, die Prinzessin verdrießlich in der Sonne stehend, nur eine zart, ältlich, schlaff, auf den Sonnenschirm gestützt, blickt vor sich hin. Der Thronfolger auf dem Arm des ungeheueren barhäuptigen Kosaken. – Auf einem andern Bild salutieren in der Ferne längst passierte Männer.

 

Der Millionär auf dem Bild im Kino ›Sklaven des Goldes‹. Ihn festhalten. Die Ruhe, die langsame zielbewußte Bewegung, wenn notwendig rascher Schritt. Zucken des Armes. Reich, verwöhnt, eingelullt, aber wie er aufspringt wie ein Knecht und das Zimmer in der Waldschenke untersucht, in das er eingesperrt worden ist.

 

2. Juli. Geschluchzt über dem Prozeßbericht einer dreiundzwanzigjährigen Marie Abraham, die ihr fast dreiviertel Jahre altes Kind Barbara wegen Not und Hunger erwürgte, mit einer Männerkrawatte, die ihr als Strumpfband diente und die sie abband. Ganz schematische Geschichte.

 

Das Feuer, mit dem ich im Badezimmer meiner Schwester ein komisches kinematographisches Bild darstellte. Warum kann ich das niemals Fremden gegenüber?

 

Ich hätte niemals ein Mädchen geheiratet, mit dem ich ein Jahr lang in der gleichen Stadt gelebt hätte.

 

3. Juli. Die Erweiterung und Erhöhung der Existenz durch eine Heirat. Predigtspruch. Aber ich ahne es fast.

 

Wenn ich etwas sage, verliert es sofort und endgültig die Wichtigkeit, wenn ich es aufschreibe, verliert es sie auch immer, gewinnt aber manchmal eine neue.

 

Ein Band von goldenen Kügelchen um einen gebräunten Hals.

19. Juli. Aus einem Hause traten vier bewaffnete Männer. Jeder hielt vor sich aufrecht eine Hellebarde. Hie und da wandte einer sein Gesicht zurück, um zu sehen, ob der schon komme, um dessentwillen sie hier standen. Es war früh am Morgen, die Gasse war ganz leer.

 

Was wollt ihr also? Kommt! – Wir wollen nicht. Laß uns!

 

Dazu der innere Aufwand! Darum klingt einem die Musik aus dem Kaffeehaus so ins Ohr. Der Steinwurf wird sichtbar, von dem Elsa B. erzählte.

 

Eine Frau sitzt am Spinnrocken. Ein Mann stößt mit einem Schwert, das in der Scheide steckt (er hält sie frei in der Hand), die Tür auf.

Mann: Hier war er!

Frau: Wer? Was wollt ihr?

Mann: Der Pferdedieb. Er ist hier versteckt. Leugne nicht! Er schwingt das Schwert.

Frau: hebt den Spinnrocken zur Abwehr: Niemand war hier. Laßt mich!

 

20. Juli. Unten auf dem Flusse lagen mehrere Boote, Fischer hatten ihre Angeln ausgeworfen, es war ein trüber Tag. Am Quaigeländer lehnten einige Burschen mit verschränkten Beinen.

 

Als man zur Feier ihrer Abreise aufstand und die Champagnergläser hob, war schon Dämmerung. Die Eltern und einige Hochzeitsgäste begleiteten sie bis zum Wagen.

 

21. Juli. Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, daß du nicht verzweifelst. Wenn schon alles zu Ende scheint, kommen doch noch neue Kräfte angerückt, das bedeutet eben, daß du lebst. Kommen sie nicht, dann ist hier alles zu Ende, aber endgültig.

 

Ich kann nicht schlafen. Nur Träume, kein Schlaf. Heute habe ich im Traum ein neues Verkehrsmittel für einen abschüssigen Park erfunden. Man nimmt einen Ast, der nicht sehr stark sein muß, stemmt ihn schief gegen den Boden, das eine Ende behält man in der Hand, setzt sich möglichst leicht darauf, wie im Damensattel, der ganze Zweig rast dann natürlich den Abhang hinab, da man auf dem Ast sitzt, wird man mitgenommen und schaukelt behaglich in voller Fahrt auf dem elastischen Holz. Es findet sich dann auch eine Möglichkeit, den Zweig zum Aufwärtsfahren zu verwenden. Der Hauptvorteil liegt, abgesehen von der Einfachheit der ganzen Vorrichtung, darin, daß der Zweig, dünn und beweglich wie er ist, er kann ja gesenkt und gehoben werden, nach Bedarf, überall durchkommt, wo selbst ein Mensch allein schwer durchkäme.

 

Durch das Parterrefenster eines Hauses an einem um den Hals gelegten Strick hineingezogen und ohne Rücksicht, wie von einem, der nicht achtgibt, blutend und zerfetzt durch alle Zimmerdecken, Möbel, Mauern und Dachböden hinaufgerissen werden, bis oben auf dem Dach die leere Schlinge erscheint, die auch meine Reste erst beim Durchbrechen der Dachziegel verloren hat.

 

Besondere Methode des Denkens. Gefühlsmäßig durchdrungen. Alles fühlt sich als Gedank, selbst im Unbestimmtesten. (Dostojewski.)

 

Dieser Flaschenzug im Innern. Ein Häkchen rückt vorwärts, irgendwo im Verborgenen, man weiß es kaum im ersten Augenblick, und schon ist der ganze Apparat in Bewegung. Einer unfaßbaren Macht unterworfen, so wie die Uhr der Zeit unterworfen scheint, knackt es hier und dort und alle Ketten rasseln eine nach der andern ihr vorgeschriebenes Stück herab.

 

Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht:

1. Unfähigkeit, allein das Leben zu ertragen, nicht etwa Unfähigkeit, zu leben, ganz im Gegenteil, es ist sogar unwahrscheinlich, daß ich es verstehe, mit jemandem zu leben, aber unfähig bin ich, den Ansturm meines eigenen Lebens, die Anforderungen meiner eigenen Person, den Angriff der Zeit und des Alters, den vagen Andrang der Schreiblust, die Schlaflosigkeit, die Nähe des Irreseins – alles dies allein zu ertragen bin ich unfähig. Vielleicht, füge ich natürlich hinzu. Die Verbindung mit F. wird meiner Existenz mehr Widerstandskraft geben.

2. Alles gibt mir gleich zu denken. Jeder Witz im Witzblatt, die Erinnerung an Flaubert und Grillparzer, der Anblick der Nachthemden auf den für die Nacht vorbereiteten Betten meiner Eltern, Maxens Ehe. Gestern sagte meine Schwester: »Alle Verheirateten (unserer Bekanntschaft) sind glücklich, ich begreife es nicht«, auch dieser Ausspruch gab mir zu denken, ich bekam wieder Angst.

3. Ich muß viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.

4. Alles, was sich nicht auf Literatur bezieht, hasse ich, es langweilt mich, Gespräche zu führen (selbst wenn sie sich auf Literatur beziehen), es langweilt mich, Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem, was ich denke, die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit.

5. Die Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfließen. Dann bin ich nie mehr allein.

6. Ich bin vor meinen Schwestern, besonders früher war es so, oft ein ganz anderer Mensch gewesen als vor andern Leuten. Furchtlos, bloßgestellt, mächtig, überraschend, ergriffen wie sonst nur beim Schreiben. Wenn ich es durch Vermittlung meiner Frau vor allen sein könnte! Wäre es dann aber nicht dem Schreiben entzogen? Nur das nicht, nur das nicht!

7. Allein könnte ich vielleicht einmal meinen Posten wirklich aufgeben. Verheiratet wird es nie möglich sein.

 

In unserer Klasse, der fünften Gymnasialklasse des Amaliengymnasiums, war ein Junge namens Friedrich Guß, den wir alle sehr haßten. Wenn wir früh in die Klasse kamen und ihn auf seinem Platz beim Ofen sitzen sahen, konnten wir kaum verstehen, wie er sich hatte aufraffen können, wieder in die Schule zu kommen. Aber ich erzähle nicht richtig. Wir haßten nicht nur ihn, wir haßten alle. Wir waren eine schreckliche Vereinigung. Als einmal der Landesschulinspektor einer Unterrichtsstunde beiwohnte – es war Geographiestunde und der Professor beschrieb, die Augen der Tafel oder dem Fenster zugekehrt wie alle unsere Professoren, die Halbinsel Morea –... [bricht ab]

 

Es war am Tage des Schulbeginns, es ging schon gegen Abend. Die Professoren des Obergymnasiums saßen noch im Konferenzzimmer, studierten die Schülerlisten, legten neue Klassenbücher an, erzählten von ihrer Urlaubsreise.

Ich elender Mensch!

Nur das Pferd ordentlich peitschen! Ihm die Sporen langsam einbohren, dann mit einem Ruck sie herausziehn, jetzt aber mit aller Kraft sie ins Fleisch hineinfahren lassen.

Was für Not!

Waren wir verrückt? Wir liefen in der Nacht durch den Park und schwangen Zweige.

Ich fuhr mit einem Boot in eine kleine natürliche Bucht ein.

Ich pflegte während meiner Gymnasialzeit hie und da einen gewissen Josef Mack, einen Freund meines verstorbenen Vaters, zu besuchen. Als ich nach Absolvierung des Gymnasiums – ... [bricht ab]

Hugo Seifert pflegte während seiner Gymnasialzeit einem gewissen Josef Kiemann, einem alten Junggesellen, der mit Hugos verstorbenem Vater befreundet gewesen war, hie und da einen Besuch zu machen. Die Besuche hörten unvermittelt auf, als Hugo unerwartet einen sofort anzutretenden Posten im Ausland angeboten erhielt und für einige Jahre seine Heimatstadt verließ. Als er dann wieder zurückkehrte, beabsichtigte er zwar, den alten Mann zu besuchen, es fand sich aber keine Gelegenheit, vielleicht hätte ein solcher Besuch auch seinen geänderten Anschauungen nicht entsprochen, und trotzdem er öfters durch die Gasse ging, in welcher Kiemann wohnte, ja trotzdem er ihn mehrmals im Fenster lehnen sah und wahrscheinlich auch bemerkt wurde, unterließ er den Besuch.

Nichts, nichts, nichts. Schwäche, Selbstvernichtung, durch den Boden gedrungene Spitze einer Höllenflamme.

 

23. Juli. Mit Felix in Rostock. Die geplatzte Sexualität der Frauen. Ihre natürliche Unreinheit. Das für mich sinnlose Spiel mit dem kleinen Lenchen. Der Anblick der einen dicken Frau, die zusammengekrümmt in einem Korbstuhl, den einen Fuß auffällig zurückgeschoben, irgend etwas nähte und mit einer alten Frau, wahrscheinlich einer alten Jungfer, deren Gebiß auf einer Seite des Mundes immer in besonderer Größe erschien, sich unterhielt. Die Vollblütigkeit und Klugheit der schwangeren Frau. Ihr Hinterer mit geraden abgeteilten Flächen, förmlich facettiert. Das Leben auf der kleinen Terrasse. Wie ich ganz kalt die Kleine auf den Schoß nahm, gar nicht unglücklich über die Kälte. Der Aufstieg im »stillen Tal«.

Wie kindisch ein Spengler, durch die offene Tür des Geschäftes zu sehn, bei seiner Arbeit sitzt und immerfort mit dem Hammer klopft.

Roskoff ›Geschichte des Teufels‹: Bei den jetzigen Karaiben gilt »der, welcher in der Nacht arbeitet«, als der Schöpfer der Welt.

 

13. August. Vielleicht ist nun alles zu Ende und mein gestriger Brief der letzte. Es wäre unbedingt das Richtige. Was ich leiden werde, was sie leiden wird – es ist nicht zu vergleichen mit dem gemeinsamen Leid, das entstehen würde. Ich werde mich langsam sammeln, sie wird heiraten, es ist der einzige Ausweg unter Lebendigen. Wir zwei können nicht für uns zwei einen Weg in einen Felsen schlagen, es ist genug, daß wir ein Jahr lang daran geweint und uns abgequält haben. Sie wird es aus meinen letzten Briefen einsehn. Wenn nicht, dann werde ich sie gewiß heiraten, denn ich bin zu schwach, ihrer Meinung über unser gemeinsames Glück zu widerstehn und außerstande, etwas, was sie für möglich hält, nicht zu verwirklichen, soweit es an mir liegt.

Gestern abend auf dem Belvedere unter den Sternen.

 

14. August. Es ist das Gegenteil eingetroffen. Es kamen drei Briefe. Dem letzten konnte ich nicht widerstehn. Ich habe sie lieb, soweit ich dessen fähig bin, aber die Liebe liegt zum Ersticken begraben unter Angst und Selbstvorwürfen. Folgerungen aus dem ›Urteil‹ für meinen Fall. Ich verdanke die Geschichte auf Umwegen ihr. Georg geht aber an der Braut zugrunde.

Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins. Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Junggeselle, das ist die einzige Möglichkeit für mich, die Ehe zu ertragen. Aber sie?

Und trotz allem, wären wir, ich und F., vollständig gleichberechtigt, hätten wir gleiche Aussichten und Möglichkeiten, ich würde nicht heiraten. Aber diese Sackgasse, in die ich ihr Schicksal langsam geschoben habe, macht es mir zur unausweichlichen, wenn auch durchaus nicht etwa unübersehbaren Pflicht. Irgendein geheimes Gesetz der menschlichen Beziehungen wirkt hier.

Der Brief an die Eltern machte mir große Schwierigkeiten, besonders deshalb, weil ein unter besonders ungünstigen Umständen abgefaßtes Konzept sich lange nicht abändern lassen wollte. Heute ist es mir doch beiläufig gelungen, wenigstens steht keine Unwahrheit darin, und es bleibt doch auch für Eltern lesbar und begreiflich.

 

15. August. Qualen im Bett gegen Morgen. Einzige Lösung im Sprung aus dem Fenster gesehn. Die Mutter kam zum Bett und fragte, ob ich den Brief abgeschickt habe und ob es mein alter Text gewesen sei. Ich sagte, es wäre der alte Text, nur noch verschärfter. Sie sagte, sie verstehe mich nicht. Ich antwortete, sie verstehe mich allerdings nicht und nicht etwa nur in dieser Sache. Später fragte sie mich, ob ich dem Onkel Alfred schreiben werde, er verdiene es, daß ich ihm schreibe. Ich fragte, wodurch er es verdiene. Er hat telegraphiert, er hat geschrieben, er meint es so gut mit dir. »Das sind nur Äußerlichkeiten«, sagte ich, »er ist mir ganz fremd, er mißversteht mich vollständig, er weiß nicht, was ich will und brauche, ich habe nichts mit ihm zu tun.« – »Also keiner versteht dich«, sagte die Mutter, »ich bin dir wahrscheinlich auch fremd und der Vater auch. Wir alle wollen also nur dein Schlechtes.« – »Gewiß, ihr seid mir alle fremd, nur die Blutnähe besteht, aber sie äußert sich nicht. Mein Schlechtes wollt ihr gewiß nicht.«

Durch dieses und durch einige andere Selbstbeobachtungen bin ich dazu geführt worden, daß in meiner immer größer werdenden innern Bestimmtheit und Überzeugtheit Möglichkeiten liegen, in einer Ehe trotz allem bestehen zu können, ja sie sogar zu einer für meine Bestimmung vorteilhaften Entwicklung zu führen. Es ist das allerdings ein Glaube, den ich gewissermaßen schon auf der Fensterkante fasse.

Ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit von allen absperren. Mit allen mich verfeinden, mit niemandem reden.

Der Mann mit den dunklen, streng blickenden Augen, der den Haufen alter Mäntel auf der Achsel trug.

Leopold S. großer starker Mann, ungelenke ziehende Bewegungen, lose hängende, faltige, schwarz-weiß karierte Kleider, eilt in die Tür rechts in das große Zimmer, schlägt in die Hände und ruft: Felice! Felice! Ohne einen Augenblick auf den Erfolg seines Rufens zu warten, eilt er zur Mitteltür, die er, wieder »Felice« rufend, öffnet.

Felice S. tritt durch die linke Tür ein, bleibt an der Tür stehn, eine vierzigjährige Frau in Küchenschürze: Hier bin ich schon, Leo. Wie du nervös geworden bist in der letzten Zeit! Was willst du denn?

Leopold dreht sich mit einem Ruck um, bleibt dann stehn und nagt an den Lippen: Nun also! Komm doch her! Er geht zum Kanapee.

Felice rührt sich nicht: Schnell! Was willst du? Ich muß doch in die Küche.

Leopold vom Kanapee aus: Laß die Küche! Komm her! Ich will dir etwas Wichtiges sagen. Es steht dafür. Komm doch!

Felice geht langsam hin, zieht die Tragbänder der Schürze in die Höhe: Nun was ist denn so Wichtiges? Wenn du mich zum Narren hältst, bin ich bös, aber ernstlich. Bleibt vor ihm stehn.

Leopold : Also setz dich doch!

Felice : Und wie wenn ich nicht will?

Leopold : Dann kann ich es dir nicht sagen. Ich muß dich nahe bei mir haben.

Felice : Nun sitze ich also schon.

 

21. August. Ich habe heute Kierkegaard ›Buch des Richters‹ bekommen. Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich, zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund. Ich entwerfe folgenden Brief an den Vater, den ich morgen, wenn ich die Kraft habe, wegschicken will.

»Sie zögern mit der Beantwortung meiner Bitte, das ist ganz verständlich, jeder Vater würde es jedem Bewerber gegenüber tun, das veranlaßt diesen Brief also ganz und gar nicht, äußersten Falls vergrößert es meine Hoffnung auf ruhige Würdigung dieses Briefes. Diesen Brief aber schreibe ich aus Furcht, daß Ihr Zögern oder Ihre Überlegung mehr allgemeine Gründe hat, als daß es, wie es allein notwendig wäre, von jener einzigen Stelle meines ersten Briefes ausgeht, die mich verraten konnte. Es ist dies die Stelle, die von der Unerträglichkeit meines Postens handelt.

Sie werden vielleicht über dieses Wort hinweggehn, aber das sollen Sie nicht, Sie sollen vielmehr ganz genau danach fragen, dann müßte ich Ihnen genau und kurz folgendes antworten. Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten. Davon bin ich nicht weit entfernt. Nervöse Zustände schlimmster Art beherrschen mich ohne auszusetzen und dieses Jahr der Sorgen und Quälereien um meine und Ihrer Tochter Zukunft hat meine Widerstandslosigkeit vollständig erwiesen. Sie könnten fragen, warum ich diesen Posten nicht aufgebe und mich – Vermögen besitze ich nicht – nicht von literarischen Arbeiten zu erhalten suche. Darauf kann ich nur die erbärmliche Antwort geben, daß ich nicht die Kraft dazu habe und, soweit ich meine Lage überblicke, eher in diesem Posten zugrunde gehen, aber allerdings rasch zugrunde gehen werde.

Und nun stellen Sie mich Ihrer Tochter gegenüber, diesem gesunden, lustigen, natürlichen, kräftigen Mädchen. Sooft ich es ihr auch in etwa fünfhundert Briefen wiederholte und sooft sie mich mit einem allerdings nicht überzeugend begründeten ›Nein‹ beruhigte – es bleibt doch wahr, sie muß mit mir unglücklich werden, soweit ich es absehen kann. Ich bin nicht nur durch meine äußerlichen Verhältnisse, sondern noch viel mehr durch mein eigentliches Wesen ein verschlossener, schweigsamer, ungeselliger, unzufriedener Mensch, ohne dies aber für mich als ein Unglück bezeichnen zu können, denn es ist nur der Widerschein meines Zieles. Aus meiner Lebensweise, die ich zu Hause führe, lassen sich doch wenigstens Schlüsse ziehn. Nun, ich lebe in meiner Familie, unter den besten und liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Der Grund dessen ist einfach der, daß ich mit ihnen nicht das Allergeringste zu sprechen habe. Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir dabei jeder Sinn, außer der des Beobachters im besten Fall. Verwandtengefühl habe ich keines, in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit.

Eine Ehe könnte mich nicht verändern, ebenso wie mich mein Posten nicht verändern kann.«

 

30. August. Wo finde ich Rettung? Wieviel Unwahrheiten, von denen ich gar nicht mehr wußte, werden mit heraufgeschwemmt. Wenn die wirkliche Verbindung von ihnen ebenso durchzogen würde wie der wirkliche Abschied, dann habe ich sicher recht getan. In mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehung keine sichtbaren Lügen. Der begrenzte Kreis ist rein.Zwischen diese und die folgende Notiz fällt Kafkas Reise nach Riva, Sanatorium Härtungen.

 

14. Oktober. Die kleine Gasse begann mit der Mauer eines Kirchhofes auf der einen und einem niedrigen Hause mit einem Balkon auf der andern Seite. In dem Hause wohnte der pensionierte Beamte Friedrich Munch und seine Schwester Elisabeth.

 

Ein Trupp Pferde brach aus der Umzäunung.

 

Zwei Freunde machten einen Morgenritt.

 

»Teufel, rettet mich aus der Umnachtung!« rief ein alter Kaufmann, der sich am Abend müde auf das Kanapee gelegt hatte und nun in der Nacht nur mit Sammlung aller Kräfte schwer sich erhob. Es klopfte dumpf an die Tür. »Herein, herein, alles was draußen ist!« rief er.

15. Oktober. Ich habe mich vielleicht wieder aufgefangen, bin wieder vielleicht im geheimen einen kürzeren Weg gelaufen und halte mich, der ich im Alleinsein schon verzweifle, wieder an. Aber die Kopfschmerzen, die Schlaflosigkeit! Nun es steht für den Kampf oder vielmehr, ich habe keine Wahl.

 

Der Aufenthalt in Riva hatte für mich eine große Wichtigkeit. Ich verstand zum ersten Male ein christliches Mädchen und lebte fast ganz in seinem Wirkungskreis. Ich bin unfähig, etwas für die Erinnerung Entscheidendes aufzuschreiben. Nur um sich zu erhalten, macht mir meine Schwäche lieber den dumpfen Kopf klar und leer, soweit sich die Verworrenheit an die Ränder drücken läßt. Mir ist aber dieser Zustand fast lieber als das bloß dumpfe und ungewisse Andrängen, zu dessen überdies unsicherer Befreiung ein Hammer nötig wäre, der mich vorher zerschlägt.

 

Mißlungener Versuch, an E. Weiß zu schreiben. Und gestern im Bett hat mir der Brief im Kopf gekocht.

 

In der Ecke einer Elektrischen sitzen, den Mantel um sich geschlagen.

 

Der Professor G. auf der Reise von Riva. Seine an den Tod erinnernde deutsch-böhmische Nase, angeschwollene, gerötete, blasentreibende Backen eines auf blutleere Magerkeit angelegten Gesichtes, der blonde Vollbart ringsherum. Von der Freß- und Trinksucht besessen. Das Einschlucken der heißen Suppe, das Hineinbeißen und gleichzeitige Ablecken des nicht abgeschälten Salamistumpfes, das schluckweise ernste Trinken des schon warmen Bieres, das Ausbrechen des Schweißes um die Nase herum. Eine Widerlichkeit, die durch gierigstes Anschauen und Beriechen nicht auszukosten ist.

 

Das Haus war schon geschlossen. In zwei Fenstern des zweiten Stockwerkes war Licht und dann noch in einem Fenster des vierten Stockwerkes. Ein Wagen hielt vor dem Hause. An das beleuchtete Fenster im vierten Stockwerk trat ein junger Mann, öffnete es und sah auf die Gasse hinunter. Im Mondlicht.

Es war schon spät abend. Der Student hatte gänzlich die Lust verloren, noch weiter zu arbeiten. Es war auch gar nicht nötig, er hatte in den letzten Wochen wirklich große Fortschritte gemacht, er konnte wohl ein wenig ausruhen und die Nachtarbeit einschränken. Er schloß seine Bücher und Hefte, ordnete alles auf seinem kleinen Tisch und wollte sich ausziehn, um schlafen zu gehn. Zufällig sah er aber zum Fenster hin und es kam ihm beim Anblick des klaren Vollmondes der Einfall, in der schönen Herbstnacht noch einen kleinen Spaziergang zu machen und sich möglicherweise irgendwo mit einem schwarzen Kaffee zu stärken. Er löschte die Lampe aus, nahm den Hut und öffnete die Tür zur Küche. Im allgemeinen war es ihm ganz gleichgültig, daß er immer durch die Küche gehen mußte, auch verbilligte diese Unbequemlichkeit sein Zimmer um ein Bedeutendes, aber hie und da, wenn in der Küche besonderer Lärm war oder wenn er, wie heute zum Beispiel, spät abends weggehn wollte, war es doch lästig.

 

Trostlos. Heute im Halbschlaf am Nachmittag: Schließlich muß mir doch das Leid den Kopf sprengen. Und zwar an den Schläfen. Was ich bei dieser Vorstellung sah, war eigentlich eine Schußwunde, nur waren um das Loch herum die Ränder mit scharfen Kanten aufrecht aufgestülpt, wie bei einer wild aufgerissenen Blechbüchse.

 

An KrapotkinKrapotkins Memoiren waren eines der Lieblingsbücher Kafkas, ebenso die später im Tagebuch erwähnten Memoiren von Alexander Herzen. nicht vergessen!

 

20. Oktober. Die unausdenkbare Traurigkeit am Morgen. Abends Jacobsohn ›Der Fall Jacobsohn‹ gelesen. Diese Kraft zu leben, sich zu entscheiden, den Fuß mit Lust auf den richtigen Ort zu setzen. Er sitzt in sich, wie ein meisterhafter Ruderer in seinem Boot und in jedem Boot sitzen würde. Ich wollte ihm schreiben.

Ging statt dessen spazieren, verwischte alles aufgenommene Gefühl durch ein Gespräch mit Haas, den ich traf, Weiber erregten mich, nun las ich zu Hause ›Die Verwandlung‹ und finde sie schlecht. Vielleicht bin ich wirklich verloren, die Traurigkeit von heute morgen wird wiederkommen, ich werde ihr nicht lange wiederstehen können, sie nimmt mir jede Hoffnung. Ich habe nicht einmal Lust, ein Tagebuch zu führen, vielleicht weil darin schon zuviel fehlt, vielleicht weil ich immerfort nur halbe und allem Anschein nach notwendig halbe Handlungsweisen beschreiben müßte, vielleicht weil selbst das Schreiben zu meiner Traurigkeit beiträgt.

Gerne wollte ich Märchen (warum hasse ich das Wort so?) schreiben, die der W. gefallen könnten und die sie einmal beim Essen unter den Tisch hält, in den Pausen liest und fürchterlich errötet, als sie bemerkt, daß der Sanatoriumsarzt schon ein Weilchen hinter ihr steht und sie beobachtet. Manchmal, eigentlich immer ihre Erregung beim Erzählen (ich fürchte, wie ich merke, die förmlich physische Anstrengung beim Sicherinnern, den Schmerz, unter dem der Boden des gedankenleeren Raumes sich langsam öffnet oder auch nur erst ein wenig sich wölbt). Alles wehrt sich gegen das Aufgeschriebenwerden. Wüßte ich, daß darin ihr Gebot wirkt, nichts über sie zu sagen (ich habe es streng, fast ohne Mühe gehalten), dann wäre ich zufrieden, aber es ist nichts als Unfähigkeit.

Was meine ich übrigens dazu, daß ich heute abend eine ganze Wegstrecke lang darüber nachdachte, was ich durch die Bekanntschaft mit der W. an Freuden mit der Russin eingebüßt habe, die mich vielleicht, was durchaus nicht ausgeschlossen ist, nachts in ihr Zimmer eingelassen hätte, das schief gegenüber dem meinigen lag. Während mein abendlicher Verkehr mit der W. darin bestand, daß ich in einer Klopfsprache, zu deren endgültiger Besprechung wir niemals kamen, an die Decke meines unter ihrem Zimmer liegenden Zimmers klopfte, ihre Antwort empfing, mich aus dem Fenster beugte, sie grüßte, einmal mich von ihr segnen ließ, einmal nach einem herabgelassenen Bande haschte, stundenlang auf der Fensterbrüstung saß, jeden ihrer Schritte oben hörte, jedes zufällige Klopfen als ein Verständigungszeichen irrigerweise auffaßte, ihren Husten hörte, ihr Singen vor dem Einschlafen.

 

21. Oktober. Verlorener Tag. Besuch der Ringhofferschen Fabrik, Seminar Ehrenfels, bei Weltsch, Nachtmahl, Spaziergang, jetzt zehn Uhr hier. Ich denke immerfort an den Schwarzkäfer,›Die Verwandlung‹. – In der nächsten Notiz ist wohl die Urzelle der Erzählungen vom Jäger Gracchus zu sehen, die ja als Lokalität Riva angibt. werde aber nicht schreiben.

 

Im kleinen Hafen eines Fischerdorfes wurde eine Barke zur Fahrt ausgerüstet. Ein junger Mann in Pluderhosen beaufsichtigte die Arbeiten. Zwei alte Matrosen trugen Säcke und Kisten bis zu einer Anlegebrücke, wo ein großer Mann mit auseinandergestemmten Beinen alles in Empfang nahm und irgendwelchen Händen überantwortete, die sich aus dem dunklen Innern der Barke ihm entgegenstreckten. Auf großen Quadersteinen, die einen Winkel des Quais umfaßten, saßen halb liegend fünf Männer und bliesen den Rauch ihrer Pfeifen nach allen Seiten. Von Zeit zu Zeit kam der Mann in Pluderhosen zu ihnen, hielt eine Ansprache und klopfte ihnen auf die Knie. Gewöhnlich wurde hinter einem Stein eine Weinkanne, die dort im Schatten aufbewahrt wurde, hervorgeholt und ein Glas mit undurchsichtigem rotem Wein wanderte von Mann zu Mann.

 

22. Oktober. Zu spät. Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen, zu sterben und das Sich-noch-Halten, das allein ist Liebe.

 

Gestrige Beobachtung. Die für mich passendste Situation: Einem Gespräch zweier Leute zuhören, die eine Angelegenheit besprechen, die sie nahe angeht, während ich an ihr nur einen ganz fernen Anteil habe, der überdies vollständig selbstlos ist.

 

26. Oktober. Die Familie saß beim Abendessen. Durch die vorhanglosen Fenster sah man in die tropische Nacht.

 

»Wer bin ich denn?« fuhr ich mich an. Ich erhob mich von dem Kanapee, auf dem ich mit hochgezogenen Knien gelegen war und setzte mich aufrecht. Die Tür, die gleich vom Treppenhaus in mein Zimmer führte, öffnete sich und ein junger Mann mit gesenktem Gesicht und prüfendem Blick trat ein. Er machte, soweit es im engen Zimmer möglich war, einen Bogen um das Kanapee und blieb in der Ecke neben dem Fenster im Dunkel stehn. Ich wollte nachsehn, was das für eine Erscheinung war, ging hin und faßte den Mann beim Arm. Es war ein lebendiger Mensch. Er sah – ein wenig kleiner als ich – lächelnd zu mir hinauf, schon die Sorglosigkeit, mit der er nickte und sagte »Prüfen Sie mich nur«, hätte mich überzeugen sollen. Trotzdem ergriff ich ihn vorn bei der Weste und hinten beim Rock und schüttelte ihn. Seine schöne starke goldene Uhrkette fiel mir auf, ich packte sie und zerrte sie herunter, daß das Knopfloch zerriß, an dem sie befestigt war. Er duldete es, sah nur auf den Schaden hinunter, versuchte nutzlos den Westenknopf in dem zerrissenen Knopfloch festzuhalten. »Was tust du?« sagte er endlich und zeigte mir die Weste. »Nur Ruhe!« sagte ich drohend.

Ich fing an, im Zimmer herumzulaufen, aus Schritt kam ich in Trab, aus Trab in Galopp, immer wenn ich den Mann passierte, erhob ich gegen ihn die Faust. Er sah mir gar nicht zu, sondern arbeitete an seiner Weste. Ich fühlte mich sehr frei, schon meine Atmung ging in außergewöhnlicher Weise vor sich, meine Brust fühlte nur in den Kleidern ein Hindernis, sich riesenhaft zu heben.

 

Schon viele Monate beabsichtigte Wilhelm Menz, ein junger Buchhalter, ein Mädchen anzusprechen, das er regelmäßig am Morgen auf dem Weg in das Bureau in einer sehr langen Gasse, einmal an dieser, einmal an jener Stelle zu treffen pflegte. Er hatte sich schon damit abgefunden, daß es bei dieser Absicht bleiben würde – er war sehr wenig entschlossen, Frauen gegenüber, und der Morgen war auch eine ungünstige Zeit, um ein eilendes Mädchen anzusprechen – da traf es sich, daß er eines Abends – es war um die Weihnachtszeit – knapp vor sich das Mädchen gehen sah. »Fräulein«, sagte er. Sie drehte sich um, erkannte den Mann, den sie immer am Morgen zu treffen pflegte, ließ, ohne stehenzubleiben den Blick ein wenig auf ihm ruhn und wandte sich, da Menz nichts weiter sagte, wieder ab. Sie waren in einer hellbeleuchteten Gasse inmitten großen Menschengedränges, und Menz konnte, ohne aufzufallen, ganz nahe an sie herantreten. Irgend etwas Passendes zu sagen wollte in diesem entscheidenden Augenblick Menz nicht einfallen, fremd wollte er dem Mädchen aber auch nicht bleiben, denn etwas so ernstlich Begonnenes wollte er unbedingt weiterfuhren, und so wagte er es, das Mädchen unten an der Jacke zu zupfen. Das Mädchen duldete es, als sei nichts geschehn.

 

6. November. Woher die plötzliche Zuversicht? Bliebe sie doch! Könnte ich so ein- und ausgehn durch alle Türen als ein halbwegs aufrechter Mensch. Nur weiß ich nicht, ob ich das will.

Wir wollten den Eltern nichts davon sagen, aber jeden Abend nach neun Uhr versammelten wir uns, ich und zwei Vettern, am Friedhofsgitter an einer Stelle, wo eine kleine Erderhöhung einen guten Überblick ermöglichte.

Das Eisengitter des Friedhofs läßt links einen großen grasbewachsenen Platz frei.

 

17. November. Traum: Auf einem ansteigenden Weg lag etwa in der Mitte der Steigung, und zwar hauptsächlich in der Fahrbahn, von unten gesehn links beginnend, Unrat oder festgewordener Lehm, der gegen rechts hin durch Abbröckelung immer niedriger geworden war, während er links hoch wie Palisaden eines Zaunes stand. Ich ging rechts, wo der Weg fast frei war, und sah auf einem Dreirad einen Mann von unten mir entgegenkommen und scheinbar geradewegs gegen das Hindernis fahren. Es war ein Mann wie ohne Augen, zumindest sahen seine Augen wie verwischte Löcher aus. Das Dreirad war wackelig, fuhr zwar entsprechend unsicher und gelockert, aber doch geräuschlos, fast übertrieben still und leicht. Ich faßte den Mann im letzten Augenblick, hielt ihn, als wäre er die Handhabe seines Fahrzeugs und lenkte dieses in die Bresche, durch die ich gekommen war. Da fiel er gegen mich hin, ich war nun riesengroß und hielt ihn doch nur in einer gezwungenen Haltung, zudem begann das Fahrzeug, als sei es nun herrenlos, zurückzufahren, wenn auch langsam, und zog mich mit. Wir kamen an einem Leiterwagen vorüber, auf dem einige Leute gedrängt standen, alle dunkel gekleidet, unter ihnen war ein Pfadfinderjunge mit hellgrauem aufgekrempeltem Hut. Von diesem Jungen, den ich schon aus einiger Entfernung erkannt hatte, erwartete ich Hilfe, aber er wendete sich ab und drückte sich zwischen die Leute. Dann kam hinter diesem Leiterwagen – das Dreirad rollte immer weiter und ich mußte, tief hinabgebückt, mit gespreizten Beinen, nach – jemand mir entgegen, der mir Hilfe brachte, an den ich mich aber nicht erinnern kann. Nur das weiß ich, daß es ein vertrauenswürdiger Mensch war, der sich jetzt wie hinter einem schwarzen ausgespannten Stoff verbirgt und dessen Verborgensein ich achten soll.

 

18. November. Ich werde wieder schreiben, aber wie viele Zweifel habe ich inzwischen an meinem Schreiben gehabt. Im Grunde bin ich ein unfähiger unwissender Mensch, der, wenn er nicht gezwungen, ohne jedes eigene Verdienst, den Zwang kaum merkend, in die Schule gegangen wäre, gerade imstand wäre, in einer Hundehütte zu hocken, hinauszuspringen, wenn ihm Fraß gereicht wird, und zurückzuspringen, wenn er es verschlungen hat.

 

Zwei Hunde liefen auf einem stark von der Sonne beschienenen Hof aus entgegengesetzten Richtungen gegeneinander. Den Anfang eines Briefes an Fräulein Bl. mir abgequält.

 

19. November. Mich ergreift das Lesen des Tagebuchs. Ist der Grund dessen, daß ich in der Gegenwart jetzt nicht die geringste Sicherheit mehr habe? Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines andern, jeder zufällige Anblick wälzt alles in mir, selbst Vergessenes, ganz und gar Unbedeutendes, auf eine andere Seite. Ich bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein und nicht die Kraft haben, es zu beklagen.

 

Ich gehe absichtlich durch die Gassen, wo Dirnen sind. Das Vorübergehen an ihnen reizt mich, diese ferne, aber immerhin bestehende Möglichkeit, mit einer zu gehn. Ist das Gemeinheit? Ich weiß aber nichts Besseres, und das Ausführen dessen scheint mir im Grunde unschuldig und macht mir fast keine Reue. Ich will nur die dicken ältern, mit veralteten, aber gewissermaßen durch verschiedene Behänge üppigen Kleider. Eine Frau kennt mich wahrscheinlich schon. Ich traf sie heute nachmittag, sie war noch nicht in Berufskleidung, die Haare lagen noch am Kopf an, sie hatte keinen Hut, eine Arbeitsbluse wie Köchinnen, und trug irgendeinen Ballen, vielleicht zur Wäscherin. Kein Mensch hätte etwas Reizendes an ihr gefunden, nur ich. Wir sahen einander flüchtig an. Jetzt abends, es ist inzwischen kalt geworden, sah ich sie in einem anliegenden, gelblich braunen Mantel auf der andern Seite der engen, von der Zeltnergasse abzweigenden Gasse, wo sie ihre Promenade hat. Ich sah zweimal nach ihr zurück, sie faßte auch den Blick, aber dann lief ich ihr eigentlich davon.

 

Die Unsicherheit geht gewiß von den Gedanken an F. aus.

20. November. Im Kino gewesen. Geweint. ›Lolotte‹. Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung. Vorher trauriger Film ›Das Unglück im Dock‹, nachher lustiger ›Endlich allein‹. Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.

 

21. November. Traum: Das französische Ministerium, vier Männer, sitzt um einen Tisch. Es findet eine Beratung statt. Ich erinnere mich an den an der rechten Längsseite sitzenden Mann mit einem im Profil flach gedrückten Gesicht, gelblicher Hautfarbe, weit vorspringender (infolge des Plattgedrücktseins so weit vorspringender) ganz gerader Nase und einem ölig schwarzen, den Mund überwölbenden, starken Schnurrbart.

 

Klägliche Beobachtung, die gewiß wieder von einer Konstruktion ausgeht, deren unterstes Ende irgendwo im Leeren schwebt: Als ich das Tintenfaß vom Schreibtisch nahm, um es ins Wohnzimmer zu tragen, fühlte ich irgendeine Festigkeit in mir, so wie zum Beispiel die Kante eines großen Gebäudes im Nebel erscheint und gleich verschwindet. Ich fühlte mich nicht verloren, etwas wartete in mir, unabhängig von Menschen, selbst von F. Wie nun, wenn ich davon wegliefe, so wie zum Beispiel einer einmal in die Felder läuft.

 

Dieses Voraussagen, dieses sich nach Beispielen richten, diese bestimmte Angst ist lächerlich. Das sind Konstruktionen, die selbst in der Vorstellung, in der allein sie herrschen, nur fast bis zur lebendigen Oberfläche kommen, aber immer mit einem Ruck überschwemmt werden müssen. Wer hat die Zauberhand, daß er sie in die Maschinerie steckte, und sie würde nicht durch tausend Messer zerrissen und verstreut.

 

Ich bin auf der Jagd nach Konstruktionen. Ich komme in ein Zimmer und finde sie in einem Winkel weißlich durcheinandergehn.

 

24. November. Vorgestern abend bei Max. Er wird immer fremder, mir war er es schon oft, nun werde ich es auch ihm. Gestern abend einfach ins Bett gelegt.

Traum gegen Morgen: Ich sitze im Garten eines Sanatoriums beim langen Tisch, sogar am Kopfende, so daß ich im Traum eigentlich meinen Rücken sehe. Es ist ein trüber Tag, ich muß wohl einen Ausflug gemacht haben und bin in einem Automobil, das im Schwung bei der Rampe vorfuhr, vor kurzem angekommen. Man soll gerade das Essen auftragen, da sehe ich eine der Bedienerinnen, ein junges zartes Mädchen, in sehr leichtem oder aber schwankendem Gang, mit einem Kleid in Herbstblätterfarben durch die Säulenhalle, die als Vorbau des Sanatoriums diente, herankommen und in den Garten herabsteigen. Ich weiß noch nicht, was sie will, aber zeige doch fragend auf mich, um zu erfahren, ob sie mich meine. Sie bringt mir wirklich einen Brief. Ich denke, das kann nicht der Brief sein, den ich erwarte, es ist ein ganz dünner Brief und eine fremde dünne unsichere Schrift. Aber ich öffne ihn, und es kommt eine große Anzahl dünner vollbeschriebener Papiere heraus, allerdings ist auf allen die fremde Schrift. Ich fange zu lesen an, blättere in den Papieren und erkenne, daß es doch ein sehr wichtiger Brief sein muß und offenbar von F.s jüngster Schwester ist. Ich fange mit Begierde zu lesen an, da sieht mir mein rechter Nachbar, ich weiß nicht ob Mann oder Frau, wahrscheinlich ein Kind, über meinen Arm in den Brief. Ich schreie: »Nein!« Die Tafelrunde nervöser Leute fangt zu zittern an. Ich habe wahrscheinlich ein Unglück angerichtet. Ich versuche, mit einigen raschen Worten mich zu entschuldigen, um wieder gleich lesen zu können. Ich beuge mich auch wieder zu meinem Brief, da erwache ich unweigerlich, wie von meinem eigenen Schrei geweckt. Ich zwinge mich bei klarem Bewußtsein mit Gewalt wieder in den Schlaf zurück, die Situation zeigt sich tatsächlich wieder, ich lese noch rasch zwei, drei nebelhafte Zeilen des Briefes, von denen ich nichts behalten habe, und verliere im weitern Schlaf den Traum.

 

Der alte Kaufmann, ein riesiger Mann, stieg mit einknickenden Knien, das Geländer mit der Hand nicht haltend, sondern pressend, die Stiege zu seiner Wohnung hinauf. Vor der Zimmertür, einer vergitterten Glastür, wollte er wie immer den Schlüsselbund aus der Hosentasche ziehn, da bemerkte er in einem dunklen Winkel einen jungen Mann, der nun eine Verbeugung machte.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte der Kaufmann, noch stöhnend von der Anstrengung des Steigens. »Sind Sie der Kaufmann Meßner?« fragte der junge Mann. »Ja«, sagte der Kaufmann.

»Dann habe ich Ihnen eine Mitteilung zu machen. Wer ich bin, ist eigentlich hier gleichgültig, denn ich bin selbst an der Sache gar nicht beteiligt, bin nur Überbringer der Nachricht. Trotzdem stelle ich mich vor, ich heiße Kette und bin Student.«

»So«, sagte Meßner und dachte ein Weilchen nach. »Nun, und die Nachricht?« sagte er dann.

»Das besprechen wir besser im Zimmer«, sagte der Student, »es ist eine Sache, die sich nicht auf der Treppe abtun läßt.«

»Ich wüßte von keiner derartigen Nachricht, die ich zu bekommen hätte«, sagte Meßner und sah seitwärts auf den Boden.

»Das mag sein«, sagte der Student.

»Übrigens«, sagte Meßner, »jetzt ist es elf Uhr nachts vorüber, kein Mensch wird uns hier zuhören.«

»Nein«, antwortete der Student, »ich kann es hier unmöglich sagen.«

»Und ich«, sagte Meßner, »empfange in der Nacht keine Gäste«, und er steckte den Schlüssel so stark ins Schloß, daß die übrigen Schlüssel im Bund noch eine Zeitlang klirrten.

»Ich warte hier doch schon seit acht Uhr, drei Stunden«, sagte der Student.

»Das beweist nur, daß die Nachricht für Sie wichtig ist. Ich aber will keine Nachrichten haben. Jede Nachricht, die mir erspart wird, ist ein Gewinn. Ich bin nicht neugierig, gehn Sie nur, gehn Sie.« Er faßte den Studenten bei seinem dünnen Überrock und schob ihn ein Stück fort. Dann öffnete er ein wenig die Tür des Zimmers, aus dem eine übergroße Hitze in den kalten Flur drang. »Ist es übrigens eine geschäftliche Nachricht?« fragte er dann noch, schon in der offenen Tür stehend.

»Auch das kann ich hier nicht sagen«, sagte der Student.

»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht«, sagte Meßner, ging in sein Zimmer, sperrte die Türe mit dem Schlüssel zu, drehte das Licht der elektrischen Bettlampe auf, füllte an einem kleinen Wandschrank, der mehrere Likörflaschen enthielt, ein Gläschen, trank es schnalzend aus und begann sich auszuziehn. Gerade wollte er, an die hohen Kissen gelehnt, eine Zeitung zu lesen beginnen, da schien es ihm, als klopfe jemand leise an der Tür. Er legte die Zeitung auf die Bettdecke zurück, kreuzte die Arme und horchte. Tatsächlich köpfte es wieder, und zwar ganz leise und förmlich ganz unten an der Tür. »Wirklich ein zudringlicher Affe«, lachte Meßner. Als das Klopfen aufhörte, nahm er wieder die Zeitung vor. Aber nun klopfte es stärker und polterte geradezu gegen die Tür. Wie Kinder zum Spiel die Schläge über die ganze Tür verteilen, so klopfte es, bald unten dumpf ans Holz, bald oben hell ans Glas. ›Ich werde aufstehen müssen‹, dachte kopfschüttelnd Meßner. ›Den Hausmeister kann ich nicht antelephonieren, denn der Apparat ist drüben im Vorzimmer, und ich müßte die Wirtin wecken, um hinzukommen. Es bleibt nichts übrig, als daß ich den Jungen eigenhändig die Treppe hinunterwerfe.‹ Er zog seine Filzmütze über den Kopf, streifte die Decke zurück, zog sich mit aufgestemmten Händen zum Bettrand, setzte langsam die Füße auf den Boden und zog wattierte hohe Hausschuhe an. ›Nun also‹, dachte er und faßte, an der Oberlippe kauend, die Tür ins Auge, ›jetzt ist es wieder still. Aber ich muß mir endgültig Ruhe verschaffen‹, sagte er sich dann, zog aus einem Gestell einen Stock mit Hornknopf, ergriff ihn in der Mitte und ging zur Tür.

»Ist noch jemand draußen?« fragte er an der geschlossenen Tür.

»Ja«, antwortete es, »bitte öffnen Sie mir.« – »Ich öffne«, sagte Meßner, öffnete und trat mit dem Stock vor die Tür.

»Schlagt mich nicht«, sagte der Student warnend und trat einen Schritt zurück.

»Dann geht!« sagte Meßner und fuhr mit dem Zeigefinger in der Richtung zur Treppe. »Aber ich darf nicht«, sagte der Student und lief so überraschend auf Meßner zu ... [bricht ab]

 

27. November. Ich muß aufhören, ohne geradezu abgeschüttelt zu sein. Ich fühle auch keine Gefahr, daß ich mich verlieren könnte, immerhin fühle ich mich hilflos und außenstehend. Die Festigkeit aber, die das geringste Schreiben mir verursacht, ist zweifellos und wunderbar. Der Blick, mit dem ich gestern auf dem Spaziergang alles überblickte!

 

Das Kind der Hausmeisterin, die das Tor öffnete. Eingepackt in ein altes Frauentuch, bleich, starres fleischiges Gesichtchen. Wird so von der Hausmeisterin in der Nacht zum Tor getragen.

 

Der Pudel der Hausmeisterin, der unten auf einer Stufe sitzt und mein im vierten Stockwerk beginnendes Trampeln behorcht, mich ansieht, wenn ich bei ihm ankomme, und mir nachschaut, wenn ich weiterlaufe. Angenehmes Gefühl des Vertrautseins, da er über mich nicht erschrickt und mich in das gewohnte Haus und seinen Lärm einbezieht.

 

Bild: Taufe der Schiffsjungen beim Passieren des Äquators. Das Herumlungern der Matrosen. Das nach allen Richtungen und Höhen abgekletterte Schiff bietet ihnen überall Sitzgelegenheiten. Die großen Matrosen, die an den Schiffsleitern hängen und sich mit mächtiger runder Schulter Fuß vor Fuß an den Schiffsleib drücken und auf das Schauspiel hinuntersehn.

 

4. Dezember. Von außen gesehn ist es schrecklich, erwachsen, aber jung zu sterben oder gar sich zu töten. In gänzlicher Verwirrung, die innerhalb einer weiteren Entwicklung Sinn hätte, abzugehn, hoffnungslos oder mit der einzigen Hoffnung, daß dieses Auftreten im Leben innerhalb der großen Rechnung als nicht geschehen betrachtet werden wird. In einer solchen Lage wäre ich jetzt. Sterben hieße nichts anderes, als ein Nichts dem Nichts hinzugeben, aber das wäre dem Gefühl unmöglich, denn wie könnte man sich auch nur als Nichts mit Bewußtsein dem Nichts hingeben und nicht nur einem leeren Nichts, sondern einem brausenden Nichts, dessen Nichtigkeit nur in seiner Unfaßbarkeit besteht.

 

Ein Kreis von Männern, die Herren und Diener sind. Ausgearbeitete, in lebendigen Farben glänzende Gesichter. Der Herr setzt sich, und der Diener bringt ihm die Speisen auf dem Brett. Zwischen beiden ist kein größerer Unterschied, kein anders zu wertender Unterschied als zum Beispiel zwischen einem Mann, der durch das Zusammenwirken unzähliger Umstände Engländer ist und in London lebt, und einem andern, der Lappländer ist und zu gleicher Zeit allein im Sturm in seinem Boot das Meer befährt. Gewiß, der Diener kann – auch dies nur unter Umständen – Herr werden, aber diese Frage, wie sie auch beantwortet werden könnte, stört hier nicht, denn es handelt sich um die augenblickliche Bewertung der augenblicklichen Verhältnisse.

 

Die von jedem, selbst dem zugänglichsten und anschmiegsamsten Menschen, hie und da, wenn auch nur gefühlsmäßig angezweifelte Einheitlichkeit der Menschheit zeigt sich andererseits auch jedem, oder scheint sich zu zeigen, in der vollständigen, immer wieder aufzufindenden Gemeinsamkeit gesamt- und einzelmenschlicher Entwicklung. Selbst in den verschlossensten Gefühlen des einzelnen.

 

Die Furcht vor Narrheit. Narrheit in jedem geradeaus strebenden, alles andere vergessen machenden Gefühl sehn. Was ist dann die Nicht-Narrheit? Nicht-Narrheit ist, vor der Schwelle, zur Seite des Einganges bettlerhaft stehn, verwesen und umstürzen. Aber P. und O. sind doch widerliche Narren. Es muß Narrheiten geben, die größer sind als ihre Träger. Dieses Sichspannen der kleinen Narren in ihrer großen Narrheit ist vielleicht das Widerliche. Aber erschien den Pharisäern Christus nicht in gleichem Zustande?

 

Wunderbare, gänzlich widerspruchsvolle Vorstellung, daß einer, der zum Beispiel um drei Uhr in der Nacht gestorben ist, gleich darauf, etwa in der Morgendämmerung, in ein höheres Leben eingeht. Welche Unvereinbarkeit liegt zwischen dem sichtbar Menschlichen und allem andern! Wie folgt aus einem Geheimnis immer ein größeres! Im ersten Augenblick geht dem menschlichen Rechner der Atem aus. Eigentlich müßte man sich fürchten, aus dem Haus zu treten.

 

5. Dezember. Wie ich gegen meine Mutter wüte! Ich muß nur mir ihr zu reden anfangen, schon bin ich gereizt, schreie fast.

 

O. leidet doch, und ich glaube nicht, daß sie leidet, leiden kann, glaube es gegen meine bessere Einsicht nicht, glaube es nicht, um ihr nicht beistehn zu müssen, was ich nicht könnte, denn ich bin auch gegen sie gereizt.

 

An F. sehe ich äußerlich, wenigstens manchmal, nur einige unzählbare kleine Einzelheiten. Dadurch wird ihr Bild so klar, rein, ursprünglich, umrissen und luftig zugleich.

 

8. Dezember. Konstruktionen in Weiß' Roman. Die Kraft, sie zu beseitigen, die Pflicht, das zu tun. Ich leugne fast die Erfahrungen. Ich will Ruhe, Schritt für Schritt, oder Lauf, aber nicht ausgerechnete Sprünge von Heuschrecken.

9. Dezember. Weiß' ›Galeere‹. Schwächung der Wirkung, wenn der Ablauf der Geschichte beginnt. Die Welt ist überwunden, und wir haben mit offenen Augen zugesehn. Also können wir uns ruhig umdrehn und weiterleben.

Haß gegenüber aktiver Selbstbeobachtung. Seelendeutungen, wie: Gestern war ich so, und zwar deshalb, heute bin ich so, und deshalb. Es ist nicht wahr, nicht deshalb und nicht deshalb und darum auch nicht so und so. Sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben, wie man muß, nicht sich hündisch umlaufen.

Ich war im Gebüsch eingeschlafen. Ein Lärm weckte mich. Ich fand in meinen Händen ein Buch, in dem ich früher gelesen hatte. Ich warf es weg und sprang auf. Es war kurz nach Mittag; vor der Anhöhe, auf der ich war, breitete sich eine große Tiefebene aus mit Dörfern und Teichen und gleichförmigem hohem schilfartigem Buschwerk zwischen ihnen. Ich legte die Hände in die Hüften, durchsuchte alles mit den Augen und horchte dabei auf den Lärm.

 

10. Dezember. Die Entdeckungen haben sich dem Menschen aufgedrängt.

Das lachende, jungenhafte, listige, aufgelöste Gesicht des Oberinspektors, das ich noch nie an ihm gesehen hatte und nur heute in einem Augenblick bemerkte, als ich eine Arbeit des Direktors ihm vorlas und zufällig von ihr aufsah. Er steckte dabei auch mit einem Ruck der Schultern die rechte Hand in die Hosentasche, als wäre er ein anderer Mensch.

Niemals ist es möglich, alle Umstände zu bemerken und zu beurteilen, die auf die Stimmung eines Augenblicks einwirken und sogar in ihr wirken und endlich in der Beurteilung wirken, darum ist es falsch, zu sagen, gestern fühlte ich mich gefestigt, heute bin ich verzweifelt. Solche Unterscheidungen beweisen nur, daß man Lust hat, sich zu beeinflussen und möglichst abgesondert von sich, versteckt hinter Vorurteilen und Phantasien, zeitweilig ein künstliches Leben aufzuführen, so wie sich einmal einer in einem Winkel der Schenke, von einem kleinen Schnapsglas genügend versteckt, ausschließlich mit sich allein, mit lauter falschen unbeweisbaren Vorstellungen und Träumen unterhält.

Gegen Mitternacht stieg die Treppe zu der kleinen Singspielhalle ein junger Mann in einem engen mattgrauen karierten, leicht überschneiten Überzieher hinab. Er bezahlte am Kassentisch, hinter dem ein hindämmerndes Fräulein aufschreckte und ihn mit großen schwarzen Augen geradeaus ansah, und blieb dann ein Weilchen stehn, um den Saal, der drei Stufen tief unter ihm lag, zu überblicken.

Fast jeden Abend gehe ich auf den Staatsbahnhof, heute, weil es regnete, ging ich eine halbe Stunde in der Halle dort auf und ab. Der Bursch, der immerfort das Zuckerzeug aus dem Automaten aß. Der Handgriff in die Tasche, aus der er eine Menge Kleingeld holt, das nachlässige Einwerfen in die Öffnung, das Lesen der Aufschriften während des Essens, das Hinunterfallen von einzelnen Stücken, die er vom schmutzigen Boden aufhebt und geradewegs in den Mund steckt. – Der ruhig kauende Mann, der am Fenster vertraulich mit einer Frau, einer Verwandten, spricht.

 

11. Dezember. In der Toynbeehalle den Anfang von ›Michael Kohlhaas‹ gelesen. Ganz und gar mißlungen. Schlecht ausgewählt, schlecht vorgetragen, schließlich sinnlos im Text herumgeschwommen. Musterhafte Zuhörerschaft. Ganz kleine Jungen in der ersten Reihe. Einer sucht seiner unschuldigen Langeweile dadurch beizukommen, daß er die Mütze vorsichtig auf den Boden wirft und dann vorsichtig aufhebt und so öfters. Da er zu klein ist, um das vom Sitz auszuführen, muß er immer ein wenig vom Sessel sich abgleiten lassen. Wild und schlecht und unvorsichtig und unverständlich gelesen. Und am Nachmittag zitterte ich schon vor Begierde, zu lesen, konnte kaum den Mund geschlossen halten.

Es ist wirklich kein Stoß nötig, nur ein Zurückziehn der letzten auf mich verwendeten Kraft, und ich komme in eine Verzweiflung, die mich zerreißt. Als ich mir heute vorstellte, daß ich während des Vortrags unbedingt ruhig sein werde, fragte ich mich, was das für eine Ruhe sein wird, wo sie begründet sein wird, und ich konnte nur sagen, daß es bloß eine Ruhe um ihrer selbst willen sein wird, eine unverständliche Gnade, sonst nichts.

12. Dezember. Und früh bin ich verhältnismäßig ganz frisch aufgestanden.

 

Gestern auf dem Nachhausewege der kleine, grau verpackte Junge, der neben einer Gruppe von Jungen nebenher lief, sich gegen den Schenkel schlug, mit der anderen Hand einen andern Jungen faßte und rief – in ziemlicher Geistesabwesenheit, was ich nicht vergessen darf: »Dnes to bylo docela hezky.«»Heute war es ganz hübsch.« Diese Kritik seiner mißglückten Kleistvorlesung (vgl. Notiz vom 11. Dezember) hat Kafka öfters mit so viel Humor erzählt, daß unter uns Freunden die Worte des kleinen Jungen sprichwörtlich wurden. Kafka erzählte, der Junge habe mit altkluger Miene noch hinzugesetzt: »Very well.« Wenn einer, der keine Ahnung hatte, von oben herab, gönnerhaft und kennerhaft etwas lobte, so zitierten wir gern: »Very well« und wußten sofort, was gemeint war. Die ganze kleine Vorlesungs-Episode machte in der Wirklichkeit einen weit weniger melancholischen Eindruck, als das Tagebuch ihn vermittelt. Selbstverständlich hatte Kafka wundervoll gelesen, das habe ich als Zuhörer noch gut in Erinnerung. Er hatte nur ein viel zu langes Stück ausgewählt und mußte zuletzt im Lesen kürzen. Dazu kam der skurrile Gegensatz zwischen dieser großen Literatur und den wenig interessierten, armen Zuhörern, die in ihrer Majorität nur der gratis kredenzten Tasse Tee wegen zu solchen Wohlfahrtsveranstaltungen kamen.

 

Die Frische, mit der ich heute nach einer etwas geänderten Tageseinteilung um etwa sechs Uhr auf der Gasse ging. Lächerliche Beobachtung, wann werde ich das ausrotten.

 

Im Spiegel sah ich mich vorhin genau an und kam mir im Gesicht – allerdings nur bei Abendbeleuchtung und der Lichtquelle hinter mir, so daß eigentlich nur der Flaum an den Rändern der Ohren beleuchtet war – auch bei genauer Untersuchung besser vor, als ich nach eigener Kenntnis bin. Ein klares, übersichtlich gebildetes, fast schön begrenztes Gesicht. Das Schwarz der Haare, der Brauen und der Augenhöhlen dringt wie Leben aus der übrigen abwartenden Masse. Der Blick ist gar nicht verwüstet, davon ist keine Spur, er ist aber auch nicht kindlich, eher unglaublicherweise energisch, aber vielleicht «war er nur beobachtend, da ich mich eben beobachtete und mir Angst machen wollte.

 

12. Dezember. Gestern lange nicht eingeschlafen. F. Hatte endlich den Plan, und damit schlief ich unsicher ein, Weiß zu bitten, mit einem Brief zu ihr ins Bureau zu gehn, und in diesem Brief nichts weiter zu schreiben, als daß ich eine Nachricht von ihr oder über sie haben müsse und deshalb Weiß hingeschickt habe, damit er mir von ihr schreibe.Ernst Weiß lebte in Berlin, ebenda Felice Bauer. Inzwischen sitzt Weiß neben ihrem Schreibtisch, bis sie den Brief ausgelesen hat, verbeugt sich, da er keinen andern Auftrag hat und auch kaum eine Antwort bekommen dürfte, und geht.

 

Diskussionsabend im Beamtenverein. Ich habe ihn geleitet. Komische Quellen des Selbstgefühls. Mein Einleitungssatz: »Ich muß den heutigen Diskussionsabend mit dem Bedauern darüber einleiten, daß er stattfindet.« Ich war nämlich nicht rechtzeitig verständigt worden und daher nicht vorbereitet.

14. Dezember. Vortrag Beermann.Der bekannte Journalist Arnold Höllriegel, Reiseschriftsteller großen Stils. Nichts, aber mit einer hie und da ansteckenden Selbstzufriedenheit vorgetragen. Mädchenhaftes Gesicht mit Kropf. Vor dem Aussprechen fast jeden Satzes die gleichen Muskelzusammenziehungen im Gesicht, wie beim Niesen. Ein Vers vom Weihnachtsmarkt in seinem heutigen Tagblattaufsatz.

Herr, kaufen Sie es Ihren Kleinen,
Damit sie lachen und nicht weinen.

Hat Shaw zitiert: »Ich bin ein vielsitzender, zaghafter Zivilist.«

 

Brief an F. im Bureau geschrieben.

 

Der Schrecken, als ich vormittags auf dem Weg ins Bureau das F. ähnliche Mädchen aus dem Seminar traf, im Augenblick nicht wußte, wer das war, und nur merkte, daß sie zwar F. ähnlich, aber doch nicht F. war, überdies aber noch irgendeine darüber hinaus gehende Beziehung zu F. hatte, nämlich die, daß ich im Seminar in ihrem Anblick viel an F. gedacht hatte.

 

Jetzt bei Dostojewski die Stelle gelesen, die so an mein ›Unglücklichsein‹ erinnert.

 

15. Dezember. Briefe an Dr. Weiß und Onkel Alfred. Kein Telegramm bekommen.

 

›Wir Jungen von 1870/71‹ gelesen. Wieder von den Siegen und begeisterten Szenen mit unterdrücktem Schluchzen gelesen. Vater sein und ruhig mit seinem Sohn reden. Dann darf man aber kein Spielzeughämmerchen an Stelle des Herzens haben.

 

»Hast du dem Onkel schon geschrieben?« fragte mich, wie ich mit Bosheit längst erwartete, die Mutter. Sie beobachtete mich schon lange ängstlich, wagte aus verschiedenen Gründen erstens mich nicht zu fragen und zweitens mich nicht vor dem Vater zu fragen und fragte schließlich in ihrer Besorgnis, da sie sah, daß ich weggehen wollte, dennoch. Als ich hinten an ihrem Sessel vorüberkam, sah sie von den Spielkarten auf, wendete mit einer längst vergangenen und irgendwie für den Augenblick aufgelebten zarten Bewegung das Gesicht zu mir und fragte, nur flüchtig aufschauend, schüchtern lächelnd und schon in der Frage, noch ohne jede Antwort, gedemütigt.

 

16. Dezember. »Der Donnerschrei des Entzückens der Seraphim.«

Ich saß bei Weltsch im Schaukelstuhl, wir sprachen über die Unordnung unseres Lebens, er immerhin mit einer gewissen Zuversicht (»Man muß das Unmögliche wollen«), ich auch ohne diese, mit dem Blick auf meine Finger, im Gefühl, Stellvertreter meiner innern Leere zu sein, die ausschließlich ist und nicht einmal übermäßig groß.

 

17. Dezember. Brief an W. mit dem Auftrag. »Überfließend sein und doch nur ein Topf auf einem kalten Herd.«

Vortrag Bergmann ›Moses und die Gegenwart‹. Reiner Eindruck. – Ich habe jedenfalls damit nichts zu tun. Zwischen Freiheit und Sklaverei kreuzen sich die wirklichen schrecklichen Wege ohne Führung für die kommende Strecke und unter sofortigem Verlöschen der schon zurückgelegten. Solcher Wege gibt es unzählige oder nur einen, man kann das nicht feststellen, denn es gibt keine Übersicht. Dort bin ich. Ich kann nicht weg. Ich habe mich nicht zu beklagen. Ich leide nicht übermäßig, denn ich leide nicht zusammenhängend, es häuft sich nicht an, wenigstens fühle ich es vorläufig nicht, und die Größe meines Leidens liegt weit unter jenem Leiden, das mir vielleicht zukäme.

Die Silhouette eines Mannes, der mit halb und verschiedenartig in die Höhe gehobenen Armen sich gegen vollständigen Nebel wendet, um hineinzugehn.

Die schönen kräftigen Sonderungen im Judentum. Man bekommt Platz. Man sieht sich besser, man beurteilt sich besser.

Ich gehe schlafen, ich bin müde. Vielleicht ist es dort schon entschieden. Viele Träume darüber.

Falscher Brief von Bl.

 

19. Dezember. Brief von F. Schöner Morgen, Wärme im Blut.

 

20. Dezember. Kein Brief.

Die Wirkung eines friedlichen Gesichts, einer ruhigen Rede, besonders von einem fremden, noch nicht durchschauten Menschen. Die Stimme Gottes aus einem menschlichen Mund.

Ein alter Mann ging an einem Winterabend im Nebel durch die Gassen. Es war eiskalt. Die Gassen waren leer. Kein Mensch kam nahe an ihm vorüber, nur hie und da sah er in der Ferne halb im Nebel einen großen Polizeimann oder eine Frau in Pelzwerk oder Tüchern. Ihn kümmerte nichts, er dachte nur daran, einen Freund zu besuchen, bei dem er schon lange nicht gewesen war und der ihn gerade jetzt durch ein Dienstmädchen hatte holen lassen.

Es war schon lange nach Mitternacht, als es an die Zimmertür des Kaufmanns Meßner leise klopfte. Er mußte nicht geweckt werden, er schlief immer erst gegen Morgen ein, bis dahin aber pflegte er bäuchlings wach im Bett zu liegen, das Gesicht ins Kissen gedrückt, die Arme ausgestreckt und die Hände über dem Kopf verschlungen. Er hatte das Klopfen gleich gehört. »Wer ist es?« fragte er. Ein unverständliches Murmeln, leiser als das Klopfen, antwortete. »Es ist offen«, sagte er und drehte das elektrische Licht auf. Ein kleines schwaches Frauenzimmer in einem großen Umhängetuch trat ein.


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