Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1912

 

2. Januar. Infolgedessen gab ich den schlechten Kleidern auch in meiner Haltung nach, ging mit gebeugtem Rücken, schiefen Schultern, verlegenen Armen und Händen herum: fürchtete mich vor Spiegeln, weil sie mich in einer meiner Meinung nach unvermeidlichen Häßlichkeit zeigten, die überdies nicht ganz wahrheitsgemäß abgespiegelt sein konnte, denn hätte ich wirklich so ausgesehn, hätte ich auch größeres Aufsehen erregen müssen, erduldete auf Sonntagsspaziergängen von der Mutter sanfte Stöße in den Rücken und viel zu abstrakte Ermahnungen und Prophezeiungen, die ich mit meinen damaligen gegenwärtigen Sorgen in keine Beziehung bringen konnte. Überhaupt fehlte es mir hauptsächlich an der Fähigkeit, für die tatsächliche Zukunft auch nur im geringsten vorzusorgen. Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen Dingen und ihren gegenwärtigen Zuständen, nicht aus Gründlichkeit oder zu sehr festgehaltenem Interesse, sondern, soweit es nicht Schwäche des Denkens verursachte, aus Traurigkeit und Furcht, aus Traurigkeit, denn weil mir die Gegenwart so traurig war, glaubte ich sie nicht verlassen zu dürfen, ehe sie sich ins Glück auflöste, aus Furcht, denn wie ich mich vor dem kleinsten gegenwärtigen Schritt fürchtete, hielt ich mich auch für unwürdig, bei meinem verächtlichen kindischen Auftreten ernstlich mit Verantwortung die große männliche Zukunft zu beurteilen, die mir auch meistens so unmöglich vorgekommen ist, daß mir jedes kleine Fortschreiten wie eine Fälschung erschien und das Nächste unerreichbar.

Wunder gab ich leichter zu als wirklichen Fortschritt, war aber zu kühl, um nicht die Wunder in ihrer Sphäre zu lassen und den wirklichen Fortschritt in der seinen. Ich konnte daher lange Zeit vor dem Einschlafen mich damit abgeben, daß ich einmal als reicher Mann in vierspännigem Wagen in der Judenstadt einfahren, ein mit Unrecht geprügeltes schönes Mädchen mit einem Machtwort befreien und in meinem Wagen fortführen werde, unberührt aber von diesem spielerischen Glauben, der sich wahrscheinlich nur von einer schon ungesunden Sexualität nährte, blieb die Überzeugung, daß ich die Endprüfungen des Jahres nicht bestehen werde und, wenn das gelingen sollte, daß ich in der nächsten Klasse nicht fortkommen werde und, wenn auch das noch durch Schwindel vermieden würde, daß ich bei der Matura endgültig fallen müßte und daß ich übrigens ganz bestimmt, gleichgültig in welchem Augenblick, die durch mein äußerlich regelmäßiges Aufsteigen eingeschläferten Eltern sowie die übrige Welt durch die Offenbarung einer unerhörten Unfähigkeit mit einem Male überraschen werde. Da ich aber als Wegzeiger in die Zukunft immer nur meine Unfähigkeit ansah – nur selten meine schwache literarische Arbeit – brachte mir ein Überdenken der Zukunft niemals Nutzen; es war nur ein Fortspinnen der gegenwärtigen Trauer. Wenn ich wollte, konnte ich zwar aufrecht gehn, aber es machte mich müde und ich konnte auch nicht einsehn, was mir eine krumme Haltung in Zukunft schaden könnte. Werde ich eine Zukunft haben, dann, so war mein Gefühl, wird sich alles von selbst in Ordnung bringen. Ein solches Prinzip war nicht deshalb ausgewählt, weil es Vertrauen zu einer Zukunft enthielt, deren Existenz allerdings nicht geglaubt wurde, es hatte vielmehr nur den Zweck, mir das Leben zu erleichtern. So zu gehn, mich anzuziehn, mich zu waschen, zu lesen, vor allem mich zu Hause einzusperren, wie es mir am wenigsten Mühe machte und wie es am wenigsten Mut verlangte. Ging ich darüber hinaus, so kam ich nur auf lächerliche Auswege.

Einmal schien es unmöglich, weiterhin ohne ein schwarzes Festkleid auszukommen, besonders da ich auch vor die Entscheidung gestellt war, ob ich mich an einer Tanzstunde beteiligen wollte. Jener Schneider aus Nusle wurde gerufen und über den Schnitt des Kleides beraten. Ich war unschlüssig wie immer in solchen Fällen, in denen ich fürchten mußte, durch eine klare Auskunft nicht nur in ein unangenehmes Nächstes, sondern darüber hinaus in ein noch schlimmeres fortgerissen zu werden. Ich wollte also zunächst kein schwarzes Kleid, als man mich aber vor dem fremden Mann mit dem Hinweis darauf beschämte, daß ich kein Festtagskleid habe, duldete ich es, daß ein Frack überhaupt in Vorschlag kam; da ich aber einen Frack für eine fürchterliche Umwälzung ansah, von der man schließlich reden, die man aber niemals beschließen könnte, einigten wir uns auf einen Smoking, der durch seine Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Sakko mir wenigstens erträglich schien. Als ich aber hörte, daß die Smokingweste notwendig ausgeschnitten sei und ich dann also auch ein gestärktes Hemd tragen müßte, wurde ich, da etwas Derartiges abzuwehren war, fast über meine Kräfte entschlossen. Ich wollte keinen derartigen Smoking, sondern einen, wenn es sein mußte, mit Seide zwar ausgefütterten und ausgeschlagenen, aber hoch geschlossenen Smoking. Ein solcher Smoking war dem Schneider unbekannt, doch bemerkte er, was ich mir auch immer unter einem solchen Rock vorstelle, ein Tanzkleid könne das nicht sein. Gut, dann war es also kein Tanzkleid, ich wollte auch gar nicht tanzen, das war noch lange nicht bestimmt, dagegen wollte ich den beschriebenen Rock mir machen lassen. Der Schneider war desto begriffsstutziger, als ich bisher neue Kleider immer mit verschämter Flüchtigkeit, ohne Anmerkungen und Wünsche mir hatte anmessen und anprobieren lassen. Es blieb mir daher, auch weil die Mutter drängte, nichts anderes übrig, als mit ihm, so peinlich das war, über den Altstädter Ring zur Auslage eines Händlers mit alten Kleidern zu gehn, in dessen Auslage ich schon seit längerer Zeit einen derartigen unverfänglichen Smoking ausgebreitet gesehen und für mich als brauchbar erkannt hatte. Unglücklicherweise aber war er schon aus der Auslage entfernt, selbst durch angestrengtes Schauen war er im Innern des Geschäftes nicht zu erkennen, in das Geschäft einzutreten, nur um den Smoking zu sehn, wagte ich nicht, so daß wir in der früheren Uneinigkeit zurückkamen. Mir aber war es so, als wäre der künftige Smoking durch die Nutzlosigkeit dieses Weges schon verflucht, zumindest benutzte ich die Ärgerlichkeit der Hin- und Gegenreden zum Vorwand, den Schneider mit irgendeiner kleinen Bestellung und einer Vertröstung wegen des Smokinganzuges fortzuschicken und blieb unter den Vorwürfen meiner Mutter müde zurück, für immer – alles geschah mir für immer – abgehalten von Mädchen, elegantem Auftreten und Tanzunterhaltungen. Von der Fröhlichkeit, die ich hierüber gleichzeitig fühlte, war mir elend und außerdem hatte ich Angst, vor dem Schneider mich lächerlich gemacht zu haben wie bisher keine seiner Kundschaften.

 

3. Januar. Viel gelesen in der ›Neuen Rundschau‹. Anfang des Romans ›Der nackte Mann‹›Der nackte Mann‹. Roman von Emil Strauß. Für den Autor und Kafkas Beziehung zu seinem Werk gilt das über Wilhelm Schäfer Bemerkte. , etwas zu dünne Klarheit im ganzen, in Einzelheiten unfehlbar. ›Gabriel Schillings Flucht‹ von Hauptmann. Bildung der Menschen. Lehrreich im Schlechten und Guten.

 

Silvester. Ich hatte mir vorgenommen, nachmittag Max aus den Tagebüchern vorzulesen, ich hatte mich darauf gefreut und brachte es nicht zustande. Wir fühlten nicht einheitlich, ich ahnte in ihm an diesem Nachmittag eine rechnerische Kleinlichkeit und Eile, er war fast nicht mein Freund, beherrschte mich aber immerhin noch so weit, daß ich mit seinen Augen mich in den Heften immer wieder nutzlos blättern sah und dieses Hin- und Herblättern, das immer wieder die gleichen Seiten im Vorüberfliegen zeigte, abscheulich fand. Aus dieser gegenseitigen Spannung heraus gemeinsam zu arbeiten, war natürlich unmöglich, und die eine Seite von ›Richard und Samuel‹, die wir unter gegenseitigen Widerständen zustande brachten, ist nur ein Beweis von Maxens Energie, sonst aber schlecht. Silvester bei Gada. Nicht so arg, weil Weltsch, Kisch und noch einer frisches Blut beimischten, so daß ich mich schließlich, allerdings nur in den Grenzen jener Gesellschaft, doch wieder zu Max gefunden habe. Im Gedränge des Grabens drückte ich ihm dann, schon ohne ihn zu sehn, die Hand und ging, meine drei Hefte an mich gepreßt, wie mir in der Erinnerung scheint, stolz geradewegs nach Hause.

 

Die Flammen, die auf der Gasse um einen Tiegel vor einem Neubau in den Formen von Farrenkräutern ringsherum aufwärts trieben.

 

In mir kann ganz gut eine Konzentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klargeworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens, der Musik zuallererst, richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. Das war notwendig, weil meine Kräfte in ihrer Gesamtheit so gering waren, daß sie nur gesammelt dem Zweck des Schreibens halbwegs dienen konnten. Ich habe diesen Zweck natürlich nicht selbständig und bewußt gefunden, er fand sich selbst und wird jetzt nur noch durch das Bureau, aber hier von Grund aus, gehindert. Jedenfalls darf ich aber dem nicht nachweinen, daß ich keine Geliebte ertragen kann, daß ich von Liebe fast genauso viel wie von Musik verstehe und mit den oberflächlichsten angeflogenen Wirkungen mich begnügen muß, daß ich zum Silvester Schwarzwurzeln mit Spinat genachtmahlt und ein Viertel Ceres dazu getrunken habe und daß ich Sonntag bei Maxens Vorlesung seiner philosophischen Arbeit nicht teilnehmen konnte; der Ausgleich alles dessen liegt klar zutage. Ich habe also nur die Bureauarbeit aus dieser Gemeinschaft hinauszuwerfen, um, da meine Entwicklung nun vollzogen ist und ich, soweit ich sehen kann, nichts mehr aufzuopfern habe, mein wirkliches Leben anzufangen, in welchem mein Gesicht endlich mit dem Fortschreiten meiner Arbeiten in natürlicher Weise wird altern können.

 

Der Umschwung, den ein Gespräch nimmt, wenn zuerst ausführlich von Sorgen der innersten Existenz gesprochen wird und hierauf, nicht gerade abbrechend, aber natürlich auch nicht sich daraus entwickelnd, zur Sprache kommt, wann und wo man einander zum nächsten Male sehen wird und welche Umstände hiebei in Betracht gezogen werden müssen. Endet dieses Gespräch auch noch mit einem Händedruck, so geht man mit dem augenblicklichen Glauben an ein reines und festes Gefüge unseres Lebens und mit Achtung davor auseinander.

 

In einer Selbstbiographie läßt es sich nicht vermeiden, daß sehr häufig dort, wo »einmal« der Wahrheit gemäß gesetzt werden sollte, »öfters« gesetzt wird. Denn man bleibt sich immer bewußt, daß die Erinnerung aus dem Dunkel holt, das durch das Wort »einmal« zersprengt, durch das Wort »öfters« zwar auch nicht völlig geschont, aber wenigstens in der Ansicht des Schreibenden erhalten wird und ihn über Partien hinträgt, die vielleicht in seinem Leben sich gar nicht vorgefunden haben, aber ihm einen Ersatz geben für jene, die er in seiner Erinnerung auch mit einer Ahnung nicht mehr berührt.

 

4. Januar. Nur infolge meiner Eitelkeit lese ich so gerne meinen Schwestern vor (so daß es zum Beispiel heute zu spät zum Schreiben geworden ist). Nicht daß ich überzeugt wäre, daß ich im Vorlesen etwas Bedeutendes erreichen würde, vielmehr beherrscht mich nur die Sucht, mich an die guten Arbeiten, die ich vorlese, so sehr heranzudrängen, daß ich mit ihnen nicht durch mein Verdienst, sondern nur in der durch das Vorgelesene aufgeregten und für das Unwesentliche getrübten Aufmerksamkeit meiner zuhörenden Schwestern in eins verfließe und deshalb auch unter der vertuschenden Wirkung der Eitelkeit als Ursache an allem Einfluß teilnehme, welchen das Werk selbst geübt hat. Deshalb lese ich auch vor meinen Schwestern tatsächlich bewundernswert, erfülle manche Betonungen mit einer meinem Gefühl nach äußersten Genauigkeit, weil ich nachher nicht nur von mir, sondern auch von meinen Schwestern im Übermaß belohnt werde.

Lese ich aber vor Brod oder Baum oder andern, muß jedem mein Lesen schon infolge meiner Ansprüche auf Lob entsetzlich schlecht bekommen, selbst wenn er von der Güte meines sonstigen Vorlesens nichts weiß, denn hier sehe ich, daß der Zuhörer die Sonderung zwischen mir und dem Gelesenen aufrecht erhält, ich darf mich mit dem Gelesenen nicht gänzlich verbinden, ohne meinem Gefühl nach, das keine Unterstützung vom Zuhörer zu erwarten hat, lächerlich zu werden, ich umfliege das Vorzulesende mit der Stimme, versuche, weil man es will, hie und da einzudringen, beabsichtige es aber nicht ernstlich, weil man es von mir gar nicht erwartet; das was man aber eigentlich will, ohne Eitelkeit ruhig und entfernt zu lesen und leidenschaftlich nur zu werden, wenn es meine Leidenschaft verlangt, das kann ich nicht leisten; trotzdem ich mich aber damit abgefunden zu haben glaube und mich also damit begnüge, vor andern als vor meinen Schwestern schlecht vorzulesen, zeigt sich meine Eitelkeit, die diesmal kein Recht haben sollte, indem ich mich gekränkt fühle, wenn jemand in dem Vorgelesenen etwas aussetzt, rot werde und rasch weiterlesen will, wie ich überhaupt, wenn ich einmal zu lesen angefangen habe, danach strebe, endlos vorzulesen, in der unbewußten Sehnsucht, daß im Verlauf des langen Lesens, zumindest in mir das eitle falsche Gefühl der Einheit mit dem Vorgelesenen sich erzeugen wird, wobei ich vergesse, daß ich niemals die genügende augenblickliche Kraft haben werde, aus meinem Gefühl auf den klaren Überblick des Zuhörers einzuwirken, und daß es zu Haus immer die Schwestern sind, welche mit der erwünschten Verwechslung beginnen.

5. Januar. Seit zwei Tagen konstatiere ich in mir Kühle und Gleichgültigkeit, wann ich will. Gestern abend beim Spazierengehn war mir jedes kleine Straßengeräusch, jeder auf mich gerichtete Blick, jede Photographie in einem Auslagskasten wichtiger als ich.

 

Die Einförmigkeit. Geschichte.

 

Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsmäßig schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, das das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehn nicht nur väterlichen Ärger, sondern allgemeines Staunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehn zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstüre zuschlägt und damit die allgemeine Besprechung des Fortgehens abschneidet, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit belohnen, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich aufgeregt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, daß man mit sich allein gelassen in Verstand und Ruhe und in deren Genüsse wächst, dann ist man für diesen Abend so gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, wie man es durchdringender durch die entferntesten Reisen nicht erreichen könnte, und man hat ein Erlebnis gehabt, das man wegen seiner für Europa äußersten Einsamkeit nur russisch nennen kann. Verstärkt wird es noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehn, wie es ihm geht.

Weltsch ist eingeladen, zum Benefiz der Frau Klug zu kommen. Löwy mit seinen starken Kopfschmerzen, die wahrscheinlich ein schweres Kopfleiden anzeigen, lehnte sich unten auf der Gasse, wo er auf mich wartete, die Rechte verzweifelt an der Stirn, an eine Hausmauer. Ich zeigte ihn Weltsch, der sich vom Kanapee aus zum Fenster hinüberneigte. Ich glaubte zum erstenmal in meinem Leben in dieser leichten Weise aus dem Fenster einen mich nahe betreffenden Vorgang unten auf der Gasse beobachtet zu haben. An und für sich ist mir solches Beobachten aus Sherlock Holmes bekannt.

 

6. Januar. Gestern ›Vicekönig‹ von Feimann. Die Eindrucksfähigkeit für das Jüdische in diesen Stücken verläßt mich, weil sie zu gleichförmig sind und in ein Jammern ausarten, das auf vereinzelte kräftigere Ausbrüche stolz ist. Bei den ersten Stücken konnte ich denken, an ein Judentum geraten zu sein, in dem die Anfänge des meinigen ruhen und die sich zu mir hin entwickeln und dadurch in meinem schwerfälligen Judentum mich aufklären und weiterbringen werden, statt dessen entfernen sie sich, je mehr ich höre, von mir weg. Die Menschen bleiben natürlich und an die halte ich mich.

Frau Klug hatte Benefiz und sang deshalb einige neue Lieder und machte ein paar neue Witze. Aber nur bei ihrem Antrittslied war ich ganz unter ihrem Eindruck, dann bin ich zu jedem Teilchen ihres Anblicks in der stärksten Beziehung, zu den beim Gesang ausgestreckten Armen und den schnippenden Fingern, zu den festgedrehten Schläfenlocken, zu dem flach und unschuldig unter die Weste gehenden dünnen Hemd, zu der Unterlippe, die sich einmal beim Genießen der Wirkung eines Witzes aufstülpt (»seht ihr, alle Sprachen kann ich, aber auf jiddisch«), zu den fetten Füßchen, die in den dicken weißen Strümpfen bis hinter die Zehen durch die Schuhe sich niederhalten lassen. Da sie aber gestern neue Lieder sang, schädigte sie ihre Hauptwirkung auf mich, die darin bestand, daß sich hier ein Mensch zur Schau stellt, der ein paar Witze und Lieder herausgefunden hat, die sein Temperament und alle seine Kräfte auf das vollkommenste vorführen. Da diese Vorführung gelingt, ist alles gelungen; und macht es uns Freude, diesen Menschen öfters auf uns wirken zu lassen, so werden wir uns natürlich – und darin sind vielleicht alle Zuhörer mit mir einig – durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Lieder nicht beirren lassen, wir werden es vielmehr als Hilfsmittel der Sammlung ebenso zum Beispiel wie die Verdunkelung des Saales gutheißen und, von der Frau aus gesehen, jene Unerschrockenheit und Selbstbewußtheit darin erkennen, die wir gerade suchen. Als daher die neuen Lieder kamen, die an Frau Klug nichts Neues zeigen konnten, da die früheren ihre Schuldigkeit so vollkommen getan hatten, und als daher diese Lieder Anspruch darauf machten, als Lieder beachtet zu werden, wozu gar kein Grund war, und als sie auf diese Weise von Frau Klug ablenkten, aber gleichzeitig zeigten, daß auch sie selbst in diesen Liedern sich nicht wohl fühlte und zum Teil verfehlte, zum Teil übertriebene Gesichter und Bewegungen machte, mußte man verdrießlich werden und blieb nur dadurch getröstet, daß die Erinnerung an ihre vollkommene Darstellung von früher infolge ihrer unerschütterlichen Wahrhaftigkeit zu fest war, um sich durch den gegenwärtigen Anblick stören zu lassen.

 

7. Januar. Frau Tschissik hat leider immer Rollen, welche nur die Essenz ihres Wesens zeigen, sie spielt immer Frauen und Mädchen, die mit einem Schlage unglücklich, verhöhnt, entehrt, gekränkt werden, denen aber nicht Zeit gegönnt ist, ihr Wesen in natürlicher Folge zu entwickeln. An der hervorbrechenden natürlichen Macht, mit welcher sie jene Rollen spielt, die nur im Spiel Höhepunkte, im geschriebenen Stück dagegen infolge des Reichtums, den sie fordern, bloße Andeutungen sind, erkennt man, was sie zu leisten fähig wäre. – Eine ihrer wichtigen Bewegungen geht als Schauer von den etwas steifgehaltenen, zuckenden Hüften aus. Ihre kleine Tochter scheint eine Hüfte völlig steif zu haben. – Wenn die Schauspieler einander umarmen, halten sie einander gegenseitig die Perücken fest.

Als ich letzthin mit Löwy in sein Zimmer hinaufging, wo er mir den Brief vorlesen wollte, den er an den Warschauer Schriftsteller Nomberg geschrieben hatte, trafen wir auf dem Treppenabsatz das Ehepaar Tschissik. Sie trugen ihre Kostüme für ›Kol Nidre‹, die wie Mazzes in Seidenpapier gepackt waren, in ihr Zimmer hinauf. Wir blieben ein Weilchen stehn. Ich hatte das Geländer zur Stütze der Hände und Satzbetonungen. Ihr großer Mund bewegte sich so nahe vor mir in überraschenden, aber natürlichen Formen. Das Gespräch drohte durch meine Schuld ins Trostlose auszugehn, denn durch mein Streben, in Eile alle Liebe und Ergebenheit auszudrücken, brachte ich es nur zu der Feststellung, daß die Geschäfte der Truppe elend gingen, daß ihr Repertoire erschöpft war, daß sie also nicht mehr lange bleiben könnten und daß die Interesselosigkeit der Prager Juden ihnen gegenüber unbegreiflich sei. Montag sollte ich – so bat sie mich – zu ›Sejdernacht‹ kommen, trotzdem ich es schon kannte. Dann werde ich sie jenes Lied (bore Isroel) singen hören, das ich, wie sie sich aus einer alten Bemerkung erinnert hatte, besonders liebe.

»Jeschiwes« sind Talmudhochschulen, welche von vielen Gemeinden in Polen und Rußland ausgehalten werden. Die Kosten sind nicht sehr groß, weil diese Schulen meistens in einem alten unbrauchbaren Gebäude untergebracht sind, in dem sich, außer den Lehr- und Schlafzimmern der Schüler, die Wohnung des Rosch-Jeschiwe, der auch sonst Gemeindedienste versieht, und seines Gehilfen befindet. Die Schüler zahlen kein Schulgeld und bekommen die Mahlzeiten abwechselnd bei den Gemeindemitgliedern. Trotzdem diese Schulen auf den strenggläubigsten Grundlagen beruhen, sind gerade sie die Ausgangsstätten des abtrünnigen Fortschritts, weil hier junge Leute von weit her zusammenkommen und gerade die Armen, die Energischen, die von zu Hause fortstreben – da hier die Beaufsichtigung nicht sehr streng ist und die jungen Leute hier ganz aufeinander angewiesen sind und der wesentlichste Teil des Studiums in gemeinsamem Lernen und gegenseitigen Erklärungen schwieriger Stellen besteht – da die Frömmigkeit in den verschiedenen Heimatsorten der Studenten eine gleichartige ist, die nicht besonders zu Mitteilungen auffordert, während der niedergehaltene Fortschritt, je nach den verschiedenen Ortsverhältnissen, in der mannigfaltigsten Weise steigt oder fällt, so daß es hier immer viel zu erzählen gibt – da ferner von den verbotenen fortschrittlichen Schriften sich immer nur eines oder das andere in den Händen eines einzelnen befindet, während sie in der Jeschiwe von allen Seiten zusammengetragen werden und hier besonders wirken können, weil jeder Besitzer nicht nur den Text, sondern sein eigenes Feuer weiterträgt – aus allen diesen Gründen und ihren nächsten Folgen sind aus diesen Schulen in der letzten Zeit alle fortschrittlichen Dichter, Politiker, Journalisten und Gelehrten hervorgegangen. Dadurch hat sich einerseits der Ruf dieser Schulen unter den Strenggläubigen sehr verschlechtert, andererseits strömen ihnen mehr als früher fortschrittlich gesinnte junge Leute zu.

Eine berühmte Jeschiwe ist die von Ostro, einem kleinen, acht Eisenbahnstunden von Warschau entfernten Ort. Ganz Ostro ist eigentlich nur die Einfassung eines ganz kurzen Stückes der Landstraße. Löwy behauptet, es sei so lang wie sein Stock. Als einmal ein Graf mit seinem vierspännigen Reisewagen in Ostro haltmachte, standen die vorderen zwei Pferde und der hintere Teil des Wagens schon außerhalb des Ortes.

Löwy entschloß sich, im Alter von beiläufig vierzehn Jahren, als ihm der Zwang des Lebens zu Hause unerträglich schien, nach Ostro zu fahren. Der Vater hatte ihm gerade, als er gegen Abend die Klaus verließ, auf die Schulter geklopft und leichthin gesagt, er möchte dann später zu ihm kommen, er habe mit ihm zu reden. Weil hier offenbar wieder nichts anderes zu erwarten war als Vorwürfe, ging Löwy direkt von der Klaus ohne Gepäck, in einem etwas bessern Kaftan, weil es Samstagabend war, und mit seinem ganzen Geld, das er immer bei sich trug, auf den Bahnhof und fuhr mit dem Zehn-Uhr-Zug nach Ostro, wo er um sieben Uhr früh ankam. Er ging gleich in die Jeschiwe, wo er kein besonderes Aufsehen machte, weil jeder in eine Jeschiwe eintreten kann und keine besonderen Aufnahmebedingungen bestehn. Auffallend war nur, daß er gerade zu dieser Zeit – es war Sommer – eintreten wollte, was nicht üblich war, und weil er einen guten Kaftan hatte. Aber auch damit fand man sich bald ab, weil so ganz junge Leute, die in einer uns unbekannten Stärke durch ihr Judentum aneinander gebunden sind, sich leicht bekanntmachen. Beim Lernen zeichnete er sich aus, da er schon von zu Hause viel Wissen mitbrachte. Die Unterhaltung mit den fremden Jungen gefiel ihm, besonders da ihn alle, als sie von seinem Geld erfuhren, mit Kaufangeboten umdrängten. Einer, der ihm »Tage« verkaufen wollte, setzte ihn besonders in Erstaunen. Mit »Tagen« wurden nämlich Freitische bezeichnet. Ein verkäuflicher Gegenstand waren sie deshalb, weil es den Gemeindemitgliedern, die mit der Gewährung von Freitischen ohne Ansehen der Person ein gottgefälliges Werk tun wollten, gleichgültig war, wer an diesem Tische saß. Wenn nun ein Student besonders geschickt war, konnte es ihm gelingen, einen Tag mit zwei Freitischen zu besetzen. Diese doppelten Mahlzeiten konnte er um so besser ertragen, als sie nicht sehr reichhaltig waren und man nach der einen noch mit großem Vergnügen die zweite herunteressen konnte und weil es auch vorkam, daß zwar ein Tag doppelt besetzt war, andere Tage aber leer standen. Trotzdem war natürlich jeder froh, wenn er Gelegenheit fand, einen solchen überzähligen Freitisch vorteilhaft zu verkaufen. Kam nun einer im Sommer, wie Löwy, also zu einer Zeit, wo die Freitische längst verteilt waren, konnte man sie überhaupt nur noch durch Kauf bekommen, da die am Anfang überzähligen Freitische sämtlich von Spekulanten besetzt waren.

Die Nacht in der Jeschiwe war unerträglich. Zwar standen alle Fenster offen, weil die Nacht warm war, aber der Gestank und die Hitze wollten sich aus den Zimmern nicht rühren, weil die Studenten, die keine eigentlichen Betten hatten, wo sie gerade zuletzt saßen, ohne sich auszuziehn, in ihren verschwitzten Kleidern sich zum Schlaf niederlegten. Alles war voll Flöhe. Früh benetzte sich jeder nur flüchtig Hände und Gesicht mit Wasser und fing wieder zu studieren an. Man lernte meist zusammen, gewöhnlich zwei aus einem Buch. Oft verbanden Debatten mehrere zu einem Kreis. Der Rosch-Jeschiwe erklärte nur hie und da die schwierigsten Stellen. Trotzdem Löwy später – er blieb zehn Tage in Ostro, schlief und aß aber im Gasthaus – zwei ihm gleichgesinnt« Freunde fand (man fand einander nicht so leicht, weil man die Gesinnung und Vertrauenswürdigkeit des andern immer erst vorsichtig prüfen mußte), kehrte er doch sehr gern wieder nach Hause zurück, da er an ein geordnetes Leben gewöhnt war und es vor Heimweh nicht aushalten konnte.

Im großen Zimmer war der Lärm des Kartenspiels und später der gewöhnlichen, vom Vater, wenn er gesund ist wie heute, laut, wenn auch nicht zusammenhängend geführten Unterhaltung. Die Worte stellten nur kleine Spannungen eines unförmlichen Lärms vor. Im Mädchenzimmer, dessen Tür völlig geöffnet war, schlief der kleine Felix. Auf der anderen Seite, in meinem Zimmer, schlief ich. Die Tür dieses Zimmers war aus Rücksicht auf mein Alter geschlossen. Außerdem war durch die offene Tür angedeutet, daß man Felix noch zur Familie heranlocken wollte, während ich schon abgeschieden war.

Gestern bei Baum. Strobl sollte kommen, war aber im Theater. Baum las ein Feuilleton ›Vom Volkslied‹ vor; schlecht. Dann ein Kapitel aus ›Des Schicksals Spiele und Ernst‹; sehr gut. Ich war gleichgültig, schlecht gestimmt, bekam keinen reinen Eindruck des Ganzen. Auf dem Nachhauseweg im Regen erzählte mir Max den gegenwärtigen Plan der ›Irma Polak‹. Zugeben konnte ich meinen Zustand nicht, da Max das niemals richtig anerkennt. Ich mußte daher unaufrichtig sein, was mir schließlich alles verleidete. Ich war so wehleidig, daß ich lieber zu Max sprach, wenn sein Gesicht im Dunkeln war, trotzdem dann meines in der Helligkeit sich leichter verraten konnte. Der geheimnisvolle Schluß des Romans ergriff mich dann aber durch alle Hindernisse hindurch. Auf dem Nachhauseweg nach dem Abschied Reue über meine Falschheit und Schmerz über ihre Unumgänglichkeit. Absicht, ein eigenes Heft über mein Verhältnis zu Max anzulegen. Was nicht aufgeschrieben ist, flimmert einem vor den Augen, und optische Zufälle bestimmen das Gesamturteil.

 

Als ich auf dem Kanapee lag und in beiden Zimmern mir zur Seite laut gesprochen wurde, links nur von Frauen, rechts mehr von Männern, hatte ich den Eindruck, daß es rohe, negerhafte, nicht zu besänftigende Wesen sind, die nicht wissen, was sie reden, und nur reden, um die Luft in Bewegung zu setzen, die beim Reden das Gesicht heben und den Worten, die sie aussprechen, nachsehn.

 

So vergeht mir der regnerische, stille Sonntag, ich sitze im Schlafzimmer und habe Ruhe, aber statt mich zum Schreiben zu entschließen, in das ich zum Beispiel vorgestern mich hätte ergießen wollen mit allem, was ich bin, habe ich jetzt eine ganze Weile lang meine Finger angestarrt. Ich glaube, diese Woche ganz und gar von Goethe beeinflußt gewesen zu sein, die Kraft dieses Einflusses eben erschöpft zu haben und daher nutzlos geworden zu sein.

 

Aus einem Gedicht von Rosenfeld, das einen Meersturm darstellt: »Es flattern die Seelen, es zittern die Leiber.« Löwy verkrampft beim Rezitieren die Haut der Stirn und der Nasenwurzel, wie man nur Hände verkrampfen zu können glaubt. Bei den ergreifendsten Stellen, die er einem nahebringen will, nähert er sich uns selbst oder, besser, er vergrößert sich, indem er seinen Anblick klarer macht. Nur ein wenig tritt er vor, hält die Augen aufgerissen, zupft mit der abwesenden linken Hand am Schlußrock und hält die rechte offen und groß uns hin. Auch sollen wir, wenn wir schon nicht ergriffen sind, seine Ergriffenheit anerkennen und ihm die Möglichkeit des beschriebenen Unglücks erklären.

Ich soll dem Maler Ascher nackt zu einem heiligen Sebastian Modell stehn.

Wenn ich jetzt am Abend zu meinen Verwandten zurückkehren werde, werde ich, da ich nichts geschrieben habe, was mich freuen würde, ihnen nicht fremder, verächtlicher, nutzloser vorkommen als mir. Dies alles natürlich nur meinem Gefühl nach (das durch keine noch so genaue Beobachtung zu betrügen ist), denn tatsächlich haben sie alle Achtung vor mir und lieben mich auch.

 

24. Januar. Mittwoch. Aus folgenden Gründen so lange nicht geschrieben: Ich war mit meinem Chef bös und brachte das erst durch einen guten Brief ins reine; war mehrere Male in der Fabrik; las Pines ›L'histoire de la Littérature Judéo-Allemande‹, fünfhundert Seiten, und zwar gierig, wie ich es mit solcher Gründlichkeit, Eile und Freude bei ähnlichen Büchern noch niemals getan habe; jetzt lese ich Fromer ›Organismus des Judentums‹; endlich hatte ich mit den jüdischen Schauspielern viel zu tun, schrieb für sie Briefe, habe beim zionistischen Verein durchgesetzt, daß die zionistischen Vereine Böhmens befragt werden, ob sie Gastspiele der Truppe haben wollen, das nötige Rundschreiben habe ich geschrieben und vervielfältigen lassen; habe noch einmal ›Sulamith‹ gesehn und einmal ›Herzele Mejiches‹ von Richter, war beim Volksliederabend des Vereins Bar-Kochba und vorgestern beim ›Graf von Gleichen‹ von Schmidtbonn.

Volksliederabend: Dr. Nathan Birnbaum hält den Vortrag. Ostjüdische Gewohnheit, wo die Rede stockt, »meine verehrten Damen und Herren« oder nur »meine Verehrten« einzufügen. Wiederholt sich am Anfang der Rede Birnbaums zum Lächerlichwerden. So weit ich aber Löwy kenne, glaube ich, daß solche ständige Wendungen, die auch im gewöhnlichen ostjüdischen Gespräch oft vorkommen, wie »Weh ist mir!« oder »S' ist nischt« oder »S' ist viel zu reden« nicht Verlegenheit verdecken sollen, sondern als immer neue Quellen den für das ostjüdische Temperament immer noch zu schwer daliegenden Strom der Rede umquirlen sollen. Bei Birnbaum aber nicht.

 

26. Januar. Der Rücken des Herrn Weltsch und die Stille des ganzen Saales beim Anhören der schlechten Gedichte. – Birnbaum: Die Frisur mit den länglichen Haaren setzt scharf am Hals ab, der durch diese plötzliche Entblößung oder durch sich selbst sehr aufrecht ist. Große gekrümmte, nicht zu schmale und doch an den Seiten breitflächige Nase, die vor allem infolge der guten Proportionalität zum großen Bart schön aussieht. – Sänger Gollanin. Friedliches, süßliches, himmlisches, herablassendes, mit zur Seite und in die Tiefe geneigtem Gesicht lang ausgehaltenes, mit gerümpfter Nase etwas zugespitztes Lächeln, das aber auch bloß zur Mundtechnik gehören kann.Die nächsten siebeneinhalb Seiten des Tagebuches enthalten einen Auszug aus dem Buch von [Meyer Isser] Pines [›L'histoire de la Littérature Judéo.-Allemande‹].

 

31. Januar. Nichts geschrieben. Weltsch bringt mir Bücher über Goethe, die mir eine zerstreute, nirgends anwendbare Aufregung verursachen. Plan eines Aufsatzes ›Goethes entsetzliches Wesen‹, Furcht vor dem zweistündigen Abendspaziergang, den ich jetzt für mich eingeführt habe.

 

4. Februar. Vor drei Tagen Wedekind: ›Erdgeist‹. Wedekind und seine Frau Tilly spielen mit. Klare gestochene Stimme der Frau. Schmales mondsichelförmiges Gesicht. Der beim ruhigen Stehn sich seitlich abzweigende Unterschenkel. Klarheit des Stückes auch im Rückblick, so daß man ruhig und selbstbewußt nach Hause geht. Widersprechender Eindruck des durchaus Festgegründeten und doch Fremdbleibenden.

Als ich damals ins Theater ging, war mir wohl. Wie Honig schmeckte ich mein Inneres. Trank es in ununterbrochenem Zug. Im Theater verging es gleich. Es war übrigens der vorige Theaterabend: ›Orpheus in der Unterwelt‹ mit Pallenberg. Die Aufführung war so schlecht, Beifall und Lachen um mich im Stehparterre so groß, daß ich mir nur dadurch zu helfen wußte, daß ich nach dem zweiten Akt weglief und dadurch alles zum Schweigen brachte.

Vorgestern guten Brief nach Trautenau wegen eines Gastspiels von Löwy geschrieben. Jedes Lesen des Briefes beruhigte und stärkte mich, so sehr war darin unausgesprochener Bezug auf alles Gute in mir genommen.

Der mich ganz durchgehende Eifer, mit dem ich über Goethe lese (Goethes Gespräche, Studentenjahre, Stunden mit Goethe; ein Aufenthalt Goethes in Frankfurt) und der mich von jedem Schreiben abhält.

S., Kaufmann, zweiunddreißig Jahre alt, konfessionslos, philosophisch gebildet, für schöne Literatur hauptsächlich nur so weit interessiert, als sie sein Schreiben betrifft. Runder Kopf, schwarze Augen, kleiner energischer Schnurrbart, festes Wangenfleisch, gedrungene Gestalt. Studiert seit Jahren von neun Uhr bis ein Uhr in der Nacht. Gebürtig aus Stanislau, Kenner des Hebräischen und des Jargon. Verheiratet mit einer Frau, die nur durch die ganz runde Gesichtsform den Eindruck der Beschränktheit macht.

Seit zwei Tagen Kühle gegen Löwy. Er fragt mich danach. Ich leugne es.

Ruhiges, zurückgezogenes Gespräch mit Fräulein Taussig im Zwischenakt des ›Erdgeist‹ auf der Galerie. Man muß förmlich, um ein gutes Gespräch zu erreichen, die Hand tiefer, leichter, verschlafener unter den zu behandelnden Gegenstand schieben, dann hebt man ihn zum Erstaunen. Sonst knickt man sich die Finger ein und denkt an nichts als an die Schmerzen.

Geschichte: Die Abendspaziergänge. Erfindung des raschen Gehns. Einleitendes schönes dunkles Zimmer.

Fräulein Taussig erzählte von einer Szene ihrer neuen Geschichte, in welcher einmal in die Nähschule ein Mädchen mit schlechtem Ruf eintritt. Der Eindruck auf die andern Mädchen. Ich meine, bedauern werden sie diejenigen, welche die Fähigkeit und Lust, zu schlechtem Ruf zu kommen, deutlich in sich fühlen und damit zugleich unmittelbar sich vorstellen können, in was für ein Unglück sich zu stürzen das bedeutet.

Vor einer Woche Vortrag Dr. Theilhaber im Festsaale des Jüdischen Rathauses über den Untergang der deutschen Juden. Er ist unaufhaltbar, denn erstens sammeln sich die Juden in den Städten, die jüdischen Landgemeinden verschwinden. Das Streben nach Gewinn verzehrt sie. Ehen werden nur mit Rücksicht auf die Versorgung der Braut geschlossen. Zwei-Kinder-System. Zweitens: Mischehen. Drittens: Taufen.

Komische Szenen, als Professor Ehrenfels,Christian von Ehrenfels, Philosoph, Begründer der Gestalt-Theorie. der immer schöner wird und dem sich im Licht der kahle Kopf in einer gehauchten Kontur nach oben abgrenzt, die Hände aneinander gelegt und gegenseitig drückend, mit seiner vollen, wie bei einem Musikinstrument modulierten Stimme, vor Vertrauen zur Versammlung lächelnd, für Mischrassen sich einsetzt.

 

5. Februar. Montag. Müde auch das Lesen von ›Dichtung und Wahrheit‹ aufgegeben. Ich bin hart nach außen, kalt im Innern. Als ich heute zu Dr. F. kam, war es, trotzdem wir langsam und überlegt zusammenkamen, als wären wir wie Bälle zusammengestoßen, die einer den andern zurückwerfen und selbst ohne Beherrschung sich verlieren. Ich fragte ihn, ob er müde sei. Er war nicht müde. Warum ich fragte? Ich bin müde, antwortete ich und setzte mich.Die im Manuskript folgende Aufzeichnung kehrt mit einigen Stilvarianten in der ›Betrachtung‹ wieder (vgl. ›Entschlüsse‹ in ›Erzählungen und Kleine Prosa‹).

Kleiner Ohnmachtsanfall gestern im Café City mit Löwy. Das Herabbeugen über ein Zeitungsblatt, um ihn zu verbergen.

Goethes schöne Silhouette in ganzer Gestalt. Nebeneindruck des Widerlichen beim Anblick dieses vollkommenen menschlichen Körpers, da ein Übersteigen dieser Stufe außerhalb der Vorstellbarkeit ist und diese Stufe doch nur zusammengesetzt und zufällig aussieht. Die aufrechte Haltung, die hängenden Arme, der schmale Hals, die Kniebeugung.

Die Ungeduld und Trauer wegen meiner Mattigkeit nährt sich besonders durch die niemals aus den Augen gelassene Aussicht in die Zukunft, die mir dadurch vorbereitet wird. Was für Abende, Spaziergänge, Verzweiflung im Bett und auf dem Kanapee (7. Februar) stehn mir noch bevor, ärger als die schon überstandenen!

Gestern in der Fabrik. Die Mädchen in ihren an und für sich unerträglich schmutzigen und gelösten Kleidern, mit den wie beim Erwachen zerworfenen Frisuren, mit dem vom unaufhörlichen Lärm der Transmissionen und von der einzelnen, zwar automatischen, aber unberechenbar stockenden Maschine festgehaltenen Gesichtsausdruck, sind nicht Menschen, man grüßt sie nicht, man entschuldigt sich nicht, wenn man sie stößt, ruft man sie zu einer kleinen Arbeit, so führen sie sie aus, kehren aber gleich zur Maschine zurück, mit einer Kopfbewegung zeigt man ihnen, wo sie eingreifen sollen, sie stehn in Unterröcken da, der kleinsten Macht sind sie überliefert und haben nicht einmal genug ruhigen Verstand, um diese Macht mit Blicken und Verbeugungen anzuerkennen und sich geneigt zu machen. Ist es aber sechs Uhr und rufen sie das einander zu, binden sie die Tücher vom Hals und von den Haaren los, stauben sie sich ab mit einer Bürste, die den Saal umwandert und von Ungeduldigen herangerufen wird, ziehn sie die Röcke über die Köpfe und bekommen sie die Hände rein, so gut es geht – so sind sie schließlich doch Frauen, können trotz Blässe und schlechten Zähnen lächeln, schütteln den erstarrten Körper, man kann sie nicht mehr stoßen, anschauen oder übersehn, man drückt sich an die schmierigen Kisten, um ihnen den Weg freizumachen, behält den Hut in der Hand, wenn sie guten Abend sagen, und weiß nicht, wie man es hinnehmen soll, wenn eine unseren Winterrock bereithält, daß wir ihn anziehn.

 

8. Februar. Goethe: Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos.

 

Ich bin nervöser, schwächer geworden und habe einen großen Teil der Ruhe, auf die ich vor Jahren stolz war, verloren. Als ich heute die Karte von Baum bekam, in der er schreibt, daß er doch die Conférence zum ostjüdischen Abend nicht halten kann, und ich also glauben mußte, daß ich die Sache werde übernehmen müssen, war ich ganz unbeherrschbaren Zuckungen überlassen, wie kleine Feuerchen sprang das Aufklopfen der Adern den Körper entlang; saß ich, zitterten mir unter dem Tisch die Knie und die Hände mußte ich aneinanderdrücken. Ich werde ja einen guten Vortrag halten, das ist sicher, auch wird die aufs höchste gesteigerte Unruhe an dem Abend selbst mich so zusammenziehn, daß nicht einmal für Unruhe Raum sein wird und die Rede aus mir geradewegs kommen wird wie aus einem Flintenlauf. Es ist aber möglich, daß ich nachher niederfallen und jedenfalls es lange nicht werde verwinden können. So wenig Körperkraft! Sogar diese paar Worte sind unter der Beeinflussung der Schwäche geschrieben.

Gestern abend bei Baum und Löwy. Meine Lebendigkeit. Letzthin hat Löwy bei Baum eine schlechte hebräische Geschichte ›Das Auge‹ übersetzt.

 

13. Februar. Ich beginne für die Conference zu Löwys Vorträgen zu schreiben. Sie ist schon Sonntag, den achtzehnten. Ich werde nicht mehr viel Zeit haben, mich vorzubereiten, und stimme doch hier ein Rezitativ an wie in der Oper. Nur deshalb, weil schon seit Tagen eine ununterbrochene Aufregung mich bedrängt und ich vor dem eigentlichen Beginn halbwegs zurückgezogen ein paar Worte nur für mich hinschreiben will, um dann erst, ein wenig in Gang gebracht, vor die Öffentlichkeit mich hinzustellen. Kälte und Hitze wechselt in mir mit dem wechselnden Wort innerhalb des Satzes, ich träume melodischen Aufschwung und Fall, ich lese Sätze Goethes, als liefe ich mit ganzem Körper die Betonungen ab.

 

25. Februar. Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein. Diesen Abend verbrachte ich in vollständiger Gleichgültigkeit am Familientisch, die rechte Hand an der Sessellehne der neben mir Karten spielenden Schwester, die linke schwach im Schoß. Von Zeit zu Zeit suchte ich meines Unglücks mir bewußt zu werden, es gelang mir kaum.

Ich habe so lange nichts geschrieben, weil ich einen Vortragsabend Löwys im Festsaal des jüdischen Rathauses am 18. Februar 1912 veranstaltet habe, bei dem ich einen kleinen Einleitungsvortrag über Jargon hielt. Zwei Wochen lebte ich in Sorgen, weil ich den Vortrag nicht zustande bringen konnte. Am Abend vor dem Vortrag gelang es mir plötzlich.

Vorbereitungen zum Vortrag: Konferenzen mit dem Verein Bar-Kochba, Zusammenstellung des Programms, Eintrittskarten, Saal, Numerierung der Plätze, Schlüssel zum Klavier (Toynbeehalle), erhöhtes Podium, Klavierspieler, Kostümierung, Kartenverkauf, Zeitungsnotizen, Zensur der Polizei und der Kultusgemeinde.

Lokale, in denen ich war, und Leute, mit denen ich gesprochen oder denen ich geschrieben habe. Allgemeines: mit Max, mit Schmerler, der bei mir war, mit Baum, der zuerst die Conférence übernommen hatte, sie dann ablehnte, den ich im Laufe eines dafür bestimmten Abends wieder umstimmte und der den nächsten Tag mit Rohrpostkarte wieder absagte, mit Dr. Hugo Hermann und Leo Hermann im Café Arco, öfter mit Robert Weltsch in seiner Wohnung, wegen Kartenverkaufes mit Dr. Bl. (umsonst), Dr. H., Dr. Fl., Besuch bei Frl. T., Vortrag im Afike Jehuda (Rabb. Ehrentreu über Jeremias und seine Zeit, beim geselligen Zusammensein nachher kleine mißlungene Rede über Löwy), beim Lehrer W. (dann im Café, dann spazieren, von zwölf bis eins stand er lebendig wie ein Tier vor meiner Haustür und ließ mich nicht hinein). Wegen des Saales bei Dr. Karl B., zweimal in der Wohnung des L. auf dem Heuwagsplatz, einigemal bei Otto Pick,Der Kritiker Otto Pick, später Redakteur der offiziösen ›Prager Presse‹. in der Bank, wegen des Klavierschlüssels beim Toynbeevortrag, mit Herrn R. und dem Lehrer St., dann in des letzteren Wohnung den Schlüssel abholen und wieder zurückbringen, wegen des Podiums mit dem Hausmeister und Diener des Rathauses, wegen der Bezahlung in der Rathauskanzlei (zweimal), wegen des Verkaufes bei Frau Fr. in der Ausstellung ›Der gedeckte Tisch‹. Geschrieben an Frl. T., an einen Otto Kl. (nutzlos), für das ›Tagblatt‹ (nutzlos), an Löwy (»ich werde den Vortrag nicht halten können, retten Sie mich!«).

Aufregungen: Wegen des Vortrags, eine Nacht zusammengedreht im Bett, heiß und schlaflos, Haß auf Dr. B., Schrecken vor Weltsch (er wird nichts verkaufen können), Afike Jehuda, in den Zeitungen erscheinen die Notizen nicht so, wie man es erwartet, Zerstreutheit im Bureau, das Podium kommt nicht, es wird wenig verkauft, die Farbe der Karten regt mich auf, der Vortrag muß unterbrochen werden, weil der Klavierspieler die Noten zu Hause in Kosir vergessen hat, häufige Gleichgültigkeit gegen Löwy, fast Abscheu.

Nutzen: Freude an Löwy und Vertrauen zu ihm, stolzes, überirdisches Bewußtsein während meines Vortrags (Kälte gegen das Publikum, nur der Mangel an Übung hindert mich an der Freiheit der begeisterten Bewegung), starke Stimme, müheloses Gedächtnis, Anerkennung, vor allem aber die Macht, mit der ich laut, bestimmt, entschlossen, fehlerfrei, unaufhaltsam, mit klaren Augen, fast nebenbei, die Frechheit der drei Rathausdiener unterdrücke und ihnen statt der verlangten zwölf Kronen nur sechs Kronen gebe und diese noch wie ein großer Herr. Da zeigen sich Kräfte, denen ich mich gern anvertrauen möchte, wenn sie bleiben wollten. (Meine Eltern waren nicht dort.)

Sonst: Akademie der Herdervereinigung auf der Sophieninsel. Bie schiebt mit Beginn des Vortrags die Hand in die Hosentasche. Dieses unter aller Täuschung befriedigte Gesicht der nach ihrem Belieben arbeitenden Menschen. Hofmannsthal liest mit falschem Klang in der Stimme. Gesammelte Gestalt, angefangen von den an den Kopf angepreßten Ohren. Wiesenthal. Die schönen Tanzstellen, wenn sich zum Beispiel in einem auf den Boden Zurücksinken die natürliche Körperschwere zeigt.

 

Eindruck der Toynbeehalle.

 

Zionistische Versammlung. Blumenfeld. Sekretär der zionistischen Weltorganisation.

 

In meiner Selbstüberlegung ist seit letzter Zeit eine neue festigende Kraft aufgetreten, die ich gerade und erst jetzt erkennen kann, da ich mich in der letzten Woche geradezu auflöse vor Traurigkeit und Nutzlosigkeit.

 

Wechselndes Gefühl inmitten der jungen Leute im Café Arco.

 

26. Februar. Besseres Selbstbewußtsein. Herzschlag näher den Wünschen. Das Rauschen des Gaslichtes über mir.

 

Ich öffnete die Haustür, um nachzusehn, ob das Wetter zu einem Spaziergang verlocke. Blauer Himmel war nicht zu leugnen, aber große blaudurchschimmerte graue Wolken mit klappenförmig abgebogenen Rändern schwebten niedrig, wie man an den nahen Waldhügeln abmessen konnte. Trotzdem war die Gasse voll von Menschen, die zu Spaziergängen auszogen. Kinderwagen wurden von festen Mutterhänden gelenkt. Hie und da stockte in der Menge ein Gefährt und wartete, bis vor den auf- und absteigenden Pferden die Menschen auseinandertraten. Indessen blickte der Wagenlenker, ruhig die zitternden Zügel haltend, vor sich hin, übersah keine Kleinigkeit, untersuchte alles einigemal und gab dem Wagen im richtigen Augenblick den letzten Antrieb. Kinder konnten laufen, so wenig Raum auch war. Mädchen in leichten Kleidern, mit Hüten, die so ausgesprochen wie Briefmarken gefärbt waren, gingen am Arm junger Leute, und eine in ihren Kehlen unterdrückte Melodie zeigte sich im Tanzschritt ihrer Beine. Familien hielten gut zusammen, und waren sie auch einmal in langer Reihe zerstreut, so fanden sich leicht rückwärts ausgestreckte Arme, winkende Hände, Ausrufe von Schmeichelnamen, welche die Verlorenen verknüpften. Alleingelassene Männer suchten sich noch mehr abzuschließen, indem sie die Hände in die Taschen steckten. Das war kleinliche Narrheit. Zuerst stand ich im Haustor, dann lehnte ich mich an, um ruhiger zuzusehn. Kleider streiften mich, einmal ergriff ich ein Band, das hinten einen Mädchenrock verzierte, und ließ es durch die sich Entfernende aus der Hand ziehn; als ich einmal einem Mädchen, nur um ihm zu schmeicheln, über die Schulter strich, gab mir der folgende Passant einen Schlag auf die Finger. Ich zog ihn aber hinter den einen verriegelten Haustorflügel, meine Vorwürfe waren erhobene Hände, Blicke aus den Augenwinkeln, ein Schritt zu ihm hin, ein Schritt von ihm weg, er war glücklich, als ich ihn mit einem Stoß entließ. Von jetzt an rief ich natürlich öfters Leute zu mir her, ein Winken mit dem Finger genügte oder ein rascher, nirgends zögernder Blick.

In einer wie mühelosen Schläfrigkeit ich dieses Unnütze, Unfertige geschrieben habe.

Heute schreibe ich an Löwy. Ich schreibe die Briefe an ihn hier auf, weil ich mit ihnen etwas zu erreichen hoffe:

Lieber Freund

 

27. Februar. Ich habe keine Zeit, Briefe doppelt zu schreiben.

Gestern abend zehn Uhr ging ich in meinem traurigen Schritt die Zeltnergasse hinab. In der Gegend des Hutgeschäftes Heß bleibt ein junger Mann drei Schritte schief vor mir stehen, bringt mich dadurch auch zum Stehn, zieht den Hut und läuft dann auf mich zu. Ich trete im ersten Schrecken zurück, denke zuerst, jemand will den Weg zur Bahn wissen, aber warum in dieser Weise? – glaube dann, da er vertraulich nahe an mich herankommt und mir von unten her ins Gesicht sieht, weil ich größer bin: vielleicht will er Geld oder noch Ärgeres. Mein verwirrtes Zuhören und sein verwirrtes Reden vermischen sich. »Sie sind Jurist, nicht wahr? Doktor? Bitte, können Sie mir da nicht einen Rat geben? Ich habe da eine Sache, zu der ich einen Advokaten brauche.« Aus Vorsicht, allgemeinem Verdacht und Besorgnis, ich könnte mich blamieren, leugne ich, Jurist zu sein, bin aber bereit, ihm einen Rat zu geben, was ist es? Er beginnt zu erzählen, es interessiert mich; um das Vertrauen zu stärken, fordere ich ihn auf, lieber im Gehn mir zu erzählen, er will mich begleiten, nein, ich werde lieber mit ihm gehn, ich habe keinen bestimmten Weg.

Er ist ein guter Rezitator, früher war er bei weitem nicht so gut wie jetzt, jetzt kann er schon den Kainz nachmachen, daß keiner ihn unterscheidet. Man wird sagen, er macht ihn nur nach, aber er gibt doch auch viel Eigenes. Er ist zwar klein, aber Mimik, Gedächtnis, Auftreten hat er, alles, alles. In der Militärzeit draußen in Milowitz im Lager hat er rezitiert, ein Kamerad hat gesungen, sie haben sich wirklich sehr gut unterhalten. Es war eine schöne Zeit. Am liebsten rezitiert er Dehmel, die leidenschaftlichen frivolen Gedichte zum Beispiel von der Braut, welche sich die Brautnacht vorstellt; wenn er da rezitiert, so macht das besonders auf die Mädchen einen riesigen Eindruck. Also das ist ja selbstverständlich. Er hat den Dehmel sehr schön gebunden, so in rotem Leder. (Mit herabfahrenden Händen beschreibt er ihn.) Aber auf den Einband kommt es ja nicht an. Außerdem rezitiert er sehr gern Rideamus. Nein, die widersprechen einander gar nicht, da vermittelt er schon, redet dazwischen, was ihm einfällt, macht sich aus dem Publikum einen Narren. Dann ist auf seinem Programm noch ›Prometheus‹. Da fürchtet er sich vor niemandem, auch vor Moissi nicht, Moissi trinkt, er nicht. Endlich liest er sehr gerne vor von Swet Marten; das ist ein neuer nordischer Schriftsteller. Sehr gut. Es sind so Epigramme und kleine Aussprüche. Besonders die über Napoleon sind ausgezeichnet, aber auch alle anderen über andere große Männer. Nein, rezitieren kann er daraus noch nichts, er hat es noch nicht studiert, nicht einmal ganz gelesen, nur seine Tante hat es ihm letzthin vorgelesen und da hat es ihm eben so gut gefallen.

Mit diesem Programm wollte er also öffentlich auftreten und hat sich also dem ›Frauenfortschritt‹ für einen Vortragsabend angeboten. Eigentlich wollte er zuerst ›Eine Gutsgeschichte‹ von der Lagerlöf vortragen und hat auch diese Geschichte der Obmännin des ›Frauenfortschritt‹, der Frau Durège-Wodnanski, zur Überprüfung geborgt. Sie sagte, die Geschichte wäre ja schön, aber zu lang, um vorgetragen zu werden. Er sah das ein, sie war wirklich zu lang, besonders da an dem beabsichtigten Vortragsabend noch sein Bruder Klavier vorspielen sollte. Dieser Bruder, einundzwanzig Jahre alt, ein sehr lieber Junge, ist ein Virtuose, er war zwei Jahre (schon vor vier Jahren) an der Musikhochschule in Berlin. Ist aber ganz verdorben zurückgekommen. Verdorben eigentlich nicht, aber seine Kostfrau hat sich in ihn verliebt. Er hat dann später erzählt, daß er oft zum Spielen zu müde war, weil er immerfort auf dieser Kostschachtel herumreiten mußte.

Da also die Gutsgeschichte nicht paßte, einigte man sich auf das andere Programm: Dehmel, Rideamus, ›Prometheus‹ und Swet Marten. Um nun aber der Frau Durège von vornherein zu zeigen, was er eigentlich für ein Mensch ist, brachte er ihr das Manuskript eines Aufsatzes ›Lebensfreude‹, den er im Sommer dieses Jahres geschrieben hatte. Er hatte es in der Sommerfrische geschrieben, bei Tag stenographiert, am Abend ins reine gebracht, gefeilt, gestrichen, aber eigentlich nicht viel Arbeit damit gehabt, da es ihm gelungen war. Er borgt es mir, wenn ich will, es ist zwar populär geschrieben, mit Absicht, aber es sind gute Gedanken darin und es ist »betamt«, wie man sagt. (Spitziges Lachen mit erhobenem Kinn.) Ich kann es mir ja hier durchblättern, unter dem elektrischen Licht. (Es ist eine Aufforderung an die Jugend, nicht traurig zu sein, denn es gibt ja die Natur, die Freiheit, Goethe, Schiller, Shakespeare, Blumen, Insekten usw.) Die Durège sagte, sie hätte jetzt gerade keine Zeit, es zu lesen, aber er könne es ihr ja borgen, sie werde es ihm in ein paar Tagen zurückgeben. Er hatte schon Verdacht und wollte es nicht dort lassen, wehrte sich, sagte zum Beispiel »Schauen Sie, Frau Durège, warum soll ich es hier lassen, es sind ja nur Banalitäten, es ist ja gut geschrieben, aber –« Es half alles nichts, er mußte es dort lassen. Das war Freitag.

28. Februar. Am Sonntagmorgen beim Waschen fällt ihm ein, daß er das ›Tagblatt‹ noch nicht gelesen hat. Er schlägt es auf, zufällig gerade die erste Seite der Unterhaltungsbeilage. Der Titel des ersten Aufsatzes ›Das Kind als Schöpfer‹ fällt ihm auf, er liest die ersten Zeilen – und fängt vor Freude zu weinen an. Es ist sein Aufsatz, wortwörtlich sein Aufsatz. Es ist also zum erstenmal etwas gedruckt, er läuft zur Mutter und erzählt es. Die Freude! Die alte Frau, sie ist zuckerkrank und vom Vater geschieden, der übrigens im Recht ist, ist so stolz. Ein Sohn ist ja schon Virtuose, jetzt wird der andere Schriftsteller! Nach der ersten Aufregung überlegt er nun die Sache. Wie ist denn der Aufsatz in die Zeitung gekommen? Ohne seine Zustimmung? Ohne Namen des Verfassers? Ohne daß er Honorar bekommt? Das ist eigentlich ein Vertrauensmißbrauch, ein Betrug. Diese Frau Durège ist doch ein Teufel. Und Frauen haben keine Seele, sagt Mohamet (oft wiederholt). Man kann es sich ja leicht vorstellen, wie es zu dem Plagiat gekommen ist. Da war ein schöner Aufsatz, wo findet man gleich einen solchen. Da ist also Frau D. ins ›Tagblatt‹ gegangen, hat sich mit einem Redakteur zusammengesetzt, beide überglücklich, und jetzt haben sie die Bearbeitung angefangen. Bearbeitet mußte es ja werden, denn erstens durfte man ja das Plagiat nicht auf den ersten Blick erkennen und zweitens war der zweiunddreißig Seiten lange Aufsatz für die Zeitung zu groß.

Auf meine Frage, ob er mir nicht Stellen zeigen wolle, die sich decken, da dieses mich besonders interessieren würde und da ich erst dann ihm einen Rat für sein Verhalten geben kann, fängt er seinen Aufsatz zu lesen an, schlägt eine andere Stelle auf, blättert ohne zu finden, und sagt schließlich, daß alles abgeschrieben sei. Da stehe zum Beispiel in der Zeitung: Die Seele des Kindes sei ein unbeschriebenes Blatt und »unbeschriebenes Blatt« komme auch in seinem Aufsatz vor. Oder der Ausdruck »benamset« sei auch abgeschrieben, wie käme man sonst auf »benamset«. Aber einzelne Stellen kann er nicht vergleichen. Es sei zwar alles abgeschrieben, aber eben vertuscht, in anderer Reihenfolge, gekürzt und mit kleinen fremden Zutaten.

Ich lese laut einige auffallendere Stellen aus der Zeitung. Kommt das im Aufsatz vor? Nein. Das? Nein, ja, aber das sind eben die aufgesetzten Stellen. Im Innern ist alles, alles abgeschrieben. Aber der Beweis wird, fürchte ich, schwer. Er wird es schon beweisen, mit Hilfe eines geschickten Advokaten, dazu sind ja Advokaten da. (Er sieht diesem Beweis wie einer ganz neuen, von dieser Angelegenheit vollständig abgetrennten Aufgabe entgegen und ist stolz darauf, daß er sich ihre Bewältigung zutraut.)

Daß es sein Aufsatz ist, sieht man übrigens schon daraus, daß er in zwei Tagen gedruckt war. Sonst dauert es doch zumindest sechs Wochen, ehe eine angenommene Sache in den Druck kommt. Hier aber war natürlich Eile nötig, damit er nicht dazwischenkomme. Darum haben zwei Tage genügt.

Außerdem heißt der Zeitungsaufsatz ›Das Kind als Schöpfer‹. Das hat eine deutliche Beziehung zu ihm und außerdem ist es eine Stichelei. Mit dem »Kind« ist nämlich er gemeint, denn man hat ihn früher für ein »Kind«, für »dumm« gehalten (er war es wirklich nur während der Militärzeit, er hat anderthalb Jahre gedient) und man will nun mit dem Titel sagen, daß er, ein Kind, etwas so Gutes wie den Aufsatz zustandegebracht hat, daß er sich also zwar als Schöpfer bewährt hat, gleichzeitig aber dumm und ein Kind geblieben ist, indem er sich hat so betrügen lassen. Mit dem Kind, von dem im ersten Absatz die Rede ist, ist eine Cousine vom Lande gemeint, die gegenwärtig bei seiner Mutter wohnt.

Besonders überzeugend wird aber das Plagiat durch einen Umstand bewiesen, auf den er allerdings erst nach längerer Überlegung gekommen ist: ›Das Kind als Schöpfer‹ ist auf der ersten Seite der Unterhaltungsbeilage, auf der dritten aber ist eine kleine Geschichte von einer gewissen »Feldstein«. Der Name ist offenbar Pseudonym. Nun muß man nicht diese ganze Geschichte lesen, es genügt ein Überfliegen der ersten Zeilen und man weiß sofort, daß hier die Lagerlöf in einer unverschämten Weise nachgeahmt ist. Die ganze Geschichte macht es noch deutlicher. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß diese Feldstein oder wie sie heißt, eine Kreatur der Durège ist, daß sie bei ihr die ›Gutsgeschichte‹ gelesen hat, die er hingebracht hat, daß sie diese Lektüre zum Schreiben dieser Geschichte verwendet hat und daß ihn also beide Frauenzimmer, eine auf der ersten, die andere auf der dritten Seite der Unterhaltungsbeilage, ausnützen. Natürlich kann jeder auch aus eigenem Antrieb die Lagerlöf lesen und nachahmen, aber hier ist doch sein Einfluß zu offenbar. (Er schlägt das eine Blatt öfters hin und her.)

Montag mittag gleich nach Bankschluß ging er natürlich zu Frau Durège. Sie öffnet nur eine Spalte der Wohnungstüre, sie ist ganz ängstlich: »Aber, Herr Reichmann, warum kommen Sie mittags? Mein Mann schläft. Ich kann Sie jetzt nicht hereinlassen.« – »Frau Durège, Sie müssen mich unbedingt hineinlassen. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.« Sie sieht, ich mache Ernst, und läßt mich ein. Der Mann war ja bestimmt nicht zu Hause. In einem Nebenzimmer sehe ich auf dem Tisch mein Manuskript und mache mir gleich meine Gedanken. »Frau Durège, was haben Sie mit meinem Manuskript gemacht. Sie haben es ohne meine Zustimmung ins ›Tagblatt‹ gegeben. Wieviel Honorar haben Sie bekommen?« Sie zittert, sie weiß nichts, hat keine Ahnung, wie es in die Zeitung hat kommen können. »J'accuse, Frau Durège«, sagte ich, halb scherzend, aber doch so, daß sie meine wahre Stimmung merkt, und dieses »j'accuse, Frau Durège« wiederhole ich die ganze Zeit, während ich dort bin, damit sie es sich merkt, und sage es noch beim Abschied in der Tür mehrere Male. Ihre Angst verstehe ich ja gut. Wenn ich es bekanntmache oder sie klage, ist sie ja unmöglich, muß aus dem ›Frauenfortschritt‹ heraus usw.

Von ihr gehe ich direkt in die Redaktion des ›Tagblatt‹ und lasse den Redakteur Löw herausrufen. Er kommt natürlich ganz bleich heraus, kann kaum gehen. Trotzdem will ich nicht gleich auf meine Sache losgehn und ihn auch zuerst prüfen. Ich frage ihn also: »Herr Löw, sind Sie Zionist?« (Denn ich weiß, daß er Zionist war.) »Nein«, sagt er. Ich weiß genug, er muß sich also vor mir verstellen. Jetzt frage ich nach dem Aufsatz. Wieder unsicheres Reden. Er weiß nichts, hat mit der Unterhaltungsbeilage nichts zu tun, wird, wenn ich es wünsche, den betreffenden Redakteur holen. »Herr Wittmann, kommen Sie her«, ruft er und ist froh, daß er weg kann. Wittmann kommt, wieder ganz bleich. Ich frage: »Sind Sie der Redakteur der Unterhaltungsbeilage?« Er: »Ja.« Ich sage nur: »J'accuse« und gehe.

In der Bank läute ich sofort telephonisch die ›Bohemia‹ an. Ich will ihr die Geschichte zur Veröffentlichung übergeben. Es kommt aber keine rechte Verbindung zustande. Wissen Sie warum? Die Tagblattredaktion ist ja nahe bei der Hauptpost, da können sie vom ›Tagblatt‹ leicht die Verbindung nach Belieben beherrschen, aufhalten und herstellen. Und tatsächlich höre ich immerfort im Telephon undeutliche Flüsterstimmen, offenbar von Tagblattredakteuren. Sie haben ja ein großes Interesse, diese telephonische Verbindung nicht zuzulassen. Da höre ich (natürlich ganz undeutlich), wie die einen auf das Fräulein einreden, daß sie die Verbindung nicht herstellen soll, während die andern schon mit der ›Bohemia‹ verbunden sind und sie von der Aufnahme meiner Geschichte abhalten wollen. »Fräulein«, schreie ich ins Telephon hinein, »wenn Sie jetzt nicht sofort die Verbindung herstellen, klage ich bei der Postdirektion.« Die Kollegen in der Bank lachen ringsherum, wie sie mich so energisch mit dem Telephonfräulein reden hören. Endlich habe ich die Verbindung. »Rufen Sie den Redakteur Kisch. Ich habe für die ›Bohemia‹ eine äußerst wichtige Meldung. Wenn sie sie nicht nimmt, gebe ich sie sofort einer andern Zeitung. Es ist höchste Zeit.« Da aber Kisch nicht dort ist, läute ich ab, ohne etwas zu verraten.

Am Abend gehe ich zur ›Bohemia‹ und lasse den Redakteur Kisch herausrufen. Ich erzähle ihm die Geschichte, aber er will sie nicht veröffentlichen. »Die ›Bohemia‹«, sagte er, »kann so etwas nicht machen, das wäre ein Skandal und den können wir nicht wagen, weil wir abhängig sind. Geben Sie es einem Advokaten, das ist das beste.«

»Wie ich von der ›Bohemia‹ kam, habe ich Sie getroffen und frage Sie also um Rat.«

»Ich rate Ihnen, die Sache im guten beizulegen.«

»Ich habe mir ja auch gedacht, daß es besser wäre. Sie ist ja eine Frau. Frauen haben keine Seele, sagt Mohamet mit Recht. Zu verzeihen wäre auch menschlicher, goethischer.«

»Gewiß. Und dann müssen Sie auch auf den Rezitationsabend nicht verzichten, der doch sonst verloren wäre.«

»Was soll ich aber jetzt machen?«

»Sie gehen morgen hin und sagen, daß Sie diesmal noch unbewußte Beeinflussung annehmen wollen.«

»Das ist sehr gut. So werde ich es wirklich machen.«

»Auf die Rache müssen Sie deshalb noch nicht verzichten. Sie lassen einfach den Aufsatz anderswo drucken und schicken ihn dann der Frau Durège mit einer schönen Widmung.«

»Das wird die beste Strafe sein. Ich lasse es im ›Deutschen Abendblatt‹ drucken. Das nimmt es mir; da habe ich keine Sorge. Ich verlange einfach keine Bezahlung.«

Dann reden wir von seinem Schauspielertalent. Ich meine, er sollte sich doch ausbilden lassen. »Ja, da haben Sie recht. Aber wo? Wissen Sie vielleicht, wo man das lernen kann?« Ich sage: »Das ist schwer. Ich kenne mich da nicht aus.« Er: »Das macht ja nichts. Ich werde den Kisch fragen. Der ist Journalist und hat da viele Beziehungen. Der wird mir schon gut raten. Ich werde ihn einfach antelephonieren, erspare ihm und mir den Weg und erfahre alles.«

»Und mit der Frau Durège machen Sie es so, wie ich es Ihnen geraten habe?«

»Ja, ich habe es nur vergessen, wie haben Sie es mir geraten?« Ich wiederhole meinen Rat.

»Gut, so werde ich es machen.« Er geht ins Café Corso, ich nach Hause, mit der Erfahrung, wie erfrischend es ist, mit einem vollkommenen Narren zu reden. Ich habe fast nicht gelacht, sondern war nur ganz aufgeweckt.

Das wehmütige, nur auf den Firmatafeln gebräuchliche »vormals«.

 

2. März. Wer bestätigt mir die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit dessen, daß ich nur infolge meiner literarischen Bestimmung sonst interesselos und infolgedessen herzlos bin.

 

3. März. Den 28. Februar bei Moissi. Widernatürlicher Anblick. Er sitzt scheinbar ruhig, hat womöglich die gefalteten Hände zwischen den Knien, die Augen in dem frei vor ihm liegenden Buch und läßt seine Stimme über uns kommen mit dem Atem eines Laufenden.

Gute Akustik des Saales. Kein Wort verliert sich oder kommt auch nur im Hauch zurück, sondern alles vergrößert sich allmählich, als wirke unmittelbar die längst anders beschäftigte Stimme noch nach, es verstärkt sich nach der ihm mitgegebenen Anlage und schließt uns ein. – Die Möglichkeiten der eigenen Stimme, die man hier sieht. So wie der Saal für Moissis Stimme, arbeitet seine Stimme für unsere. Unverschämte Kunstgriffe und Überraschungen, bei denen man auf den Boden schauen muß und die man selbst niemals machen würde: Singen einzelner Verse gleich im Beginn zum Beispiel: »Schlaf Mirjam, mein Kind«, ein Herumirren der Stimme in der Melodie; rasches Ausstoßen des Mailiedes, scheinbar wird nur die Zungenspitze zwischen die Worte gesteckt; Teilung des Wortes November-Wind, um den »Wind« hinunterstoßen und aufwärts pfeifen lassen zu können. – Schaut man zur Saaldecke, wird man von den Versen hochgezogen.

Goethes Gedichte unerreichbar für den Rezitator, deshalb kann man aber nicht gut einen Fehler bei diesem Rezitieren aussetzen, weil jedes zum Ziele hinarbeitet. – Große Wirkung, als er dann bei der Zugabe ›Regenlied‹ von Shakespeare aufrecht stand, frei vom Text war, das Taschentuch in den Händen spannte und zusammendrückte und mit den Augen glänzte. – Runde Wangen und doch kantiges Gesicht. Weiches Haar, mit weichen Handbewegungen immer wieder gestrichen. Die begeisterten Kritiken, die man über ihn gelesen hat, nützen ihm in unserer Meinung nur bis zum ersten Anhören, dann verwickelt er sich in sie und kann keinen reinen Eindruck hervorbringen.

Diese Art des sitzenden Rezitierens mit dem Buch vor sich erinnert ein wenig an das Bauchreden. Der Künstler, scheinbar unbeteiligt, sitzt so wie wir, kaum daß wir in seinem gesenkten Gesicht die Mundbewegungen hie und da sehn, und läßt statt seiner über seinem Kopfe die Verse reden. – Trotzdem so viele Melodien zu hören waren, die Stimme gelenkt schien wie ein leichtes Boot im Wasser, war die Melodie der Verse eigentlich nicht zu hören. – Manche Worte wurden von der Stimme aufgelöst, sie waren so zart angefaßt worden, daß sie aufsprangen und nichts mehr mit der menschlichen Stimme zu tun hatten, bis dann die Stimme notgedrungen irgendeinen scharfen Konsonanten nannte, das Wort zur Erde brachte und schloß.

Nachher Spaziergang mit Ottla, Fräulein Taussig, Ehepaar Baum und Pick, Elisabethbrücke, Quai, Kleinseite, Radetzkycafé, Steinerne Brücke, Karlsgasse. Ich hatte gerade noch die Aussicht in die gute Laune, so daß an mir nicht gerade viel auszusetzen war.

 

5. März. Diese empörenden Ärzte! Geschäftlich entschlossen und in der Heilung so unwissend, daß sie, wenn jene geschäftliche Entschlossenheit sie verließe, wie Schuljungen vor den Krankenbetten stünden. Hätte ich doch die Kraft, einen Naturheilverein zu gründen. Durch Herumkratzen im Ohr meiner Schwester macht Dr. K. eine Trommelfellentzündung zur Mittelohrentzündung; das Dienstmädchen fällt beim Einheizen hin, der Doktor erklärt es mit jener Schnelligkeit der Diagnose, die er gegenüber Dienstmädchen hat, für verdorbenen Magen und Blutandrang infolgedessen, am nächsten Tag legt sie sich wieder nieder, hat hohes Fieber, der Doktor dreht sie rechts und links, konstatiert Angina und läuft rasch weg, um nicht vom nächsten Augenblick widerlegt zu werden. Wagt sogar von »niederträchtig starken Reaktionen dieses Mädchens« zu reden, woran das wahr ist, daß er an Menschen gewöhnt ist, deren körperlicher Zustand seiner Heilkunst würdig und durch sie hervorgebracht ist und daß er sich durch die starke Natur dieses Mädchens vom Lande, mehr als er weiß, beleidigt fühlt.

Gestern bei Baum. Vorgelesen »Der Dämon«. Unfreundlicher Eindruck im ganzen. Gute präzise Laune im Hinaufgehn zu Baum, sofortiges Nachlassen oben, Verlegenheit gegenüber dem Kinde.

Sonntag: Im ›Continental‹ bei den Kartenspielern. ›Journalisten‹ mit Kramer vorher, anderthalb Akte. Viele gezwungene Lustigkeit in Bolz ist sichtbar, aus der sich allerdings auch ein wenig wirkliche, zarte ergibt. Fräulein Taussig vor dem Theater getroffen, in der Pause nach dem zweiten Akt. In die Garderobe gelaufen, mit fliegendem Mantel zurückgekommen und sie nach Hause begleitet.

 

8. März. Vorgestern Vorwürfe wegen der Fabrik bekommen. Eine Stunde dann auf dem Kanapee über Aus-dem Fenster-Springen nachgedacht.

Gestern Harden-Vortrag über ›Theater‹. Offenbar gänzlich improvisiert, ich war in ziemlich guter Laune und habe ihn deshalb nicht so leer gefunden wie andere. Guter Anfang: »Zu dieser Stunde, in der wir uns hier zu einer Besprechung des Theaters zusammengefunden haben, teilt sich in allen Schauhäusern Europas und der übrigen Erdteile der Vorhang und enthüllt dem Publikum die Szene.« Mit einer Glühlampe, die vor ihm in Brusthöhe auf einem Ständer beweglich angebracht ist, beleuchtet er die Hemdbrust wie in der Auslage eines Wäschegeschäftes und bringt im Laufe des Vortrages durch Bewegen dieser Glühlampe Abwechslung in die Beleuchtung. Fußspitzentanz, um sich größer zu machen, sowie um die Improvisationsfähigkeit anzuspannen. Gespannte Hose selbst in der Leistengegend. Ein wie bei einer Puppe aufgenagelter kurzer Frack. Fast angestrengt ernsthaftes Gesicht, einmal einer alten Dame, einmal Napoleon ähnlich. Erblassende Färbung der Stirne wie bei einer Perücke. Wahrscheinlich geschnürt.

Einige alte Papiere durchgelesen. Es gehört alle Kraft dazu, das auszuhalten. Das Unglück, das man ertragen muß, wenn man in einer Arbeit, die immer nur im ganzen Zug gelingen kann, sich unterbricht, und das ist mir bisher immer geschehn, dieses Unglück muß man beim Durchlesen, wenn auch nicht in der alten Stärke, so gedrängter durchmachen.

Heute beim Baden glaubte ich, alte Kräfte zu fühlen, als wären sie unberührt von der langen Zwischenzeit.

 

10. März. Sonntag. Er verführte ein Mädchen in einem kleinen Orte im Isergebirge, wo er sich einen Sommer lang aufhielt, um seine angegriffenen Lungen wiederherzustellen. Unbegreiflich, wie manchmal Lungenkranke werden, warf er das Mädchen, die Tochter seines Hauswirts, die am Abend nach der Arbeit gerne einen Spaziergang mit ihm machte, nach einem kurzen Überredungsversuch in das Gras am Flußufer und nahm sie, die vor Schrecken ohnmächtig dalag, in Besitz. Später mußte er mit hohlen Händen Wasser aus dem Fluß holen und über das Gesicht des Mädchens schütten, um sie nur zum Leben zu bringen. »Julchen, aber Julchen«, sagte er, über sie gebeugt, unzählige Male. Er war bereit, jede Verantwortung für sein Vergehn auf sich zu nehmen, und strengte sich nur an, sich begreiflich zu machen, wie ernst seine Lage war. Ohne Überlegung hätte er es nicht einsehn können. Das einfache Mädchen, das vor ihm lag, schon wieder regelmäßig atmete und nur aus Angst und Befangenheit die Augen noch geschlossen hielt, konnte ihm keine Sorge machen; mit einer Fußspitze konnte er, der große starke Mensch, das Mädchen beiseite schieben. Sie war schwach und unansehnlich, konnte das, was ihr geschah, eine auch nur bis morgen wirkende Bedeutung haben? Mußte nicht jeder so entscheiden, der sie zwei verglich? Der Fluß dehnte sich ruhig zwischen den Wiesen und Feldern zu den entfernteren Bergen hin. Sonnenschein war nur noch an der Böschung des andern Ufers. Die letzten Wolken zogen unter dem reinen Abendhimmel fort.

Nichts, nichts. Auf diese Weise mache ich mir Gespenster. Beteiligt war ich, wenn auch nur schwach, bloß bei der Stelle »Später mußte ...«, vor allem beim »schütten«. In der Beschreibung der Landschaft glaubte ich einen Augenblick etwas Richtiges zu sehn.

So verlassen von mir, von allem. Lärm im Nebenzimmer.

 

11. März. Gestern nicht zum Aushalten. Warum nehmen an der Abendtafel nicht alle Anteil? Es wäre doch so schön.

Der Rezitator Reichmann ist am Tag nach unserem Gespräch ins Irrenhaus gekommen.

Heute viele alte widerliche Papiere verbrannt.Die nächsten sechseinhalb Seiten des Tagebuches enthalten Auszüge aus [Waldemar von] Biedermann ›Gespräche mit Goethe‹. Zuletzt findet sich die Notiz: »Bücher: Stilling, Goethe-Jahrbuch, Briefwechsel zwischen Rahel und D. Veit«.

 

12. März. In der vorübereilenden Elektrischen saß in einem Winkel, die Wange an der Scheibe, den linken Arm die Lehne entlanggestreckt, ein junger Mann in offenem, um ihn sich aufbauschendem Überzieher und sah über die lange leere Bank mit beobachtenden Blicken hin. Er hatte sich heute verlobt und dachte an nichts anderes. Er fühlte sich gut aufgehoben im Zustand eines Bräutigams und sah in diesem Gefühl manchmal flüchtig zur Decke des Wagens hinauf. Als der Schaffner kam, um ihm die Fahrkarte zu geben, fand er unter Klimpern leicht das richtige Geldstück, legte es im Schwunge in die Hand des Schaffners und ergriff die Karte mit zwei scherenförmig ausgebreiteten Fingern. Es bestand kein richtiger Zusammenhang zwischen ihm und der Elektrischen und es wäre kein Wunder gewesen, wenn er, ohne Plattform und Treppe zu benützen, auf der Gasse erschienen und seinen Weg zu Fuß mit gleichen Blicken verfolgt hätte.

Nur der sich aufbauschende Überzieher bleibt bestehn, alles andere ist erdacht.

16. März. Samstag. Wieder Aufmunterung. Wieder fasse ich mich, wie die Bälle, die fallen, und die man im Fallen fängt. Morgen, heute fange ich eine größere Arbeit an, die ungezwungen nach meinen Fähigkeiten sich richten soll. Ich werde nicht von ihr ablassen, solange ich nur kann. Lieber schlaflos sein, als so hinzuleben.

Kabarett Lucerna. Einige junge Leute singen jeder ein Lied. Ist man frisch und hört zu, so wird man durch einen derartigen Vortrag eher an die Folgerungen erinnert, welche der Text auf unser Leben erlaubt, als dies durch den Vortrag geübter Sänger geschehen kann. Denn die Kraft der Verse wird durch den Sänger keinesfalls vergrößert, sie behalten ihre Selbständigkeit und tyrannisieren uns mit dem Sänger, der nicht einmal Lackstiefel hat, dessen Hand vom Knie einmal nicht los will und wenn sie muß, noch ihren Widerwillen zeigt, der sich möglichst rasch auf die Bank hinwirft, um die Menge kleiner ungeschickter Bewegungen, die er dafür aufbieten muß, möglichst wenig sehen zu lassen.

Liebesszene im Frühling in der Art der Photographieansichtskarten. Treue, das Publikum rührende und beschämende Darstellung. – Fatinitza. Wiener Sängerin. Süßes inhaltsvolles Lachen. Erinnerung an Hansi. Ein Gesicht mit unbedeutenden, meist auch zu scharfen Details, vom Lachen zusammengehalten und ausgeglichen. Unwirksame Übermacht über das Publikum, die man ihr zusprechen muß, wenn sie an der Rampe steht und in das gleichgültige Publikum lacht. – Dummer Tanz der Degen mit fliegenden Irrlichtern, Zweigen, Schmetterlingen, Papierfeuern, Totenkopf. – Vier Rocking Girls. Eine sehr schön. Kein Theaterzettel nennt ihren Namen. Sie war die äußerste rechts vom Zuschauerraum. Wie sie beschäftigt die Arme warf, wie die dünnen langen Beine und zarten spielenden Knöchelchen in besonders fühlbar stummer Bewegung waren, wie sie das Tempo nicht einhielt, wie sie aber durch kein Erschrecken in ihrem Beschäftigtsein sich stören ließ, was für ein sanftes Lächeln sie hatte, im Gegensatz zu dem verzerrten der andern, wie ihr Gesicht und Haar fast üppig war im Vergleich zur Magerkeit des Körpers, wie sie den Musikanten »langsam« zurief, auch für ihre Mitschwestern. Ihr Tanzmeister, ein junger, auffallend angezogener magerer Mensch stand hinter den Musikanten und winkte rhythmisch mit einer Hand, weder von den Musikanten noch von den Tänzerinnen beachtet und selbst mit seinen Blicken im Zuschauerraum. Warnebold, feurige Nervosität eines kräftigen Menschen. In Bewegungen manchmal ein Witz, dessen Macht einen erhebt. Wie er nach der Ankündigung der Nummer mit großen Schritten dem Klavier zueilt.

Gelesen ›Aus dem Leben eines Schlachtenmalers‹.Der Titel lautet richtig: ›Erinnerungen eines Schlachtenbummlers im Feldzug 1870-71‹. Der Verfasser ist der Schlachtenmaler Heinrich Lang. Flaubert zufrieden vorgelesen.

Notwendigkeit, über Tänzerinnen mit Rufzeichen zu reden. Weil man so ihre Bewegung nachahmt, weil man im Rhythmus bleibt und das Denken dann im Genüsse nicht stört, weil dann die Tätigkeit immer am Schluß des Satzes bleibt und besser weiterwirkt.

 

17. März. In diesen Tagen ›Morgenrot‹ von StoeßlOtto Stoeßl (1875-1936), der österreichische Erzähler und Essayist, den Kafka sehr schätzte. gelesen.

Maxens Konzert am Sonntag. Mein fast bewußtloses Zuhören. Ich kann mich von jetzt an bei Musik nicht mehr langweilen. Diesen undurchdringlichen Kreis, der sich mit der Musik um mich bald bildet, versuche ich nicht mehr zu durchdringen, wie ich es früher nutzlos tat, hüte mich auch, ihn zu überspringen, was ich wohl imstande wäre, sondern bleibe ruhig bei meinen Gedanken, die in der Verengung sich entwickeln und ablaufen, ohne daß störende Selbstbeobachtung in dieses langsame Gedränge eintreten könnte. – Der schöne »magische Kreis« (von Max), der stellenweise die Brust der Sängerin zu öffnen scheint.

Goethe, Trost im Schmerz. Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz: Alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. – Meine Unfähigkeit gegenüber meiner Mutter, gegenüber Fräulein Taussig und gegenüber allen dann im ›Continental‹ und später auf der Gasse.

›Mam'zelle Nitouche‹Posse mit Musik von H. Meilhac und A. Millaud. am Montag. Die gute Wirkung eines französischen Wortes innerhalb einer traurigen deutschen Vorstellung. – Pensionatsmädchen in hellen Kleidern laufen hinter einem Gitter mit ausgestreckten Armen in den Garten. – Kasernenhof des Dragonerregimentes in der Nacht. Offiziere feiern in einem über ein paar Treppen zu erreichendem Saal des hintern Kasernengebäudes ein Abschiedsfest. Mam'zelle Nitouche kommt und läßt sich durch Liebe und Leichtsinn dazu bringen, an dem Fest teilzunehmen. Was Mädchen passieren kann! Früh im Stift, abends Auftreten für eine absagende Operettensängerin und nachts in der Dragonerkaserne.

Heute den Nachmittag mit schmerzhafter Müdigkeit auf dem Kanapee verbracht.

 

18. März. Weise war ich, wenn man will, weil ich jeden Augenblick zu sterben bereit war, aber nicht deshalb, weil ich alles besorgt hatte, was mir zu tun auferlegt war, sondern weil ich nichts davon getan hatte und auch nicht hoffen konnte, jemals etwas davon zu tun.

 

22. März. (Ich habe die letzten Tage falsche Daten geschrieben.) Baums Vorlesung in der Lesehalle. G. F., neunzehn Jahre, heiratet nächste Woche. Dunkles fehlerloses mageres Gesicht. Gewölbte Nasenflügel. Seit jeher trägt sie jägerartige Hüte und Kleider. Auch dieser dunkelgrüne Abglanz auf dem Gesicht. Die Haarsträhnen, welche die Wangen entlanglaufen, scheinen sich mit frischen, entlang der Wangen wachsenden zu vereinigen, wie überhaupt der Schein einer leichten Behaarung über dem ganzen ins Dunkel gebeugten Gesichte liegt. Schwach auf die Sessellehne gestützte Spitzen der Ellbogen. Dann auf dem Wenzelsplatz eine schwungvolle, vollkommen mit wenig Kraft zu Ende geführte Verbeugung. Wendung und Aufrichtung des ärmlich und rauh gekleideten magern Körpers. Ich sah sie viel seltener an, als ich wollte.

 

24. März. Sonntag, gestern. ›Die Sternenbraut‹ von Christian von Ehrenfels. – Verloren im Anschauen; unübersichtlichem rohem Zusammenhang gegenübergestellt, vor den drei bekannten Ehepaaren gut mit mir verbunden. – Der kranke Offizier im Stück. Der kranke Leib in der gespannten, zur Gesundheit und Entschlossenheit verpflichtenden Uniform.

Vormittag in reiner Laune eine halbe Stunde bei Max.

Im Nebenzimmer unterhält sich meine Mutter mit dem Ehepaar L. Sie sprechen über Ungeziefer und Hühneraugen. (Herr L. hat sechs Hühneraugen an jedem Finger.) Man sieht leicht ein, daß durch solche Gespräche kein eigentlicher Fortschritt eintritt. Es sind Mitteilungen, die von beiden wieder vergessen werden und die schon jetzt ohne Verantwortungsgefühl in Selbstvergessenheit vor sich gehn. Eben deshalb aber, weil solche Gespräche ohne Entrückung nicht denkbar sind, zeigen sie leere Räume, die, wenn man dabei bleiben will, nur mit Nachdenken oder besser Träumen ausgefüllt werden können.

 

25. März. Der den Teppich kehrende Besen im Nebenzimmer hört sich wie eine ruckweise bewegte Schleppe an.

 

26. März. Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe, dadurch mache ich mir das zu Schreibende unerreichbar.

 

27. März. Montag faßte ich auf der Gasse einen Jungen, der mit andern ein wehrlos vor ihnen gehendes Dienstmädchen mit einem großen Ball bewarf, gerade als dem Mädchen der Ball gegen den Hintern flog, beim Hals, würgte ihn in großer Wut, stieß ihn beiseite und schimpfte. Ging dann weiter und sah das Mädchen gar nicht an. Man vergißt ganz an seine irdische Existenz, weil man so ganz von Wut erfüllt ist und glauben darf, daß man bei Gelegenheit ebenso mit noch schöneren Gefühlen vollständig sich erfüllen wird.

 

28. März. Aus dem Vortrag der Frau Fanta ›Berliner Eindrücke‹: Grillparzer wollte einmal nicht in eine Gesellschaft gehn, weil er wußte, daß auch Hebbel, mit dem er befreundet war, dort sein würde. »Er wird mich wieder über meine Meinung über Gott ausfragen, und wenn ich nichts zu sagen wissen werde, wird er grob werden.« – Mein stockiges Benehmen.

 

29. März. Die Freude am Badezimmer. – Allmähliches Erkennen. Die Nachmittage, die ich mit den Haaren verbrachte.

 

1. April. Zum erstenmal seit einer Woche ein fast vollständiges Mißlingen im Schreiben. Warum? Ich habe auch vorige Woche verschiedene Stimmungen durchgemacht und das Schreiben vor ihrem Einfluß bewahrt; aber ich fürchte mich, darüber zu schreiben.

3. April. So ist ein Tag vorüber – Vormittag Bureau, Nachmittag Fabrik, jetzt abends Geschrei in der Wohnung rechts und links, später die Schwester von ›Hamlet‹ abholen – und ich habe mit keinem Augenblick etwas anzufangen verstanden.

 

8. April. Karsamstag, Vollständiges Erkennen seiner selbst. Den Umfang seiner Fähigkeiten umfassen können wie einen kleinen Ball. Den größten Niedergang als etwas Bekanntes hinnehmen und so darin noch elastisch bleiben.

Verlangen nach einem tiefen Schlaf, der mehr auflöst. Metaphysisches Bedürfnis ist nur Todesbedürfnis.

Wie ich heute vor Haas,Willy Haas, später Herausgeber der ›Literarischen Welt‹, der außerordentlich wissensreich geleiteten Zeitschrift, bedeutender Essayist. Zur Zeit der Niederschrift von Kafkas Tagebuchnotiz redigierte er in Prag die ›Herderblätter‹, veröffentlichte dort u.a. das erste Kapitel von ›Richard und Samuel‹, ferner Jugendwerke Werfels. weil er Maxens und meinen Reisebericht lobte, geziert gesprochen habe, um mich des Lobes, das auf den Bericht nicht zutrifft, wenigstens dadurch würdig zu machen oder um die erschwindelte oder erlogene Wirkung des Reiseberichtes im Schwindel fortzusetzen oder in der liebenswürdigen Lüge des Haas, die ich ihm zu erleichtern suchte.

 

6. Mai, elf Uhr. Zum erstenmal seit einiger Zeit vollständiges Mißlingen beim Schreiben. Das Gefühl eines geprüften Mannes.

Traum vor kurzem:

Ich fuhr mit meinem Vater durch Berlin in der Elektrischen. Das Großstädtische war vorgestellt von unzähligen regelmäßig aufrechtstehenden, zweifarbig gestrichenen, am Ende stumpf abgeglätteten Schlagbäumen. Sonst war alles fast leer, aber das Gedränge dieser Schlagbäume war groß. Wir kamen vor ein Tor, stiegen, ohne es zu fühlen, aus, traten durch das Tor ein. Hinter dem Tor stieg eine sehr steile Wand aufwärts, die mein Vater fast tanzend erstieg, die Beine flogen ihm dabei, so leicht wurde es ihm. Es lag sicher auch einige Rücksichtslosigkeit darin, daß er mir gar nicht half, denn ich kam nur mit der äußersten Mühe, auf allen Vieren, häufig wieder zurückrutschend, hinauf, als sei die Wand unter mir steiler geworden. Peinlich war dabei auch, daß (die Wand) mit Menschendreck bedeckt war, so daß mir Flocken davon vor allem auf der Brust hängenblieben.

Ich sah sie mit geneigtem Gesicht an und fuhr mit der Hand darüber hin. Als ich endlich oben war, flog mir gleich mein Vater, der schon aus dem Innern eines Gebäudes kam, an den Hals und küßte und drückte mich. Er hatte einen mir aus der Erinnerung gut bekannten altmodischen, kurzen, im Innern sofaartig gepolsterten Kaiserrock an. »Dieser Dr. von Leyden! Das ist doch ein ausgezeichneter Mensch«, rief er immer wieder. Er hatte ihn aber durchaus nicht als Arzt besucht, sondern nur als kennenswerten Mann. Ich hatte ein wenig Angst, daß ich auch zu ihm hineinmüßte, es wurde aber nicht verlangt. Links hinter mir sah ich in einem förmlich mit lauter Glaswänden umgebenen Zimmer einen Mann sitzen, der mir den Rücken zuwandte. Es zeigte sich, daß dieser Mann der Sekretär des Professors war, daß mein Vater tatsächlich nur mit ihm gesprochen hatte und nicht mit dem Professor selbst, daß er aber irgendwie, durch den Sekretär hindurch, die Vorzüge des Professors leibhaftig erkannt hatte, so daß er in jeder Hinsicht zu einem Urteil über den Professor genau so berechtigt war, wie wenn er persönlich mit ihm gesprochen hätte.

Lessingtheater: ›Die Ratten.‹

Brief an Pick, weil ich ihm nicht geschrieben habe. Karte an Max, aus Freude über ›Arnold Beer‹.›Amold Beer‹ ist ein Roman des Herausgebers.

 

9. Mai. Gestern abend mit Pick im Kaffeehaus. Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem RomanKafka arbeitete damals an seinem Roman ›Der Verschollene‹ (endgültiger Titel ›Amerika‹). festhalte, ganz wie eine Denkmalsfigur, die in die Ferne schaut und sich am Block festhält.

Trostloser Abend heute in der Familie. Der Schwager braucht Geld für die Fabrik, der Vater ist aufgeregt wegen der Schwester, wegen des Geschäfts und wegen seines Herzens, meine unglückliche zweite Schwester, die über alle unglückliche Mutter, und ich mit meinen Schreibereien.

 

22. Mai. Gestern wunderschöner Abend mit Max. Wenn ich mich liebe, liebe ich ihn noch stärker. ›Lucerna‹. ›Madame la Mort‹ von Rachilde. ›Traum eines Frühlingsmorgens.‹Drama von d'Annunzio. Die lustige Dicke in der Loge. Die Wilde mit der rohen Nase, dem aschebestaubten Gesicht, den Schultern, die sich aus dem übrigen nicht dekolletierten Kleide drängten, dem hin und her gezerrten Rücken, der einfachen, weißgetupften, blauen Bluse, dem Fechterhandschuh, der immer zu sehen war, da sie die Rechte meistens auf dem rechten Schenkel der neben ihr sitzenden lustigen Mutter ganz oder auf den Fingerspitzen ruhen ließ. Die über den Ohren gedrehten Zöpfe, nicht das reinste hellblaue Band auf dem Hinterkopf, das Haar vorn im dünnen, aber dichten Büschel geht rund um die Stirn und vorn weit über sie hinaus. Ihr warmer, faltiger, leichter, nachlässig vor lauter Schmiegsamkeit hängender Mantel, als sie bei der Kassa unterhandelte.

 

23. Mai. Gestern: hinter uns fiel ein Mann vor Langeweile vom Sessel. – Vergleich von Rachilde: Die sich an der Sonne freuen und von den andern Freude verlangen, sind wie Betrunkene, die in der Nacht von einer Hochzeit kommen und ihnen Entgegenkommende zwingen, auf das Wohl der unbekannten Braut zu trinken.

Brief an Weltsch, ihm das Du angetragen. Gestern guter Brief an Onkel Alfred wegen der Fabrik. Vorgestern Brief an Löwy.

Jetzt abends vor Langeweile dreimal im Badezimmer hintereinander mir die Hände gewaschen.

Das Kind mit den zwei kleinen Zöpfchen, bloßem Kopf, losem weißpunktiertem rotem Kleidchen, bloßen Beinen und Füßen, das mit einem Körbchen in der einen, mit einem Kistchen in der andern Hand zögernd den Fahrdamm beim Landestheater überschritt.

Das anfängliche Rückenspiel in ›Madame la Mort‹ nach dem Grundsatz: Der Rücken eines Dilettanten ist unter gleichen Verhältnissen so schön wie der Rücken eines guten Schauspielers. Die Gewissenhaftigkeit der Leute!

In den letzten Tagen ausgezeichneter Vortrag von David Trietsch über Kolonisation in Palästina.

 

25. Mai. Schwaches Tempo, wenig Blut.

27. Mai. Gestern Pfingstsonntag, kaltes Wetter, nicht schöner Ausflug mit Max und Weltsch, abends Kaffeehaus, Werfel gibt mir ›Besuch aus dem Elysium‹.

Ein Teil der Niklasstraße und die ganze Brücke dreht sich gerührt nach einem Hund um, der laut bellend ein Automobil der Rettungsgesellschaft begleitet. Bis der Hund plötzlich abläßt, umkehrt und sich als ein gewöhnlicher fremder Hund zeigt, der mit der Verfolgung des Wagens nichts Besonderes meinte.

 

1. Juni. Nichts geschrieben.

 

2. Juni. Fast nichts geschrieben.

Gestern Vortrag Dr. Soukup im Repräsentationshaus über Amerika. (Die Tschechen in Nebraska, alle Beamten in Amerika werden gewählt, jeder muß einer der drei Parteien – republikanisch, demokratisch, sozialistisch – angehören. Wahlversammlung Roosevelts, der einen Farmer, welcher einen Einwand macht, mit seinem Glas bedroht, Straßenredner, die als Podium eine kleine Kiste mit sich tragen.) Dann Frühlingsfest, Paul Kisch getroffen, der von seiner Dissertation ›Hebbel und die Tschechen‹ erzählt.

 

6. Juni. Donnerstag. Fronleichnam. Wie von zwei Pferden im Lauf das eine den Kopf für sich und aus dem Lauf heraus senkt und gegen sich mit der ganzen Mähne schüttelt, dann ihn aufrichtet und jetzt erst, scheinbar gesünder, den Lauf wieder aufnimmt, den es eigentlich nicht unterbrochen hat.

Jetzt lese ich in Flauberts Briefen: »Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge, und ich weiß nichts von dem, was in der Welt vorgeht.« – Ähnlich wie ich es für mich am 9. Mai eingetragen habe.

Gewichtlos, knochenlos, körperlos zwei Stunden lang durch die Gassen gegangen und überlegt, was ich nachmittag beim Schreiben überstanden habe.

 

7. Juni. Arg. Heute nichts geschrieben. Morgen keine Zeit.

Montag, 6. Juli.In die Zeit vor dieser Eintragung fällt der Beginn der Ferienreise nach Weimar und in den Harz (28. Juni bis 29. Juli). Ein wenig angefangen. Bin ein wenig verschlafen. Auch verlassen unter diesen ganz fremden Menschen.

 

9. Juli. So lange nichts geschrieben. Morgen anfangen. Ich komme sonst wieder in eine sich ausdehnende unaufhaltsame Unzufriedenheit; ich bin schon eigentlich drin. Die Nervositäten fangen an. Aber wenn ich etwas kann, dann kann ich es ohne abergläubische Vorsichtsmaßregeln.

Die Erfindung des Teufels. Wenn wir vom Teufel besessen sind, dann kann es nicht einer sein, denn sonst lebten wir, wenigstens auf der Erde, ruhig, wie mit Gott, einheitlich, ohne Widerspruch, ohne Überlegung, unseres Hintermannes immer gewiß. Sein Gesicht würde uns nicht erschrecken, denn als Teuflische wären wir bei einiger Empfindlichkeit für diesen Anblick klug genug, lieber eine Hand zu opfern, mit der wir sein Gesicht bedeckt hielten. Wenn uns nur ein einziger Teufel hätte, mir ruhigem ungestörtem Überblick über unser ganzes Wesen und mit augenblicklicher Verfügungsfreiheit, dann hätte er auch genügende Kraft, uns ein menschliches Leben lang so hoch über dem Geist Gottes in uns zu halten und noch zu schwingen, daß wir auch keinen Schimmer von ihm zu sehen bekämen, also auch von dort nicht beunruhigt würden. Nur die Menge der Teufel kann unser irdisches Unglück ausmachen. Warum rotten sie einander nicht aus bis auf einen oder warum unterordnen sie sich nicht einem großen Teufel? Beides wäre im Sinne des teuflischen Prinzips, uns möglichst vollkommen zu betrügen. Was nützt denn, solange die Einheitlichkeit fehlt, die peinliche Sorgfalt, die sämtliche Teufel für uns haben? Es ist nur selbstverständlich, daß den Teufeln an dem Ausfallen eines Menschenhaares mehr gelegen sein muß als Gott, denn dem Teufel geht das Haar wirklich verloren, Gott nicht. Nur kommen wir dadurch, solange die vielen Teufel in uns sind, noch immer zu keinem Wohlbefinden.

 

7. August. Lange Plage. Max endlich geschrieben, daß ich die noch übrigen Stückchen nicht ins reine bringen kann, mich nicht zwingen will und daher das Buch nicht herausgeben werde.Es handelt sich um Kafkas erstes Buch ›Betrachtung‹, zu dessen Fertigstellung, vielmehr Zusammenstellung aus größtenteils bereits fertigen Prosastücken, ich ihn sehr drängte. Mitte August übergab er mir endlich das Manuskript, das ich an den Verlag Rowohlt (Kurt Wolff) expedierte. Das Buch erschien Anfang 1913.

8. August. ›Bauernfänger‹ zur beiläufigen Zufriedenheit fertig gemacht. Mit der letzten Kraft eines normalen Geisteszustandes. Zwölf Uhr, wie werde ich schlafen können?

 

9. August. Die aufgeregte Nacht. – Gestern das Dienstmädchen, das zu dem kleinen Jungen auf der Treppe sagte: »Halt dich an meine Röcke!«

Mein aus Eingebungen fließendes Vorlesen des ›Armen Spielmann‹. – Die Erkenntnis des Männlichen an Grillparzer in dieser Geschichte. Wie er alles wagen kann und nichts wagt, weil schon nur Wahres in ihm ist, das sich selbst bei widersprechendem Augenblickseindruck zur entscheidenden Zeit als Wahres rechtfertigen wird. Das ruhige Verfügen über sich selbst. Der langsame Schritt der nichts versäumt. Das sofortige Bereitsein, wenn es notwendig ist, nicht früher, denn er sieht alles längst kommen.

 

10. August. Nichts geschrieben. In der Fabrik gewesen und im Motorraum zwei Stunden lang Gas eingeatmet. Die Energie des Werkmeisters und des Heizers vor dem Motor, der aus einem unauffindbaren Grunde nicht zünden will. Jammervolle Fabrik.

 

11. August. Nichts, nichts. Um wieviel Zeit mich die Herausgabe des kleinen Buches bringt und wieviel schädliches, lächerliches Selbstbewußtsein beim Lesen alter Dinge im Hinblick auf das Veröffentlichen entsteht. Nur das hält mich vom Schreiben ab. Und doch habe ich in Wirklichkeit nichts erreicht, die Störung ist der beste Beweis dafür. Jedenfalls werde ich mich jetzt nach Herausgabe des Buches noch viel mehr von Zeitschriften und Kritiken zurückhalten müssen, wenn ich mich nicht damit zufrieden geben will, nur mit den Fingerspitzen im Wahren zu stecken. Wie schwer beweglich ich auch geworden bin! Früher, wenn ich nur ein der augenblicklichen Richtung entgegengesetztes Wort sagte, flog ich auch schon nach der andern Seite, jetzt schaue ich mich bloß an und bleibe wie ich bin.

 

14. August. Brief an Rowohlt.

Sehr geehrter Herr Rowohlt!

Hier lege ich die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschten; sie ergibt wohl schon ein kleines Buch. Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahl zwischen der Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönen Büchern auch ein Buch zu haben. Gewiß habe ich mich nicht immer ganz rein entschieden. Jetzt aber wäre ich natürlich glücklich, wenn Ihnen die Sachen auch nur so weit gefielen, daß Sie sie druckten. Schließlich ist auch bei größter Übung und größtem Verständnis das Schlechte in den Sachen nicht auf den ersten Blick zu sehn. Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, daß jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.
Ihr ergebener

 

15. August. Nutzloser Tag. Verschlafen, verlegen. Marienfeier auf dem Altstädter Ring. Der Mann mit einer Stimme wie aus einem Erdloch. Viel an – was für eine Verlegenheit vor dem Aufschreiben von Namen – F. B.Kafka hatte Fräulein Felice Bauer aus Berlin, die in seinem Leben von so zentraler Bedeutung wurde, zwei Tage zuvor kennengelernt. gedacht. Gestern ›Polnische Wirtschaft.‹Titel einer Operette von Jean Gilbert (Pseudonym für Max Winterfeld). – Jetzt hat O. Gedichte von Goethe aufgesagt. Sie wählt mit einem wahren Gefühl aus. ›Trost in Tränen.‹ ›An Lotte.‹ ›An Werther.‹ ›An den Mond.‹

Alte Tagebücher wieder gelesen, statt diese Dinge von mir abzuhalten. Ich lebe so unvernünftig wie nur möglich. An allem aber ist die Herausgabe der einunddreißig Seiten schuld. Noch mehr schuld allerdings meine Schwäche, die es erlaubt, daß Derartiges auf mich Einfluß hat. Statt mich zu schütteln, sitze ich da und denke nach, wie ich das alles möglichst beleidigend ausdrücken könnte. Aber meine schreckliche Ruhe stört mir die Erfindungskraft. Ich bin neugierig darauf, wie ich mich aus diesem Zustand herausfinden werde. Stoßen lasse ich mich nicht, des rechten Wegs bin ich mir auch nicht bewußt, wie wird es also werden? Bin ich als große Masse in meinen schmalen Wegen endgültig festgerannt? – Dann könnte ich doch wenigstens den Kopf drehn. – Das tue ich doch.

 

16. August. Nichts, weder im Bureau noch zu Hause. Ein paar Seiten im Weimarer Tagebuch geschrieben.

Abends das Wimmern meiner armen Mutter wegen meines Nichtessens.

20. August. Die kleinen Jungen, beide in blauen Blusen, einer in heller, der andere kleinere in dunklerer, tragen über den Universitätsbauplatz vor meinem Fenster, der zum Teil wild mit Gras bewachsen ist, mit vollen Armen jeder ein Bündel trockenen Heus. Sie schleppen sich damit einen Abhang hinauf. Annehmlichkeit des Ganzen für die Augen.

Heute früh der leere Leiterwagen und das magere große Pferd davor. Beide, wie sie die letzte Anstrengung machten, einen Abhang hinaufzukommen, ungewöhnlich in die Länge gezogen. Für den Beschauer schief aufgestellt. Das Pferd, ein wenig die Vorderbeine gehoben, den Hals seitwärts und aufwärts gestreckt. Darüber die Peitsche des Kutschers.

Wenn Rowohlt es zurückschickte und ich alles wieder einsperren und ungeschehen machen könnte, so daß ich bloß so unglücklich wäre wie früher.

Fräulein F. B. Als ich am 13. August zu Brod kam, saß sie bei Tische und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (Ich entfremde ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr so nahe an den Leib gehe. Allerdings in was für einem Zustand bin ich jetzt, allem Guten in der Gesamtheit entfremdet, und glaube es überdies noch nicht. Wenn mich heute bei Max die literarischen Nachrichten nicht zu sehr zerstreuen, werde ich noch die Geschichte von dem Blenkelt zu schreiben versuchen. Sie muß nicht lang sein, aber treffen muß sie mich.) Fast zerbrochene Nase, blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. Wie sich ... [bricht ab]

 

21. August. Unaufhörlich Lenz gelesen und mir aus ihm – so steht es mit mir – Besinnung geholt.

Das Bild der Unzufriedenheit, das eine Straße darstellt, da jeder von dem Platz, auf dem er sich befindet, die Füße hebt, um wegzukommen.

30. August. Die ganze Zeit nichts gemacht. Besuch des Onkels aus Spanien. Vorigen Samstag rezitierte Werfel im Arco die ›Lebenslieder‹ und das ›Opfer‹. Ein Ungeheuer! Aber ich sah ihm in die Augen und hielt seinen Blick den ganzen Abend.

Ich werde schwer aufzuschütteln sein und bin doch unruhig. Als ich heute nachmittag im Bett lag und jemand einen Schlüssel im Schloß rasch umdrehte, hatte ich einen Augenblick lang Schlösser auf dem ganzen Körper wie auf einem Kostümball, und in kurzen Zwischenräumen wurde einmal hier, einmal dort ein Schloß geöffnet oder zugesperrt.

Umfrage der Zeitschrift ›Miroir‹ über die Liebe in der Gegenwart und über die Veränderungen der Liebe seit der Zeit unserer Großeltern. Eine Schauspielerin antwortete: Niemals hat man so gut geliebt wie heutzutage.

Wie zerworfen und erhoben ich nach dem Anhören von Werfel war! Wie ich mich nachher geradezu wild und ohne Fehler in die Gesellschaft bei den L. hinlegte.

Diesen Monat, der wegen der Abwesenheit des Chefs besonders gut hätte benützt werden können, habe ich ohne viel Rechtfertigung (Absendung des Buches an Rowohlt, Abszesse, Besuch des Onkels) vertrödelt und verschlafen. Noch heute nachmittag habe ich mich mit träumerischen Entschuldigungen drei Stunden auf dem Bett gedehnt.

 

4. September. Der Onkel aus Spanien. Der Schnitt seines Rockes. Die Wirkung seiner Nähe. Die Detaillierung seines Wesens. – Sein Schweben durch das Vorzimmer ins Klosett. Gibt dabei auf eine Ansprache keine Antwort. – Wird weicher von Tag zu Tag, wenn man nicht einen allmählichen Wechsel, sondern auffallende Augenblicke beurteilt. –

 

5. September. Ich frage ihn: Wie soll man das verbinden, daß du unzufrieden bist, wie du letzthin sagtest, und daß du dich in allem zurechtfindest, wie man immer wieder sieht (und wie es sich mit der solchem Zurechtfinden immer eigentümlichen Roheit zeigt, dachte ich). Er antwortete, wie es sich in meiner Erinnerung auflöst: »Im einzelnen bin ich zufrieden, an das Ganze reicht es nicht heran. Ich nachtmahle öfters in einer kleinen französischen Pension, die sehr vornehm und teuer ist. Ein Zimmer für ein Ehepaar kostet zum Beispiel mit Pension täglich fünfzig Francs. Ich sitze dort also zum Beispiel zwischen einem Legationssekretär der französischen Botschaft und einem spanischen Artilleriegeneral. Mir gegenüber sitzt ein hoher Beamter des Marineministeriums und irgendein Graf. Ich kenne schon alle gut, setze mich auf meinen Platz mit Gruß nach allen Seiten, rede, weil ich in eigener Laune bin, sonst kein Wort, bis auf den Gruß, mit dem ich mich wieder verabschiede. Dann bin ich allein auf der Gasse und kann wirklich nicht einsehn, wozu dieser Abend gedient haben soll. Ich gehe nach Hause und bedauere, nicht geheiratet zu haben. Natürlich verwischt sich das wieder, sei es, daß ich es zu Ende denke, sei es, daß sich die Gedanken verlaufen. Aber bei Gelegenheit kommt es wieder.«

 

8. September. Sonntag vormittag. Gestern Brief an Dr. Schiller. Nachmittag. Wie die Mutter mit stärkster Stimme nebenan unter einer Menge von Frauenzimmern mit kleinen Kindern spielt und mich aus der Wohnung treibt. Nicht weinen! Nicht weinen! usw. Das gehört ihm! Das gehört ihm! usw. Zwei große Menschen! usw. Er will es nicht! ... Aber! Aber! ... Wie hat es dir in Wien gefallen, Dolphi? War es dort schön? ... Ich bitte, schauen Sie nur seine Hände an.

 

11. September. Vorvorgestern abend mit Utitz.

Ein Traum: Ich befand mich auf einer aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge. Irgend jemand oder mehrere Leute waren mit mir, aber das Bewußtsein meiner selbst war so stark, daß ich von ihnen kaum mehr wußte, als daß ich zu ihnen sprach. Erinnerlich sind mir nur die erhobenen Knie eines neben mir Sitzenden. Ich wußte zuerst nicht eigentlich, wo ich war, erst als ich mich einmal zufällig erhob, sah ich links von mir und rechts hinter mir das weite, klar umschriebene Meer, mit vielen reihenweise aufgestellten, fest verankerten Kriegsschiffen. Rechts sah man New York, wir waren im Hafen von New York. Der Himmel war grau, aber gleichmäßig hell. Ich drehte mich, frei der Luft von allen Seiten ausgesetzt, auf meinem Platze hin und her, um alles sehn zu können. Gegen New York zu ging der Blick ein wenig in die Tiefe, gegen das Meer zu ging er empor. Nun bemerkte ich auch, daß das Wasser neben uns hohe Wellen schlug und ein ungeheuer fremdländischer Verkehr sich auf ihm abwickelte. In Erinnerung ist mir nur, daß statt unserer Flöße lange Stämme zu einem riesigen runden Bündel zusammengeschnürt waren, das in der Fahrt immer wieder mit der Schnittfläche je nach der Höhe der Wellen mehr oder weniger auftauchte und dabei auch noch der Länge nach sich in dem Wasser wälzte. Ich setzte mich, zog die Füße an mich, zuckte vor Vergnügen, grub mich vor Behagen förmlich in den Boden ein und sagte: Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard.

 

12. September. Abends Dr. L. bei uns. Wieder ein Palästinafahrer. Macht die Advokatursprüfung ein Jahr vor Ablauf seiner Konzipientenpraxis und fährt mit zwölfhundert Kronen (in vierzehn Tagen) nach Palästina. Würde eine Stelle beim Palästinaamt suchen. Alle diese Palästinafahrer (Dr. B., Dr. K.) haben gesenkte Blicke, fühlen sich von den Zuhörern geblendet, fahren mit den gestreckten Fingern auf dem Tisch herum, kippen mit der Stimme um, lächeln schwach und halten dieses Lächeln mit etwas Ironie aufrecht. – Dr. K. erzählte, daß seine Schüler Chauvinisten sind, immerfort die Makkabäer im Munde haben und ihnen nachgeraten wollen.

Ich merke, daß ich dem Dr. Schiller nur deshalb so gern und gut geschrieben habe, weil das Fräulein B. sich in Breslau, allerdings schon vor vierzehn Tagen, aufgehalten hat, und eine Witterung dessen noch in der Luft ist, da ich früher viel daran gedacht habe, ihr durch Dr. Schiller Blumen schicken zu lassen.

 

15. September. Verlobung meiner Schwester Valli.

Aus dem Grunde
der Ermattung
steigen wir
mit neuen Kräften,
Dunkle Herren,
welche warten,
bis die Kinder
sich entkräften.

Liebe zwischen Bruder und Schwester – die Wiederholung der Liebe zwischen Mutter und Vater.

Die Vorahnung des einzigen Biographen.

Die Höhlung, welche das geniale Werk in das uns Umgebende gebrannt hat, ist ein guter Platz, um sein kleines Licht hineinzustellen. Daher die Anfeuerung, die vom Genialen ausgeht, die allgemeine Anfeuerung, die nicht nur zur Nachahmung treibt.

 

18. September. Die gestrigen Geschichten des H. im Bureau. Der Steinklopfer, der ihm auf der Landstraße einen Frosch abbettelte, ihn bei den Füßen festhielt, und mit dreimaligem Beißen zuerst das Köpfchen, dann den Rumpf und endlich die Füße hinunterschlang. – Die beste Methode, Katzen, die ein sehr zähes Leben haben, zu töten: man quetscht den Hals zwischen eine geschlossene Tür und zieht am Schwanz. – Seine Abneigung gegen Ungeziefer. Beim Militär juckte ihn einmal in der Nacht etwas unter der Nase, er griff im Schlaf hin und zerdrückte etwas. Das Etwas war aber eine Wanze, und er trug den Gestank davon tagelang mit sich herum.

Vier aßen einen fein hergerichteten Katzenbraten, aber nur drei wußten, was sie aßen. Nach dem Essen fingen die drei zu miauen an, aber der vierte wollte es nicht glauben, erst bis man ihm das blutige Fell zeigte, glaubte er es, konnte nicht rasch genug hinauslaufen, um alles wieder herauszubrechen und war zwei Wochen schwer krank.

Dieser Steinklopfer aß nichts als Brot und was er sonst zufällig an Obst oder an Lebendem bekam und trank nichts als Branntwein. Schlief im Ziegelschuppen einer Ziegelei. Einmal traf ihn der H. in der Dämmerung auf den Feldern. »Bleib stehn«, sagte der Mann »oder –« H. blieb zum Spaß stehn. »Gib mir deine Zigarette«, sagte der Mann weiter. H. gab sie ihm. » Gib mir noch eine!« – »So, du willst noch eine?« fragte ihn H., hielt seinen Knotenstock für jeden Fall in der Linken bereit und gab ihm mit der Rechten einen Schlag ins Gesicht, daß ihm die Zigarette entfiel. Der Mann lief auch, feig und schwach, wie solche Schnapstrinker sind, sofort weg.

Gestern bei B. mit Dr. L. – Lied von Reb Dovidl, Reb Dovidl, der Wassilkower, fährt heute nach Talne. In einer Stadt zwischen Wassilko und Talne gleichgültig, in Wassilko weinend, in Talne froh gesungen.

 

19. September. Kontrollor P. erzählt von der Reise, die er als dreizehnjähriger Junge mit siebzig Kreuzern in der Tasche, in Begleitung eines Schulkameraden ausführte. Wie sie am Abend in ein Wirtshaus kamen, wo eine ungeheure Sauferei im Gange war, zu Ehren des Bürgermeisters, der vom Militär zurückgekommen war. Mehr als fünfzig leere Bierflaschen standen auf dem Fußboden. Alles war voll vom Rauch der Pfeifen. Der Gestank der Bierkäsl. Die zwei kleinen Jungen an der Wand. Der betrunkene Bürgermeister, der in der Erinnerung an das Militär überall Ordnung schaffen will, kommt auf sie zu und droht, sie als Ausreißer, wofür er sie trotz aller Erklärungen hält, per Schub nach Hause befördern zu lassen. Die Jungen zittern, zeigen Ausweiskarten des Gymnasiums, deklinieren mensa, ein halb betrunkener Lehrer schaut zu, ohne zu helfen. Ohne eine klare Entscheidung über ihr Schicksal zu bekommen, werden sie gezwungen, mitzutrinken, sind sehr zufrieden, umsonst so viel gutes Bier zu bekommen, das sie sich mit ihren kleinen Mitteln niemals hätten gönnen dürfen. Sie trinken sich voll und legen sich dann, tief in der Nacht, nach dem Abmarsch der letzten Gäste, in diesem Zimmer, das nicht gelüftet wurde, auf dünn aufgeschüttetes Stroh schlafen und schlafen wie Herren. Nur daß um vier Uhr eine riesige Magd mit dem Besen kommt, keine Zeit zu haben erklärt und sie in den Morgennebel hinausgekehrt hätte, wenn sie nicht freiwillig weggelaufen wären. Als die Stube ein wenig gereinigt war, bekamen sie zwei große Kaffeetöpfe bis hinaufgefüllt auf den Tisch gestellt. Wie sie aber mit dem Löffel in ihrem Kaffee herumrührten, kam immer von Zeit zu Zeit etwas Großes, Dunkles, Rundes an die Oberfläche. Sie dachten, es werde sich mit der Zeit aufklären und tranken mit Appetit, bis sie angesichts des halbleeren Topfes und der dunklen Sache doch Angst bekamen und die Magd um Rat fragten. Da zeigte es sich, daß das Schwarze altes geronnenes Gänseblut war, das von dem vortägigen Festessen her in den Töpfen geblieben war und über das man im Morgendusel den Kaffee einfach eingegossen hatte. Sofort liefen die Jungen heraus und erbrachen alles bis auf das letzte Tröpfchen. Später wurden sie zum Pfarrer vorgerufen, der nach einer kurzen Prüfung aus der Religion feststellte, daß sie brave Jungen seien, ihnen von der Köchin eine Suppe servieren ließ und sie dann mit seinem geistlichen Segen verabschiedete. Diese Suppe und diesen Segen ließen sie sich als Zöglinge eines von Geistlichen geleiteten Gymnasiums in fast allen Pfarrorten geben, durch die sie kamen.

 

20. September. Briefe an Löwy und Fräulein Taussig gestern, an Fräulein B. und Max heute.Es folgt die vollständige Niederschrift der Erzählung ›Das Urteil‹.

 

23. September. Diese Geschichte ›Das Urteil‹ habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte, wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gesagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke gingen. Um zwei Uhr schaute ich zum letzten Male auf die Uhr. Wie das Dienstmädchen zum ersten Male durchs Vorzimmer ging, schrieb ich den letzten Satz nieder. Auslöschen der Lampe und Tageshelle. Die leichten Herzschmerzen. Die in der Mitte der Nacht vergehende Müdigkeit. Das zitternde Eintreten ins Zimmer der Schwestern. Vorlesung. Vorher das Sichstrecken vor dem Dienstmädchen und Sagen: »Ich habe bis jetzt geschrieben.« Das Aussehn des unberührten Bettes, als sei es jetzt hereingetragen worden. Die bestätigte Überzeugung, daß ich mich mit meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele. Vormittag im Bett. Die immer klaren Augen. Viele während des Schreibens mitgeführte Gefühle, zum Beispiel die Freude, daß ich etwas Schönes für Maxens ›Arkadia‹ haben werde, Gedanken an Freud natürlich, an einer Stelle an ›Arnold Beer‹, an einer andern an Wassermann, an einer an Werfels ›Riesin‹, natürlich auch an meine ›Die städtische Welt‹.

Gustav Blenkelt war ein einfacher Mann mit regelmäßigen Gewohnheiten. Er liebte keinen unnötigen Aufwand und hatte ein sicheres Urteil gegenüber Leuten, die solchen Aufwand trieben. Trotzdem er Junggeselle war, fühlte er sich durchaus berechtigt, in Eheangelegenheiten seiner Bekannten ein entscheidendes Wörtchen mitzusprechen, und derjenige, der eine solche Berechtigung nur in Frage gestellt hätte, wäre schlecht bei ihm angekommen. Er pflegte seine Meinung rund heraus zu sagen und hielt die Zuhörer, denen seine Meinung gerade nicht paßte, durchaus nicht zurück. Es gab wie überall Leute, die ihn bewunderten, Leute, die ihn anerkannten, Leute, die ihn duldeten und schließlich solche, die nichts von ihm wissen wollten. Es bildet ja jeder Mensch, selbst der nichtigste, wenn man nur ordentlich zusieht, den Mittelpunkt eines hier und dort zusammengedrehten Kreises, wie hätte es bei Gustav Blenkelt, einem im Grunde besonders geselligen Menschen, anders sein sollen?

Im fünfunddreißigsten Lebensjahre, dem letzten Jahre seines Lebens, verkehrte er besonders häufig bei einem jungen Ehepaar namens Strong. Es ist gewiß, daß für Herrn Strong, der mit dem Gelde seiner Frau eine Möbelhandlung eröffnet hatte, die Bekanntschaft Blenkelts verschiedene Vorteile hatte, da dieser die Hauptmasse seiner Bekannten unter jungen heiratsfähigen Leuten besaß, die früher oder später daran denken mußten, für sich eine neue Möbeleinrichtung zu beschaffen und die schon aus Gewohnheit Ratschläge Blenkelts auch in dieser Richtung im allgemeinen nicht vernachlässigten. »Ich halte sie an festen Zügeln«, pflegte Blenkelt zu sagen.

 

25. September. Vom Schreiben mich mit Gewalt zurückgehalten. Mich im Bett gewälzt. Den Blutandrang zum Kopf und das nutzlose Vorüberfließen. Was für Schädlichkeiten! – Gestern bei Baum vorgelesen, vor den Baumischen, meinen Schwestern, Marta, Frau Dr. Bloch mit zwei Söhnen (einem Einjährig-Freiwilligen). Gegen Schluß fuhr mir meine Hand ungeniert und wahrhaftig vor dem Gesicht herum. Ich hatte Tränen in den Augen. Die Zweifellosigkeit der Geschichte bestätigte sich. – Heute abend mich vom Schreiben weggerissen. Kinematograph im Landestheater. Loge. Fräulein O., welche einmal ein Geistlicher verfolgte. Sie kam ganz naß von Angstschweiß nach Hause. Danzig. Körners Leben. Die Pferde. Das weiße Pferd. Der Pulverrauch. Lützows wilde Jagd.Es folgt die Reinschrift der Erzählung ›Der Heizer‹, ohne Titel. Siehe ›Amerika‹, 1. Kapitel.


 << zurück weiter >>