Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

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Aufzeichnungen aus dem Jahre 1914

 

Rundlauf durchs Haus veranstaltete, selbst, statt zu schlafen, das Haus durchlärmte (die Schritte der bloßen Kinderfüße waren neben meinen schweren Stiefeln kaum zu hören) und nicht einmal wußte, was sich noch als Folge alles dessen ergeben sollte.

Plötzlich leuchtete es hell auf. In einem vor uns sich öffnenden Zimmer mit einigen weit offenen Fenstern saß bei einem Tisch eine zarte Frau und schrieb beim Licht einer großen schönen Stehlampe. »Kinder!« rief sie erstaunt, mich sah sie noch nicht, ich blieb vor der Tür im Schatten. Die Kinder stellten den Hund auf den Tisch, sie liebten die Frau wohl sehr, immerfort suchten sie ihr in die Augen zu sehn, ein Mädchen ergriff ihre Hand und streichelte sie, sie ließ es geschehn und merkte es kaum. Der Hund stand vor ihr auf dem Briefbogen, auf dem sie eben geschrieben hatte, und streckte ihr seine zitternde kleine Zunge entgegen, die man knapp vor dem Lampenschirm deutlich sah. Die Kinder baten nun, hierbleiben zu dürfen, und suchten der Frau eine Zustimmung abzuschmeicheln. Die Frau war unentschlossen, erhob sich, streckte die Arme aus, zeigte auf das eine Bett und den harten Boden. Die Kinder wollten das nicht gelten lassen und legten sich zur Probe auf den Boden nieder, wo sie gerade standen; ein Weilchen lang war alles still. Die Frau blickte lächelnd, die Hände im Schoß gefaltet, auf die Kinder nieder. Hie und da hob ein Kind den Kopf, aber da es auch noch die andern liegen sah, legte es sich wieder zurück.

 

Ich kam an einem Abend etwas später als sonst aus dem Bureau nach Hause – ein Bekannter hatte mich unten vor dem Haustor lange aufgehalten – und öffnete noch in Gedanken an das Gespräch, das sich hauptsächlich um Standesfragen gedreht hatte, mein Zimmer, hing den Überrock an den Haken und wollte zum Waschtisch gehn, da hörte ich fremde kurze Atemzüge. Ich sah auf und bemerkte auf der Höhe des tief in einen Winkel gestellten Ofens im Halbdunkel etwas Lebendiges. Gelblich glänzende Augen blickten mich an, unter dem unkenntlichen Gesicht lagen zu beiden Seiten große runde Frauenbrüste auf dem Gesimse des Ofens auf, das ganze Wesen schien nur aus aufgehäuftem weichem weißem Fleisch zu bestehn, ein dicker langer gelblicher Schwanz hing am Ofen herab, sein Ende strich fortwährend zwischen den Ritzen der Kacheln hin und her.

Das erste, was ich tat, war, daß ich mit großen Schritten und tief gesenktem Kopf – Narrheit! Narrheit! wiederholte ich leise wie ein Gebet – zu der Türe ging, die in die Wohnung meiner Vermieterin führte. Erst später bemerkte ich, daß ich ohne zu klopfen eingetreten war ... [bricht ab]

 

Es war um Mitternacht. Fünf Männer hielten mich, über sie hinweg hob ein sechster seine Hand, um mich zu fassen. »Los«, rief ich und drehte mich im Kreis, daß alle abfielen. Ich fühlte irgendwelche Gesetze herrschen, hatte bei der letzten Anstrengung gewußt, daß sie Erfolg haben werde, sah, wie alle Männer jetzt mit erhobenen Armen zurückflogen, erkannte, daß sie im nächsten Augenblick alle gemeinsam gegen mich stürzen müßten, drehte mich zum Haustor um – ich stand knapp davor –, öffnete das förmlich freiwillig und in ungewöhnlicher Eile aufspringende Schloß und entwich die dunkle Treppe hinauf.

Oben im letzten Stock stand in der offenen Wohnungstür meine alte Mutter mit einer Kerze in der Hand. »Gib acht, gib acht«, rief ich schon vom vorletzten Stockwerk hinauf, »sie verfolgen mich.«

»Wer denn? Wer denn?« fragte meine Mutter. »Wer könnte dich denn verfolgen, mein Junge.«

»Sechs Männer«, sagte ich atemlos.

»Kennst du sie?« fragte die Mutter.

»Nein, fremde Männer«, sagte ich.

»Wie sehn sie denn aus?«

»Ich habe sie ja kaum gesehn. Einer hat einen schwarzen Vollbart, einer einen großen Ring am Finger, einer hat einen roten Gürtel, einer hat die Hosen an den Knien zerrissen, einer hat nur ein Auge offen und der letzte zeigt die Zähne.«

»Jetzt denke nicht mehr daran«, sagte die Mutter, »geh in dein Zimmer, lege dich schlafen, ich habe aufgebettet.« Die Mutter, diese alte Frau, schon unangreifbar vom Lebendigen, mit einem listigen Zug um den bewußtlos achtzigjährige Narrheiten wiederholenden Mund. »Jetzt schlafen?« rief ich ... [bricht ab]

 

12. Juni. Kubin. Gelbliches Gesicht, flach über den Schädel gelagertes weniges Haar, von Zeit zu Zeit angestachelter Glanz in den Augen.

Wolfskehl, halb blind, Netzhautablösung, muß sich vor Fall oder Stoß hüten, sonst kann die Linse herausfallen, dann ist alles zu Ende. Muß das Buch beim Lesen knapp an die Augen halten und aus dem Augenwinkel die Buchstaben zu erhaschen suchen. War mit Melchior Lechter in Indien, erkrankte an Dysenterie, ißt alles, jedes Obst, das er auf der Straße im Staub liegen sieht.

P. hat einer Leiche einen silbernen Keuschheitsgürtel abgesägt, hat die Arbeiter, welche sie ausgegraben haben, irgendwo in Rumänien, beiseite geschoben, hat sie mit der Bemerkung beruhigt, daß er hier eine wertvolle Kleinigkeit sehe, die er sich als Andenken mitnehmen wolle, hat den Gürtel aufgesägt und vom Gerippe heruntergerissen. Findet er in einer Dorfkirche eine wertvolle Bibel oder ein Bild oder ein Blatt, das er haben will, so reißt er, was er will, aus den Büchern, von den Wänden, vom Altar, legt als Gegengabe ein Zweihellerstück hin und ist beruhigt. – Liebe zu dicken Weibern. Jede Frau, die er hatte, wird photographiert. Stoß von Photographien, den er jedem Besucher zeigt. Sitzt in der einen Sofaecke, der Besucher, von ihm weit entfernt, in der andern. P. sieht kaum hin und weiß doch immer, welche Photographie an der Reihe ist und gibt danach seine Erklärungen: Das war eine alte Witwe, das waren die zwei ungarischen Dienstmädchen usw. – Über Kubin: »Ja, Meister Kubin, Sie sind ja im Aufschwung, in zehn bis zwanzig Jahren können Sie, wenn es so anhält, eine Stellung wie Bayros haben.«Die Ironie liegt darin, daß P. ahnungslos den bedeutenden Zeichner Alfred Kubin mit dem Illustrator pornographischer Bücher vergleicht, der damals unter dem Namen ›Marquis Bayros‹ eine Zeitlang in Mode war.

 

Brief Dostojewskis an eine Malerin.

Das gesellschaftliche Leben geht im Kreis vor sich. Nur die mit einem bestimmten Leiden Behafteten verstehn einander. Sie bilden kraft der Natur ihres Leidens einen Kreis und unterstützen einander. Sie gleiten an den innern Rändern ihres Kreises entlang, lassen einander den Vorrang oder schieben im Gedränge einer sanft den andern. Jeder spricht dem andern zu, in der Hoffnung einer Rückwirkung auf sich oder, dann geschieht es leidenschaftlich, im unmittelbaren Genuß dieser Rückwirkung. Jeder hat nur die Erfahrung, die ihm sein Leiden gestattet, trotzdem hört man unter solchen Genossen den Austausch ungeheuerlich verschiedenartiger Erfahrungen. »Du bist so«, sagt einer zum andern, »statt zu klagen, danke Gott dafür, daß du so bist, denn wärst du nicht so, dann wärest du in diesem oder jenem Unglück, in dieser oder jener Schande.« Woher weiß das nun dieser Mann? Er gehört doch, das verrät dieser Ausspruch, zu dem gleichen Kreis wie der Angesprochene, seine Trostbedürftigkeit ist gleicher Art. Im gleichen Kreis weiß man aber immer das gleiche.Es gibt nicht den Hauch eines Gedankens, den der Tröstende vor dem Getrösteten voraus hätte. Ihre Gespräche sind daher nur Vereinigungen der Einbildungskraft, Übergüsse der Wünsche von einem auf den andern. Einmal sieht der eine zu Boden und der andere einem Vogel nach, in solchen Unterschieden spielt sich ihr Verkehr ab. Einmal einigen sie sich im Glauben und sehen beide Kopf an Kopf in unendliche Richtungen der Höhe. Erkenntnis ihrer Lage zeigt sich aber nur dann, wenn sie gemeinsam die Köpfe senken und der gemeinsame Hammer auf sie niedergeht.

 

14. Juni. Mein ruhiger Gang, während es um den Kopf zuckt und ein über den Kopf schwach schleifender Ast mir das ärgste Unbehagen macht. Ich habe die Ruhe, ich habe die Sicherheit anderer Menschen in mir, aber irgendwie am verkehrten Ende.

 

19. Juni. Die Aufregungen der letzten Tage. Die Ruhe, die von Dr. W. auf mich übergeht. Die Sorgen, die er für mich trägt. Wie sie heute früh, als ich um vier Uhr nach festem Schlafe aufwachte, in mich übersiedelten. Pištĕkovo divadlo.Name eines Theaters in einer Vorstadt Prags. Löwenstein. Jetzt der grobe aufregende Roman von Soyka. Angst. Überzeugung der Notwendigkeit von F.

 

Wie wir uns, Ottla und ich, austoben in Wut gegen Menschenverbindungen.

 

Das Grab der Eltern, in dem auch der Sohn (Pollak, Handelsakademiker) begraben ist.Auch hierin könnte man eine merkwürdige Vorahnung sehen, da Kafka im gemeinsamen Grabe mit seinen Eltern beerdigt wurde.

 

25. Juni. Vom frühen Morgen an bis jetzt zur Dämmerung ging ich in meinem Zimmer auf und ab. Das Fenster war offen, es war ein warmer Tag. Der Lärm der engen Gasse trieb ununterbrochen herein. Ich kannte schon jede Kleinigkeit im Zimmer durch das Anschauen während meines Rundganges. Alle Wände hatte ich mit den Blicken abgestreift. Dem Muster des Teppichs und seinen Altersspuren war ich bis in die letzten Verzweigungen nachgegangen. Den Tisch in der Mitte hatte ich vielemal mit Fingerspannen abgemessen. Zum Bild des verstorbenen Mannes meiner Wirtin hatte ich schon die Zähne oft gefletscht. Gegen Abend trat ich zum Fenster und setzte mich auf die niedrige Brüstung. Da blickte ich zufällig zum erstenmal ruhig von einem Platz in das Innere des Zimmers und zur Decke auf. Endlich, endlich begann, wenn ich mich nicht täuschte, dieses so vielfach von mir erschütterte Zimmer sich zu rühren. An den Rändern der weißen, mit schwacher Gipsverzierung umzogenen Decke begann es. Kleine Mörtelstücke lösten sich los und fielen wie zufällig, hie und da mit bestimmtem Schlag, zu Boden. Ich streckte die Hand aus, und auch in meine Hand fielen einige, ich warf sie, ohne mich in meiner Spannung auch nur umzudrehn, über meinen Kopf hinweg in die Gasse. Die Bruchstellen oben hatten noch keinen Zusammenhang, aber man konnte ihn sich immerhin schon irgendwie bilden. Aber ich ließ von solchen Spielen ab, als sich jetzt dem Weiß ein bläuliches Violett beizumischen begann, es ging von dem weiß bleibenden, ja geradezu weiß erstrahlenden Mittelpunkt der Decke aus, in welchen knapp oben die armselige Glühlampe eingesteckt war. Immer wieder in Stößen drängte sich die Farbe, oder war es ein Licht, gegen den sich jetzt verdunkelnden Rand hin. Man achtete gar nicht mehr auf den fallenden Mörtel, der wie unter dem Druck eines sehr genau geführten Werkzeugs absprang. Da drängten in das Violett von den Seiten her gelbe, goldgelbe Farben. Die Zimmerdecke färbte sich aber nicht eigentlich, die Farben machten sie nur irgendwie durchsichtig, über ihr schienen Dinge zu schweben, die durchbrechen wollten, man sah schon fast das Treiben dort in Umrissen, ein Arm streckte sich aus, ein silbernes Schwert schwebte auf und ab. Es galt mir, das war kein Zweifel; eine Erscheinung, die mich befreien sollte, bereitete sich vor. Ich sprang auf den Tisch, um alles vorzubereiten, riß die Glühlampe samt ihrem Messingstab heraus und schleuderte sie auf den Boden, sprang dann hinunter und stieß den Tisch aus der Mitte des Zimmers zur Wand hin. Das, was kommen wollte, konnte sich ruhig auf den Teppich niederlassen und mir melden, was es zu melden hatte. Kaum war ich fertig, brach die Decke wirklich auf. Noch aus großer Höhe, ich hatte sie schlecht eingeschätzt, senkte sich im Halbdunkel langsam ein Engel in bläulich violetten Tüchern, umwickelt mit goldenen Schnüren, auf großen, weißen, seidig glänzenden Flügeln herab, das Schwert im erhobenen Arm waagrecht ausgestreckt. ›Also ein Engel!‹ dachte ich, ›den ganzen Tag fliegt er auf mich zu, und ich in meinem Unglauben wußte es nicht. Jetzt wird er zu mir sprechen.‹ Ich senkte den Blick. Aber als ich ihn wieder hob, war zwar noch der Engel da, hing ziemlich tief unter der Decke, die sich wieder geschlossen hatte, war aber kein lebendiger Engel, sondern nur eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen an der Decke hängen. Nichts weiter. Der Knauf des Schwertes war dazu eingerichtet, Kerzen zu halten und den fließenden Talg aufzunehmen. Die Glühlampe hatte ich heruntergerissen, im Dunkel wollte ich nicht bleiben, eine Kerze fand sich noch, so stieg ich also auf einen Sessel, steckte die Kerze in den Schwertknauf, zündete sie an und saß dann noch bis in die Nacht hinein unter dem schwachen Licht des Engels.

 

30. Juni. Hellerau. Leipzig mit Pick. Ich habe mich schrecklich aufgeführt. Konnte nicht fragen, nicht antworten, nicht mich bewegen, knapp noch in die Augen sehn. Mann, der für den Flottenverein wirbt, das dicke wurstessende Paar Thomas, bei dem wir wohnen, Prescher, der uns hinführt, Frau Thomas, Hegner, Fantl und Frau, Adler, Frau und Kind Anneliese, Frau Dr. K., Fräulein P., die Schwester der Frau Fand, K., Mendelssohn (Kind des Bruders, Alpinum, Engerlinge, Fichtennadelbad), Waldschenke, ›Natura‹, Wolff, Haas, Vorlesung von ›Narciß‹ im Garten von Adler, Besichtigung des Dalcrozehauses, Abend in der Waldschenke, Bugra – Schrecken über Schrecken.

Mißlungenes: Nichtfinden der ›Natura‹, Ablaufen der Struvestraße; falsche Elektrische nach Hellerau, kein Zimmer in der Waldschenke; vergessen, daß ich mich von E. dort antelephonieren lassen will, daher Umkehr; Fantl nicht mehr getroffen; Dalcroze in Genf; nächsten Morgen zu spät in die Waldschenke gekommen (F. hat nutzlos telephoniert); Entschluß, nicht nach Berlin, sondern nach Leipzig zu fahren; sinnlose Fahrt; irrtümlicherweise Personenzug; Wolff fährt gerade nach Berlin; Lasker-Schüler belegt Werfel; sinnloser Besuch der Ausstellung; schließlich zum Abschluß im ›Arco‹ ganz sinnlos Pick um eine alte Schuld gemahnt.

1.Juli. Zu müde.

 

5. Juli. Solche Leiden tragen müssen und verursachen!

 

23. Juli. Der Gerichtshof im Hotel. Die Fahrt in der Droschke. Das Gesicht F.s. Sie fährt mit den Händen in die Haare, gähnt. Rafft sich plötzlich auf und sagt gut Durchdachtes, lange Bewahrtes, Feindseliges. Der Rückweg mit Fräulein Bl. Das Zimmer im Hotel, die von der gegenüberliegenden Mauer reflektierte Hitze. Auch von den sich wölbenden Seitenmauern, die das tiefliegende Zimmerfenster einschließen, kommt Hitze. Überdies Nachmittagssonne. Der bewegliche Diener, fast ostjüdisch. Lärm im Hof, wie in einer Maschinenfabrik. Schlechte Gerüche. Die Wanze. Schwerer Entschluß, sie zu zerdrücken. Stubenmädchen staunt: es sind nirgends Wanzen, nur einmal hat ein Gast auf dem Korridor eine gefunden.

Bei den Eltern. Vereinzelte Tränen der Mutter. Ich sage die Lektion auf. Der Vater erfaßt es richtig von allen Seiten. Kam eigens meinetwegen von Malmö, Nachtreise, sitzt in Hemdärmeln. Sie geben mir recht, es läßt sich nichts oder nicht viel gegen mich sagen. Teuflisch in aller Unschuld. Scheinbare Schuld des Fräulein Bl.

Abends allein auf einem Sessel unter den Linden. Leibschmerzen. Trauriger Kontrolleur. Stellt sich vor die Leute, dreht die Zettel in der Hand und läßt sich nur durch Bezahlung fortschaffen. Verwaltet sein Amt trotz aller scheinbaren Schwerfälligkeit sehr richtig, man kann bei solcher Dauerarbeit nicht hin- und herfliegen, auch muß er sich die Leute zu merken versuchen. Beim Anblick solcher Leute immer diese Überlegungen: Wie kam er zu dem Amt, wie wird er bezahlt, wo wird er morgen sein, was erwartet ihn im Alter, wo wohnt er, in welchem Winkel streckt er vor dem Schlaf die Arme, könnte ich es auch leisten, wie wäre mir zumute? Alles unter Leibschmerzen. Schreckliche, schwer durchlittene Nacht. Und doch fast keine Erinnerung an sie.

Im Restaurant Belvedere, an der Stralauer Brücke mit E. Sie hofft noch auf einen guten Ausgang oder tut so. Wein getrunken. Tränen in ihren Augen. Schiffe gehn nach Grünau, nach Schwertau ab. Viele Menschen. Musik. E. tröstet mich, ohne daß ich traurig bin, das heißt ich bin bloß über mich traurig und darin trostlos. Schenkt mir ›Gotische Zimmer‹. Erzählt viel (ich weiß nichts). Besonders wie sie sich im Geschäft durchsetzt gegenüber einer alten giftigen weißhaarigen Kollegin. Sie wollte am liebsten von Berlin weg, selbst ein Unternehmen haben. Sie liebt die Ruhe. Als sie in Sebnitz war, hat sie öfters den Sonntag durchgeschlafen. Kann auch lustig sein. – Auf dem andern Ufer Marinehaus. Dort hatte schon der Bruder eine Wohnung gemietet.

Warum haben mir die Eltern und die Tante so nachgewinkt? Warum saß F. im Hotel und rührte sich nicht, trotzdem alles schon klar war? Warum telegraphierte sie mir: »Erwarte dich, muß aber Dienstag geschäftlich verreisen.« Wurden von mir Leistungen erwartet? Nichts wäre natürlicher gewesen. Von nichts (unterbrochen von Dr. Weiß, der ans Fenster tritt) ... [bricht ab]

 

27. Juli. Nächsten Tag zu den Eltern nicht mehr gegangen. Nur Radler mit Abschiedsbrief geschickt. Brief unehrlich und kokett. »Behaltet mich nicht in schlechtem Angedenken.« Ansprache vom Richtplatz.

Zweimal in der Schwimmschule am Stralauer Ufer gewesen. Viele Juden. Bläuliche Gesichter, starke Körper, wildes Laufen. Abend im Garten des ›Askanischen Hofes‹. Gegessen Reis à la Trautmannsdorf und einen Pfirsich. Ein Weintrinker beobachtet mich, wie ich den kleinen unreifen Pfirsich mit dem Messer zu zerschneiden versuche. Es gelingt nicht. Aus Scham lasse ich unter den Blicken des Alten vom Pfirsich überhaupt ab und durchblättere zehnmal die ›Fliegenden Blätter‹. Ich warte ab, ob er sich nicht doch abwenden wird. Endlich nehme ich alle Kraft zusammen und beiße ihm zu Trotz in den ganz saftlosen teuren Pfirsich. In der Laube neben mir ein großer Herr, der sich um nichts kümmert als um den Braten, den er sorgfältig aussucht, und um den Wein im Eiskübel. Endlich zündet er sich eine große Zigarre an, ich beobachte ihn über meine ›Fliegenden Blätter‹ hinweg.

Abfahrt vom Lehrter Bahnhof. Der Schwede in Hemdärmeln. Das starke Mädchen mit vielen silbernen Armreifen. Umsteigen in Buchen in der Nacht. Lübeck. Schreckliches Hotel Schützenhaus. Überfüllte Wände, schmutzige Wäsche unter dem Leintuch, verlassenes Haus, ein Pikkolo ist die einzige Bedienung. Aus Furcht vor dem Zimmer gehe ich noch in den Garten und sitze dort bei einer Flasche Harzer Sauerbrunn. Mit gegenüber beim Bier ein Buckliger und ein magerer blutleerer junger Mensch, der raucht. Doch geschlafen, aber bald von der Sonne geweckt, die durch das große Fenster geradeaus mir ins Gesicht scheint. Fenster führt auf den Bahnkörper, unaufhörlich Lärm der Züge. Erlösung und Glück nach der Übersiedlung ins Hotel Kaiserhof an der Trave.

Fahrt nach Travemünde. Bad – Familienbad. Anblick des Strandes. Nachmittag im Sand. Durch die nackten Füße als unanständig aufgefallen. Neben mir der scheinbare Amerikaner. Statt zu Mittag zu essen, an allen Pensionen und Restaurationen vorübergegangen. In der Allee vor dem Kurhaus gesessen und der Tafelmusik zugehört.

In Lübeck Spaziergang auf dem Wall. Trauriger verlassener Mann auf einer Bank. Leben auf dem Sportplatz. Stiller Platz, Menschen vor allen Türen auf Stufen und Steinen. Morgen vom Fenster aus. Ausladen der Hölzer aus einem Segelboot. Dr. W. am Bahnhof.Diese kurze Reise nach der Entlobung machte Kafka mit Ernst Weiß und dessen Freundin. Nicht mehr aufhörende Ähnlichkeit mit Löwy. Entschlußunfähigkeit wegen Gleschendorf. Essen in der Hansa-Meierei. »Errötende Jungfrau.« Einkaufen des Nachtmahls. Telephonisches Gespräch mit Gleschendorf. Fahrt nach Marienlyst. Trajekt. Geheimnisvolles Verschwinden eines jungen Mannes mit Regenmantel und Hut und geheimnisvolles Wiederauftauchen bei der Fahrt im Wagen von Vaggerloese nach Marienlyst.

 

28. Juli. Verzweifelter erster Eindruck der Einöde, des elenden Hauses, des schlechten Essens ohne Obst und Gemüse, der Streitigkeiten zwischen W. und H. Entschluß, nächsten Tag wegzufahren. Kündigung. Bleibe doch. Vorlesung des ›Überfall‹, meine Unfähigkeit, zuzuhören, mitzugenießen, zu urteilen. Die Rede-Improvisationen des W. Für mich Unerreichbares. Der Mann, der mitten im Garten schreibt, dickes Gesicht, schwarzäugig, gefettetes langes, glatt zurückgestrichenes Haar. Starre Blicke, Augenzwinkern rechts und links. Die Kinder, unbeteiligt, sitzen wie Fliegen um seinen Tisch. – Meine Unfähigkeit, zu denken, zu beobachten, festzustellen, mich zu erinnern, zu reden, mitzuerleben wird immer größer, ich versteinere, ich muß das feststellen. Meine Unfähigkeit wird sogar im Bureau größer. Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren. Weiß ich das so deutlich, als es ist? Ich verkrieche mich vor Menschen nicht deshalb, weil ich ruhig leben, sondern weil ich ruhig zugrunde gehen will. Ich denke an die Strecke, die wir, E. und ich, von der Elektrischen zum Lehrter Bahnhof gingen. Keiner sprach, ich dachte an nichts anderes, als daß jeder Schritt ein Gewinn für mich sei. Und E. ist lieb zu mir; glaubt sogar unbegreiflicherweise an mich, trotzdem sie mich vor dem Gericht gesehen hat; ich fühle sogar hie und da die Wirkung dieses Glaubens an mich, ohne diesem Gefühl allerdings ganz zu glauben. Das erste Leben, das seit vielen Monaten Menschen gegenüber in mir war, fühlte ich der Schweizerin im Coupé gegenüber, bei der Rückfahrt von Berlin. Sie erinnerte an G. W. Einmal rief sie sogar: Kinder! – Kopfschmerzen hatte sie, so plagte sie das Blut. Häßlicher ungepflegter kleiner Körper, schlechtes billiges Kleid aus einem Pariser Warenhaus, Sommersprossen im Gesicht. Aber kleine Füße, ein trotz Schwerfälligkeit infolge seiner Kleinheit ganz beherrschter Körper, runde feste Wangen, lebendiger, nie verlöschender Blick.

Das jüdische Ehepaar, das neben mir wohnte. Junge Leute, beide schüchtern und bescheiden, ihre große Hakennase und der schlanke Leib, er schielte ein wenig, war blaß, untersetzt und breit, in der Nacht hustete er ein wenig. Sie gingen oft hintereinander. Blick auf das zerworfene Bett in ihrem Zimmer.

Dänisches Ehepaar. Er oft sehr korrekt im Jackett, sie braungebrannt, schwaches, aber grob gefugtes Gesicht. Schweigen viel, sitzen manchmal nebeneinander, die Gesichter schief nebeneinander gestellt wie auf Gemmen.

Der freche schöne Junge. Raucht immer Zigaretten. Sieht H. frech, herausfordernd, bewundernd, spöttisch und verächtlich an, alles in einem Blick. Manchmal beachtet er sie überhaupt nicht. Verlangt ihr stumm eine Zigarette ab. Bietet ihr nächstens von der Ferne eine an. Hat zerrissene Hosen. Will man ihn durchprügeln, so muß man es in diesem Sommer tun, im nächsten prügelt er schon selbst. Faßt alle Stubenmädchen streichelnd am Arm, aber nicht demütig, nicht verlegen, sondern wie irgendein Leutnant, der mit Rücksicht auf seine vorläufige Kindsgestalt in manchem mehr wagen kann als später. Wie er beim Essen einer Puppe den Kopf mit dem Messer abzuhacken droht.

Lancier. Vier Paare. Bei Lampenlicht und Grammophonspiel im großen Saal. Nach jeder Figur eilt ein Tänzer zum Grammophon und legt eine neue Platte ein. Insbesondere von Seiten der Herren korrekt, leicht und ernsthaft ausgeführter Tanz. Der Lustige, Rotbackige, Weltmännische, dessen sich wölbendes steifes Hemd seine breite hohe Brust noch höher machte – der Unbekümmerte, Bleiche, über allen Stehende, mit allen Spaßende; Bauchansatz; helles schlotterndes Kleid; viele Sprachen; las die ›Zukunft‹ – der kolossale Vater der kropfigen, fauchenden Familie, die man an ihrem schweren Atem und den Kinderbäuchen erkannte; er saß mit seiner Frau (mit der er sehr galant tanzte) demonstrativ am Kindertisch, an dem er allerdings mit seiner Familie am stärksten beteiligt war. Der Korrekte, Reinliche, Vertrauenswürdige, dessen Gesicht vor lauter Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit und Männlichkeit fast verdrießlich aussah. Spielte Klavier. Der riesige Deutsche mit Schmissen im viereckigen Gesicht, dessen wulstige Lippen beim Reden sich so friedlich aneinanderlegten. Seine Frau, nordisches, hartes und freundliches Gesicht, betonter schöner Gang, betonte Freiheit der sich wiegenden Hüften. Frau aus Lübeck mit glänzenden Augen. Drei Kinder, darunter Georg, der, sinnlos wie etwa ein Schmetterling, sich bei ganz fremden Leuten niederläßt. Dann fragt er in kindischer Gesprächigkeit etwas Sinnloses. Wir sitzen zum Beispiel und korrigieren den ›Kampf‹. Plötzlich erscheint er und fragt selbstverständlich, vertrauensvoll und laut, wo die andern Kinder hingelaufen sind. – Der steife alte Herr, der zeigt, wie die edlen nordischen Langköpfe im Alter aussehn. Verdorben und unkenntlich, wenn nicht-wieder schöne junge Langköpfe hier herumliefen.

 

29. Juli. Die zwei Freunde, der eine blond, Richard Strauss ähnlich, lächelnd, zurückhaltend, gewandt, der andere dunkel, korrekt angezogen, sanft und fest, allzu geschmeidig, lispelt, beide genießerisch, trinken immerfort Wein, Kaffee, Bier, Schnaps, rauchen ununterbrochen, einer gießt dem andern ein, ihr Zimmer dem meinigen gegenüber, voll französischer Bücher, schreiben viel bei schönem Wetter im dumpfen Schreibzimmer.

Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns, ging eines Abends nach einem großen Streit, den er mit seinem Vater gehabt hatte – der Vater hatte ihm sein liederliches Leben vorgeworfen und dessen sofortige Einstellung verlangt –, ohne eine bestimmte Absicht, nur in vollständiger Unsicherheit und Müdigkeit in das Haus der Kaufmannschaft, das von allen Seiten frei in der Nähe des Hafens stand. Der Türhüter verneigte sich tief. Josef sah ihn ohne Gruß flüchtig an. ›Diese stummen untergeordneten Personen machen alles, was man von ihnen voraussetzt‹, dachte er. ›Denke ich, daß er mich mit unpassenden Blicken beobachtet, so tut er es wirklich.‹ Und er drehte sich nochmals, wieder ohne Gruß, nach dem Türhüter um; dieser wandte sich zur Straße und sah zum wolkenbedeckten Himmel auf.

Ich war ganz ratlos. Noch vor einem Weilchen hatte ich gewußt, was zu tun war. Der Chef hatte mich mit ausgestreckter Hand bis zur Tür des Geschäftes gedrängt. Hinter den zwei Pulten standen meine Kollegen, angebliche Freunde, die grauen Gesichter ins Dunkel gesenkt, um den Gesichtsausdruck zu verbergen.

»Hinaus«, rief der Chef, »Dieb! Hinaus! Ich sage: Hinaus!« – »Es ist nicht wahr«, rief ich zum hundertsten Male, »ich habe nicht gestohlen! Es ist ein Irrtum oder eine Verleumdung! Rühren Sie mich nicht an! Ich werde Sie klagen! Es gibt noch Gerichte! Ich gehe nicht! Fünf Jahre habe ich Ihnen gedient wie ein Sohn und jetzt werde ich als Dieb behandelt. Ich habe nicht gestohlen, hören Sie doch um Himmels willen, ich habe nicht gestohlen.«

»Kein Wort mehr«, sagte der Chef. »Sie gehn!« Wir waren schon bei der Glastür, ein Lehrjunge, der früher hinausgelaufen war, öffnete sie eilig, das eindringende Geräusch der allerdings abgelegenen Straße machte mich den Tatsachen zugänglicher, ich blieb in der Tür stehn, die Ellbogen in den Hüften und sagte nur, bei aller Atemlosigkeit möglichst ruhig: »Ich will meinen Hut.«

»Den sollen Sie haben«, sagte der Chef, ging ein paar Schritte zurück, nahm den Hut von dem Kommis Grasmann, der sich über das Pult geschwungen hatte, entgegen, wollte ihn mir zuwerfen, verfehlte aber die Richtung, warf auch mit zu großer Kraft, so daß der Hut an mir vorüber auf die Fahrbahn flog.

»Der Hut gehört jetzt Ihnen«, sagte ich und ging auf die Straße hinaus. Und nun war ich ratlos. Ich hatte gestohlen, hatte aus der Ladenkasse einen Fünf-Guldenschein gezogen, um abends mit Sophie ins Theater gehn zu können. Sie wollte gar nicht ins Theater gehn, in drei Tagen war Gehaltsauszahlung, dann hätte ich eigenes Geld gehabt, außerdem hatte ich den Diebstahl unsinnig ausgeführt, bei hellem Tag, neben dem Glasfenster des Kontors, hinter dem der Chef saß und mir zusah. »Dieb!« schrie er und sprang aus dem Kontor. »Ich habe nicht gestohlen«, war mein erstes Wort, aber die Fünfguldennote war in meiner Hand und die Kassa war offen.

 

Notizen über die Reise in ein anderes Heft eingetragen. Mißlungene Arbeiten angefangen. Ich gebe aber nicht nach, trotz Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, allgemeiner Unfähigkeit. Es ist die letzte Lebenskraft, die sich in mir dazu gesammelt hat. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß ich nicht deshalb den Menschen ausweiche, um ruhig zu leben, sondern um ruhig sterben zu können. Nun werde ich mich aber wehren. Einen Monat während der Abwesenheit meines Chefs habe ich Zeit.

 

30. Juli. Ich hatte, müde des Dienens in fremden Geschäften, ein eigenes kleines Papiergeschäft eröffnet. Da meine Mittel nur klein waren und ich fast alles bar bezahlen mußte... [bricht ab]

 

Ich suchte Rat, ich war nicht eigensinnig. Es war nicht Eigensinn, wenn ich jemanden, der mir ohne es zu wissen etwas riet, still mit krampfhaft verzogenem Gesicht und von Hitze glänzenden Wangen anlachte. Es war Spannung, Aufnahmebereitschaft, krankhaftes Fehlen des Eigensinns.

 

Der Direktor der Versicherungsgesellschaft ›Fortschritt‹ war immer mit seinen Beamten äußerst unzufrieden. Nun ist jeder Direktor mit seinen Beamten unzufrieden, der Unterschied zwischen Beamten und Direktoren ist zu groß, als daß er sich durch bloße Befehle von Seiten des Direktors und durch bloßes Gehorchen von Seiten der Beamten ausgleichen ließe. Erst der beiderseitige Haß bewirkt den Ausgleich und rundet das ganze Unternehmen ab.

 

Bauz, der Direktor der Versicherungsgesellschaft ›Fortschritt‹, sah den Mann, der vor seinem Schreibtisch stand und sich um eine Dienerstelle bei der Gesellschaft bewarb, zweifelnd an. Hie und da las er auch in den Papieren des Mannes, die vor ihm auf dem Tische lagen.

»Lang sind Sie ja«, sagte er, »das sieht man, aber was sind Sie wert? Bei uns müssen die Diener mehr können als Marken lecken, und gerade das müssen sie bei uns nicht können, weil solche Sachen bei uns automatisch gemacht werden. Bei uns sind die Diener halbe Beamte, sie haben verantwortungsvolle Arbeit zu leisten, fühlen Sie sich dem gewachsen? Sie haben eine eigentümliche Kopfbildung. Wie Ihre Stirn zurücktritt. Sonderbar. Welches war denn Ihr letzter Posten? Wie? Sie haben seit einem Jahr nichts gearbeitet? Warum denn? Wegen Lungenentzündung? So? Nun, das ist nicht sehr empfehlend, wie? Wir können nur gesunde Leute brauchen. Ehe Sie aufgenommen werden, müssen Sie vom Arzt untersucht werden. Sie sind schon gesund? So? Gewiß, das ist ja möglich. Wenn Sie nur lauter reden würden! Sie machen mich ganz nervös mit Ihrem Lispeln. Hier sehe ich auch, daß Sie verheiratet sind, vier Kinder haben. Und seit einem Jahr haben Sie nichts gearbeitet! Ja, Mensch! Ihre Frau ist Wäscherin? So. Nun ja. Da Sie jetzt schon einmal hier sind, lassen Sie sich gleich vom Arzt untersuchen, der Diener wird Sie hinführen. Daraus dürfen Sie aber nicht schließen, daß Sie angenommen werden, selbst wenn das Gutachten des Arztes günstig ist. Durchaus nicht. Eine schriftliche Verständigung bekommen Sie jedenfalls. Um aufrichtig zu sein, will ich Ihnen gleich sagen: Sie gefallen mir gar nicht. Wir brauchen ganz andere Diener. Lassen Sie sich aber jedenfalls untersuchen. Gehn Sie nur schon, gehn Sie. Hier hilft kein Bitten. Ich bin nicht berechtigt, Gnaden auszuteilen. Sie wollen jede Arbeit leisten. Gewiß. Das will jeder. Das ist keine besondere Auszeichnung. Es zeigt nur, wie tief Sie sich einschätzen. Und nun sage ich zum letzten Male: Gehn Sie und halten Sie mich nicht länger auf. Es ist wahrhaftig genug.«

Bauz mußte mit der Hand auf den Tisch schlagen, ehe der Mann sich vom Diener aus dem Direktionszimmer hinausziehn ließ.

 

Die letzten Tagebucheintragungen, die hier abgedruckt sind (ab 16. Februar 1914) sind zwei Quartheften entnommen, in die Kafka seine Notizen alternierend, ohne pedantische Ordnung einschrieb. Der Herausgeber hat die Reihenfolge nach den Angaben des Datums bestimmt, unter denen die einzelnen Absätze eingetragen sind. Dabei mußte er öfters aus dem einen Quartheft ins andere übergehen. Nun schließt sich aber die Eintragung vom 31. Juli, die mit den Worten beginnt: »Ich habe keine Zeit«, in dem einen der beiden Hefte unmittelbar an die Eintragung vom 29. Juli an, die mit den Worten schließt: »... habe ich Zeit.« Dem Datum (und auch der noch vergleichsweise ruhigen Stimmung) gemäß mußten die Eintragungen vom 30. Juli aus dem anderen Heft hier zwischengeschoben werden – daher sei hier anmerkungsweise auf den Zusammenhang der Notizen vom 29. Juni und 31. Juli hingewiesen. 31. Juli. Ich habe keine Zeit. Es ist allgemeine Mobilisierung. K. und P. sind einberufen. Jetzt bekomme ich den Lohn des Alleinseins. Es ist allerdings kaum ein Lohn, Alleinsein bringt nur Strafen. Immerhin, ich bin wenig berührt von allem Elend und entschlossener als jemals. Nachmittags werde ich in der Fabrik sein müssen, wohnen werde ich nicht zu Hause, denn E. mit den zwei Kindern übersiedelt zu uns. Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.

1. August. K. zur Bahn begleitet. Im Bureau die Verwandten rund herum. Lust zu Valli zu fahren.

 

2. August. Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.

 

3. August. Allein in der Wohnung meiner Schwester. Sie liegt tiefer als mein Zimmer, es ist auch eine abseits gelegene Gasse, daher lautes Gerede der Nachbarn unten vor den Türen. Auch Pfeifen. Sonst vollendete Einsamkeit. Keine ersehnte Ehefrau öffnet die Tür. In einem Monat hätte ich heiraten sollen. Ein schmerzhaftes Wort: Wie du es wolltest, so hast du es. Man steht an der Wand schmerzhaft festgedrückt, senkt furchtsam den Blick, um die Hand zu sehn, die drückt, und erkennt mit einem neuen Schmerz, der den alten vergessen macht, die eigene verkrümmte Hand, die mit einer Kraft, die sie für gute Arbeit niemals hatte, dich hält. Man hebt den Kopf, fühlt wieder den ersten Schmerz, senkt wieder den Blick und hört mit diesem Auf und Ab nicht auf.

 

4. August. Ich habe dem Hausherrn, als ich die Wohnung für mich mietete, wahrscheinlich ein Schriftstück unterschrieben, in dem ich mich zu einer zweijährigen oder gar sechsjährigen Miete verpflichtet habe. Jetzt stellt er die Forderung aus diesem Vertrag. Die Dummheit, oder besser allgemeine und endgültige Wehrlosigkeit, die mein Verhalten zeitigt. In den Fluß gleiten. Dieses Gleiten kommt mir wahrscheinlich deshalb so wünschenswert vor, weil es mich an »geschoben werden« erinnert.

 

6. August. Die Artillerie, die über den Graben zog. Blumen, Heil- und Nazdarrufe.Tschechisch: Hochrufe. Das krampfhaft stille, erstaunte, aufmerksame schwarze und schwarzäugige Gesicht.

Ich bin zerrüttet, statt erholt. Ein leeres Gefäß, noch ganz und schon unter Scherben oder schon Scherbe und noch unter den Ganzen. Voll Lüge, Haß und Neid. Voll Unfähigkeit, Dummheit, Begriffsstutzigkeit. Voll Faulheit, Schwäche und Wehrlosigkeit. Einunddreißig Jahre alt. Ich sah die zwei Ökonomen auf Ottlas Bild. Junge frische Leute, die etwas wissen und kräftig genug sind, es mitten unter den notwendigerweise ein wenig Widerstand leistenden Menschen anzuwenden. – Einer führt die schönen Pferde, der andere liegt im Gras und läßt die Zungenspitze in dem sonst unbeweglichen und unbedingt vertrauenswürdigen Gesicht zwischen den Lippen spielen.

 

Ich entdecke in mir nichts als Kleinlichkeit, Entschlußunfähigkeit, Neid und Haß gegen die Kämpfenden, denen ich mit Leidenschaft alles Böse wünsche.

 

Von der Literatur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt, und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf, zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen. Nun ist aber meine Kraft für jene Darstellung ganz unberechenbar, vielleicht ist sie schon für immer verschwunden, vielleicht kommt sie doch noch einmal über mich, meine Lebensumstände sind ihr allerdings nicht günstig. So schwanke ich also, fliege unaufhörlich zur Spitze des Berges, kann mich aber kaum einen Augenblick oben erhalten. Andere schwanken auch, aber in untern Gegenden, mit stärkeren Kräften; drohen sie zu fallen, so fängt sie der Verwandte auf, der zu diesem Zweck neben ihnen geht. Ich aber schwanke dort oben, es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Sterbens.

 

Patriotischer Umzug. Rede des Bürgermeisters. Dann Verschwinden, dann Hervorkommen und der deutsche Ausruf: »Es lebe unser geliebter Monarch, hoch!« Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges. Ausgehend von jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind, es sich zwar eingestehen, niemals aber es so laut herausschreien dürfen wie jetzt. Natürlich reißen sie manchen mit. Organisiert war es gut. Es soll sich jeden Abend wiederholen, morgen Sonntag zweimal.

 

7. August. Man behandelt, selbst wenn man nicht die geringste sichtbare Fähigkeit zu individualisieren hat, doch jeden nach seiner Art. »L. aus Binz« streckt mir, um auf sich aufmerksam zu machen, den Stock entgegen und erschreckt mich.

Die festen Schritte auf der Schwimmschule. Gestern und heute vier Seiten geschrieben, schwer zu überbietende Geringfügigkeiten.

Der ungeheure Strindberg. Diese Wut, diese im Faustkampf erworbenen Seiten.

Chorgesang aus dem gegenüberliegenden Wirtshaus. – Gerade bin ich zum Fenster gegangen. Schlaf scheint unmöglich. Durch die offene Glashaustüre kommt der volle Gesang. Eine Mädchenstimme intoniert. Es sind unschuldige Liebeslieder. Ich ersehne einen Schutzmann. Gerade kommt er. Er bleibt ein Weilchen vor der Tür stehn und hört zu. Dann ruft er: »Der Wirt!« Die Mädchenstimme: »Vojtišku.«Tschechische Diminutivform für Adalbert. Aus einer Ecke springt ein Mann in Hose und Hemd. »Macht die Tür zu! Wer soll den Lärm anhören?« »O bitte, o bitte«, sagt der Wirt und mit zarten entgegenkommenden Bewegungen; als verhandle er mit einer Dame, schließt er zuerst die Tür hinter sich, öffnet sie dann, um hinauszuschlüpfen, und schließt sie wieder. Der Schutzmann (dessen Verhalten, insbesondere dessen Wut unbegreiflich ist, denn ihn kann der Gesang nicht stören, sondern nur seinen langweiligen Dienst versüßen) marschiert ab, die Sänger haben die Lust am Singen verloren.

 

11. August. Vorstellung, daß ich in Paris geblieben bin, Arm in Arm mit dem Onkel, eng an ihn gedrückt durch Paris gehe.

 

12. August. Gar nicht geschlafen. Nachmittag drei Stunden schlaflos und dumpf auf dem Kanapee gelegen, in der Nacht ähnlich. Es darf mich aber nicht hindern.

 

15. August. Ich schreibe seit ein paar Tagen, möchte es sich halten.Kafka begann damals den ›Prozeß‹-Roman. Zwei Jahre zuvor hatte er ›Das Urteil‹, Teile von ›Amerika‹, ›Die Verwandlung‹ geschrieben. So ganz geschützt und in die Arbeit eingekrochen, wie ich es vor zwei Jahren war, bin ich heute nicht, immerhin habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechtfertigung. Ich kann wieder ein Zwiegespräch mit mir fuhren und starre nicht so in vollständige Leere. Nur auf diesem Wege gibt es für mich eine Besserung.

Erinnerung an die Kaldabahn

Eine Zeit meines Lebens – es ist nun schon viele Jahre her – hatte ich eine Anstellung bei einer kleinen Bahn im Innern Rußlands. So verlassen wie dort bin ich niemals gewesen. Aus verschiedenen Gründen, die nicht hierhergehören, suchte ich damals einen solchen Ort, je mehr Einsamkeit mir um die Ohren schlug, desto lieber war es mir, und ich will also auch jetzt nicht darüber klagen. Nur Beschäftigung fehlte mir in der ersten Zeit.

Die kleine Bahn war ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden, das Kapital hatte aber nicht ausgereicht, der Bau kam ins Stocken und statt nach Kalda, dem nächsten, von uns fünf Tagreisen mit dem Wagen entfernten, größern Ort, zu führen, machte die Bahn bei einer kleinen Ansiedlung geradezu in einer Einöde halt, von wo noch eine ganze Tagereise nach Kalda nötig war. Nun hätte die Bahn, selbst wenn sie bis Kalda ausgedehnt worden wäre, noch für unabsehbare Zeiten unrentabel bleiben müssen, denn ihr ganzer Plan war verfehlt, das Land brauchte Straßen, aber keine Eisenbahnen, in dem Zustand jedoch, in dem sich die Bahn jetzt befand, konnte sie überhaupt nicht bestehn, die zwei Züge, die täglich verkehrten, führten Lasten mit sich, die ein leichter Wagen hätte transportieren können, und Passagiere waren nur ein paar Feldarbeiter im Sommer. Aber man wollte die Bahn doch nicht gänzlich eingehn lassen, denn man hoffte immer noch dadurch, daß man sie in Betrieb erhielt, für den weitern Ausbau Kapital anzulocken. Auch diese Hoffnung war meiner Meinung nach nicht so sehr Hoffnung als vielmehr Verzweiflung und Faulheit. Man ließ die Bahn laufen, solange noch Material und Kohle vorhanden waren, man zahlte den paar Arbeitern die Löhne unregelmäßig und verkürzt, als wären es Gnadengeschenke, und wartete im übrigen auf den Zusammenbruch des Ganzen.

Bei dieser Bahn war ich angestellt und bewohnte einen Holzverschlag, der noch seit dem Bau der Bahn dort zurückgeblieben war und gleichzeitig als Stationsgebäude diente. Er hatte nur einen Raum, in dem eine Pritsche für mich aufgestellt war – und ein Pult für mögliche Schreibarbeiten. Über ihm war der telegraphische Apparat angebracht. Als ich im Frühjahr hinkam, passierte der eine Zug die Station sehr früh – später wurde es geändert –, und es geschah manchmal, daß irgendein Passagier zur Station kam, während ich noch schlief. Er blieb dann natürlich – die Nächte waren dort bis in die Mitte des Sommers hinein sehr kühl – nicht im Freien, sondern klopfte an, ich riegelte auf und wir verbrachten dann oft ganze Stunden mit Plaudern. Ich lag auf meiner Pritsche, mein Gast hockte auf dem Boden oder kochte nach meiner Anweisung Tee, den wir dann beide in gutem Einverständnis tranken. Alle diese Dorfleute zeichnet große Verträglichkeit aus. Ich merkte übrigens, daß ich nicht sehr dazu angetan war, vollständige Einsamkeit zu ertragen, wenn ich mir auch sagen mußte, daß diese Einsamkeit, die ich mir auferlegt hatte, schon nach kurzer Zeit die vergangenen Sorgen zu zerstreuen begann. Ich habe überhaupt gefunden, daß es eine große Kraftprobe für ein Unglück ist, einen Menschen in der Einsamkeit dauernd zu beherrschen. Die Einsamkeit ist mächtiger als alles und treibt einen wieder den Menschen zu. Natürlich versucht man dann andere, scheinbar weniger schmerzliche, in Wirklichkeit bloß noch unbekannte Wege zu finden.

Ich schloß mich den Leuten dort mehr an, als ich gedacht hatte. Ein regelmäßiger Verkehr war es natürlich nicht. Von den fünf Dörfern, die für mich in Betracht kamen, war jedes einige Stunden sowohl von der Station als auch von den andern Dörfern entfernt. Allzuweit mich von der Station zu entfernen durfte ich nicht wagen, wenn ich nicht meinen Posten verlieren wollte. Und das wollte ich wenigstens in der ersten Zeit durchaus nicht. In die Dörfer selbst konnte ich nicht gehn und blieb auf die Passagiere angewiesen oder auf die Leute, welche den weiten Weg nicht scheuten, um mir einen Besuch zu machen. Schon im ersten Monat fanden sich solche Leute ein, aber wie freundlich sie auch waren, es war leicht zu erkennen, daß sie nur kamen, um vielleicht ein Geschäft mit mir zu machen, sie verbargen übrigens auch ihre Absicht gar nicht. Sie brachten verschiedene Waren, und ich kaufte zuerst, solange ich Geld hatte, gewöhnlich fast unbesehen alles ein, so willkommen waren mir die Leute, besonders einzelne. Später schränkte ich die Einkäufe allerdings ein, unter anderem auch deshalb, weil ich zu bemerken glaubte, daß meine Art, einzukaufen, ihnen verächtlich erschien. Außerdem bekam ich auch Lebensmittel mit der Bahn, die waren allerdings ganz schlecht und noch viel teuerer als das, was die Bauern brachten.

Ursprünglich hatte ich ja beabsichtigt, einen kleinen Gemüsegarten anzulegen, eine Kuh zu kaufen und mich auf diese Weise möglichst unabhängig von allen zu machen. Ich hatte auch Gartengeräte und Aussaat mitgebracht, Boden war überreichlich da, unbebaut dehnte er sich in einer einzigen Fläche um meine Hütte, ohne die geringste Erhöhung, soweit das Auge reichte. Aber ich war zu schwach, um diesen Boden zu bezwingen. Ein widerspenstiger Boden, der bis ins Frühjahr festgefroren war und selbst meiner neuen scharfen Hacke widerstand. Was man an Aussaat in ihn senkte, war verloren. Ich bekam Verzweiflungsanfälle bei dieser Arbeit. Ich lag tagelang auf meiner Pritsche und kam nicht einmal bei Ankunft der Züge hinaus. Ich steckte dann nur den Kopf aus der Luke, die gerade über der Pritsche angebracht war, und machte die Meldung, daß ich krank sei. Dann kam das Zugpersonal, das aus drei Mann bestand, zu mir herein, um sich zu wärmen, aber sie fanden nicht viel Wärme, denn ich vermied es womöglich, den alten, leicht explodierenden Eisenofen zu benützen. Ich lag lieber in einen alten warmen Mantel eingepackt und mit verschiedenen Fellen zugedeckt, die ich den Bauern nach und nach abgekauft hatte. »Du bist oft krank«, sagten sie mir. »Du bist ein kränklicher Mensch. Du wirst nicht mehr von hier fortkommen.« Sie sagten es nicht etwa, um mich traurig zu machen, sondern sie hatten das Bestreben, wenn es nur möglich war, die Wahrheit rund herauszusagen. Sie taten das meistens unter einem eigentümlichen Glotzen der Augen.

Einmal im Monat, aber immer zu verschiedenen Zeiten, kam ein Inspektor, um mein Vormerkbuch zu überprüfen, das eingenommene Geld mir abzunehmen und – dies aber nicht immer – den Lohn mir auszuzahlen. Seine Ankunft wurde mir immer einen Tag vorher von den Leuten angezeigt, die ihn in der letzten Station abgesetzt hatten. Diese Anzeige hielten sie für die größte Wohltat, die sie mir erweisen konnten, trotzdem ich natürlich jeden Tag alles in Ordnung hatte. Es war auch nicht die geringste Mühe dazu nötig. Aber auch der Inspektor betrat immer die Station mit einer Miene, als müsse er diesmal meine Mißwirtschaft unbedingt aufdecken. Die Tür der Hütte öffnete er immer mit einem Kniestoß und sah mich dabei an. Kaum hatte er mein Buch aufgeschlagen, fand er einen Fehler. Es brauchte lange Zeit, ehe ich durch nochmalige Rechnung vor seinen Augen ihm nachwies, daß nicht ich, sondern er einen Fehler begangen hatte. Immer war er mit meiner Einnahme unzufrieden, dann schlug er klatschend auf das Buch und sah mich wieder scharf an. »Wir werden die Bahn einstellen müssen«, sagte er jedesmal. »Es wird dazu kommen«, antwortete ich gewöhnlich.

Nach beendeter Revision änderte sich unser Verhältnis. Ich hatte immer Schnaps und womöglich irgendeine Delikatesse vorbereitet. Wir tranken einander zu, er sang mit einer erträglichen Stimme, aber immer nur zwei Lieder, eines war traurig und begann: »Wohin gehst du, kleines Kind, im Walde?«, das zweite war lustig und fing so an: »Fröhliche Gesellen, ich gehöre zu euch!« – Je nach der Laune, in die ich ihn zu versetzen imstande war, bekam ich meinen Lohn in Teilen ausgezahlt. Aber nur am Anfang solcher Unterhaltungen beobachtete ich ihn mit irgendeiner Absicht, später wurden wir ganz einig, beschimpften schamlos die Verwaltung, ich bekam geheime Versprechungen ins Ohr geflüstert über die Karriere, die er für mich erwirken wollte, und schließlich fielen wir gemeinsam auf die Pritsche nieder in einer Umarmung, die wir oft zehn Stunden nicht lösten. Am nächsten Morgen reiste er wieder als mein Vorgesetzter weg. Ich stand vor dem Zug und salutierte, er drehte sich während des Einsteigens gewöhnlich noch nach mir um und sagte: »Also Freundchen, in einem Monat sehn wir uns wieder. Du weißt, was für dich auf dem Spiel steht.« Ich sehe noch sein mir mit Mühe zugewendetes verquollenes Gesicht, alles drängte in diesem Gesicht vor, die Wangen, die Nase, die Lippen.

Das war die einmalige große Abwechslung im Monat, bei der ich mich gehen ließ; war irrtümlich etwas Schnaps zurückgeblieben, dann soff ich es gleich nach der Abfahrt des Inspektors aus, meistens hörte ich noch das Abfahrtsignal des Zuges, während es schon in mich hineingurgelte. Der Durst nach einer solchen Nacht war fürchterlich; es war, als ob in mir ein zweiter Mensch wäre, der aus meinem Mund seinen Kopf und Hals streckte und nach etwas Trinkbarem schrie. Der Inspektor war versorgt, der führte in seinem Zug immer großen Trinkvorrat mit sich, ich aber war auf die Reste angewiesen.

Dann aber trank ich den ganzen Monat lang nichts, ich rauchte auch nicht, ich machte meine Arbeit und wollte nichts anderes. Es war, wie gesagt, nicht viel Arbeit, aber ich machte sie gründlich.

Ich hatte zum Beispiel die Verpflichtung, die Geleise einen Kilometer weit rechts und links von der Station täglich zu reinigen und zu untersuchen. Ich hielt mich aber nicht an die Bestimmung und ging oft viel weiter, so weit, daß ich gerade noch die Station sehen konnte. Bei klarem Wetter war das noch bei etwa fünf Kilometer Entfernung möglich, das Land war ja ganz flach. War ich dann so weit, daß die Hütte in der Ferne mir schon vor den Augen fast nur flimmerte, sah ich manchmal infolge der Augentäuschung viele schwarze Punkte sich zur Hütte hin bewegen. Es waren ganze Gesellschaften, ganze Trupps. Manchmal aber kam wirklich jemand, dann lief ich, die Hacke schwingend, die ganze lange Strecke zurück.

Gegen Abend war ich mit meiner Arbeit fertig und zog mich endgültig in die Hütte zurück. Gewöhnlich kam um diese Zeit auch kein Besuch, denn der Rückweg in die Dörfer war bei Nacht nicht ganz sicher. Es trieb sich verschiedenes Gesindel in der Gegend herum, aber es waren nicht Eingeborene, sie wechselten auch, sie kamen allerdings auch wieder zurück. Ich bekam die meisten zu sehn, die einsame Station lockte sie an, sie waren nicht eigentlich gefährlich, aber man mußte streng mit ihnen umgehn.

Sie waren die einzigen, die mich um die Zeit der langen Dämmerung störten. Sonst lag ich auf der Pritsche, dachte nicht an die Vergangenheit, dachte nicht an die Bahn, der nächste Zug fuhr erst zwischen zehn und elf Uhr abends durch, kurz, ich dachte an gar nichts. Hie und da las ich eine alte Zeitung, die man mir vom Zug aus zugeworfen hatte, sie enthielt Skandalgeschichten aus Kalda, die mich interessiert hätten, die ich aber aus der einzelnen Nummer allein nicht verstehen konnte. Außerdem stand in jeder Nummer die Fortsetzung eines Romans, der hieß: ›Die Rache des Kommandeurs‹. Von diesem Kommandeur, der immer einen Dolch an der Seite trug, bei einer besonderen Gelegenheit hielt er ihn sogar zwischen den Zähnen, träumte ich einmal. Übrigens konnte ich nicht viel lesen, da es bald dunkel wurde und Petroleum oder ein Talglicht unerschwinglich teuer waren. Von der Bahn bekam ich für den Monat nur einen halben Liter Petroleum geliefert, das ich lange vor Ablauf des Monats verbraucht hatte, um bloß abends während einer halben Stunde das Signallicht für den Zug zu erhalten. Aber dieses Licht war auch gar nicht nötig und ich zündete es später wenigstens in Mondnächten gar nicht mehr an. Ich sah ganz richtig voraus, daß ich nach Ablauf des Sommers das Petroleum sehr dringend brauchen würde. Ich grub daher in einer Ecke der Hütte eine Grube aus, stellte dort ein altes ausgepichtes Bierfäßchen auf und schüttete jeden Monat das ersparte Petroleum ein. Das Ganze war mit Stroh zugedeckt und niemand merkte etwas. Je mehr es in der Hütte nach Petroleum stank, desto zufriedener war ich; der Gestank wurde deshalb so groß, weil es ein Faß aus altem brüchigem Holz war, das sich voll Petroleum tränkte. Später grub ich das Faß aus Vorsicht außerhalb der Hütte ein, denn der Inspektor protzte einmal mir gegenüber mit einer Schachtel Wachszündhölzchen und warf sie, als ich sie haben wollte, eines nach dem andern brennend in die Luft. Wir beide und besonders das Petroleum waren in wirklicher Gefahr, ich rettete alles, indem ich ihn so lange würgte, bis er alle Zündhölzchen fallen ließ.

In meinen freien Stunden dachte ich öfters darüber nach, wie ich mich für den Winter versorgen könnte. Wenn ich schon jetzt in der warmen Jahreszeit fror – und es war, wie man sagte, wärmer als seit vielen Jahren –, würde es mir im Winter sehr schlecht gehn. Daß ich Petroleum anhäufte, war nur eine Laune, ich hätte vernünftigerweise vielerlei für den Winter sammeln müssen; daß sich die Gesellschaft meiner nicht besonders annehmen würde, daran war ja kein Zweifel, aber ich war zu leichtsinnig oder, besser gesagt, ich war nicht leichtsinnig, aber es lag mir zuwenig an mir selbst, als daß ich mich in dieser Hinsicht hätte sehr bemühen wollen. Jetzt in der warmen Jahreszeit ging es mir leidlich, ich beließ es dabei und unternahm nichts weiter.

Eine der Verlockungen, die mich in diese Station gebracht hatten, war die Aussicht auf Jagd gewesen. Man hatte mir gesagt, es sei eine außerordentlich wildreiche Gegend, und ich hatte mir schon ein Gewehr gesichert, das ich mir, wenn ich einiges Geld gespart haben würde, nachschicken lassen wollte. Nun zeigte sich, daß von jagdbarem Wild hier keine Spur war, nur Wölfe und Bären sollten hier vorkommen, in den ersten Monaten sah ich keine, und außerdem waren eigentümliche große Ratten hier, die ich gleich beobachten konnte, wie sie in Mengen, wie vom Wind geweht, über die Steppe liefen. Aber das Wild, auf das ich mich gefreut hatte, gab es nicht. Die Leute hatten mich nicht falsch unterrichtet, die wildreiche Gegend bestand, nur war sie drei Tagesreisen entfernt – ich hatte nicht bedacht, daß die Ortsangaben in diesen über hunderte Kilometer hin unbewohnten Ländern notwendigerweise unsicher sein müssen. Jedenfalls brauchte ich vorläufig das Gewehr nicht und konnte das Geld für anderes verwenden, für den Winter mußte ich mir allerdings ein Gewehr anschaffen, und ich legte dafür regelmäßig Geld beiseite. Für die Ratten, die manchmal meine Nahrungsmittel angriffen, genügte mein langes Messer.

In der ersten Zeit, als ich noch alles neugierig auffaßte, spießte ich einmal eine solche Ratte auf und hielt sie vor mir in Augenhöhe an die Wand. Man sieht kleinere Tiere erst dann genau, wenn man sie vor sich in Augenhöhe hat; wenn man sich zu ihnen zur Erde beugt und sie dort ansieht, bekommt man eine falsche, unvollständige Vorstellung von ihnen. Das Auffallendste an diesen Ratten waren die Krallen, groß, ein wenig gehöhlt und am Ende doch zugespitzt, sie waren sehr zum Graben geeignet. Im letzten Krampf, in dem die Ratte vor mir an der Wand hing, spannte sie dann die Krallen scheinbar gegen ihre lebendige Natur straff aus, sie waren einem Händchen ähnlich, das sich einem entgegenstreckt.

Im allgemeinen belästigten mich diese Tiere wenig, nur in der Nacht weckten sie mich manchmal, wenn sie im Lauf auf dem harten Boden klappernd an der Hütte vorbeieilten. Setzte ich mich dann aufrecht und zündete etwa ein Wachslichtchen an, so konnte ich irgendwo in einer Lücke unter den Bretterpfosten die von außen hereingesteckten Krallen einer Ratte fieberhaft arbeiten sehn. Es war ganz nutzlose Arbeit, denn um für sich ein genügend großes Loch zu graben, hätte sie tagelang arbeiten müssen und sie entfloh doch schon, sobald der Tag nur ein wenig sich aufhellte, trotzdem arbeitete sie wie ein Arbeiter, der sein Ziel kennt. Und sie leistete gute Arbeit, es waren zwar unmerkliche Teilchen, die unter ihrem Graben aufflogen, aber ohne Ergebnis wurde die Kralle wohl niemals angesetzt. Ich sah in der Nacht oft lange zu, bis mich die Regelmäßigkeit und Ruhe dieses Anblicks einschläferte. Dann hatte ich nicht mehr die Kraft, das Wachslichtchen zu löschen, und es leuchtete noch ein Weilchen der Ratte bei ihrer Arbeit.

Einmal in einer warmen Nacht ging ich, als ich wieder diese Krallen arbeiten hörte, vorsichtig, ohne ein Licht anzuzünden, hinaus, um das Tier selbst zu sehn. Es hatte den Kopf mit der spitzen Schnauze tief gesenkt, fast zwischen die Vorderbeine eingeschoben, um nur möglichst eng an das Holz heranzukommen und möglichst tief die Krallen unter das Holz zu schieben. Man hätte glauben können, jemand halte in der Hütte die Krallen fest und wolle das ganze Tier hineinziehn, so sehr war alles angespannt. Und doch war auch alles mit einem Tritt beendet, durch den ich das Tier totschlug. Ich durfte bei völligem Wachsein nicht dulden, daß meine Hütte, die mein einziger Besitz war, angegriffen wurde.

Um die Hütte gegen diese Ratten zu sichern, stopfte ich alle Lücken mit Stroh und Werg zu und untersuchte jeden Morgen den Boden ringsherum. Ich beabsichtigte auch, den Boden der Hütte, der bisher nur festgestampfte Erde war, mit Brettern zu belegen, was auch für den Winter nützlich sein konnte. Ein Bauer aus dem nächsten Dorf, namens Jekoz, hatte mir längst versprochen, zu diesem Zweck schöne trockene Bretter zu bringen, ich hatte ihn auch schon für dieses Versprechen öfters bewirtet, er blieb auch niemals längere Zeit aus, sondern kam alle vierzehn Tage, hatte auch manchmal Versendungen mit der Bahn auszuführen, aber die Bretter brachte er nicht. Er hatte verschiedene Ausreden dafür, meistens die, daß er selbst zu alt sei, um eine solche Last zu schleppen, und daß sein Sohn, der die Bretter bringen würde, gerade mit Feldarbeiten beschäftigt sei. Nun war Jekoz nach seiner Angabe, und es schien auch richtig zu sein, weit über siebzig Jahre alt, aber ein großer, noch sehr starker Mann. Außerdem änderte er auch seine Ausreden und sprach ein anderes Mal von den Schwierigkeiten der Beschaffung so langer Bretter, wie ich sie brauchte. Ich drängte nicht, ich brauchte die Bretter nicht notwendig, erst Jekoz selbst hatte mich überhaupt auf den Gedanken gebracht, den Boden zu belegen, vielleicht war ein solcher Belag gar nicht vorteilhaft, kurz, ich konnte ruhig die Lügen des Alten anhören. Mein ständiger Gruß war: »Die Bretter, Jekoz!« Sofort begannen in einer halb gelallten Sprache die Entschuldigungen, ich hieß Inspektor oder Hauptmann oder auch nur Telegraphist, er versprach mir nicht nur, die Bretter nächstens zu bringen, sondern mit Hilfe seines Sohnes und einiger Nachbarn meine ganze Hütte abzutragen und ein festes Haus statt ihrer aufzubauen. Ich hörte so lange zu, bis es mich müde machte und ich ihn hinausschob. Aber noch in der Tür hob er, um Verzeihung zu erlangen, die angeblich so schwachen Arme, mit denen er in Wirklichkeit einen erwachsenen Mann hätte erdrücken können. Ich wußte, warum er die Bretter nicht brachte, er dachte, wenn der Winter näher käme, würde ich die Bretter dringender brauchen und besser bezahlen, außerdem hätte er selbst, solange die Bretter nicht geliefert seien, einen größeren Wert für mich. Nun war er natürlich nicht dumm und wußte, daß ich seine Hintergedanken kannte, aber darin, daß ich diese Kenntnis nicht ausnutzte, sah er seinen Vorteil und den wahrte er.

Alle Vorbereitungen aber, die ich machte, um die Hütte gegen die Tiere zu sichern und mich für den Winter zu verwahren, mußten eingestellt werden, als ich – das erste Vierteljahr meines Dienstes näherte sich seinem Ende – ernstlich krank wurde. Ich war bis dahin jahrelang von jeder Krankheit, selbst vom leichtesten Unwohlsein verschont geblieben, diesmal wurde ich krank. Es begann mit einem starken Husten. Etwa zwei Stunden landeinwärts von der Station entfernt war ein kleiner Bach, aus dem ich in einem Faß auf einem Schubkarren meinen Wasservorrat zu holen pflegte. Ich badete dort auch öfters, und dieser Husten war die Folge davon. Die Hustenanfälle waren so stark, daß ich mich beim Husten zusammenkrümmen mußte, ich glaubte, dem Husten nicht widerstehen zu können, wenn ich mich nicht zusammenkrümmte und so alle Kräfte zusammennahm. Ich dachte, das Zugpersonal würde über den Husten entsetzt sein, aber sie kannten ihn, sie nannten ihn Wolfshusten. Seitdem begann ich, das Heulen aus dem Husten herauszuhören. Ich saß auf dem Bänkchen vor der Hütte und begrüßte heulend den Zug, heulend begleitete ich seine Abfahrt. In den Nächten kniete ich auf der Pritsche, statt zu liegen, und drückte das Gesicht in die Felle, um mir wenigstens das Anhören des Heulens zu ersparen. Ich wartete gespannt, bis das Springen irgendeines wichtigen Blutgefäßes allem ein Ende machen würde. Es geschah aber nichts Derartiges, und der Husten war sogar in wenigen Tagen vergangen. Es gibt einen Tee, der ihn heilt, und der eine Lokomotivführer versprach mir, ihn zu bringen, erklärte mir aber, daß man ihn erst am achten Tage nach Beginn des Hustens trinken dürfe, sonst helfe er nicht. Am achten Tag brachte er ihn wirklich und ich erinnerte mich, wie außer dem Zugpersonal auch die Passagiere, zwei junge Bauern, in meine Hütte kamen, denn das Anhören des ersten Hustens nach dem Teetrinken soll eine gute Vorbedeutung haben. Ich trank, hustete noch den ersten Schluck den Anwesenden ins Gesicht, fühlte dann aber wirklich gleich eine Erleichterung, wenn auch allerdings der Husten in den letzten zwei Tagen schon schwächer gewesen war. Aber ein Fieber blieb zurück und verlor sich nicht.

Dieses Fieber machte mich sehr müde, ich verlor alle Widerstandskraft, es konnte geschehn, daß mir ganz unerwartet auf der Stirn Schweiß ausbrach, ich zitterte dann am ganzen Leib und mußte mich, wo ich auch war, niederlegen und warten, bis sich die Sinne wieder zusammenfanden. Ich merkte sehr genau, daß mir nicht besser, sondern schlechter wurde und daß es für mich sehr notwendig war, nach Kalda zu fahren und dort ein paar Tage zu bleiben, bis sich mein Zustand gebessert.

 

21. August. Mit solchen Hoffnungen angefangen und von allen drei Geschichten zurückgeworfen, heute am stärksten. Vielleicht ist es richtig, daß die russische Geschichte nur immer nach dem ›Prozeß‹ gearbeitet werden durfte. In dieser lächerlichen Hoffnung, die sich offenbar nur auf eine mechanische Phantasie stützt, fange ich wieder den ›Prozeß‹ an. – Ganz nutzlos war es nicht.

 

29. August. Schluß eines Kapitels mißlungen, ein anderes schön begonnenes Kapitel werde ich kaum, oder vielmehr ganz bestimmt nicht so schön, weiterführen können, während es mir damals in der Nacht sicher gelungen wäre. Ich darf mich aber nicht verlassen, ich bin ganz allein.

 

30. August. Kalt und leer. Ich fühle allzusehr die Grenzen meiner Fähigkeit, die, wenn ich nicht vollständig ergriffen bin, zweifellos nur eng gezogen sind. Und ich glaube selbst im Ergriffensein nur in diese engen Grenzen gezogen zu werden, die ich dann allerdings nicht fühle, da ich gezogen werde. Trotzdem ist in diesen Grenzen Raum zum Leben, und dafür werde ich sie wohl bis zur Verächtlichkeit ausnützen.

 

Dreiviertel zwei nachts. Gegenüber weint ein Kind. Plötzlich spricht ein Mann im gleichen Zimmer, so nah, als wäre er vor meinem Fenster. »Ich will lieber aus dem Fenster fliegen, als das noch länger anhören.« Er brummt noch etwas von Nervosität, die Frau sucht stumm, nur mit Zischlauten, das Kind wieder in Schlaf zu bringen.

 

1. September. In gänzlicher Hilflosigkeit kaum zwei Seiten geschrieben. Ich bin heute sehr stark zurückgewichen, trotzdem ich gut geschlafen hatte. Aber ich weiß, daß ich nicht nachgeben darf, wenn ich über die untersten Leiden des schon durch meine übrige Lebensweise niedergehaltenen Schreibens in die größere, auf mich vielleicht wartende Freiheit kommen will. Die alte Stumpfheit hat mich noch nicht ganz verlassen, wie ich merke, und die Herzenskälte wird mich vielleicht nie verlassen. Daß ich vor keiner Demütigung zurückschrecke, kann ebensogut Hoffnungslosigkeit bedeuten als Hoffnung geben.

 

13. September. Wieder kaum zwei Seiten. Zuerst dachte ich, die Traurigkeit über die österreichischen Niederlagen und die Angst vor der Zukunft (eine Angst, die mir im Grunde lächerlich und zugleich infam vorkommt) werden mich überhaupt am Schreiben hindern. Das war es nicht, nur ein Dumpfsein, das immer wieder kommt und immer wieder überwunden werden muß. Für die Traurigkeit selbst ist außerhalb des Schreibens Zeit genug. Die Gedankengänge, die sich an den Krieg knüpfen, sind in der quälenden Art, mit der sie mich in den verschiedensten Richtungen zerfressen, ähnlich den alten Sorgen wegen F. Ich bin unfähig, Sorgen zu tragen, und bin vielleicht dazu gemacht, an Sorgen zugrunde zu gehn. Wenn ich genug geschwächt bin – und das muß nicht sehr lange dauern –, wird vielleicht die kleinste Sorge genügen, um mich auseinanderzutreiben. In dieser Aussicht kann ich allerdings auch die Möglichkeit finden, das Unglück möglichst lange hinauszuschieben. Ich habe zwar mit aller Kraftanwendung einer damals verhältnismäßig noch wenig geschwächten Natur wenig gegen die Sorgen wegen F. ausgerichtet, aber ich hatte damals nur in der Anfangszeit die große Hilfe des Schreibens, die ich mir jetzt nicht mehr entreißen lassen will.

 

7. Oktober. Ich habe mir eine Woche Urlaub genommen, um den Roman vorwärtszutreiben. Es ist bis heute – heute ist Mittwoch nacht, Montag geht mein Urlaub zu Ende – mißlungen. Ich habe wenig und schwächlich geschrieben. Allerdings war ich schon in der vorigen Woche im Niedergang; daß es aber so schlimm werden würde, konnte ich nicht voraussehn. Erlauben diese drei Tage schon Schlüsse darauf, daß ich nicht würdig bin, ohne Bureau zu leben?

 

15. Oktober. Vierzehn Tage gute Arbeit, zum Teil vollständiges Begreifen meiner Lage. – Heute Donnerstag (Montag ist mein Urlaub zu Ende, ich habe noch eine weitere Woche Urlaub genommen) Brief von Fräulein Bl. Ich weiß nicht, was damit anfangen, ich weiß, daß es so bestimmt ist, daß ich allein bleibe (wenn ich überhaupt bleibe, was gar nicht bestimmt ist), ich weiß auch nicht, ob ich F. liebhabe (ich denke an meinen Widerwillen bei ihrem Anblick, als sie tanzte, mit strengem gesenktem Blick, oder als sie kurz vor dem Weggehn im ›Askanischen Hof‹ mit der Hand über die Nase und in die Haare fuhr und die unzähligen Augenblicke vollständigster Fremdheit), aber trotz allem tritt wieder die unendliche Verlockung ein, ich habe mit dem Brief den ganzen Abend über gespielt, die Arbeit stockt, trotzdem ich mich (allerdings bei quälenden Kopfschmerzen, die ich schon die ganze Woche über habe) zu ihr fähig fühle. Ich schreibe noch den Brief aus dem Gedächtnis auf, den ich Fräulein Bl. geschrieben habe:

»Es ist ein sonderbares Zusammentreffen, Fräulein Grete, daß ich Ihren Brief gerade heute bekam. Ich will das, womit er zusammengetroffen ist, nicht nennen, es betrifft nur mich und die Gedanken, die ich mir machte, als ich mich heute nachts, etwa gegen drei Uhr, ins Bett legte. (Selbstmord, Brief an Max mit vielen Aufträgen.)

Ihr Brief überraschte mich sehr. Es überrascht mich nicht, daß Sie mir schreiben. Warum sollten Sie mir nicht schreiben? Sie schreiben zwar, daß ich Sie hasse, es ist aber nicht wahr. Wenn Sie alle hassen sollten, ich hasse Sie nicht, und nicht nur deshalb, weil ich kein Recht dazu habe. Sie sind zwar im ›Askanischen Hof‹ als Richterin über mir gesessen, es war abscheulich für Sie, für mich, für alle – aber es sah nur so aus, in Wirklichkeit bin ich auf Ihrem Platz gesessen und bin noch bis heute dort.

In F. täuschen Sie sich vollständig. Ich sage das nicht, um Einzelheiten herauszulocken. Ich kann mir keine Einzelheit denken – und meine Einbildungskraft hat sich in diesen Kreisen schon viel herumgejagt, so daß ich ihr vertraue – ich sage, ich kann mir keine Einzelheit denken, die mich davon überzeugen könnte, daß Sie sich nicht täuschen. Das, was Sie andeuten, ist vollständig unmöglich, es macht mich unglücklich, zu denken, daß F. aus irgendeinem unerfindlichen Grunde etwa sich selbst täuschen sollte. Aber auch das ist unmöglich.

Ihre Anteilnahme habe ich immer für wahr und gegen sich selbst rücksichtslos gehalten. Auch den letzten Brief zu schreiben, ist Ihnen nicht leicht geworden. Ich danke Ihnen dafür herzlich.« Was ist damit getan? Der Brief sieht unnachgiebig aus, aber nur deshalb, weil ich mich schämte, weil ich es für unverantwortlich hielt, weil ich mich fürchtete, nachgiebig zu sein, nicht etwa, weil ich es nicht wollte. Ich wollte sogar nichts anderes. Es wäre für uns alle das beste, wenn sie nicht antworten würde, aber sie wird antworten und ich werde auf ihre Antwort warten.

 

Ein Teil des Blattes ist abgerissen, daher diese und die spätere Lücke im Text, da die Eintragung vom 25. Oktober auf der Rückseite dieses Blattes steht. ......ter Tag des Urlaubs. Halb drei nachts, fast nichts

.........tel gelesen und schlecht gefunden. Zweierlei

...........mißlungen. Vor mir liegt das Bureau und

..........der zugrunde gehenden Fabrik. Ich bin aber

..........ohne Fassung. Und mein stärkster Halt ist

........iger Weise der Gedanke an F., trotzdem ich im gestrigen Brief jeden Versuch einer Anknüpfung abgewehrt habe. Ich habe jetzt zwei Monate ohne jede tatsächliche Verbindung mit F. (außer durch den Briefwechsel mit E.) ruhig gelebt, von F. geträumt wie von einer Toten, die niemals wieder leben könnte, und jetzt, da ich eine Möglichkeit, an sie heranzukommen, dargeboten bekomme, ist sie wieder der Mittelpunkt des Ganzen. Sie stört wohl auch meine Arbeit. Wie kam sie mir doch, als ich in der letzten Zeit manchmal an sie dachte, als der fremdeste Mensch vor, mit dem ich jemals zusammengekommen war, wobei ich mir allerdings sagte, daß diese ganz besondere Fremdheit ihren Grund darin hat, daß F. mir näher als irgendein anderer Mensch kam oder wenigstens von den andern in diese Nähe zu mir gestellt wurde.

 

Das Tagebuch ein wenig durchblättert. Eine Art Ahnung der Organisation eines solchen Lebens bekommen.

21. Oktober. Seit vier Tagen fast nichts gearbeitet, immer nur eine Stunde und nur ein paar Zeilen, aber besser geschlafen, Kopfschmerzen dadurch fast verloren. Keine Antwort von Bl., morgen ist die letzte Möglichkeit.

 

25. Oktober. Fast vollständiges Stocken der Arbeit. Das, was geschrieben wird, scheint nichts Selbständiges, sondern der Widerschein guter früherer Arbeit. Antwort von Bl. ist gekommen, ich wegen der Beantwortung vollständig unentschieden. Gedanken so gemein, daß ich sie gar nicht aufschreiben kann. Die gestrige Traurigkeit. Als Ottla mir bis zur Treppe nachging, von einer Ansichtskarte erzählte, ..... hatte und irgendeine Antwort von mir haben wollte [konnte ich] nichts sagen. Vor Traurigkeit vollständig unfähig ..... ich nur mit den Schultern ein Zeichen geben ..... der Geschichte des Pick trotz einzelner Vorzüge, die W..... Gedichte von Fuchs heute in der Zeitung.

 

1. November. Gestern nach langer Zeit ein gutes Stück vorwärtsgekommen, heute wieder fast nichts, die vierzehn Tage seit meinem Urlaub sind fast gänzlich verloren.

Heute teilweise schöner Sonntag. In den Chotekschen Anlagen Dostojewskis Verteidigungsschrift gelesen. Die Wache im Schloß und beim Corpskommando. Der Brunnen im Palais Thun. – Viel Selbstzufriedenheit während des ganzen Tags. Und jetzt vollständiges Versagen bei der Arbeit. Und es ist nicht einmal Versagen, ich sehe die Aufgabe und den Weg zu ihr, ich müßte nur irgendwelche dünnen Hindernisse durchstoßen und kann es nicht. – Spielen mit den Gedanken an F.

 

3. November. Nachmittag Brief an E., eine Geschichte ›Der blinde Gast‹ von Pick durchgesehn und Verbesserungen notiert, ein wenig Strindberg gelesen, dann nicht geschlafen, um halb neun zu Hause, zehn Uhr zurück, aus Angst vor Kopfschmerzen, die schon beginnen, und weil ich auch in der Nacht sehr wenig geschlafen hatte, nichts mehr gearbeitet, zum Teil auch deshalb, weil ich mich fürchtete, eine gestern geschriebene erträgliche Stelle zu verderben. Der vierte Tag seit August, an dem ich gar nichts geschrieben habe. Schuld sind die Briefe, ich werde versuchen, gar keine oder nur ganz kurze Briefe zu schreiben. Wie befangen ich jetzt auch bin und wie es mich herumwirft! Gestern abend der überglückliche Zustand, nachdem ich einige Zeilen von Jammes gelesen hatte, mit dem ich sonst nichts zu tun habe, dessen Französisch aber, es handelte sich um einen Besuch bei einem befreundeten Dichter, so stark auf mich wirkte.

 

4. November. P. zurück. Schreiend, aufgeregt, außer Rand und Band. Geschichte vom Maulwurf, der im Schützengraben unter ihm bohrte und den er für ein göttliches Zeichen ansah, von dort wegzurücken. Kaum war er fort, traf ein Schuß einen Soldaten, der ihm nachgekrochen war und sich jetzt über dem Maulwurf befand. – Sein Hauptmann. Man sah deutlich, wie er gefangengenommen wurde. Am nächsten Tag fand man ihn aber nackt, von Bajonetten durchbohrt, im Wald. Wahrscheinlich hatte er Geld bei sich, man hatte ihn durchsuchen und berauben wollen, er aber hatte, »wie die Offiziere sind«, sich nicht freiwillig anrühren lassen. – P. hat vor Wut und Aufregung fast geweint, als er auf dem Weg von der Bahn seinen Chef (den er früher maßlos und lächerlich verehrt hatte) traf, wie er elegant angezogen, parfümiert, mit umgehängtem Gucker ins Theater ging. Einen Monat später machte er es selbst mit einer Karte, die ihm dieser Chef geschenkt hatte. Er ging zum ›Ungetreuen Eckehart‹, einem Lustspiel. – Geschlafen einmal im Schloß des Fürsten Sapieha, einmal knapp vor österreichischen feuernden Batterien, wo er in der Reserve lag, einmal in einer Bauernstube, wo in den zwei Betten rechts und links an den Wänden je zwei Frauen, hinter dem Ofen ein Mädchen, und auf dem Fußboden acht Soldaten schliefen. – Strafe für Soldaten. Festgebunden an einem Baum stehn bis zum Blauwerden.

 

12. November. Die Eltern, die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern), sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.

 

24. November. Gestern in der Tuchmachergasse, wo die alte Wäsche und Kleidung an die galizischen Flüchtlinge verteilt wird.

Max, Frau Brod,Meine Mutter, die sich sofort in den Dienst der Flüchtlingsfürsorge stellte und da viel Gutes tat, auch mit sehr viel Ausdauer, freilich allzu energisch und kurzangebunden, wie es ihre Art war. Herr Chaim Nagel. Der Verstand, die Geduld, die Freundlichkeit, der Fleiß, die Gesprächigkeit, der Witz, die Vertrauenswürdigkeit des Herrn Nagel. Menschen, die ihren Kreis so vollständig ausfüllen, daß man meint, ihnen müßte alles im ganzen Kreis der Welt gelingen, aber es gehört eben auch zu ihrer Vollkommenheit, daß sie über ihren Kreis nicht hinausgreifen.

Die kluge, lebhafte, stolze und bescheidene Frau Kannegießer aus Tarnow, die nur zwei Decken wollte, aber schöne, und die doch nur, trotz Maxens Protektion, alte und schmutzige bekommen hat, während die neuen guten Decken in einem separaten Zimmer lagen, in dem überhaupt alle guten Stücke für die bessern Leute aufbewahrt werden. Man wollte ihr die guten auch deshalb nicht geben, weil sie sie nur für zwei Tage brauchte, ehe ihre Wäsche von Wien kam, und weil man gebrauchte Stücke wegen der Choleragefahr nicht zurücknehmen darf.

Frau Lustig mit vielen Kindern aller Größen und einer kleinen frechen, selbstsichern beweglichen Schwester. Sie sucht ein Kinderkleidchen so lange aus, bis Frau Brod sie anschreit: »Jetzt nehmen Sie aber schon endlich dieses oder Sie bekommen keines.« Nun antwortet aber Frau Lustig mit noch viel größerem Schreien und schließt mit einer großen, wilden Handbewegung: »Die MizweGute Tat. (Wörtlich: Erfüllung eines Gebotes.) ist doch mehr wert als diese ganzen Schmatten (Hadern).«

 

25. November. Leere Verzweiflung, unmöglich sich aufzustellen, erst bei der Zufriedenheit mit dem Leiden kann ich haltmachen.

 

30. November. Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgültigen Grenze, vor der ich vielleicht wieder jahrelang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen. Diese Bestimmung verfolgt mich. Ich bin auch wieder kalt und sinnlos, nur die greisenhafte Liebe für die vollständige Ruhe ist geblieben. Und wie irgendein gänzlich von Menschen losgetrenntes Tier schaukele ich schon wieder den Hals und möchte versuchen, für die Zwischenzeit wieder F. zu bekommen. Ich werde es auch wirklich versuchen, falls mich die Übelkeit vor mir selbst nicht daran hindert.

 

2. Dezember. Nachmittag bei Werfel mit Max und Pick. ›In der Strafkolonie‹ vorgelesen, nicht ganz unzufrieden, bis auf die überdeutlichen unverwischbaren Fehler. Werfel [las] Gedichte und zwei Akte aus ›Esther, Kaiserin von Persien‹. Die Akte fortreißend. Ich lasse mich aber leicht verwirren. Die Aussetzungen und Vergleiche, die Max, der nicht ganz mit dem Stück zufrieden ist, vorbringt, stören mich, und ich halte das Stück in der Erinnerung bei weitem nicht mehr so in der Gesamtheit fest, wie während des Zuhörens, als es über mich herfiel. Erinnerung an die Jargonschauspieler. W.s schöne Schwestern. Die ältere lehnt am Sessel, schaut seitwärts öfters in den Spiegel, zeigt, doch schon genügend von meinen Augen verschlungen, mit einem Finger leicht auf eine Brosche, die mitten auf ihrer Bluse eingesteckt ist. Es ist eine ausgeschnittene dunkelblaue Bluse, der Blusenausschnitt ist mit Tüll gefüllt. Wiederholte Erzählung einer Szene im Theater: Offiziere, die während ›Kabale und Liebe‹ häufig untereinander laut die Bemerkung machten: »Speckbacher macht Figur«, womit sie einen Offizier meinten, der an der Wand einer Loge lehnte.

 

Ergebnis des Tages, schon vor Werfel: Unbedingt weiterarbeiten, traurig, daß es heute nicht möglich ist, denn ich bin müde und habe Kopfschmerzen, hatte sie auch andeutungsweise vormittag im Bureau. Unbedingt weiterarbeiten, es muß möglich sein, trotz Schlaflosigkeit und Bureau.

 

Traum heute nacht. Bei Kaiser Wilhelm. Im Schloß. Die schöne Aussicht. Ein Zimmer ähnlich wie im ›Tabakskollegium‹. Zusammenkunft mit Matilde Serav. Leider alles vergessen.

 

5. Dezember. Ein Brief von E. über die Lage ihrer Familie. Mein Verhältnis zu der Familie bekommt für mich nur dann einen einheitlichen Sinn, wenn ich mich als das Verderben der Familie auffasse. Es ist die einzige organische, alles Erstaunliche glatt überwindende Erklärung, die es gibt. Es ist auch die einzige tätige Verbindung, die augenblicklich von mir aus mit der Familie besteht, denn im übrigen bin ich gefühlsmäßig gänzlich von ihr abgetrennt, allerdings nicht durchgreifender als vielleicht von der ganzen Welt. (Ein Bild meiner Existenz in dieser Hinsicht gibt eine nutzlose, mit Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht.) Nur das Verderben wirkt. Ich habe F. unglücklich gemacht, die Widerstandskraft aller, die sie jetzt so benötigen, geschwächt, zum Tode des Vaters beigetragen, F. und E. auseinandergebracht und schließlich auch E. unglücklich gemacht, ein Unglück, das aller Voraussicht nach noch fortschreiten wird. Ich bin davor gespannt und bestimmt, es vorwärtszubringen. Meinen letzten Brief an sie, den ich mir abgequält habe, hält sie für ruhig; er »atmet so viel Ruhe«, wie sie sich ausdrückt. Hiebei ist es allerdings nicht ausgeschlossen, daß sie sich aus Zartgefühl, aus Schonung, aus Sorge um mich so ausdrückt. Ich bin ja innerhalb des Ganzen genügend bestraft, schon meine Stellung zu der Familie ist Strafe genug, ich habe auch derartig gelitten, daß ich mich davon niemals erholen werde (mein Schlaf, mein Gedächtnis, meine Denkkraft, meine Widerstandskraft gegen die winzigsten Sorgen sind unheilbar geschwächt, sonderbarerweise sind das etwa die gleichen Folgen, wie sie lange Gefängnisstrafen nach sich ziehn), aber augenblicklich leide ich wenig durch meine Beziehung zu der Familie, jedenfalls weniger als F. oder E. Etwas Quälendes liegt allerdings darin, daß ich jetzt mit E. eine Weihnachtsreise machen soll, während F. etwa in Berlin bleibt.

 

8. Dezember. Gestern zum erstenmal seit längerer Zeit in zweifelloser Fähigkeit zu guter Arbeit. Und doch nur die erste Seite des Mutterkapitels,Im Anhang zum ›Prozeß‹ als Fragment ›Fahrt zur Mutter‹ veröffentlicht. da ich schon zwei Nächte fast gar nicht geschlafen hatte, da sich schon am Morgen Kopfschmerzen gezeigt hatten und da ich vor dem nächsten Tag allzugroße Angst hatte. Wieder eingesehn, daß alles bruchstückweise und nicht im Laufe des größten Teiles der Nacht (oder gar in ihrer Gänze) Niedergeschriebene minderwertig ist und daß ich zu diesem Minderwertigen durch meine Lebensverhältnisse verurteilt bin.

 

9. Dezember. Mit E. K. aus Chikago beisammen. Er ist fast rührend. Beschreibung seines ruhigen Lebens. Von acht bis halb sechs im Wartehaus. Durchsicht der Versendungen in der Wirkwarenabteilung. Fünfzehn Dollars wöchentlich. Vierzehn Tage Urlaub, davon eine Woche mit Gehalt, nach fünf Jahren die ganzen vierzehn Tage Gehalt. Eine Zeitlang, als in der Wirkwarenabteilung wenig zu tun war, hat er in der Fahrräderabteilung ausgeholfen. Dreihundert Räder pro Tag werden verkauft. Ein Engrosgeschäft mit zehntausend Angestellten. Anwerbung der Kunden geschieht nur durch Katalogversendung. Die Amerikaner wechseln gerne die Posten, im Sommer drängen sie sich überhaupt nicht sehr zur Arbeit, er aber wechselt nicht gern, er sieht nicht den Vorteil dessen ein, man verliert dabei Zeit und Geld. Er war bisher in zwei Posten, in jedem fünf Jahre, und wird, wenn er zurückkommt – er hat unbeschränkten Urlaub –, wieder in den gleichen Posten eintreten, man kann ihn immer brauchen, allerdings auch immer entbehren. Abends ist er meistens zu Hause, eine Skatpartie mit Bekannten, zur Zerstreuung einmal eine Stunde im Kino, im Sommer ein Spaziergang, Sonntag eine Fahrt auf dem See. Vor dem Heiraten hütet er sich, trotzdem er schon vierunddreißig Jahre alt ist, denn die Amerikanerinnen heiraten oft nur, um sich scheiden zu lassen, was für sie sehr einfach, für den Mann aber sehr teuer ist.

 

13. Dezember. Statt zu arbeiten – ich habe nur eine Seite geschrieben (Exegese der Legende) – in fertigen Kapiteln gelesen und sie zum Teil gut gefunden. Immer im Bewußtsein, daß jedes Zufriedenheits- und Glücksgefühl, wie ich es zum Beispiel besonders der Legende gegenüber habe, bezahlt werden muß, und zwar, um niemals Erholung zu gönnen, im nachhinein bezahlt werden muß.

 

Letzthin bei Felix. Auf dem Nachhauseweg sagte ich Max, daß ich auf dem Sterbebett, vorausgesetzt, daß die Schmerzen nicht zu groß sind, sehr zufrieden sein werde. Ich vergaß hinzuzufügen und habe es später mit Absicht unterlassen, daß das Beste, was ich geschrieben habe, in dieser Fähigkeit, zufrieden sterben zu können, seinen Grund hat. An allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser, wenigstens meiner Meinung nach, rührend wird. Für mich aber, der ich glaube, auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können, sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei viel klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird, und meine Klage ist daher möglichst vollkommen, bricht auch nicht etwa plötzlich ab wie wirkliche Klage, sondern verläuft schön und rein. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklage, die bei weitem nicht so groß waren, wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht so viel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser.

 

14. Dezember. Jämmerliches Vorwärtskriechen der Arbeit, vielleicht an ihrer wichtigsten Stelle, dort, wo eine gute Nacht so notwendig wäre.

 

Bei Baum am Nachmittag. Er gibt einem kleinen bleichen Mädchen mit Brille Klavierstunde. Der Junge sitzt still im Halbdunkel der Küche und spielt nachlässig mit irgendeinem unkenntlichen Gegenstand. Eindruck großen Behagens. Besonders gegenüber der Hantierung des großen Stubenmädchens, das in einem Kübel Geschirr wäscht.

 

Die Niederlagen in Serbien, die sinnlose Führung.

 

19. Dezember. Gestern den ›Dorfschullehrer‹Ediert unter dem Titel ›Der Riesenmaulwurf‹. Die Anmerkung zur ersten Ausgabe [von ›Beschreibung eines Kampfes‹] (»nicht mehr genau datierbar«) wäre danach zu berichtigen. fast bewußtlos geschrieben, fürchtete mich aber, länger als bis dreiviertel zwei zu schreiben, die Furcht war begründet, ich schlief fast gar nicht, machte nur etwa drei kurze Träume durch und war dann im Bureau in entsprechendem Zustand. Gestern die Vorwürfe des Vaters wegen der Fabrik: »Du hast mich hineingetanzt.« Ging dann nach Hause und schrieb ruhig drei Stunden, im Bewußtsein dessen, daß meine Schuld zweifellos ist, wenn auch nicht so groß, wie sie der Vater darstellt. Ging heute, Samstag, nicht zum Nachtmahl, teils aus Furcht vor dem Vater, teils um die Nacht für die Arbeit ganz auszunützen, ich schrieb aber nur eine und nicht sehr gute Seite.

 

Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint hoffnungslos, daß dieser neue, noch unfertige, überall empfindliche Organismus in der fertigen Organisation der Welt sich wird erhalten können, die wie jede fertige Organisation danach strebt, sich abzuschließen. Allerdings vergißt man hiebei, daß die Novelle, falls sie berechtigt ist, ihre fertige Organisation in sich trägt, auch wenn sie sich noch nicht ganz entfaltet hat; darum ist die Verzweiflung in dieser Hinsicht vor dem Anfang einer Novelle unberechtigt; ebenso müßten Eltern vor dem Säugling verzweifeln, denn dieses elende und besonders lächerliche Wesen hatten sie nicht auf die Welt bringen wollen. Allerdings weiß man niemals, ob die Verzweiflung, die man fühlt, die berechtigte oder die unberechtigte ist. Aber einen gewissen Halt kann diese Überlegung geben, das Fehlen dieser Erfahrung hat mir schon geschadet.

 

20. Dezember. Maxens Einwand gegen Dostojewski, daß er zuviel geistig Kranke auftreten läßt. Vollständig unrichtig. Es sind nicht geistig Kranke. Die Krankheitsbezeichnung ist nichts als ein Charakterisierungsmittel, und zwar ein sehr zartes und sehr ergiebiges. Man muß zum Beispiel einer Person nur immer mit größter Hartnäckigkeit nachsagen, daß sie einfältig und idiotisch ist, und sie wird, wenn sie Dostojewskischen Kern in sich hat, förmlich zu ihren Höchstleistungen aufgestachelt. Seine Charakterisierungen haben in dieser Hinsicht etwa die Bedeutung wie Schimpfworte unter Freunden. Sagen sie einander »du bist ein Dummkopf«, so meinen sie nicht, daß der andere ein wirklicher Dummkopf ist und sie sich durch diese Freundschaft entwürdigt haben, sondern es liegt darin meistens, wenn es nicht bloß Scherz ist, aber selbst dann, eine unendliche Mischung von Absichten. So ist zum Beispiel der Karamasowsche Vater durchaus kein Narr, sondern ein sehr kluger, fast Iwan ebenbürtiger, allerdings böser Mann und viel klüger jedenfalls als beispielsweise sein vom Erzähler unangefochtener Vetter oder Neffe, der Gutsbesitzer, der sich ihm gegenüber so erhaben fühlt.

 

23. Dezember. Ein paar Seiten ›Londoner Nebel‹ aus [dem Buch von] Herzen gelesen. Wußte gar nicht, um was es sich handelt, und doch tritt der ganze unbewußte Mensch heraus, entschlossen, selbstquälerisch, sich beherrschend und wieder vergehend.

 

26. Dezember. In Kuttenberg mit Max und Frau. Wie habe ich mit den vier freien Tagen gerechnet, wieviel Stunden über ihre richtige Verwendung nachgedacht und mich jetzt doch vielleicht verrechnet. Heute abend fast nichts geschrieben und vielleicht nicht mehr imstande, den ›Dorfschullehrer‹ fortzusetzen, an dem ich jetzt eine Woche arbeitete und den ich gewiß in drei freien Nächten rein und ohne äußerliche Fehler fertiggebracht hätte, jetzt hat er, trotzdem er noch fast am Anfang ist, schon zwei unheilbare Fehler in sich und ist außerdem verkümmert. – Neue Tageseinteilung von jetzt ab! Noch besser die Zeit ausnützen! Klage ich hier, um hier Erlösung zu finden? Aus diesem Heft wird sie nicht kommen, sie wird kommen, wenn ich im Bett bin, und wird mich auf den Rücken legen, so daß ich schön und leicht und bläulich-weiß liege, eine andere Erlösung wird nicht kommen.

 

Hotel in Kuttenberg Morawetz, betrunkener Hausknecht, kleiner überdeckter Hof mit Oberlicht. Der Soldat, der dunkel umschrieben am Geländer im ersten Stock des Hofgebäudes lehnt. Das Zimmer, das man mir anbietet, das Fenster geht auf einen dunklen fensterlosen Korridor. Rotes Kanapee, Kerzenlicht. Jakobskirche, die frommen Soldaten, die Mädchenstimme im Chor.

 

27. Dezember. Ein Kaufmann war vom Unglück sehr verfolgt. Er trug es lange, aber schließlich glaubte er es nicht mehr ertragen zu können und ging zu einem Gesetzeskundigen. Er wollte ihn um Rat bitten und erfahren, was er tun solle, um das Unglück abzuwehren oder um sich zum Ertragen des Unglücks fähig zu machen. Dieser Gesetzeskundige hatte vor sich immer die Schrift aufgeschlagen und studierte in ihr. Er hatte die Gewohnheit, jeden, der um Rat kam, mit den Worten zu empfangen: »Gerade lese ich von deinem Fall«, hiebei zeigte er mit dem Finger auf eine Stelle der vor ihm liegenden Seite. Dem Kaufmann, der auch von dieser Gewohnheit gehört hatte, gefiel sie nicht, zwar sprach sich der Gesetzeskundige dadurch sofort die Möglichkeit zu, dem Bittsteller zu helfen, und nahm diesem die Furcht, von einem im Dunkel wirkenden, niemandem mitteilbaren, von niemandem mitzufühlenden Leid getroffen zu sein, aber die Unglaubwürdigkeit der Behauptung war doch zu groß, und sie hatte den Kaufmann sogar davon abgehalten, schon früher zu diesem Gesetzeskundigen zu gehn. Noch jetzt trat er zögernd bei ihm ein und blieb in der offenen Tür stehn.

 

31. Dezember. Seit August gearbeitet, im allgemeinen nicht wenig und nicht schlecht, aber weder in ersterer noch in letzterer Hinsicht bis an die Grenzen meiner Fähigkeit, wie es hätte sein müssen, besonders, da meine Fähigkeit aller Voraussicht nach (Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Herzschwäche) nicht mehr lange andauern wird. Geschrieben an Unfertigem: ›Der Prozeß‹, ›Erinnerungen an die Kaldabahn‹, ›Der Dorfschullehrer‹, ›Der Unterstaatsanwalt‹ und kleinere Anfänge. An Fertigem nur: ›In der Strafkolonie‹ und ein Kapitel des ›Verschollenen‹, beides während des vierzehntägigen Urlaubs. Ich weiß nicht, warum ich diese Übersicht mache, es entspricht mir gar nicht!


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