Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

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1915

 

4. Januar. Großer Lust, eine neue Geschichte anzufangen, nicht nachgegeben. Es ist alles nutzlos. Kann ich die Geschichten nicht durch die Nächte jagen, brechen sie aus und verlaufen sich, so auch jetzt ›Der Unterstaatsanwalt‹. Und morgen gehe ich in die Fabrik, werde nach dem Einrücken P.s vielleicht jeden Nachmittag hingehn müssen. Damit hört alles auf. Die Gedanken an die Fabrik sind mein dauernder Versöhnungstag.An dem man nach jüdischer Lehre seiner Sünden gedenkt. Im Wort und Begriff »Versöhnungstag« (Jom ha-Kippurim) liegt allerdings mehr: die Verzeihung.

 

6. Januar. ›Dorfschullehrer‹ und ›Unterstaatsanwalt‹ vorläufig aufgegeben. Aber auch fast unfähig, den ›Prozeß‹ fortzusetzen. Gedanken an die Lembergerin.In der Schule für jüdische Flüchtlingskinder aus Galizien, die Prof. Alfred Engel gegründet hatte und leitete, unterrichtete ich »Weltliteratur«. Kafka nahm als einziger Gast an meinen Stunden teil, kam sehr oft (vgl. die spätere Notiz vom 14. April über die »Homer-Stunde«). Hier lernte er einige meiner Schülerinnen und deren Angehörige kennen, darunter das von hier ab öfters erwähnte Fräulein aus Lemberg, Fräulein F. R. (vgl. zum Beispiel 14. Mai). Versprechungen irgendeines Glückes, ähnlich den Hoffnungen auf ein ewiges Leben. Von einer gewissen Entfernung aus gesehn, halten sie stand, und man wagt sich nicht näher.

 

17. Januar. Gestern zum erstenmal in der Fabrik Briefe diktiert. Wertlose Arbeit (eine Stunde), aber nicht ohne Befriedigung. Schrecklicher Nachmittag vorher. Kopfschmerzen immerfort, so daß ich die Hand ununterbrochen zur Beruhigung am Kopf halten mußte (Zustand im Café Arco), und Herzschmerzen zu Hause auf dem Kanapee.

Ottlas Brief an E. gelesen. Ich habe sie wirklich unterdrückt, und zwar rücksichtslos, aus Nachlässigkeit und aus Unfähigkeit. Darin hat F. recht. Glücklicherweise ist Ottla so kräftig, daß sie sich allein in einer fremden Stadt sofort von mir erholen würde. Wie viele ihrer Fähigkeiten zum Verkehr mit Menschen sind durch meine Schuld unausgenützt. Sie schreibt, sie habe sich in Berlin unglücklich gefühlt. Unwahr!

 

Eingesehn, daß ich die Zeit seit August durchaus nicht genügend ausgenützt habe. Die fortwährenden Versuche, durch viel Schlaf am Nachmittag die Fortsetzung der Arbeit bis tief in die Nacht zu ermöglichen, waren sinnlos, denn ich konnte doch schon nach den ersten vierzehn Tagen sehn, daß es mir meine Nerven nicht erlauben, nach ein Uhr schlafen zu gehn, denn dann schlafe ich überhaupt nicht mehr ein, der nächste Tag ist unerträglich, und ich zerstöre mich. Ich bin also nachmittags zu lange gelegen, habe in der Nacht aber selten über ein Uhr gearbeitet, immer aber frühestens gegen elf Uhr angefangen. Das war falsch. Ich muß um acht oder neun Uhr anfangen, die Nacht ist gewiß die beste Zeit (Urlaub!), aber sie ist mir unzugänglich.

Samstag werde ich F. sehn. Wenn sie mich liebt, verdiene ich es nicht. Ich glaube heute einzusehn, wie eng meine Grenzen sind in allem und infolgedessen auch im Schreiben. Wenn man seine Grenzen sehr intensiv erkennt, muß man zersprengt werden. Es ist wohl Ottlas Brief, der mir das zu Bewußtsein gebracht hat. Ich war sehr selbstzufrieden in der letzten Zeit und hatte viele Einwände zu meiner Verteidigung und Selbstbehauptung gegen F. Schade, daß ich keine Zeit hatte, sie aufzuschreiben, heute könnte ich es nicht.

Strindberg ›Schwarze Fahnen‹. Über Einfluß aus der Ferne: Du hast sicher gefühlt, wie andere dein Benehmen mißbilligt haben, ohne daß sie diese Mißbilligungen äußerten. Du hast ein stilles Behagen an der Einsamkeit empfunden, ohne dir klargemacht zu haben, warum; jemand in der Ferne hat gut von dir gedacht, gut über dich gesprochen.

 

18. Januar. In der Fabrik bis halb sieben in gleicher Weise nutzlos gearbeitet, gelesen, diktiert, angehört, geschrieben. Gleiche sinnlose Befriedigung danach. Kopfschmerzen, schlecht geschlafen. Unfähig zu längerer konzentrierter Arbeit. Auch zuwenig im Freien gewesen. Trotzdem eine neue Geschichte angefangen, die alten fürchtete ich zu verderben. Nun stehen vor mir vier oder fünf Geschichten aufgerichtet, wie die Pferde vor dem Zirkusdirektor Schumann bei Beginn der Produktion.

 

19. Januar. Ich werde, solange ich in die Fabrik gehen muß, nichts schreiben können. Ich glaube, es ist eine besondere Unfähigkeit zu arbeiten, die ich jetzt fühle, ähnlich jener, als ich in der ›Generali‹Die Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali, in der Kafka unter besonderen Mühen und Anstrengungen arbeitete. Sein erster Posten. angestellt war. Die unmittelbare Nähe des Erwerbslebens benimmt mir, trotzdem ich innerlich so unbeteiligt bin, als es nur möglich ist, jeden Überblick, so als wäre ich in einem Hohlweg, in dem ich überdies noch den Kopf senke. In der Zeitung steht heute zum Beispiel eine Äußerung von zuständiger schwedischer Stelle, nach welcher trotz der Drohungen des Dreiverbandes die Neutralität unbedingt gewahrt werden soll. Zum Schluß heißt es: Die Dreiverbändler werden in Stockholm auf Granit beißen. Heute nehme ich es fast vollständig so hin, wie es gemeint ist. Vor drei Tagen hätte ich bis in den Grund gefühlt, daß hier ein Stockholmer Gespenst spricht, daß »Drohungen des Dreiverbandes«, »Neutralität«, »zuständige schwedische Stelle« nur in bestimmte Form zusammengeballte Gebilde aus Luft sind, die man nur mit dem Auge genießen, niemals aber mit dem Finger ertasten kann.

 

Ich hatte mit zwei Freunden einen Ausflug für den Sonntag vereinbart, verschlief aber gänzlich unerwarteterweise die Stunde der Zusammenkunft. Meine Freunde, die meine sonstige Pünktlichkeit kannten, staunten darüber, gingen zu dem Haus, in dem ich wohnte, standen auch dort noch eine Zeitlang, gingen dann die Treppe hinauf und klopften an meiner Tür. Ich erschrak sehr, sprang aus dem Bett und achtete auf nichts anderes als darauf, mich möglichst rasch bereitzumachen. Als ich dann vollständig angezogen aus der Türe trat, wichen meine Freunde, offenbar erschrocken, vor mir zurück. »Was hast du hinter dem Kopf?« riefen sie. Ich hatte schon seit dem Erwachen irgend etwas gefühlt, das mich hinderte, den Kopf zurückzuneigen und tastete nun mit der Hand nach diesem Hindernis. Gerade riefen die Freunde, die sich schon ein wenig gesammelt hatten: »Sei vorsichtig, verletze dich nicht!«, als ich hinter meinem Kopf den Griff eines Schwertes erfaßte. Die Freunde kamen näher, untersuchten mich, führten mich ins Zimmer vor den Schrankspiegel und entkleideten meinen Oberkörper. Ein großes altes Ritterschwert mit kreuzartigem Griff steckte in meinem Rücken bis zum Heft, aber in der Weise, daß sich die Klinge unbegreiflich genau zwischen Haut und Fleisch geschoben und keine Verletzung herbeigeführt hatte. Aber auch an der Stelle des Einstoßes am Halse war keine Wunde, die Freunde versicherten, daß sich dort völlig blutleer und trocken der für die Klinge notwendige Spalt geöffnet habe. Und als jetzt die Freunde auf Sessel stiegen und langsam, millimeterweise das Schwert hervorzogen, kam kein Blut nach, und die offene Stelle am Halse schloß sich bis auf einen kaum merklichen Spalt. »Hier hast du dein Schwert«, sagten die Freunde lachend und reichten es mir. Ich wog es mit beiden Händen, es war eine kostbare Waffe, Kreuzfahrer konnten sie wohl benützt haben. Wer duldete es, daß sich alte Ritter in den Träumen herumtrieben, verantwortungslos mit ihren Schwertern fuchtelten, unschuldigen Schläfern sie einbohrten und nur deshalb nicht schwere Wunden beibrachten, weil ihre Waffen zunächst wahrscheinlich an lebenden Körpern abgleiten und weil auch treue Freunde hinter der Tür stehn und hilfsbereit klopfen.

 

20. Januar. Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen? In welchem schlechten Zustand komme ich mit F. zusammen! Die mit Aufgabe des Schreibens sofort eintretende Schwerfälligkeit des Denkens, Unfähigkeit, mich für die Zusammenkunft vorzubereiten, während ich vorige Woche wichtige Gedanken dafür kaum abschütteln konnte. Möge ich den einzig hiebei denkbaren Gewinn genießen: bessern Schlaf.

 

›Schwarze Fahnen.‹ Wie schlecht ich auch lese. Und wie ich mich bösartig und schwächlich beobachte. Eindringen kann ich scheinbar in die Welt nicht, aber ruhig liegen, empfangen, das Empfangene in mir ausbreiten und dann ruhig vortreten.

 

24. Januar. Mit F. in Bodenbach. Ich glaube, es ist unmöglich, daß wir uns jemals vereinigen, wage es aber weder ihr noch im entscheidenden Augenblick mir zu sagen. So habe ich sie wieder vertröstet, unsinnigerweise, denn jeder Tag macht mich älter und verknöcherter. Es kommen die alten Kopfschmerzen zurück, wenn ich es zu fassen versuche, daß sie gleichzeitig leidet und gleichzeitig ruhig und fröhlich ist. Durch viel Schreiben dürfen wir einander nicht wieder quälen, am besten, diese Zusammenkunft als etwas Vereinzeltes übergehn; oder glaube ich vielleicht daran, daß ich mich hier frei machen, vom Schreiben leben, ins Ausland oder sonstwohin fahren und dort mit F. heimlich leben werde? Wir haben uns ja auch sonst ganz unverändert gefunden. Jeder sagt es sich im stillen, daß der andere unerschütterlich und erbarmungslos ist. Ich lasse nichts nach von meiner Forderung nach einem phantastischen, nur für meine Arbeit berechneten Leben, sie will, stumpf gegen alle stummen Bitten, das Mittelmaß, die behagliche Wohnung, Interesse für die Fabrik, reichliches Essen, Schlaf von elf Uhr abends an, geheiztes Zimmer, stellt meine Uhr, die seit einem viertel Jahr um eineinhalb Stunden vorausgeht, auf die wirkliche Minute ein. Und sie behält recht und würde weiterhin recht behalten, sie hat recht, wenn sie mich zurechtweist, als ich dem Kellner sage: »Bringen Sie die Zeitung, bis sie ausgelesen ist«, und ich kann nichts richtigstellen, als sie von der »persönlichen Note« (es läßt sich nicht anders als knarrend aussprechen) der erwünschten Wohnungseinrichtung spricht. Sie nennt meine zwei ältern Schwestern »flach«, nach der jüngsten fragt sie gar nicht, für meine Arbeit hat sie fast keine Frage und keinen sichtbaren Sinn. Das ist die eine Seite.

Ich bin unfähig und öde wie immer und sollte eigentlich keine Zeit haben, um über etwas anderes nachzudenken als über die Frage, wie es kommt, daß jemand auch nur Lust hat, mit dem kleinen Finger nach mir zu tasten. Kurz hintereinander habe ich dreierlei Menschen mit diesem kalten Atem angeblasen. Die Hellerauer, die Familie R. in Bodenbach und F.

F. sagte: »Wie brav wir hier beisammen sind.« Ich schwieg, als hätte während dieses Ausrufes mein Gehör ausgesetzt. Zwei Stunden waren wir allein im Zimmer. Um mich herum nur Langeweile und Trostlosigkeit. Wir haben miteinander noch keinen einzigen guten Augenblick gehabt, währenddessen ich frei geatmet hätte. Das Süße des Verhältnisses zu einer geliebten Frau, wie in Zuckmantel und Riva, hatte ich F. gegenüber außer in Briefen nie, nur grenzenlose Bewunderung, Untertänigkeit, Mitleid, Verzweiflung und Selbstverachtung. Ich habe ihr auch vorgelesen, widerlich gingen die Sätze durcheinander, keine Verbindung mit der Zuhörerin, die mit geschlossenen Augen auf dem Kanapee lag und es stumm aufnahm. Eine laue Bitte, ein Manuskript mitnehmen und abschreiben zu dürfen. Bei der Türhütergeschichte größere Aufmerksamkeit und gute Beobachtung. Mir ging die Bedeutung der Geschichte erst auf, auch sie erfaßte sie richtig, dann allerdings fuhren wir mit groben Bemerkungen in sie hinein, ich machte den Anfang.

Die für andere Menschen gewiß unglaublichen Schwierigkeiten, die ich beim Reden mit Menschen habe, haben darin ihren Grund, daß mein Denken oder besser mein Bewußtseinsinhalt ganz nebelhaft ist, daß ich darin, so weit es nur auf mich ankommt, ungestört und manchmal selbstzufrieden ruhe, daß aber ein menschliches Gespräch Zuspitzung, Festigung und dauernden Zusammenhang braucht, Dinge, die es in mir nicht gibt. In Nebelwolken wird niemand mit mir liegen wollen, und selbst wenn er das wollte, so kann ich den Nebel nicht aus der Stirn hervortreiben, zwischen zwei Menschen zergeht er und ist nichts. F. macht den großen Umweg nach Bodenbach, hat die Mühe, sich den Paß zu beschaffen, muß mich nach einer durchwachten Nacht erdulden, gar noch eine Vorlesung anhören, und alles sinnlos. Ob sie es als solches Leid fühlt wie ich? Gewiß nicht, selbst gleiche Empfindlichkeit vorausgesetzt. Sie hat doch kein Schuldgefühl.

Meine Feststellung war richtig und wurde als richtig anerkannt: Jeder liebt den andern, so wie dieser andere ist. Aber so wie er ist, glaubt er, mit ihm nicht leben zu können.

Diese Gruppe: Dr. W. sucht mich zu überzeugen, daß F. hassenswert ist, F. sucht mich zu überzeugen, daß W. hassenswert ist. Ich glaube beiden und liebe beide oder strebe danach.

 

29. Januar. Wieder zu schreiben versucht, fast nutzlos. Letzte zwei Tage bald schlafen gegangen, um zehn Uhr, wie schon seit langer Zeit nicht. Freies Gefühl während des Tages, halbe Zufriedenheit, erhöhte Brauchbarkeit im Bureau, Möglichkeit, mit Menschen zu reden. – Jetzt starke Knieschmerzen.

 

30. Januar. Die alte Unfähigkeit. Kaum zehn Tage lang das Schreiben unterbrochen und schon ausgeworfen. Wieder stehn die großen Anstrengungen bevor. Es ist notwendig, förmlich unterzutauchen und schneller zu sinken als das vor einem Versinkende.

 

7. Februar. Vollständige Stockung. Endlose Quälereien.

 

Bei einem gewissen Stande der Selbsterkenntnis und bei sonstigen für die Beobachtung günstigen Begleitumständen wird es regelmäßig geschehn müssen, daß man sich abscheulich findet. Jeder Maßstab des Guten – mögen die Meinungen darüber noch so verschieden sein – wird zu groß erscheinen. Man wird einsehn, daß man nichts anderes ist als ein Rattenloch elender Hintergedanken. Nicht die geringste Handlung wird von diesen Hintergedanken frei sein. Diese Hintergedanken werden so schmutzig sein, daß man sie im Zustand der Selbstbeobachtung nicht einmal wird durchdenken wollen, sondern sich von der Ferne mit ihrem Anblick begnügen wird. Es wird sich bei diesen Hintergedanken nicht etwa bloß um Eigennützigkeit handeln, Eigennützigkeit wird ihnen gegenüber als ein Ideal des Guten und Schönen erscheinen. Der Schmutz, den man finden wird, wird um seiner selbst willen dasein, man wird erkennen, daß man triefend von dieser Belastung auf die Welt gekommen ist und durch sie unkenntlich oder allzu gut erkennbar wieder abgehn wird. Dieser Schmutz wird der unterste Boden sein, den man finden wird, der unterste Boden wird nicht etwa Lava enthalten, sondern Schmutz. Er wird das Unterste und das Oberste sein, und selbst die Zweifel der Selbstbeobachtung werden bald so schwach und selbstgefällig werden wie das Schaukeln eines Schweines in der Jauche.

 

9. Februar. Gestern und heute ein wenig geschrieben. Hundegeschichte.

 

Jetzt den Anfang gelesen. Es ist häßlich und verursacht Kopfschmerzen. Es ist trotz aller Wahrheit böse, pedantisch, mechanisch auf einer Sandbank ein noch knapp atmender Fisch. Ich schreibe ›Bouvard und Pécuchet‹ sehr frühzeitig. Wenn sich die beiden Elemente – am ausgeprägtesten im ›Heizer‹ und in der ›Strafkolonie‹ – nicht vereinigen, bin ich am Ende. Ist aber für diese Vereinigung Aussicht vorhanden?

 

Endlich ein Zimmer aufgenommen. Im gleichen Haus in der Bilekgasse.

 

10. Februar. Erster Abend. Der Nachbar unterhält sich stundenlang mit der Wirtin. Beide sprechen leise, die Wirtin fast unhörbar, desto ärger. Das seit zwei Tagen in Gang gekommene Schreiben unterbrochen, wer weiß für wie lange Zeit. Reine Verzweiflung. Ist es so in jeder Wohnung? Erwartet mich eine solche lächerliche und unbedingt tödliche Not bei jeder Vermieterin, in jeder Stadt? Die zwei Zimmer meines Klassenvorstandes im Kloster. Es ist aber unsinnig, sofort zu verzweifeln, lieber Mittel suchen, so sehr – nein, es ist meinem Charakter nicht entgegen, etwas zähes Judentum ist noch in mir, nur hilft es meistens auf der Gegenseite.

 

14. Februar. Die unendliche Anziehungskraft Rußlands. Besser als die Troika Gogols erfaßt es das Bild eines großen unübersehbaren Stromes mit gelblichem Wasser, das überall Wellen, aber nicht allzu hohe Wellen wirft. Wüste zerzauste Heide an den Ufern, geknickte Gräser. Nichts erfaßt das, verlöscht vielmehr alles.

 

Saint Simonismus.

 

15. Februar. Alles stockt. Schlechte, unregelmäßige Zeiteinteilung. Die Wohnung verdirbt mir alles. Heute wieder die Französischstunde der Haustochter angehört.

 

16. Februar. Finde mich nicht zurecht. Als sei mir alles entlaufen, was ich besessen habe, und als würde es mir kaum genügen, wenn es zurückkäme.

 

22. Februar. Unfähigkeit in jeder Hinsicht und vollständig.

 

25. Februar. Nach tagelangen ununterbrochenen Kopfschmerzen endlich ein wenig freier und zuversichtlicher. Wäre ich ein Fremder, der mich und den Verlauf meines Lebens beobachtet, müßte ich sagen, daß alles in Nutzlosigkeit enden muß, verbraucht in unaufhörlichem Zweifel, schöpferisch nur in Selbstquälerei. Als Beteiligter aber hoffe ich.

 

1. März. Mit großer Mühe nach wochenlanger Vorbereitung und Angst gekündigt, nicht ganz mit Grund, es ist ja ruhig genug, ich habe bloß noch nicht gut gearbeitet und deshalb weder die Ruhe noch die Unruhe genügend ausgeprobt. Gekündigt habe ich vielmehr aus eigener Unruhe. Ich will mich quälen, will meinen Zustand immerfort verändern, glaube zu ahnen, daß in der Veränderung meine Rettung liegt, und glaube weiter, daß ich durch solche kleine Veränderungen, die andere im Halbschlaf, ich aber unter Aufregung aller Verstandeskräfte mache, mich auf die große Veränderung, die ich wahrscheinlich brauche, vorbereiten kann. Ich tausche gewiß eine in vielem schlechtere Wohnung ein. Immerhin ist heute der erste (oder zweite) Tag, an dem ich, wenn ich nicht sehr starke Kopfschmerzen hätte, recht gut hätte arbeiten können. Habe eine Seite rasch hingeschrieben.

 

11. März. Wie die Zeit hingeht, schon wieder zehn Tage, und ich erreiche nichts. Ich dringe nicht durch. Eine Seite gelingt hie und da, aber ich kann mich nicht halten, am nächsten Tag bin ich machtlos.

 

Ost- und Westjuden,Die Zionisten benutzten die Tatsache der Anwesenheit ostjüdischer Kriegsflüchtlinge in Prag, um durch Debattenabende die gegenseitigen Beziehungen zwischen Ost und West zu klären. Selbstverständlich gab es zunächst viele Mißverständnisse, späterhin aber doch fruchtbare Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung. ein Abend. Die Verachtung der Ostjuden für die hiesigen Juden. Die Berechtigung dieser Verachtung. Wie die Ostjuden den Grund dieser Verachtung kennen, die Westjuden aber nicht. Zum Beispiel die grauenhafte, alle Lächerlichkeit übersteigende Auffassung, mit der die Mutter ihnen beizukommen sucht. Selbst Max, das Ungenügende, Schwächliche seiner Rede, Rockaufknöpfen, Rockzuknöpfen. Und hier ist doch guter und bester Wille. Dagegen ein gewisser W., zugeknöpft in ein elendes Röckchen, einen Kragen, der nicht mehr schmutziger werden kann, als Festkragen angezogen, schmettert Ja und Nein, Ja und Nein. Ein teuflisches, unangenehmes Lächeln um den Mund, Falten im jungen Gesicht, Bewegungen der Arme, wild und verlegen. Der Beste aber der Kleine, der ganz aus Schulung besteht, mit spitzer, keiner Steigerung fähiger Stimme, die eine Hand in der Hosentasche, mit der andern gegen die Zuhörer bohrend, unaufhörlich fragt und gleich das zu Beweisende beweist. Stimme eines Kanarienvogels. Füllt mit dem Filigran der Rede bis zur Qual eingebrannte labyrinthartige Rinnen aus. Werfen des Kopfes. Ich wie aus Holz, ein in die Mitte des Saales geschobener Kleiderhalter. Und doch Hoffnung.

 

13. März. Ein Abend: Um sechs Uhr auf das Kanapee gelegt. Etwa bis acht Uhr geschlafen. Unfähig gewesen aufzustehn, auf einen Uhrenschlag gewartet und im Dusel alles überhört. Um neun Uhr aufgestanden. Nicht mehr nach Hause zum Nachtmahl gegangen, auch nicht zu Max, wo heute ein gemeinsamer Abend war. Gründe: Appetitlosigkeit, Angst vor der Rückkehr spät am Abend, vor allem aber der Gedanke daran, daß ich gestern nichts geschrieben habe, mich immer mehr davon entferne und in Gefahr bin, alles im letzten halben Jahr mühselig Erworbene zu verlieren. Den Beweis dafür geliefert, indem ich eineinhalb elende Seiten einer neuen und schon endgültig verworfenen Geschichte schrieb und dann in einer gewiß vom Zustand des lustlosen Magens mitverschuldeten Verzweiflung Herzen las, um mich irgendwie von ihm weiterführen zu lassen. Glück seines ersten Ehejahres, Entsetzen, mich in ein solches Glück gestellt zu sehn, das große Leben in seinen Kreisen, Belinski, Bakunin tagelang im Pelz auf dem Bett.

 

Manchmal das Gefühl fast zerreißenden Unglücklichseins und gleichzeitig die Überzeugung der Notwendigkeit dessen und eines durch jedes Anziehen des Unglücks erarbeiteten Zieles (jetzt beeinflußt durch die Erinnerung an Herzen, geschieht aber auch sonst).

 

14. März. Ein Vormittag: bis halb zwölf im Bett. Durcheinander von Gedanken, das sich langsam bildet und in unglaubwürdiger Weise festigt. Nachmittag gelesen (Gogol, Aufsatz über Lyrik), Abend Spaziergang zum Teil mit den haltbaren, aber nicht vertrauenswürdigen Gedanken vom Vormittag. In den Chotekanlagen gesessen. Schönster Ort in Prag. Vögel sangen, das Schloß mit der Galerie, die alten Bäume mit vorjährigem Laub behängt, das Halbdunkel. Später kam Ottla mit D.

 

17. März. Von Lärm verfolgt. Ein schönes, viel freundlicheres Zimmer als das in der Bilekgasse. Ich bin von der Aussicht so abhängig, die ist hier schön, die Teinkirche. Aber großer Lärm der Wagen unten, an den ich mich aber schon gewöhne. Unmöglich aber, mich an den Lärm am Nachmittag zu gewöhnen. Von Zeit zu Zeit ein Krach in der Küche oder am Gang. Über mir auf dem Boden gestern ewiges Rollen einer Kugel wie beim Kegeln, unverständlicher Zweck, dann unten auch Klavier. Abends gestern verhältnismäßige Stille, ein wenig aussichtsvoll gearbeitet (›Unterstaatsanwalt‹), heute mit Lust angefangen, plötzlich nebenan oder unter mir Unterhaltung einer Gesellschaft, so laut und wechselnd, als umschwebe sie mich. Ein wenig mit dem Lärm gekämpft, dann mit förmlich zerrissenen Nerven auf dem Kanapee gelegen, nach zehn Uhr Stille, kann aber nicht mehr arbeiten.

 

23. März. Unfähig, eine Zeile zu schreiben. Das Wohlbehagen, mit dem ich gestern in den Chotekschen Anlagen und heute auf dem Karlsplatz mit Strindberg ›Am offenen Meer‹ gesessen bin. Das Wohlbehagen heute im Zimmer. Hohl wie eine Muschel am Strand, bereit, durch einen Fußtritt zermalmt zu werden.

 

25. März. Gestern Maxens Vortrag ›Religion und Nation‹. Talmudzitate, Ostjuden. Die Lembergerin. Der Westjude, der sich den Chassidim assimiliert hat, der Wattestöpsel im Ohr. Steidler, ein Sozialist, langes glänzendes, scharf geschnittenes Haar. Die Art, wie die Ostjüdinnen parteiisch sich entzücken. Die Gruppe der Ostjuden beim Ofen. G. im Kaftan, das selbstverständliche jüdische Leben. Meine Verwirrung.

 

9. April. Qualen der Wohnung. Grenzenlos. Ein paar Abende gut gearbeitet. Hätte ich in den Nächten arbeiten dürfen! Heute durch Lärm am Schlafen, am Arbeiten, an allem gehindert.

 

14. April. Die Homerstunde der galizischen Mädchen. Die in der grünen Bluse, scharfes strenges Gesicht; wenn sie sich meldet, hebt sie den Arm rechtwinklig; hastige Bewegungen beim Anziehn; wenn sie sich meldet und nicht aufgerufen wird, schämt sie sich und wendet das Gesicht zur Seite. Das grün gekleidete starke junge Mädchen bei der Nähmaschine.

 

27. April. In Nagy Mihály mit meiner Schwester.Kafka begleitete seine älteste Schwester Elli, die in der Nähe der Front ihren als Reserveoffizier eingerückten Mann besuchte. Unfähig, mit Menschen zu leben, zu reden. Vollständiges Versinken in mich, Denken an mich. Stumpf, gedankenlos, ängstlich. Ich habe nichts mitzuteilen, niemals, niemandem. – Fahrt nach Wien. Der alles wissende, alles beurteilende, im Reisen erfahrene Wiener, lang, blondbärtig, Beine übereinandergeschlagen, liest ›Az Est‹; bereitwillig und, wie Elli und ich (in dieser Hinsicht in gleicher Weise auf der Lauer) merken, doch auch zurückhaltend. Ich sage: »Wie erfahren Sie im Reisen sind!« (Er weiß alle Eisenbahnverbindungen, die ich brauche, wie sich später herausstellt, sind allerdings die Angaben nicht ganz richtig, kennt alle elektrischen Straßenbahnlinien in Wien, gibt mir Ratschläge wegen des Telephonierens in Budapest, kennt die Paketbeförderungseinrichtungen, weiß, daß man weniger zahlt, wenn man im Taxameterautomobil das Gepäck mit ins Wageninnere nimmt) – darauf antwortet er nichts, sondern sitzt unbeweglich mit gesenktem Kopf. Das Mädchen aus Zizkov, weichmütig, redselig, aber selten imstande, durchzudringen, blutarm, wertloser, unentwickelter und nicht mehr entwicklungsfähiger Körper. Die alte Frau aus Dresden mit dem Bismarckgesicht, gibt sich später als Wienerin zu erkennen. Die dicke Wienerin, Frau eines Redakteurs der ›Zeit‹, viel Zeitungswissen, klare Rede, vertritt zu meinem größten Widerwillen meist meine eigene Meinung. Ich meist stumm, weiß nichts zu sagen, der Krieg löst in diesem Kreise nicht die geringste mitteilenswerte Meinung bei mir aus. Wien–Budapest. Die zwei Polen, der Lieutnant und die Dame, steigen bald aus, flüstern beim Fenster, sie bleich, nicht ganz jung, fast hohlwangig, oft die Hand an die vom Rock gepreßten Hüften, raucht viel. Die zwei ungarischen Juden, der eine beim Fenster Bergmann ähnlich, stützt mit der Schulter den Kopf des schlafenden andern. Den ganzen Morgen über etwa von fünf Uhr an geschäftliche Gespräche, Rechnungen und Briefe gehn von Hand zu Hand, aus einer Handtasche werden Muster der verschiedenartigsten Waren hervorgezogen. Mir gegenüber ein ungarischer Lieutnant, im Schlaf leeres, häßliches Gesicht, offener Mund, komische Nase, früh, als er Auskunft über Budapest gibt, erhitzt, mit glänzenden Augen, lebhafter Stimme, in der sich die ganze Person einsetzt. Nebenan im Coupé die Juden aus Bistritz, die nach Hause zurückkehren. Ein Mann führt einige Frauen. Sie erfahren, daß eben Körös Mesö für den Zivilverkehr gesperrt worden ist. Sie werden zwanzig Stunden oder noch mehr im Wagen fahren müssen. Sie erzählen von einem Mann, der so lange in Radautz geblieben ist, bis die Russen so nah waren und ihm keine andere Möglichkeit der Flucht blieb, als sich auf die letzte durchfahrende österreichische Kanone zu setzen. Budapest. Verschiedenartigste Auskünfte über die Verbindung mit Nagy Mihály, die ungünstigen, denen ich nicht glaube, erweisen sich dann als die richtigen. Der Husar auf dem Bahnhof in der verschnürten Pelzjacke tanzt und setzt die Füße wie ein zur Schau gestelltes Pferd. Nimmt Abschied von einer Dame, die wegfährt. Unterhält sie leicht und ununterbrochen, wenn nicht durch Worte, so durch Tanzbewegungen und Hantieren mit dem Säbelgriff. Führt sie ein- oder zweimal, aus vorsorglicher Befürchtung, der Zug könnte schon wegfahren, die Treppe zum Waggon hinauf, die Hand fast unter ihrer Achsel. Er ist mittelgroß, starke große gesunde Zähne, der Schnitt und die Taillenbetonung der Pelzjacke gibt seiner Erscheinung etwas Weibisches. Er lächelt viel nach allen Seiten, ein förmlich unbewußtes sinnloses Lächeln, bloßer Beweis der selbstverständlichen, fast von der Offiziersehre geforderten vollständigen und immerwährenden Harmonie seines Wesens.

Das alte Ehepaar, das unter Tränen Abschied nimmt. Sinnlos wiederholte unzählige Küsse, so wie man in der Verzweiflung, ohne davon zu wissen, die Zigarette immer wieder vornimmt. Familienmäßiges Verhalten ohne Rücksicht auf die Umgebung. So geht es in allen Schlafzimmern zu. Ihre Gesichtszüge können überhaupt nicht gemerkt werden, eine alte unscheinbare Frau, sieht man ihr Gesicht genauer an, versucht man, es genauer anzusehn, löst es sich förmlich auf und nur eine schwache Erinnerung an irgendeine kleine, gleichfalls unscheinbare Häßlichkeit, etwa die rote Nase oder einige Pockennarben, bleibt zurück. Er hat einen grauen Schnauzbart, große Nase und wirklich Pockennarben. Radmantel und Stock. Beherrscht sich gut, trotzdem er sehr ergriffen ist. Greift in wehmütigem Schmerz der alten Frau ans Kinn. Was für eine Zauberei darin liegt, wenn einer alten Frau unter das Kinn gegriffen wird. Schließlich sehen sie einander weinend ins Gesicht. Sie meinen es nicht so, aber man könnte es so deuten: Sogar dieses elende kleine Glück, wie es die Verbindung von zwei alten Leuten ist, wird durch den Krieg gestört.

Der riesige deutsche Offizier marschiert, mit verschiedenen kleinen Ausrüstungsstücken behängt, zuerst durch den Bahnhof, dann durch den Zug. Vor Strammheit und Größe ist er steif; daß er sich bewegt, ist fast erstaunlich; vor der Festigkeit der Taille, der Breite des Rückens, dem schlanken Bau des Ganzen reißt man die Augen auf, um alles in einem fassen zu können.

Im Coupé zwei ungarische Jüdinnen, Mutter und Tochter. Beide ähnlich und doch die Mutter in anständiger Verfassung, die Tochter ein elendes, aber selbstbewußtes Überbleibsel. Mutter – großes, gut ausgearbeitetes Gesicht, wolliger Bart am Kinn. Die Tochter kleiner, spitziges Gesicht, unreine Haut, blaues Kleid, über dem kläglichen Busen weißer Bluseneinsatz.

Rote-Kreuz-Schwester. Sehr sicher und entschlossen. Reist, als wäre sie eine ganze Familie, die sich selbst genügt. Wie der Vater raucht sie Zigaretten und geht im Gang auf und ab, wie ein Junge springt sie auf die Bank, um etwas aus ihrem Rucksack zu holen, wie eine Mutter schneidet sie vorsichtig das Fleisch, das Brot, die Orange, wie ein kokettes Mädchen, das sie wirklich ist, zeigt sie auf der gegenüberliegenden Bank ihre schönen kleinen Füße, die gelben Stiefel und die gelben Strümpfe an den festen Beinen. Sie hätte nichts dagegen, angesprochen zu werden, beginnt sogar selbst zu fragen, nach den Bergen, die man in der Ferne sieht, gibt mir ihren Führer, damit ich die Berge auf der Karte suche. Lustlos liege ich in meiner Ecke, ein Widerwille, sie so auszufragen, wie sie es erwartet, türmt sich in mir auf, trotzdem sie mir gut gefällt. Starkes braunes Gesicht von unbestimmtem Alter, grobe Haut, gewölbte Unterlippe, Reisekleidung, darunter der Pflegerinnenanzug, weicher Kappenhut, nach Belieben über das fest gedrehte Haar gerückt. Da sie nicht gefragt wird, beginnt sie brockenweise vor sich hinzuerzählen. Meine Schwester, der sie, wie ich später erfahre, gar nicht gefallen hat, unterstützt sie ein wenig. Sie fährt nach Satoralja Ujhel, wo sie ihre weitere Bestimmung erfahren wird, am liebsten ist sie dort, wo am meisten zu tun ist, denn dort vergeht die Zeit am schnellsten (meine Schwester schließt daraus, daß sie unglücklich ist, was ich aber für unrichtig halte). Man erlebt mancherlei, einer zum Beispiel hat unerträglich im Schlaf geschnarcht, man hat ihn geweckt, ihn gebeten, auf die andern Patienten Rücksicht zu nehmen, er hat es versprochen, kaum aber ist er zurückgefallen, war auch schon wieder das schreckliche Schnarchen da. Es war sehr komisch. Die andern Patienten haben die Pantoffel nach ihm geworfen, er lag in der Zimmerecke und war deshalb ein nicht zu verfehlendes Ziel. Man muß mit den Kranken streng sein, sonst kommt man nicht zum Ziel, ja, ja, nein, nein, nur nicht mit sich handeln lassen. Hier mache ich eine dumme, aber für mich sehr charakteristische, kriecherische, listige, nebenseitige, unpersönliche, teilnahmslose, unwahre, von weit her, aus irgendeiner letzten krankhaften Veranlagung geholte, überdies durch die Strindberg-Aufführung vom Abend vorher beeinflußte Bemerkung darüber, daß es Frauen wohltun muß, Männer so behandeln zu dürfen. Sie überhört die Bemerkung oder geht über sie hinweg. Meine Schwester natürlich faßt sie ganz in dem Sinn auf, in dem sie gemacht ist, und eignet sich sie durch Lachen an. Weitere Erzählungen von einem Tetanuskranken, der gar nicht sterben wollte.

Der ungarische Stationsvorstand, der mit seinem kleinen Jungen später einsteigt. Die Krankenschwester reicht dem Jungen eine Orange. Der Junge nimmt sie. Dann reicht sie ihm ein Stück Marzipan, berührt seine Lippen damit, aber er zögert. Ich sage: Er kann es nicht glauben. Die Schwester wiederholt es Wort für Wort. Sehr angenehm.

Vor den Fenstern Theiß und Bodrog mit ihren riesigen Frühjahrsausflüssen. Seelandschaften. Wildenten. Berge mit Tokayerwein. Bei Budapest plötzlich zwischen gepflügten Feldern eine halbkreisförmige befestigte Stellung. Drahthindernisse, sorgfältig ausgepölzte Deckungen mit Bänken, modellartig. Für mich rätselhafter Ausdruck: »dem Gelände angepaßt«. Zur Erkenntnis des Geländes gehört der Instinkt eines Vierfüßlers.

Schmutziges Hotel in Ujhel. Im Zimmer alles abgenützt. Auf dem Nachttisch noch die Zigarrenasche der letzten Schläfer. Die Betten nur scheinbar rein überzogen. Versuch, im Gruppenkommando, dann im Etappenkommando, Erlaubnis zur Benutzung eines Militärzuges zu bekommen. Beide in behaglichen Zimmern, besonders das letztere. Gegensatz zwischen Militär und Beamtentum. Richtige Bewertung der Schreibarbeit: ein Tisch mit Tintenfaß und Feder. Die Balkontür und das Fenster offen. Bequemes Kanapee. In einem verhängten Verschlag auf dem Hofbalkon Geklapper von Geschirr. Die Jause wird aufgetragen. Jemand – es ist, wie sich später zeigt, der Oberleutnant – lüftet den Vorhang, um zu sehn, wer hier wartet. Mit den Worten: »Man muß doch den Gehalt verdienen« unterbricht er die Jause und kommt zu mir. Ich erreiche übrigens nichts, trotzdem ich nochmals nach Hause zurückgehen muß, um auch meine zweite Legitimation zu holen. Es wird mir nur auf die Legitimation die militärische Bewilligung zur Benutzung des Postzuges am nächsten Tag geschrieben, eine ganz überflüssige Bewilligung.

Gegend am Bahnhof dörfisch, Ringplatz verwahrlost (Kossuth-Denkmal, Kaffeehäuser mit Zigeunermusik, Konditorei, ein elegantes Schuhgeschäft, Ausschreien des ›Az Est‹, ein stolz mit übertriebenen Bewegungen herumspazierender einarmiger Soldat, ein roher Farbdruck, der einen deutschen Sieg darstellt, ist, sooft ich im Laufe von vierundzwanzig Stunden vorübergehe, umlagert und genau untersucht, P. getroffen), eine reinere Vorstadt. Abend im Kaffeehaus, lauter Zivilisten, Einwohner von Ujhel, einfache und doch fremdartige, zum Teil verdächtige Leute, verdächtig, nicht weil Krieg ist, sondern weil sie unverständlich sind. Ein Feldkurat liest allein Zeitungen. – Vormittag der junge schöne deutsche Soldat im Gasthaus. Läßt sich viel auftragen, raucht eine dicke Zigarre, schreibt dann. Scharfe strenge, aber jugendliche Augen, klares regelmäßiges glattrasiertes Gesicht. Zieht dann den Tornister an. Habe ihn später, vor jemandem salutierend, noch wiedergesehn, weiß aber nicht wo.

 

3. Mai. Vollständige Gleichgültigkeit und Stumpfheit. Ein ausgetrockneter Brunnen, Wasser in unerreichbarer Tiefe und dort ungewiß. Nichts, nichts. Verstehe das Leben in ›Entzweit‹ von Strindberg nicht; was er schön nennt, widert mich, in Beziehung zu mir gesetzt, an. Ein Brief an F., falsch, nicht wegschickbar. Was hält mich für eine Vergangenheit oder Zukunft? Die Gegenwart ist gespenstisch, ich sitze nicht am Tisch, sondern umflattere ihn. Nichts, nichts. Öde, Langweile, nein, nicht Langweile, nur Öde, Sinnlosigkeit, Schwäche. Gestern in Dobřichowitz.Ausflugsort in der Nähe von Prag.

 

4. Mai. Besserer Zustand, weil ich Strindberg (›Entzweit‹) gelesen habe. Ich lese ihn nicht, um ihn zu lesen, sondern um an seiner Brust zu hegen. Er hält mich wie ein Kind auf seinem Unken Arm. Ich sitze dort wie ein Mensch auf einer Statue. Bin zehnmal in Gefahr, abzugleiten, beim elften Versuche sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große Übersicht.

 

Überlegung des Verhältnisses der andern zu mir. So wenig ich sein mag, niemand ist hier, der Verständnis für mich im ganzen hat. Einen haben, der dieses Verständnis hat, etwa eine Frau, das hieße Halt auf allen Seiten haben, Gott haben. Ottla versteht manches, sogar vieles, Max, Felix manches, manche wie E. verstehn nur einzelnes, aber dieses mit abscheulicher Intensität, F. versteht vielleicht gar nichts, das gibt allerdings hier, wo unleugbare innere Beziehung ist, eine große Sonderstellung. Manchmal glaubte ich, daß sie mich verstehe, ohne daß sie es wußte, zum Beispiel als sie mich, damals, als ich mich unerträglich nach ihr sehnte, an der Untergrundbahnstation erwartete, ich in meiner Sucht, nur möglichst rasch zu ihr zu kommen, die ich oben vermutete, an ihr vorüberlaufen wollte und sie mich still an der Hand ergriff.

 

5. Mai. Nichts, dumpfer, leicht schmerzender Kopf. Nachmittag Choteksche Anlagen, Strindberg gelesen, der mich nährt.

Das langbeinige schwarzäugige gelbhäutige kindliche Mädchen, lustig frech und lebhaft. Sieht eine kleine Freundin, die den Hut in der Hand trägt. »Hast du zwei Köpfe?« Die Freundin versteht gleich den an sich sehr matten, aber durch die Stimme und das Einsetzen der ganzen kleinen Person lebendigen Scherz. Lachend erzählt sie ihn einer zweiten Freundin, die sie ein paar Schritte weiter trifft: »Sie hat mich gefragt, ob ich zwei Köpfe habe!«

Früh Fräulein R.Unsere Zufallsbekanntschaft auf der Fahrt nach Zürich 1911. getroffen. Eigentlich ein Abgrund von Häßlichkeit, so verändern kann sich ein Mann nicht. Plumper Körper, wie noch vom Schlafe her gelöst; die alte Jacke, die ich kenne; was sie unter der Jacke trägt, ist ebenso unkenntlich wie verdächtig, vielleicht nur das Hemd; es ist ihr offenbar auch unheimlich, in diesem Zustand getroffen zu werden, aber sie tut etwas Falsches, statt den Ort der Verlegenheit zu verbergen, greift sie wie schuldbewußt in den Jackenausschnitt, zieht die Jacke zurecht. Starker Bartflaum auf der Oberlippe, aber nur an einer Stelle, ausgesucht häßlicher Eindruck. Trotz allem gefällt sie mir sehr gut, auch im zweifellos Häßlichen, überdies ist die Schönheit ihres Lächelns unverändert, die Schönheit der Augen hat durch die Herabminderung des Ganzen gelitten. Im übrigen sind wir durch Erdteile getrennt, ich verstehe sie gewiß nicht, sie dagegen begnügt sich mit dem ersten oberflächlichsten Eindruck, den sie von mir erhalten hat. In aller Unschuld bittet sie um eine Brotkarte.

Abend ein Kapitel der ›Neuen Christen‹ gelesen.Unvollendeter Roman von mir.

Der alte Vater und die ältliche Tochter. Er verständig, spitzbärtig, schwach gebeugt, ein Stöckchen am Rücken. Sie breitnasig, mit starkem Unterkiefer, rundes, aber zerbeultes Gesicht, dreht sich schwer in ihren breiten Hüften. »Sie sagen, ich sehe schlecht aus. Ich sehe doch nicht schlecht aus.«

 

14. Mai. Aus aller Regelmäßigkeit des Schreibens gekommen. Viel im Freien. Spaziergang mit Fräulein St. nach Troja, mit Fräulein R., ihrer Schwester, Felix, Frau und Ottla nach Dobøichowitz, Èastalice. Wie in einer Folter. Heute Gottesdienst in der Teingasse, dann Tuchmachergasse, dann Volksküche. Heute alte Kapitel aus dem ›Heizer‹ gelesen. Scheinbar mir heute unzugängliche (schon unzugängliche) Kraft. Fürchte, wegen Herzfehler untauglich zu sein.

 

27. Mai. Viel Unglück mit der letzten Eintragung. Gehe zugrunde. So sinnlos und unnötig zugrunde zu gehn.

 

13. September. Vorabend von Vaters Geburtstag, neues Tagebuch. Es ist nicht so notwendig wie sonst, unruhig muß ich mich nicht machen, unruhig bin ich genug, aber zu welchem Ziel, wann kommt es, wie kann ein Herz, ein nicht ganz gesundes Herz so viel Unzufriedenheit und so viel ununterbrochen zerrendes Verlangen ertragen.

Die Zerstreutheit, die Gedächtnisschwäche, die Dummheit!

 

14. September. Mit Max und LangerGeorg Mordechai Langer aus Prag, der jahrelang im Osten das Leben eines »Chassid« zu leben versuchte, später in tschechischer, deutscher, hebräischer Sprache über Kabbala und verwandte Themen schrieb. Es erschienen u. a. zwei Bändchen hebräischer Gedichte von ihm. – Der hier genannte Wunderrabbi oder Zaddik, ein Verwandter des »Beizer Rabbi«, war vor den Russen aus Grodek nach Prag geflüchtet, seine Anhänger mit ihm. – ›ulice‹: Gasse. Žižkov, ein Vorort Prags. Samstag beim Wunderrabbi. Žižkov, Harantova ulice. Viele Kinder auf dem Trottoir und den Treppenstufen. Ein Gasthaus. Oben vollständig finster, blindlings ein paar Schritte mit vorgehaltenen Händen. Ein Zimmer mit bleichem Dämmerlicht, weißgraue Wände, einige kleine Frauen und Mädchen, weiße Kopftücher, blasse Gesichter, stehn herum, kleine Bewegungen. Eindruck des Blutleeren. Nächstes Zimmer. Alles schwarz, voll mit Männern und jungen Leuten. Lautes Beten. Wir drücken uns in eine Ecke. Kaum sehn wir uns ein wenig um, ist das Gebet zu Ende, das Zimmer leert sich. Ein Eckzimmer mit zwei Fensterwänden mit je zwei Fenstern. Wir werden zu einem Tisch gedrängt, rechts vom Rabbi. Wir wehren uns. »Ihr seid doch auch Juden.« Das stärkste väterliche Wesen macht den Rabbi. »Alle Rabbi sehen wild aus«, sagte Langer. Dieser im Seidenkaftan, darunter schon Unterhosen sichtbar. Haare auf dem Nasenrücken. Mit Fell eingefaßte Kappe, die er immerfort hin und her rückt. Schmutzig und rein, Eigentümlichkeit intensiv denkender Menschen. Kratzt sich am Bartansatz, schneuzt durch die Hand auf den Fußboden, greift mit den Fingern in die Speisen – wenn er aber ein Weilchen die Hand auf dem Tisch liegen läßt, sieht man das Weiß der Haut, wie man ein ähnliches Weiß nur in Vorstellungen der Kindheit gesehn zu haben glaubt. Damals allerdings waren auch die Eltern rein.

 

16. September. Anblick der polnischen Juden, die zum Kol Nidre gehn. Der kleine Junge, der, unter beiden Armen Gebetmäntel, neben seinem Vater herläuft. Selbstmörderisch, nicht in den Tempel zu gehn.

Bibel aufgeschlagen. Von den ungerechten Richtern. Finde also meine Meinung oder wenigstens die Meinung, die ich in mir bisher vorgefunden habe. Übrigens hat es keine Bedeutung, ich werde in solchen Dingen niemals sichtbar gelenkt, vor mir flattern nicht die Blätter der Bibel.

Die ergiebigste Stelle zum Hineinstechen scheint zwischen Hals und Kinn zu sein. Man hebe das Kinn und steche das Messer in die gestrafften Muskeln. Die Stelle ist aber wahrscheinlich nur in der Vorstellung ergiebig. Man erwartet dort ein großartiges Ausströmen des Blutes zu sehn und ein Flechtwerk von Sehnen und Knöchelchen zu zerreißen, wie man es ähnlich in den gebratenen Schenkeln von Truthähnen findet.

›Förster Fleck in Rußland‹ gelesen. Napoleons Rückkehr auf das Schlachtfeld von Borodino. Das Kloster dort. Es wird in die Luft gesprengt.

 

28. September. Vollständiges Nichtstun. Memoiren des Generals Marcellin de Marbot und Holzhausen ›Leiden der Deutschen 1812‹.

Sinnlosigkeit des Klagens. Als Antwort darauf Stiche im Kopf.

Ein kleiner Junge lag in der Badewanne. Es war das erste Bad, bei dem, seinem alten Wunsche nach, weder die Mutter noch das Dienstmädchen zugegen waren. Er hatte sich, um dem Befehl der Mutter, die ihm hie und da aus dem Nebenzimmer zurief, zu entsprechen, mit dem Schwamm flüchtig bestrichen; dann hatte er sich ausgestreckt und genoß die Unbeweglichkeit im heißen Wasser. Die Gasflamme summte gleichmäßig, und im Ofen knisterte das vergehende Feuer. Im Nebenzimmer war es schon lange still, vielleicht hatte sich die Mutter entfernt.

Warum ist das Fragen sinnlos? Klagen heißt: Fragen stellen und warten, bis Antwort kommt. Fragen aber, die sich nicht selbst im Entstehen beantworten, werden niemals beantwortet. Es gibt keine Entfernungen zwischen Fragesteller und Antwortgeber.

Es sind keine Entfernungen zu überwinden. Daher Fragen und Warten sinnlos.

 

29. September. Verschiedene nebelhafte Entschlüsse. Die gelingen mir. Zufälliges Erblicken eines damit nicht ganz unzusammenhängenden Bildes in der Ferdinandstraße. Eine schlechte Skizze eines Freskos. Darunter ein tschechischer Spruch, etwa: Verblendeter, du verläßt den Becher wegen des Mädchens, bald wirst du belehrt zurückkommen.

Schlechter elender Schlaf, früh marternde Kopfschmerzen, aber freierer Tag.

Viele Träume. Auftreten einer Mischung von Direktor Marschner und Diener Pimisker. Rote feste Wangen, schwarz gewichster Bart, ebensolches stark wildes Haar.

Früher dachte ich: Dich wird nichts umbringen, diesen harten klaren, geradezu leeren Kopf, niemals wirst du unbewußt oder im Schmerz die Augen zusammenziehn, die Stirn falten, mit den Händen zucken, wirst es immer nur darstellen können.

Wie konnte Fortinbras sagen, Hamlet hätte sich höchst königlich bewährt.

Konnte mich nachmittags nicht abhalten, das gestern Geschriebene, »den Schmutz des vorigen Tages« zu lesen, ohne Schaden übrigens.

 

30. September. Durchgesetzt, daß Felix nicht Max gestört hat. Dann bei Felix.

Roßmann und K.,Roßmann im Roman ›Amerika‹, K. im Roman ›Der Prozeß‹. der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.

 

1. Oktober. III. Band Memoiren des Generals Marcellin de Marbot. Polozk–Beresina–Leipzig–Waterloo.Die nächsten acht Seiten des Manuskripts enthalten Auszüge aus dem genannten Werk. – Es folgt ein etwa zwei Seiten umfassender Auszug aus dem Buch von Paul Holzhausen ›Die Deutschen in Rußland 1812‹.

 

6. Oktober. Verschiedene Formen der Nervosität. Ich glaube, Lärm kann mich nicht mehr stören. Allerdings arbeite ich jetzt nicht. Allerdings, je tiefer man sich seine Grube gräbt, desto stiller wird es, je weniger ängstlich man wird, desto stiller wird es.

Erzählungen Langers:

Einem Zaddik soll man mehr gehorchen als Gott. Baalschem sagte einmal einem seiner liebsten Schüler, er solle sich taufen lassen. Er ließ sich taufen, kam zu Ansehn, wurde Bischof. Da ließ ihn Baalschem zu sich kommen und erlaubte ihm, zum Judentum zurückzukehren. Er folgte wieder und tat wegen seiner Sünde große Buße. Baalschem erklärte seinen Befehl damit, daß der Schüler wegen seiner ausgezeichneten Eigenschaften vom Bösen sehr verfolgt gewesen sei und daß die Taufe den Zweck gehabt habe, den Bösen abzulenken. Baalschem warf den Schüler selbst mitten ins Böse, der Schüler tat den Schritt nicht aus Schuld, sondern auf Befehl und für den Bösen schien es hier keine Arbeit mehr zu geben.

Alle hundert Jahre erscheint ein oberster Zaddik, ein Zaddik Hador. Er muß gar nicht bekannt sein, kein Wunderrabbi sein und ist doch der oberste. Baalschem war nicht Zaddik Hador in seiner Zeit, das war vielmehr ein unbekannter Kaufmann in Drohobyz. Dieser hörte, daß Baalschem, wie dies auch andere Zaddiks taten, Amulette schrieb, und hatte den Verdacht, daß er Anhänger des Sabbatai Zwi sei und dessen Name auf die Amulette schreibe. Deshalb nahm er ihm, ohne ihn persönlich zu kennen, von der Ferne aus die Macht, jene Amulette zu geben. Baalschem erkannte bald die Machtlosigkeit seiner Amulette – er hatte aber immer nichts anderes auf die Amulette geschrieben als seinen eigenen Namen – und erfuhr auch nach einiger Zeit, daß der Drohobyczer die Ursache dessen war. Als einmal der Drohobyczer in die Stadt Baalschems kam – es war an einem Montag –, ließ ihn Baalschem, ohne daß er es merkte, einen Tag verschlafen; der Drohobyczer blieb infolgedessen in der Zeitrechnung immer um einen Tag zurück. Freitag abend – er dachte, es wäre Donnerstag – wollte er nach Hause fahren, um die Feiertage zu Hause zu verbringen. Da sieht er die Leute in den Tempel gehen und merkt den Irrtum. Er beschließt, hier zu bleiben und läßt sich zu Baalschem fuhren. Dieser hat schon am Nachmittag seiner Frau den Auftrag gegeben, ein Mahl für dreißig Personen herzurichten. Als der Drohobyczer kommt, setzt er sich nach den Gebeten gleich zum Essen und ißt in kurzer Zeit das für dreißig Personen bestimmte Essen auf. Aber er wird nicht satt, sondern verlangt weiteres Essen. Baalschem sagt: »Einen Engel ersten Grades habe ich erwartet, auf einen Engel zweiten Grades war ich aber nicht vorbereitet.« Er ließ nun alles Eßbare bringen, was im Hause war, aber auch das genügte nicht.

Baalschem war nicht Zaddik Hador, aber er war noch höher. Zeuge dessen ist der Zaddik Hador selbst. Dieser kam nämlich einmal abends in den Ort, wo die künftige Frau Baalschems als Mädchen wohnte. Er war Gast in dem Hause der Eltern des Mädchens. Ehe er auf den Dachboden schlafen ging, verlangte er ein Licht, aber es war keines im Hause. Er ging also ohne Licht hinauf, aber als das Mädchen später vom Hof hinaufsah, war es oben hell wie bei einer Illumination. Da erkannte sie, daß er ein besonderer Gast war und sie bat ihn, sie zur Frau zu nehmen. Sie durfte so bitten, denn ihre höhere Bestimmung erwies sich darin, daß sie den Gast erkannt hat. Aber der Zaddik Hador sagte: »Du bist für einen noch Höheren bestimmt.« Dies beweist, daß Baalschem höher war als ein Zaddik Hador.

 

7. Oktober. Gestern lange mit Fräulein R. im Vestibül des Hotels. Schlecht geschlafen, Kopfschmerzen.

Als Hinkender die Gerti geschreckt, das Schreckliche des Pferdefußes.

Gestern in der Naiklasstraße ein gestürztes Pferd mit blutigem Knie. Ich schaue weg und mache unbeherrscht Grimassen am hellen Tag.

Unlösbare Frage: Bin ich gebrochen? Bin ich im Niedergang? Fast alle Anzeichen sprechen dafür (Kälte, Stumpfheit, Nervenzustand, Zerstreutheit, Unfähigkeit im Amt, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit), fast nur die Hoffnung spricht dagegen.

 

3. November. Viel gesehn in der letzten Zeit, weniger Kopfschmerzen. Spaziergänge mit Fräulein R. Mit ihr bei ›Er und seine Schwester‹, von Girardi gespielt. (Haben Sie denn Talent? – Gestatten Sie, daß ich dazwischentrete und für Sie antworte: O ja, ó ja.) In der städtischen Lesehalle. Bei ihren Eltern die Fahne angesehn.

Die zwei wunderbaren Schwestern Esther und Tilka wie Gegensätze des Leuchtens und Verlöschens. Besonders Tilka schön; olivenbraun, gesenkte gewölbte Augenlider, tiefes Asien. Beide Shawls um die Schultern gezogen. Sie sind mittelgroß, eher klein, und erscheinen aufrecht und hoch wie Göttinnen, die eine auf dem Rundpolster des Kanapees, Tilka in einem Winkel auf irgendeiner unkenntlichen Sitzgelegenheit, vielleicht auf Schachteln. Im Halbschlaf lange Esther gesehn, die sich mit der Leidenschaft, die sie meinem Eindruck nach für alles Geistige zu haben scheint, in den Knoten eines Seiles festgebissen hatte und mächtig hin und her im leeren Raum geschwungen wurde wie ein Glockenschlegel (Erinnerung an ein Kinoplakat).

Die beiden L. Die kleine teuflische Lehrerin, die ich auch im Halbschlaf sah, wie sie jagend im Tanz, in einem kosakenmäßigen, aber schwebenden Tanz, über einem leicht geneigten, dunkelbraun im Dämmerlicht daliegenden holprigen Backsteinpflaster hinauf- und hinabflog.

 

4. November. Erinnerung an den Winkel in Brescia, wo ich auf ähnlichem Pflaster, aber am hellen Tag, Kindern Soldi verteilte. Erinnerung an eine Kirche in Verona, wo ich, ganz verlassen, nur unter dem leichten Zwang der Pflicht eines Vergnügungsreisenden und unter dem schweren Zwang eines in Nutzlosigkeit vergehenden Menschen, widerwillig eintrat, einen überlebensgroßen Zwerg sah, der sich unter dem Weihbecken krümmte, ein wenig umherging, mich niedersetzte und ebenso widerwillig hinausging, als sei draußen wieder eine gleiche Kirche Tor an Tor angebaut.

Letzthin die Judenabreise auf dem Staatsbahnhof. Die zwei Männer, die einen Sack trugen. Der Vater, der seine Habseligkeiten seinen vielen Kindern bis zum Kleinsten auflädt, um schneller auf den Perron zu kommen. Die auf dem Koffer mit einem Säugling sitzende starke, gesunde schon formlose junge Frau, welche Bekannte in lebhaftem Gespräch umstehn.

 

5. November. Aufregungszustand Nachmittag. Begann mit der Überlegung, ob und wieviel Kriegsanleihe ich mir kaufen sollte. Ging zweimal zum Geschäft hin, um den nötigen Auftrag zu geben und zweimal zurück, ohne eingetreten zu sein. Berechnete fieberhaft die Zinsen. Bat dann die Mutter, für tausend Kronen Anleihe zu kaufen, erhöhte den Betrag auf zweitausend Kronen. Es zeigte sich dabei, daß ich von einer etwa dreitausend Kronen betragenden Einlage, die mir gehörte, gar nichts gewußt hatte und daß es mich fast gar nicht berührte, als ich davon erfuhr. Nur die Zweifel wegen der Kriegsanleihe lagen mir im Kopf und hörten nun etwa eine halbe Stunde lang auf einem Spaziergang durch die belebtesten Gassen nicht auf. Ich fühlte mich unmittelbar am Krieg beteiligt, erwog, allerdings meinen Kenntnissen entsprechend, ganz allgemein die finanziellen Aussichten, steigerte und verringerte die Zinsen, die mir einmal zur Verfügung stehen würden usf. Allmählich verwandelte sich aber die Aufregung, die Gedanken wurden auf das Schreiben hingelenkt, ich fühlte mich dazu fähig, wollte nichts anderes, als die Möglichkeit des Schreibens haben, überlegte, welche Nächte ich in der nächsten Zeit dafür bestimmen könnte, lief unter Herzschmerzen über die steinerne Brücke, fühlte das schon so oft erfahrene Unglück des verzehrenden Feuers, das nicht ausbrechen darf, erfand, um mich auszudrücken und zu beruhigen, den Spruch »Freundchen, ergieße dich«, sang ihn unaufhörlich nach einer besonderen Melodie und begleitete den Gesang, indem ich ein Taschentuch in der Tasche wie einen Dudelsack immer wieder drückte und losließ.

 

6. November. Anblick der Ameisenbewegung des Publikums vor dem SchützengrabenModell eines Schützengrabens, ein dem Publikum zugunsten des Roten Kreuzes zugängliches Schauobjekt in der Nähe von Prag. und in ihm.

Bei der Mutter von Oskar Pollak.Jugendfreund Kafkas. Guter Eindruck seiner Schwester. Gibt es übrigens jemanden, vor dem ich mich nicht beuge?

Was etwa GrünbergAbraham Grünberg aus Warschau, ein junger Kriegsflüchtling von bedeutenden Geistesgaben, mit dem wir damals viel verkehrten. Er starb noch während des Krieges an Tuberkulose. betrifft, der meiner Meinung nach ein sehr bedeutender Mensch ist und aus mir unzugänglichen Gründen fast allgemein unterschätzt wird: Stellte man mich etwa vor die Wahl, daß einer von uns beiden gleich untergehen müsse (rücksichtlich seiner Person ist es sehr wahrscheinlich, denn er soll eine weit fortgeschrittene Tuberkulose haben), daß es aber von meiner Entscheidung abhänge, wer das sein solle, so würde ich bis an den äußersten Rand der theoretischen Fragestellung die Frage lächerlich finden, da selbstverständlich der ungleich wertvollere Grünberg erhalten werden müsse. Auch Grünberg würde mir zustimmen. In den letzten unkontrollierten Augenblicken allerdings würde ich, wie jeder andere schon viel früher, Beweise zu meinen Gunsten erfinden, Beweise, die mich sonst infolge ihrer Roheit, Kahlheit, Falschheit zum Erbrechen gereizt hätten. Diese letzten Augenblicke ereignen sich allerdings auch jetzt, wo mir niemand eine Wahl aufdrängt, es sind jene, wo ich mich unter Abhaltung aller ablenkenden, äußeren Einflüsse zu prüfen suche.

 

19. November. Nutzlos verbrachte Tage, sich im Warten verbrauchende Kräfte und trotz allem Nichtstun die wehenden und bohrenden Schmerzen im Kopf.

 

Brief an Werfel. Antwort.

Bei Frau M.-T., Wehrlosigkeit gegenüber allem. Boshafte Besprechung bei Max. Ekel darüber am nächsten Morgen.Kafka gab einen humoristischen Bericht über seinen Besuch bei Frau M.-T. Nachher bereute er den harmlosen Spott.

 

Mit Fräulein F. R. und Esther.

In der Alt-Neu-Synagoge beim Mischna-Vortrag. Mit Dr. JeitelesTalmudgelehrter aus der frommen Familie Lieben in Prag. Nur zwei aus dieser weitverzweigten Familie haben die Herrschaft des Nationalsozialismus überlebt, der hier genannte Gelehrte und ein Jüngling in einem Kibbuz in Israel. nach Hause. Großes Interesse an einzelnen Streitfragen.

 

Wehleidigkeit gegenüber der Kälte, gegenüber allem. Jetzt halb zehn abends schlägt in der Nebenwohnung jemand einen Nagel in die gemeinsame Wand.

 

21. November. Vollständige Nutzlosigkeit. Sonntag. In der Nacht besondere Schlaflosigkeit. Bis viertel zwölf im Bett beim Sonnenschein. Spaziergang. Mittagessen. Zeitung gelesen, in alten Katalogen geblättert. Spaziergang Hybernergasse, Stadtpark, Wenzelsplatz, Ferdinandstraße, dann gegen Podol zu. Mühselig auf zwei Stunden ausgedehnt. Hie und da starke, einmal geradezu brennende Kopfschmerzen gefühlt. Genachtmahlt. Jetzt zu Hause. Wer kann das von oben vom Anfang bis zum Ende mit offenen Augen überblicken?

 

25. Dezember. Eröffnung des Tagebuches zu dem besonderen Zweck, mir Schlaf zu ermöglichen. Sehe aber gerade die zufällige letzte Eintragung und könnte tausend Eintragungen gleichen Inhalts aus den letzten drei bis vier Jahren mir vorstellen. Ich verbrauche mich sinnlos, wäre glückselig, schreiben zu dürfen, schreibe nicht. Werde die Kopfschmerzen nicht mehr los. Ich habe wirklich mit mir gewüstet.

Gestern offen mit meinem Chef gesprochen, da ich durch den Entschluß, zu sprechen, und das Gelübde, nicht zurückzuweichen, zwei Stunden allerdings unruhigen Schlafs in der vorgestrigen Nacht mir ermöglicht habe. Vier Möglichkeiten meinem Chef vorgelegt: 1. alles weitere belassen wie in der letzten allerärgsten Marterwoche und mit Nervenfieber, Irrsinn oder sonstwie enden; 2. Urlaub nehmen, will ich nicht, aus irgendeinem Pflichtgefühl, es würde aber auch nicht helfen; 3. kündigen, kann ich jetzt nicht, meiner Eltern und der Fabrik wegen; 4. bleibt nur Militärdienst. Antwort: Eine Woche Urlaub und Hämatogenkur, die der Chef gemeinsam mit mir machen will. Er selbst ist wahrscheinlich schwer krank. Ginge ich auch, wäre die Abteilung verwaist.

Erleichterung, offen gesprochen zu haben. Zum ersten Male mit dem Wort »Kündigung« fast offiziell die Luft in der Anstalt erschüttert.

Trotzdem heute kaum geschlafen.

 

Immer diese hauptsächliche Angst: Wäre ich 1912 weggefahren, im Vollbesitz aller Kräfte, mit klarem Kopf, nicht zernagt von den Anstrengungen, lebendige Kräfte zu unterdrücken!

 

Mit Langer: Er kann Maxens Buch erst in dreizehn Tagen lesen. Weihnachten hätte er es lesen können, da man nach einem alten Brauch Weihnachten nicht Thora lesen darf, diesmal aber fiel Weihnachten auf Samstag. In dreizehn Tagen aber ist russische Weihnacht, da wird er lesen. Mit schöner Literatur oder sonstigem weltlichen Wissen soll man nach mittelalterlicher Tradition erst vom siebzigsten Jahr, nach einer milderen Ansicht erst vom vierzigsten Jahr an sich beschäftigen. Medizin war die einzige Wissenschaft, mit der man sich beschäftigen durfte. Heute auch mit ihr nicht, da sie jetzt zu sehr mit den andern Wissenschaften verknüpft ist. – Auf dem Klosett darf man nicht an die Thora denken, daher darf man dort weltliche Bücher lesen. Ein sehr frommer Prager, ein gewisser K., wußte viel Weltliches, er hat alles auf dem Klosett studiert.


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