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XIV.

Ich habe nur Unterkleider an, nur wollene Strümpfe. Die Repetierbüchse, die ich mir im Nacken festgebunden hatte, kann ich nicht vor Nässe schützen. Sie wird trotzdem nicht versagen. Ich krieche im Geröll entlang, die entsicherte Waffe in der Rechten. Wenn der Feind es überhaupt wagt, mir aufzulauern, dann habe ich ihn hier in der Nähe zu erwarten. Ich bin vorsichtig. Man hat nur ein Leben zu verlieren, und ich möchte zum mindesten noch erfahren, was Jörnsens unverständliche Geheimniskrämerei auf sich hat und was aus Gerda geworden.

Gerda ...

Die Gedanken an sie sind nicht zu verscheuchen. Nicht zu vergessen sind die drei Tage, wo sie in meiner nächsten Nähe schlief und wo die Liebe mir zusetzte.

Es wird rasch heller. Die Mondsichel verblaßt, die Sterne erlöschen ... Das Vorgelände ist auf fünfzig Schritt bequem zu überschauen.

Nach einer halben Stunde stehe ich einsam auf der höchsten Spitze der südlichen Buchthöhen und lasse mich von den ersten Sonnenstrahlen umspielen. Der warme Wind vom Pazifik trocknet mein Unterzeug. Meine Strümpfe haben keine Sohlen mehr. Meine Füße sind wund vom scharfen Gestein. Wo ich hintrete, bleiben Blutflecken.

Aber der Wille ist alles. Schmerzen sind nichts, wenn man inmitten solchen Erlebens dahinschreitet.

Mein scharfer Blick prüft die Insel, tastet jede Einzelheit ab. Schimmernde Wasserstraßen ringsum, Insel an Insel. Nach Süden zu die Gestade und Gebirgsmassen von Santa Ines – so nah, daß eine Kugel gegen die Steilküste klatschen würde.

Vom Gegner nichts – gar nichts ...

Und in dieser Steinwildnis suchen: Stecknadel im Heuschober! Ich habe mir diese Jagd auf einen Blessierten doch leichter vorgestellt. Ich wende mich um, und unter mir im Buchtbecken der Kutter, Boche Boche an Deck, erledigt Seemannsbegräbnis, wirft die Toten über Bord, jeder mit einem kleinen Sandsack an den Füßen. Er hat mir schon vorhin zugewinkt, winkt wieder, klettert in den Kahn hinab und treibt ihn zum Ufer. Ich beginne den Abstieg. Unzufrieden, enttäuscht und voller Sorgen, was die Jörnsens betrifft. Vielleicht hat unser Mann sie wirklich abgetan, und die Leichen schwimmen irgendwo in den Kanälen.

Der Kamerad empfängt mich mit der trockenen Bemerkung, daß auch die beiden Verwundeten inzwischen hinüber sind ...

»... Die vier im Kahn waren tot ... Der eine hatte drei Schüsse. Das Wurfmesser, Olaf, das über deinem Bett in der Wand steckt, rechtfertigt dieses Blutbad. Trotzdem: arme Kerle! Verführt durch den, der unseren Alten marterte.«

Wir behalten die Umgebung dauernd im Auge. Kehren auf den Torstensen zurück und lichten die Anker, wechseln den Liegeplatz. Mitten in der Bucht sind wir sicherer.

Die Sonne lacht heiter auf uns herab, als wir Körper und Geist, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sind, auf der Großluke sitzend, durch ein derbes Frühstück und pechschwarzen Kaffee und Kognak anfeuern. –

»Wenn die Jörnsens bis mittag nicht wieder da sind, suchen wir sie, Olaf ...«

»Und jetzt legst du dich nieder – auf jeden Fall! Schau' mal in den Spiegel! Quittengelb bist du, und die Ränder um die Augen sollten dich gleichfalls warnen.«

Er ist verständig genug, zu gehorchen. Nach drei Stunden, um zehn, will ich ihn wecken. Er verschwindet in der Back.

In meinem Blut arbeitet der Alkohol. Trügerische Frische macht mir die Augen blank. Ich steige in die Heckkajüte hinab. Will einmal nachsehen, ob dort irgend etwas auf einen Überfall hindeutet. Aber die Kojen des Ehepaares sind unberührt. Die Decken liegen glatt, und es fehlen zwei Büchsen und zwei Pistolen. Es wird schon so sein: die drei Patagonier haben die beiden abgeholt – in aller Stille ...

Wieder an Deck ...

Wunderliches Land ...!

Die Sonne brennt wie im schwedischen Hochsommer, wenn Stockholms Felsenhafen unter dreißig Grad schwitzt.

Wunderliches Land ...! Gestern Eisbahn an Deck, heute rauchen die feuchten Deckplanken ...

Ich lehne am Rade, die Büchse im Arm, die Zigarre im Munde ... Mein halb berauschtes Hirn zeigt mir die seltsamen Bilder dieser Abenteurerfahrt: Boche Boche und ich auf dem Floß in der Ostsee, das Auftauchen des Torstensen, der Zettel im alten Schweinslederschmöker ... Boche Boches Wutanfälle auf die Drecksau ... Das Kabinettbild, und Jörnsens Pistole dicht vor meiner Stirn ... Panama, unser Mann ... Gesang, Gitarrespiel ... Landung in Iquique, Einkäufe dort ... Punta Garras ... und so weiter: Merkpunkte der Reise nach Ultima Thule, Merkpunkte der ungelösten Rätsel!

Gerda!!!

Gerda und der Kamerad!

Der Kamerad, der das Wissen fürchtet ... Gerdas wegen.

Und das Ende nun? Der Ausgang all dieses?

Wenn unser Mann mit seinen gedungenen Robbenfressern die Patagonier und die Jörnsens hat verschwinden lassen, wenn wir ihn nicht finden, dann wird der Vorhang nie gelüftet werden – nie! Die Aussicht, selbst bei eifrigstem Suchen den Ort hier zu finden, der das Endziel ist, dürfte äußerst gering sein.

Gewiß, wir haben Zeit ... Wir können die Inseln und die Gestade von Santa Ines durchstöbern, und wenn's Monate dauert.

Aber – etwas finden, von dem man nicht einmal ahnt, wo es sein könnte – eigentlich ein zweckloses Unterfangen!

Das sind so meine Gedanken über unsere Lage. Es sind nüchterne Gedanken, die sich den Umständen anpassen.

Ich ziehe die Uhr aus der Hosentasche. Die drei Stunden sind um. Überraschend schnell.

Soll ich Boche Boche wirklich wecken?

Er hat den Schlaf nötiger als ich.

Ein neuer Schluck aus der Kognakflasche ... Nerven aufpeitschen ...

Ein paar große Mähnenrobben liegen jetzt drüben auf der Halbinsel. Ein Bulle mit drei Kühen, seinem Harem. Der feiste Herr wird zärtlich. Der Kutter stört ihn nicht.

So ganz ohne Vegetation sind diese Felsmassen doch nicht. In einer Schlucht drüben, aus der eine Quelle hervorrieselt, schimmert es gelb von Dornblüten und rotviolett von Teppichen kleiner Orchideen. Ein paar verkrüppelte Bäume, antarktische Buchen, vervollständigen das freundliche Gemälde. Der Hintergrund der Schlucht ist mit spärlichem Heidegras bedeckt, und dieses Gras nährt die Hunderttausende von Schafen auf den Farmen von Feuerland.

Mein Blick wandert weiter ...

Aber unser Mann, dessen Kugeln hier die einzige Gefahr sind, meldet sich nicht. Die große, erhabene Einsamkeit des Endes der Welt ist um mich her.

Schritte da ...

Boche Boche ... gähnend ... schimpfend ...

»Elf ist's, Olaf! Das nennt man falsche Rücksichtnahme! Willst du nachher versagen, wenn's vielleicht ums Ganze geht?«

Er hat nicht unrecht ...

Ich sinke in meine Koje, bin im Augenblick eingeschlafen. Ich träume nicht ...

Ich bin nachher um zwei Uhr kaum wach zu bekommen. Die Jörnsens sind noch nicht zurückgekehrt, meldet der Kamerad kurz ...

»Aber wer anders ist an Bord, wenn auch, unfreiwillig, Olaf ... Ich fand ihn in einer Art Höhle ... Sein Patronenvorrat war verbraucht, und die zerschmetterte Kniescheibe machte ihn zahm ... Ich habe ihm die Arme gefesselt und ihn auf den Rücken genommen, nachher hier verbunden ...«

»Unser Mann?«

»Wer sonst? – Leider sind seine Taschen leer, und auch sein Mund verrät nichts, höhnt nur, geifert ... Ich habe bereits drei Schraubenschlüssel in der Herdglut. Ich sage dir: er wird beichten!«

Meine Schlaftrunkenheit zerstiebt. Ich fahre in die Stiefel ...

»Wie fandest du ihn?«

»Blutspur, Olaf ... Er hat mächtig geschweißt.«

Seine Stimme ist hart, seine Augen unerbittlich, sein Mund eine stille Drohung.

»Er wird reden, Olaf ...! Das erspart uns das Suchen! Und wenn du nicht mitmachst: ich tu's! Er hat Jörnsen das Fleisch von den Händen geschmort ... Seine Hände werden dasselbe fühlen. Ich tu's!«

Auf der Großluke liegt unser Mann, die Arme über der Brust festgeschnürt, dazu noch an die Lukenkrampen gebunden, unter dem Kopf eine zusammengerollte Decke.

Nun sehe ich ihn aus nächster Nähe ...

Kein übles Gesicht, trotz des Stoppelbartes. Aber die Augen eines Verbrechers schlimmster Sorte, und die gemeinste Frechheit in diesem herausfordernden Grinsen, mit dem er mich begrüßt, noch unverschämter und zynischer seine Worte ...

»Ah – der Zuchthäusler Abelsen!! Grüß' Gott, Landsmann Abelsen! Da haben wir drei uns fein zusammengefunden!«

Boche Boche sagt nur: »Binde ihm den rechten Arm los und dann seitwärts ganz straff an die Wanten. Nimm ein dünnes Drahtseil, Olaf. Das fängt nicht Feuer.«

Unser Mann hat bisher deutsch gegeifert, und in der Sprache meiner Mutter, die mir heilig, spielt sich hier an Deck das Unheilige ab.

Der Kamerad taucht in der Kombüse unter, deren kleiner Schornstein Qualmwolken speit.

Der Herd scheint gut geheizt zu sein.

Ich hole das Drahtseil, und unser Mann, plötzlich verstummt und mit einem Gesichtsausdruck feigster Angst, beginnt in anderer Tonart zu winseln, als ich ihm den rechten Arm straff spanne. Vielleicht ist ihm infolge Boche Boches Bemerkung, daß ein Drahtseil nicht brennt, eine Ahnung von dem aufgegangen, was ihm bevorsteht.

»Herr Abelsen«, sprudelt er überstürzt hervor, »ich kann Ihnen Millionen in den Schoß werfen. Beseitigen Sie diesen Verrückten, dem doch wahrlich nichts mehr am Leben liegen kann. Ich schwöre es Ihnen: Millionen!! Die Berge von Santa Ines enthalten eine Goldader, die frei zutage tritt, und ...«

»Lump!!«

Ich drehe ihm den Rücken zu.

Boche Boche taucht im Kombüsenniedergang auf und hält die größte unserer Zangen in der Rechten, und diese Zange beißt in ein rotglühendes Stück Eisen, einen schweren Schraubenschlüssel, hinein.

Unser Mann hebt den Kopf von der gerollten Decke und stiert mit aufgerissenen Augen auf das glühende Eisen. Sein vom Blutverlust bleiches Gesicht wird noch fahler. Der Mund öffnet sich vor Entsetzen ganz weit, und die Goldzähne im Oberkiefer blinken im Sonnenlicht.

Boche Boche stellt sich neben die Hand, die zu dem ausgereckten Arm gehört. Um das Handgelenk liegt die Drahtschlinge und schneidet eine tiefe Furche in die Haut. Die Hand ist aufgequollen, die Adern sind dick, denn die Schlinge hindert den Blutkreislauf.

Der Kamerad bringt das bereits wieder schwarze, aber immer noch heiße Eisen dicht an die Finger dieser Hand heran.

»Wie heißen Sie?«

Der Elende schnappt nach Luft ...

»Schurken – Schurken!« brüllt er ...

»So können Sie unmöglich heißen«, meint Boche Boche mit der gefährlichen Ironie eines Menschen, der über einen anderen unbedingt Gewalt hat. »Ein Schurke sind Sie, das stimmt ... Wie ist Ihr Name? Lügen Sie, so wird von Ihrer Hand, fürchte ich, nicht viel übrig bleiben. Also ...??«

Ich hatte den Kameraden in dieser geistigen Verfassung, die bei ihm einen Rückfall in die wilde Zeit seiner Fronttätigkeit bedeutete, seit dem letzten »Krach« mit Frau Jörnsen nicht mehr gesehen. Es konnte sich nur um ausgesprochene Rückfälle handeln, denn bei all seinem fast zügellosen Herrenmenschentum und bei all seiner Kraftnatur war er doch stets der Mann von Bildung, Takt und vornehmer Anpassungsfähigkeit geblieben. Freilich, ob er an der Westfront als einfacher Soldat oder als Offizier die Schrecken der Massenvernichtung kennengelernt hatte, das wußte er nicht mehr. Auch das war eingemauert in jene Zelle seines Hirns, deren Tür sich durchaus nicht öffnen wollte.

Ich beobachtete ihn jetzt sehr genau, und wieder gewann ich den bestimmten Eindruck – was ich hier schon einmal betont habe –, daß er ohne Zweifel, falls er nicht Berufssoldat gewesen, im bürgerlichen Leben eine hervorragende Stellung bekleidet haben mußte. Diese eisige Überlegenheit, die auch hier in seinem Verhalten so klar zutage trat, pflegen nur Leute zu besitzen, die mit allen Gesellschaftsschichten in ständige Berührung kommen und dabei stets tonangebend der Mittelpunkt eines noch so sehr wechselnden Kreises sind.

»... Also??«

Unser Mann stieß einen heulenden Laut ohnmächtigen Grimms aus ...

»Feiglinge ... Mörder ... Banditen ...«

Das letzte Schimpfwort wurde ihm aber bereits halb von den Lippen gefegt durch einen tierischen Schrei des Schmerzes ...

Zischend hatte sich das heiße Eisen über seinen Handrücken gelegt ...

Der Geruch verbrannter Haut drang mir in die Nase.

»Also ...?« rief Boche Boche wieder ...

Ein grauenvoller Ausdruck von Haß verzerrte des Gefesselten erdiges Gesicht ...

Aber diese erste schmerzhafte Mahnung, daß diese Szene kein Possenspiel sei, hatte des Jämmerlings Widerstand gebrochen.

»Erik Jörnsen ...!« kreischte er ... »Erik Jörnsen, Doktor der Medizin ...«

Ich traute meinen Ohren nicht recht.

Doktor Erik Jörnsen?

Das war der schwedische Arzt, der kurz vor meiner Verhaftung wegen des Verdachtes, seine Frau und sein Kind beseitigt zu haben, um deren Lebensversicherungssummen einstreichen zu können, in einen ganz Schweden in Atem haltenden Prozeß verwickelt gewesen war. Wie dieser ausgelaufen, war mir unbekannt geblieben, denn inzwischen hatte die Justizbehörde mich selbst, auf die Aussage eines Weibes hin, das ich einst zu lieben glaubte, überaus eilfertig, aber verzeihlicherweise, von aller Außenwelt abgesperrt.

Und noch etwas rief mir dieser Name ins Gedächtnis zurück: Jener Doktor Jörnsen war mit einer geborenen Arnstör, Senta Arnstör, verheiratet gewesen. Nun ist der Name Arnstör in einzelnen Gegenden meines Vaterlandes so häufig, daß jene Zeitungsberichte, trotz dieses Namens Arnstör, mich nur ganz flüchtig an meine Jugendgespielin erinnert hatten.

Ich trat wieder näher an unseren Mann heran und fragte, ohne mir Mühe zu geben, meine Erregung zu verhehlen: »Doktor Jörnsen aus Stockholm? Ihre Frau hieß Senta Arnstör?«

Sein Blick wich zur Seite ...

»Ja, derselbe Jörnsen – der Freigesprochene!«

Boche Boche spielte jetzt den Zuhörer.

»Ein Verwandter Holger Jörnsens?« forschte ich weiter.

»Ja ... Ich bin sein Neffe ...«

»Netter Neffe!« meinte der Kamerad.

»Weshalb verfolgen Sie Ihren Onkel und dessen Frau?« setzte ich das Verhör fort.

Er schaute mich erstaunt an ...

Mit einem Male zuckte frecher Hohn um seine Lippen ...

»Ach so!« sagte er mit kurzem Auflachen. »Mir geht ein Licht auf ...! Also die Firme ist's!! Die! Nun – ich danke Ihnen für diese Offenbarung, Herr Abelsen. Jetzt ...« – wieder das scheußliche Lachen – »jetzt mögen Sie mich meinetwegen bei lebendigem Leibe schmoren – von mir erfahren Sie nichts mehr – gar nichts! – Wissen Sie, was Haß vermag?! Haß ist mehr als Hunger, Liebe. Haß ist das stärkte, das einen Menschen völlig umwandeln kann! Haß und Rache sind Geschwister! Versuchen Sie doch mal, aus mir auch nur eine Silbe noch herauszupressen! Sie wollen wissen, wo das Ehepaar Jörnsen ist ... Sie wollen wissen, weshalb ich so eifrig hinter dem Kutter her war ... Nichts werden Sie erfahren – nichts! Sie haben mir die Kraft gegeben zum Sterben! Denn – auch andere werden dann sterben. Und diese Gewißheit wird mir meine letzten Sekunden versüßen!«

»Abwarten ...! Sie sind nicht aus demselben Holze geschnitzt wie Ihr Oheim. Dem haben Sie die Handflächen bis auf die Knochen verbrannt, und er schwieg trotzdem! Aber es gibt empfindlichere Stellen des Körpers, Doktor Jörnsen! Abwarten!«

Und er schritt davon, in die Kombüse hinab, kehrte sofort mit einem anderen glühenden Eisen zurück ...

»Olaf, reiße ihm die Kleider vom Leibe! Tu's! Schnell!«

Erik Jörnsen hatte den Kopf nach unten gebeugt, hatte so mit dem Munde die hochgebauschte Ecke seines linken Jackenaufschlags erreichen können, hatte dort mit den Zähnen eine kurze Nadel mit dunkelblauem Glasknopf hervorgezogen und ebenso rasch im Munde verschwinden lassen.

Ich sprang zu spät ...

Er spie mir ein grelles Lachen ins Gesicht ...

»Sie sitzt schon im Gaumenfleisch, Abelsen! Ich hatte mich vorgesehen. Ich werde einen leichten Tod haben ... Martert mich doch – martert mich! Eine Leiche spürt nichts mehr!! Nichts! Schaut nach der Uhr: drei Minuten dauert es! Ich habe es ausprobiert ... An wem wohl?! – Ja, glotzt mich nur an, ihr Schurken! Ich lache euch aus! Sucht doch das Ehepaar Jörnsen!! Auch die drei Patagonier!! Mein Herr Onkel kann euch dann zu Millionären machen, der alte Narr, der das Gold verachtete und nun am Golde erstickt ...! – Drei Minuten – – keine Sekunde länger!! – Und du, Vagabund ohne Namen, Boche Boche, doppeltes Schwein – – du sollst auch noch ein Andenken von mir erhalten ...! Besinne dich mal ... Sind wir uns nie im Leben begegnet? Bin ich dir wirklich ein Fremder? – Doppeltes Schwein – ich ... weiß deinen Namen!! Ich könnte ihn dir nennen! Auch Holger Jörnsen kennt ihn ... Aber – und das ist meine Rache an dir! – ich werde dich weiter als Namenlosen in der Finsternis deines toten Hirns umhertappen lassen, und auch mein Onkel wird dir den Schleier deiner Vergangenheit niemals lüften ...! Ich kenne dich! Oft genug haben wir nebeneinander gesessen!«

Der Kamerad hatte das glühende Eisen plötzlich über Bord geworfen, die Zange fallen lassen und die Fäuste gegen die Schläfen gepreßt, als ob er seinen Schädel durch brutalen Druck in andere Form bringen und so vielleicht die verschlossene Pforte sprengen könnte. Totenbleich war er ... Die grauen Augen quollen aus den Höhlen ... Und diese Augen verzweifelt, hilfesuchend an meinem erstarrten Gesicht ...

Sonnenschein um uns – die große, erhabene Stille dieser steinernen Welt ...

»Olaf – – Olaf ...« stöhnt der Kamerad, »Da war ... war abermals ein kurzes Aufflackern des Gedächtnisses ... Ich ... kenne ihn – ihn!«

Und er stürzte vorwärts, kniete neben Erik Jörnsen ...

Zu spät wäre jedes Flehen gekommen.

Jörnsen lag bereits mit geschlossenen Augen da, um die geschlossenen Lippen ein rachsüchtiges Grinsen ...

Blitzartig veränderten sich seine Züge. Das Grinsen verschwand ...

Der Tod gab auch diesem Gesicht den Frieden.

Sang- und klanglos flog um vier Uhr nachmittags die mit einem Felsstein beschwerte Leiche Doktor Erik Jörnsens über Bord in die Tiefe. Ich hatte das allein besorgen müssen, denn mit Boche Boche war jetzt nichts anzufangen. Gleich nach dem raschen Tod Jörnsens hatte er sich vorn auf die kleine Luke gesetzt und starrte regungslos in stumpfem Brüten vor sich hin, war keinerlei Trostworten zugänglich und meinte nur einmal in jenem verzweifelten Ton, den ich schon an ihm kannte:

»Er hat sich wirklich gerächt!! Bittereres hätte er mir nicht zufügen können als diese grausame Eröffnung, daß sowohl er als auch der andere Jörnsen wußten, wer ich bin ... Und diese beiden sind tot, und ich werde bleiben, was ich war: Boche Boche! – Geh, Olaf, laß mich bitte allein ... Hiermit muß ich selbst fertig werden!«

Ich ging ...

Durfte ich ihm sagen, daß ich längst den Beweis erhalten, daß er dem alten Jörnsen kein Fremder??

Durfte ich von dem Kabinettbilde sprechen??

Ich hatte mein Wort verpfändet!

Jetzt wirtschaftete ich in der Kombüse umher, spielte Koch. Nach der Mahlzeit würde ich den Freund schon dazu bringen, daß wir uns zunächst einmal gehörig ausschliefen, bevor wir die Suche nach den beiden Jörnsens begannen, denn ich für meine Person war überzeugt, daß sie noch lebten. Erik Jörnsen hatte sich in seinen letzten, haßerfüllten Sätzen geradezu widersprochen, was das Ehepaar anbetraf. Für mich war ausschlaggebend, daß er erklärt hatte, wenn er stürbe, würden auch andere sterben – andere, das konnten nur die Jörnsens sein! Also lebten sie noch, wurden nur irgendwo festgehalten, wo sie verhungern mußten, falls wir sie nicht befreiten.

Und ... Gerda??

Bitterste Vorwürfe machte ich mir, weil ich Erik Jörnsen nicht wenigstens eine Andeutung über ihren Verbleib herausgelockt hatte.

Überhaupt: mir ging so vieles durch den Kopf!

Vollkommen unverständlich war mir, weshalb Doktor Jörnsen, fraglos ein übler Feigling, so plötzlich den Mut gefunden, seinem Leben ein Ende zu machen.

Ich sollte ihm diesen Mut eingeflößt haben – – ich??

Wodurch?? Ich hatte ihn doch lediglich gefragt, weshalb er seinen Onkel und dessen Frau verfolge! Und da war diese seltsame Wendung eingetreten, da hatten wir jede Macht über ihn verloren ...!

Vieles ging mir durch den Kopf. Ich hatte ausschließlich die Verantwortung für alles, was wir zur Rettung der beiden Jörnsens tun würden. Mein Kamerad, das fühlte ich, würde diesen Kampf gegen seine niedergedrückte, trostlose Stimmung diesmal nicht so schnell wie bisher als Sieger beenden können.

Die Mahlzeit war fertig.

Ich hatte der Bequemlichkeit halber den Tisch gleich in der Kombüse gedeckt. Ich besinne mich so genau, daß ich mir damals besondere Mühe gegeben, unsere bescheidene Tafel recht zierlich herzurichten, denn – das Auge ißt mit.

Es gab ein echt deutsches Gericht: Konserveneisbein mit Erbsbrei und Sauerkohl, dazu eine große Schale eingemachte Früchte, als Getränk Rotwein. Einzelheiten eines Tages wie jener, an dem nachher Schlag auf Schlag die Überraschungen folgten, vergißt man nie. Noch heute träume ich oft davon, weit häufiger als über die Ereignisse jener Nacht, wo die Ankerketten des Torstensen wie Stahlsaiten erklangen, rissen, und der Kutter in den stillen Triftkanal getrieben wurde.

Ich ging an Deck, um Boche Boche zu Tisch zu bitten.

Da begann das Wunderbare dieses Nachmittags. Der Kamerad hatte seinen Platz auf der Vorderluke verlassen und stand an der Reling mit angelegter Büchse ... Sein Ziel war ein großer, schwarzer Vogel, der drüben am Ufer auf einer spitzen Felszacke saß – ein Kropfrabe, der sowohl in Patagonien wie auf Feuerland in Scharen vorkommt.

Der Schuß knallte, und der schwarze Vogel sank wie vom Blitz getroffen in das Geröll.

»Weshalb??« fragte ich erstaunt.

Boche Boche drehte sich um, nickte mir zu und kletterte rasch in den Kahn der Feuerländer hinab, dessen rohe Planken innen noch die dicken, schwarzen Blutkrusten der nächtlichen Metzelei zeigten, an die ich ungern zurückdachte, denn in jenen Minuten, wo ich wie ein Berauschter auf die Flüchtlinge gefeuert hatte, war mir das Verständnis für den in jedem Menschen schlummernden tierischen Vernichtungstrieb aufgegangen, der im Weltkrieg so furchtbare Orgien auf Geheiß einiger kaltherziger Diplomaten gefeiert hatte. Und dieser meiner Schwäche, nun selbst diesem Tierischen unterlegen zu sein, schämte ich mich.

Der Kamerad löste die Leine des Kahnes, griff zu den Rudern und trieb das schwere Fahrzeug ans Ufer, bückte sich, hob etwas Weißes auf und trat die Rückfahrt zum Kutter an.

Das Weiße, nein das Grauweiße war ein kleines, angeschmutztes Taschentuch mit schmalem Spitzenrand. Die eine Vorratskiste des Torstensen enthielt einige Dutzend gleicher Damentaschentücher.

Boche Boche zeigte mir das Tüchlein.

»Der Rabe, Olaf, kam von Nordost über die Randhöhen der Bucht mit diesem Tuche im Schnabel dahergeflogen. Ich sah, daß es ein Damentüchlein war. Und ein flüchtiger Gedanke ließ mich diese Beute des diebischen Raben mit Gerda Arnstörs Person in Verbindung bringen.«

Ich schaute ihn an.

Er hatte den Namen, vor dem er sich fürchtete, soeben nun doch über die Lippen gebracht. Sein Blick ruhte in dem meinen.

»Olaf, ich habe mir Doktor Jörnsens unklare Angaben genau überlegt. Und das war gut. Meine Verzweiflung entwich vor dieser ablenkenden geistigen Arbeit. Die Jörnsens leben, und auch Gerda Arnstör lebt, und alles, was wir ihr als Schuld zugemessen haben, ist unserseits ein grober Irrtum. Wir werden sie suchen, die drei. Und wir werden sie finden. Der Rabe kam von Nordost. Dort müssen wir also suchen, dort hat er irgendwo das Taschentuch erwischt, das freilich ebensogut Frau Helga gehören kann, obwohl ... – bitte, was sagt dir deine Nase?? Hast du jemals an der schmierigen Alten Parfüm wahrgenommen??«

Da roch ich ebenfalls den zarten Duft von Parmaveilchen. Und blitzartig kam mir die Erinnerung: Nach Parmaveilchen hatte Gerda Arnstörs Schlafzimmer geduftet, sie selbst, als sie neben mir damals nachts im Auto gen Trelleborg jagte.

Ein verträumtes Lächeln war auf des Kameraden gerötetem Gesicht erschienen.

»Olaf, ich kenne dieses Parfüm ... Und dieser liebliche Duft der Veilchen hat mir abermals einen kurzen Einblick in die geschlossene Kammer meines Hirns gewährt. Olaf, ich hoffe wieder ...! – Komm, essen wir. Und dann Anker herauf, dann die Suche nach den dreien und ihrem Geheimnis – – und nach meiner Vergangenheit!«

Wie sehr hatte ich mich doch vorhin getäuscht! Mir hatte ich eine Verantwortung eingeredet, und nun hatte der Kamerad, genau wie mit der Gefangennahme Erik Jörnsens, den Dingen eine entscheidende Wendung gegeben!

Boche Boche war und blieb wie ausgewechselt. Bei Tisch hieb er mit einem beneidenswerten Appetit ein, und er war gesprächig, lebhaft, voller Unternehmungslust wie nie bisher. Ich merkte, daß die Fesseln, die gewisse Zentren seines Gedächtnisses umklammerten, sich gelockert hatten. Er sprach über die Ereignisse in Punta Garras mit der klaren Logik eines Menschen, der verworrene Fragen spielend leicht bewältigt. Er bewies mir haarscharf, daß Gerda niemals von dem Fünfmaster zum Kutter geschwommen sei ...

»Sie hat dich angeführt, Olaf ... Sie war auch nie eine Verbündete Doktor Jörnsens! Überlege dir, daß dieser verkommene Mensch damals, als du ihn nachher am Kragen nahmst und in die Taxushecke warfst, Gerda bedrohte, etwas von ihr erpressen wollte. Wie sollte sie also sich dann mit ihm gegen die Jörnsens zusammengetan haben?? – Was hörtest du damals von dem Gespräch der beiden ...? Erzähle es mir ...«

Ja – wenn ich nur gewußt hätte, was der Mensch von Gerda eigentlich gewollt hatte! Ich hatte ja so wenig von den rasch hin und her fliegenden Worten und Sätzen verstanden!

Boche Boche schüttelte ärgerlich den dick verbundenen Kopf.

»Etwas mußt du doch behalten haben! Etwas!«

»Ja – einen einzelnen Satz: Gerda rief Erik Jörnsen weinend zu, daß sie ihm beim heiligen Gott nichts mehr aushändigen könne ... Er wollte also offenbar Geld erpressen. Anderseits wird diese meine Vermutung wieder dadurch widerlegt, daß vorher das Wort ›Briefe‹ von seiner Seite gefallen war. – Es tut mir leid, Kamerad, aber ich vermag über diesen Punkt wirklich nichts mehr anzugeben.«

Wir waren mit dem Essen fertig. Boche Boche drängte zum Aufbruch.

»Wir müssen das sonnige Wetter und den günstigen Wind ausnutzen ... Nachts kann es schon wieder stürmen, und dann sind diese Kanäle draußen vielleicht die Hölle ...«

Die Anker gingen hoch. Der Schlußtrunk der Mahlzeit, Kognak, ein ganzer Becher voll, hatte uns zu Riesen gemacht.

Den Kahn der Feuerländer im Schlepp, verließen wir die Bucht. Es war heiß, und jeder Luftzug war eingeschlafen. Neugierige Robben glotzten uns nach. Ein Fischotter, in diesen Gewässern überaus häufig anzutreffen, kreuzte mit einem Riesenlachs im Maule unseren Kurs.

Des Kameraden Hoffnungsfreudigkeit hatte mich angesteckt. Wir wären auch ohne Kognak in gehobener Stimmung gewesen. So umrundeten wir die Insel zunächst nach Nordost in halber Fahrt. In jede noch so kleine Bucht liefen wir ein. Riffe bedrohten uns. Wir mußten dauernd auf der Hut sein, daß wir nicht Schiffbruch erlitten. Boche Boche steuerte, und ich stand vorn und prüfte das Fahrwasser. Trotz der Windstille machten sich die unheilvollen, unberechenbaren Strömungen überall bemerkbar. Unsere gehobene Stimmung ging allmählich in erwartungsvolle Nervosität über, denn die Nordostseite der Insel war eine Enttäuschung. Aber auf Nordost lagen noch zwei andere Inseln, nur durch schmale Kanäle getrennt – Inseln, die noch unwirtlicher, noch höher waren als unsere Bucht-Insel. Trotzdem setzten wir erst mal die Umrundung fort.

So wurde es acht Uhr, als der Kamerad mir von achtern zurief, jetzt die beiden anderen zu durchforschen. Die Sonne sank. In spätestens zwei Stunden war es dunkel. An schroffen Steilküsten des westlicheren Felseilandes glitt nun der Kutter entlang. Da auch diese Eilande mit zu Santa Ines gehörten, konnte uns auch Holger Jörnsens gestriges Geständnis, Santa Ines sei das Endziel, nicht irre machen. Von der Hauptinsel hatte er nie direkt gesprochen.

Der Motor ratterte, und ich als Ausgucksmann starrte angestrengt in die grüne, leicht gekräuselte Flut, sog hastig an der vierten Zigarre und staunte über diese himmelhohen Wände, die jedem den Zugang ins Innere verwehrt hätten.

»Scharf Backbord!« brüllte ich Boche Boche zu. Einzelne hohe Klippen wuchsen aus der Tiefe empor, wie ein granitener Zaun vor einer granitenen Burg.

Mit einem Male beugte ich mich noch weiter über die Reling ...

Links öffnete sich die Steilwand zur schmalen Einfahrt, und gerade hier traten auch die Steinpfähle weiter auseinander ...

Das war nicht das wichtigste ...

Anderes fesselte meinen Blick. Auf dem Wasser schwammen ölige, bläuliche Streifen ...

Gerade in der Einfahrt ...

»Scharf Steuerbord«, schrillte meine Stimme ...

Boche Boche nickte, und der Torstensen schwenkte herum.

Ich stiere auf die Wasseroberfläche ...

Der Ölfleck schaukelte vor uns. Nun zerteilt unser Bug ihn ...

Da – ein neuer, kleinerer.

Der Kutter fährt langsamer. Diese Bucht hier ist etwa dreißig Meter breit, geschlängelt wie ein Gebirgsbach, der den Hindernissen ausweicht ...

Wieder ein Ölfleck ...

Öl – nur von einem Dampfer oder Motorschiff ...

Woher sonst??

Weiter ...

Krümmung an Krümmung ...

Rechts und links Granitmauern, in Spalten einzelne Grasflächen ...

Weiter ...

Noch eine scharfe Biegung, und keine zwanzig Meter vor uns das Ende der Bucht ...

Kein Schiff ... nur wieder einzelne, bläuliche Streifen ...

Öl ... Öl ...

Ende der Bucht ...

Ein Berg, eine Steilwand ...

Aber mitten darin eine Wassergrotte, ein zackiges, gewölbtes Riesentor ...

Mit bloßem Auge erkenne ich, daß diese Höhle sich unendlich tief in den Berg hinein erstreckt ...

Boche Boche stoppt den Motor. Der Kutter läuft noch bis zum Höhleneingang ... verschwindet halb in der Dämmerung.

»Scheinwerfer!!«

Der Kamerad versteht ...

Am Bugspriet leuchten zwei grelle Augen auf.

Wir beide flüstern nur noch ... unsere Hände zittern ... meine Zigarre fliegt über Bord ...

Um uns her schwimmen die Öllachen ...

Vielleicht schwimmen sie hier schon lange, lange Zeit. Aber sie sind da, und das muß seinen Grund haben ...

Die Lichtkegel der Scheinwerfer tasten in die weite Finsternis dieses mit Seewasser gefüllten Felsendomes hinein. Die Schrauben schlagen, am Heck gurgelt die mißhandelte Flut, und der Torstensen schleicht vorwärts ... Das Rattern des Motors schwillt hier in dem geschlossenen Felsenraume zu einem taktmäßigen Brausen an. Die weißen Strahlenbündel zeigen uns ein paar halb verfaulte, schwimmende Kistendeckel, ein paar treibende, leere Konservenbüchsen ...

Meine Augen schmerzen ... Ich will das finden, was hier in diesem stillen Hafen versteckt sein muß: irgendein Schiff!

Weiter ...

In der Ferne etwas Helles ...

Es nimmt Form – Gestalt an ...

Elegante Formen ...

»Eine Jacht!« – und meine Stimme schnappt über. »Kamerad, eine Jacht ...!«

Näher heran ...

Mitten in diesem gewaltigen Dome ein Riff ...

Eine Granitsäule ... Daran ist die Jacht vertäut, mit Ketten und Tauen. Rostig die Ketten, schwarz die Taue, verwittert ...

Eine mittelgroße Jacht. Kein Name am Bug. Dort, wo die Buchstaben sich einst befanden, ein schwarzer Fleck. Der Name war ausgetilgt ... überpinselt.

Unser Kutter macht neben der vornehmen Gefährtin dieser weltentrückten Einsamkeit fest. Boche Boche ist drüben an Deck geklettert.

»Keine Seele, Olaf ...!«

Er zerrt die Leinen straff.

Ich folge ihm. Der Kamerad hat die Pistole in der Rechten. Vielleicht – – sollen wir uns vielleicht hinterrücks abschießen lassen??

Unsere Scheinwerfer haben wir gedreht. Blendende Helle liegt über dem fremden Deck. Wir stehen mißtrauisch da und spähen umher. Unsere Herzen hämmern ...

Boche Boche deutet auf eine dünne Leine, die zwischen den beiden schlanken Masten gespannt ist. Wäsche hängt daran, Kinderwäsche, Hemden, Unterhosen, Wollhemden ...

Und ein einzelnes Damentaghemd mit reicher Stickerei. Die Sachen sind längst trocken, hängen regungslos, festgeklammert mit hölzernen Wäscheklammern.

Wir sehen noch mehr im blendenden Scheinwerferlicht. Über der dunklen Mahagonitür des Achteraufbaus ist ein weißes Pappschild angenagelt, Buchstaben, Schrift darauf – von hier nicht lesbar.

Ich schreite auf Zehenspitzen vorwärts. Und Boche Boche ebenso leise hinterdrein.

Nun lesen wir ...

In englisch, französisch, spanisch, mit schwarzer Tinte gemalt in lateinischen Buchstaben:

» Warnung!!!

Hier leben zwei arme Aussätzige, die aus Furcht, in einem Lepraheim interniert zu werden, sich von der Welt für immer zurückgezogen haben. Da unsere Krankheit überaus ansteckend ist, warnen wir jeden, sich uns zu nähern, und bitten zugleich, unser Geheimnis nicht zu verraten.«

Lepra – Aussatz!

Grenzenlose Enttäuschung zeigt sich auf unseren Gesichtern.

»Olaf«, sagt Boche Boche mit müder Gleichgültigkeit, »ein Geheimnis haben wir entdeckt, aber nicht Holger Jörnsens ...!«

Bricht ab, hatte noch etwas hinzufügen wollen ...

Hinter der Mahagonitür, hinter den runden, kleinen Fenstern ein dumpfer Ruf ... daß wir zurückprallen ...

Ein Ruf, ein Name – der meine:

»Abelsen – – hierher!!«

Das ist Holger Jörnsens harte Stimme ...

Und nochmals:

»Abelsen – – hierher!!«

Enttäuschung wird zu bodenloser Hoffnungsfreudigkeit ...

Lepra ... Aussatz ... Ansteckungsgefahr – was schert es uns!!

Da drinnen sind die, die wir suchen.

Boche Boche packt den Türknopf. Aber der Weg zu denen, die dem Kameraden den wahren Namen wiedergeben können, ist verschlossen, und wer mit der Bauart dieser Jachten, deren schmucke, scharfe Linien leicht biegsamen Eisenplatten ihre Schönheit verdanken, genügend vertraut ist, der weiß auch, daß diese gewölbten Heckaufbauten aus demselben kugelsicheren Material bestehen und daß eine solche elegante Mahagonitür innen durch eine zweite mit Eisen verstärkt ist – schließlich auch, daß die Räume des Hinterschiffs keinerlei Verbindung mit den übrigen haben, jedenfalls keine unverschließbare. Auch der Kamerad weiß das. Aber ein Mann von seinem Zuschnitt, ein Mann, für den es hier um Dinge geht, die einem Todesurteil oder einer Freisprechung gleichen, kennt keine Hindernisse.

»Olaf – in der Back – – Äxte, Hämmer!« – und er läuft nach vorn, vorwärtsgehetzt durch einen erneuten Ruf Holger Jörnsens.

Ich will ihm zunächst folgen.

Aber irgend etwas hält mich zurück. Wir haben Erik Jörnsens Taschen durchsucht und darin nichts gefunden – auch keine Schlüssel. Und daß der verbrecherische Arzt seine Verwandten hier eingesperrt hat, kann kaum noch zweifelhaft sein, ebenso, daß er sie sicher gefesselt hat, damit sie nicht entfliehen können. Wäre dies nicht der Fall, hätte unser Käpten sich längst am Fenster gezeigt.

Wo läßt nun ein Mann wichtige Schlüssel, die er aus Vorsicht nicht bei sich tragen mag? Er versteckt sie. Und wenn er überzeugt ist, daß diese Grotte hier, diese Bucht mit dem Zaun von Granitpfählen, kaum von einem Fremden aufgefunden werden dürfte, wird er das Versteck nicht gerade allzu sorgfältig auswählen, wird die Schlüssel in der Nähe der Tür verbergen.

Es sind alltägliche Gedanken, die mir in Sekunden aufsteigen und mein Tun beeinflussen, Erinnerungen an einst, wenn meine Studentenwirtin mir den Türschlüssel unter die Matte legte.

Hier gibt es keine Matte. Mein Blick gleitet über die Warnungstafel: Lepra – Aussatz! Sie ist mit sechs Nägeln am Türrahmen oben befestigt. Aber das Papp-Plakat neigt sich nach vorn, als ob es durch einen Gegenstand schräg gedrückt wird.

Ich höre des Kameraden Schritte ...

»Alles verschlossen, Olaf!« Meine Hand hat sich schon hochgereckt – hinter das Plakat, bringt sechs Schlüssel an einem Stahlring zum Vorschein.

Boche Boche jubelt, reißt sie mir aus der Hand.

»Wie kann man nur so pomadig sein – – jetzt!!«

Die Mahagonitür fliegt auf ...

Ein Irrtum: es gibt keine Innentür. Diese eine trägt an der anderen Seite sauber gestrichenen Eisenbeschlag.

Durch die runden Fenster fällt das Scheinwerferlicht in runden, breiten Streifen in die elegante Kabine des Kapitäns dieser Jacht. Durch die Tür gleißt das künstliche Licht über das Ledersofa hin, auf dem die beiden Jörnsens sitzen, geradezu raffiniert gefesselt.

Der Alte ruft uns entgegen:

»Ich hoffte auf euch!! Die Kanne Schmieröl, die ich noch rasch ins Wasser werfen konnte, hat wohl ihre Schuldigkeit getan!«

Boche Boche hat seine Hände dem Alten auf die Schultern gelegt. Er denkt nur an sich.

»Jörnsen, du kennst meinen Namen! Jörnsen, dein Neffe, der nun den armen Kerlen von Feuerländern auf dem Grunde der Bucht Gesellschaft leistet, hat es behauptet. Jörnsen – wie heiße ich, wer bin ich??«

Und ich, Olaf Karl Abelsen, weniger beteiligt an dieser Szene, die in einem Film größte Sensation wäre, und die hier doch so lebensecht ist – ich werde Kavalier wie einst, horche hin, aber bemühe mich schon, Frau Helgas Stricke zu lösen. Die Alte sieht noch schmutziger und abstoßender aus als sonst. Die abscheuliche Brille ist ihr bis auf die Nasenspitze gerutscht, und die verkniffenen Augen von schwarzen Rändern umschmiert.

»Jörnsen, wie heiße ich??«

Der Käpten entgegnet herzlich:

»Wenn Erik tot ist, mein Freund, dann sollst du alles erfahren – alles! Zunächst deinen Namen ...«

Boche Boche läßt einen unheimlichen röchelnden Laut hören, tritt zurück, taumelt und stützt sich schwer auf den Tisch ...

»Du bist Gerhard Dorner«, erklärt Jörnsen feierlich. »Gerhard Dorner, Generaldirektor der Continental-Plantagengesellschaft in Padarido, Brasilien.«

Frau Helgas Hände sind frei ...

Gerhard Dorner fällt langsam in den Schiffssessel am Tische, läßt den Kopf auf die Arme sinken, und seine Schulter, sein ganzer Körper, beben wie im Schüttelfrost ...

Kapitelnummerierung ist ab hier falsch im Buch


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