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15.

… Der Pater Athomasius ruft mich zum Mittagessen.

Mir ist der Kopf heiß geworden über meiner Schreiberei. Ich habe sehr flott geschrieben, aber ich habe dabei so manche Einzelheit übergangen, ich habe Freund Wrangel gänzlich vergessen, der sich auf dem Floß nicht minder tapfer benahm wie Gupa, und die Bleibienchen anbellte und am Grabe des Doktors kläglich heulte. So allerlei ist übersehen worden, was mir erst einfiel, als ich nach dem Mittagessen – ich pflegte mit zwei Arifs, das sind vornehme, schriftkundige Mönche, die Mahlzeit einzunehmen, denn in St. Antonius gibt es keine gemeinsamen Mahlzeiten – die Seiten wieder überflog, die über Gowins und Chedees Tod berichten. Was aus deren Leichen geworden ist, weiß ich nicht.

Ich rauche und sinne vor mich hin …

Wollte ich unsere Fahrt den Amur hinab schildern, würde ich zu viel Papier und Tinte verschwenden. Es waren eintönige Tage. Wera hielt sich von uns Männern fern, sie war seelisch gebrochen, und ihr Gesicht erschien hager und gealtert.

Erst als wir in Chabarowsk bei einem Freunde Gupas Quartier fanden und Steenpool die Fahrscheine bis Wladiwostok heimlich »hintenrum« besorgt hatte, fiel die Entscheidung über unseren ferneren Weg. Wir hatten zunächst bis Hongkong reisen wollen, wo wir unter den englischen Kanonen in Sicherheit waren.

Ja – es war wirklich einer jener Zufälle, die nun einmal im Leben so vieler Menschen die Hauptrolle spielen, – ein Zufall, daß wir abends im Garten des Gastfreundes Gupas, eines seit vielen Jahren hier ansässigen Armeniers und Händlers (er hatte sicherlich gute Beziehungen zu den »armen Leuten«) in Abwesenheit Weras über »Sankt Antonius« und den »Mönch« sprachen, also über des Doktors letzte Worte.

Der Armenier, ein älterer Mann mit listigen Zügen, horchte auf.

»War der Fürst etwa ein Coyte?« fragte er. »Ich meine, ein coytischer Christ, die in Ägypten mit am zahlreichsten vertreten sind, aber sogar in Rußland viele kleine Gemeinden besaßen, in Armenien noch mehr: Ich bin selbst Coyte!«

Wir wußten noch immer nicht, wo er eigentlich mit diesen Bemerkungen hinauswollte.

Dieser alte Gauner, zweifellos noch schlauer als Chinesen und Japaner und nur deshalb zu großem Reichtum gelangt, den er jedoch wohlweislich hinter einem sehr bescheidenen Lebenszuschnitt verbarg, – dieser ewig lächelnde Daseinskünstler nach asiatischem Muster fügte vertraulich hinzu: »Wir Coyten sind alle sehr fanatische Gläubige wie die meisten Sektierer, wir sind andererseits freigebig und unterstützen die Stätten unserer religiösen Tradition nach Kräften …«

Er sog an seiner Zigarre, blickte über den zierlichen Garten hin, schaute sich vorsichtig um und fügte hinzu:

»Auf ägyptischem Gebiet nach dem Roten Meere zu liegen zwei Klöster, die ältesten der Christenheit, im ganzen wenig bekannt. Das eine, das allerälteste, nennen wir das Herz der Welt, weil es eben der älteste Sitz christlicher Frömmigkeit ist.«

Jetzt wußte ich Bescheid.

»St. Antonius!« rief ich leise. »Ich habe von St. Antonius und St. Paulus gehört, – ich war einmal in Kairo, und ein Bekannter riet mir zu einem Besuch dieser Gebirgsklöster, da sich dort noch uralte technische Einrichtungen befänden, die mich als Ingenieur interessieren dürften. Daß ich auch nicht früher daran gedacht habe! Vielleicht würde mir das Kloster St. Antonius doch mit der Zeit eingefallen sein, vielleicht würde auch ich schließlich dieselben Gedankengänge gefunden haben wie Sie! – Der Fürst muß Coyte sein, und der Doktor, der nun droben im Chingan-Gebirge begraben liegt, war in dieser Beziehung gut unterrichtet. Zubanoff will nach St. Antonius und dort als Mönch sein Leben beschließen.«

Der Armenier nickte. »Es gibt keine andere Deutung. – Sie erzählten mir, die Fürstin habe in Angora geheiratet. Auch dort hausen Coyten. Fragen Sie sie, ob ein coytischer Priester ihre Ehe eingesegnet hat …«

»Davon hat sie nie etwas erwähnt«, meinte ich etwas zerstreut.

Wir Menschen sind nun einmal schamlose Egoisten, und mir lag nichts daran, daß Wera ihren Gatten wiederfände.

Steenpool war besser unterrichtet.

»Sie mag nichts davon erwähnt haben, aber – sie ist auch kirchlich getraut worden, – ich war in Angora, ich begnüge mich nie mit halben Ermittlungen. Sie …!! Es stimmt schon, Zubanoff ist Coyte, und Frau Wera mußte eigentlich von selbst längst an das Kloster Sankt Antonius gedacht haben, denn es wäre seltsam, wenn der Fürst während der Brautzeit ihr gegenüber niemals diese beiden uralten Stätten der Sekte genannt haben sollte. Jedem Coyten sind sie heilig, mehr noch, jeder Coyte pflegt gerade in dem entlegenen St. Antonius etwa dasselbe zu sehen, wie dies die römischen Katholiken im Vatikan sehen: Den Mittelpunkt ihres Glaubens, – – das Herz der Welt! – Da – in Weras Zimmer brennt Licht, Abelsen … Ihr Schatten gleitet über die Fenstervorhänge, sie schreitet wieder ruhelos auf und ab, und was hinter ihrer schönen Stirn vorgeht, weiß nur sie selbst. Sie kommen ihr vielleicht ungelegen, Abelsen … Vielleicht deshalb, weil sie sich nur in der Absicht von uns fern hält, weil …«

… Er hüstelte …

»… weil sie eben bereits genau ihr Reiseziel kennt …«

Gupa sagte mit Nachdruck: »Sie kennt ihr Ziel, Mr. Steenpool, denn sie ließ sich heute von mir ein englisches Reisehandbuch über Ägypten besorgen, ich sollte darüber schweigen, bat sie, und ich habe in dieser elenden Stadt nur eine veraltete Ausgabe von Cooks Orientfahrten aufgetrieben, in der ein Abschnitt über Ägypten handelt.«

»Nun also …« – Steenpools Lächeln reizte mich. Er blickte mich an, und ich spürte, daß er genau wußte, wie es um mich stand. »Gehen Sie, Olaf … Und lassen Sie sich durch die Waffen einer Frau nicht entwaffnen … Die berühmtesten Spioninnen des Weltkrieges waren Frauen, und natürlich blendend schöne Frauen …«

»Das gehört wohl kaum hierher, Steenpool!« Und ich schritt durch den mehr im japanischen Geschmack angelegten Garten über hellen Kies und stieg die Treppe zur Veranda hinan. Meine Füße widerstrebten dem Willen des Hirns, und mein Herz bangte vor dieser Entscheidung. – Wie würde ich mich mit Wera dieserhalb ohne neue Entfremdung auseinandersetzen?!

Die Tür ihres Zimmers ging auf die breite Veranda hinaus.

Ich klopfte an …

Sie hatte sich eingeschlossen, sie öffnete erst nach geraumer Zeit, sie stand im Lichte der großen Deckenlampe in derselben kühl-ablehnenden Haltung da wie all diese Tage …

»Ich muß Sie sprechen, Wera.«

Sie schrak zusammen. Ich trat ein, drückte die Tür zu und meinte: »Haben Sie im Cook geblättert, haben Sie ihn vor mir versteckt?!« Es klang sehr bitter, und sie errötete und lächelte wehmütig.

»Ich bin sehr undankbar, Olaf …!«

Sie deutete auf den einen Rohrsessel.

»Setzen Sie sich, mein Freund …« Ihre Blicke forschten in meinen nicht eben freundlichen Zügen.

Sie wurde unsicher. »Hat also Gupa doch geplaudert …?!«

Ich griff nach ihrer Hand.

»Wera, Sie wollten uns heimlich verlassen!«

Sie erschrak noch mehr.

»Wera, Sie wollten allein nach St. Antonius … Zubanoff ist Coyte und die …«

Sie weinte laut auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Aber solche echt weiblichen Anfälle von schwächlichen Tränenergüssen dauerten bei ihr nie lange an.

Sie trocknete die Augen, und eine zarte Blässe breitete sich über ihr Antlitz, während ihr Mund die charakteristischen Falten eisernen Willens bekam.

»Olaf, seit jener Nacht, als der arme kleine Doktor starb, habe ich nur einen Wunsch gehabt: Der Doktor hätte nie diese Worte gelallt – nie! Ohne diese seine letzten Äußerungen wäre ich … frei gewesen!«

Ich verstand sie.

In dem Moment hätte ich sie an mich reißen mögen …

»Olaf, ja, ich wollte heimlich nach dem Kloster. Nun sind Sie doch hinter das Geheimnis dieser allerletzten Worte eines Sterbenden gekommen, der nicht mehr die Kraft fand, mehr zu sagen. Ich selbst kam erst auf die wahre Deutung, als wir den Amur hinabfuhren und ich eines Nachts schlaflos dalag und mir die Zeit vor vier Jahren – oder sind es fünf?! – vergegenwärtigte. Damals war ich verlobt … Zubanoff war mein Abgott … Er erzählte mir gern von seiner Familie, er lebte gern in verblaßten Erinnerungen, und … so erfuhr ich, daß er Coyte war, christlicher Sektierer. In jener Nacht auf dem Flusse gedachte ich seiner begeisterten Schilderung der ältesten Kulturstätten der Coyten. Als Jüngling war er, gleichsam ein Pilger, dort gewesen … Er hatte geradezu geschwärmt von der Weltabgeschiedenheit des uralten Klosters, alle Russen sind romantisch veranlagt, und in seinem Wesen trat der Hang zur Träumerei besonders stark hervor. Er war ja auch halber Asiate … Die Steppenvölker pflegen schon durch die Einsamkeit der unendlichen Weiten zum Grübeln zu neigen. Vieles trug dazu bei, sein unbewußtes Sehnen nach einem Leben in gänzlicher Abgeschiedenheit zu steigern. – In jener Nacht, in der auch meine Brautzeit mit ihrer rosenroten Seligkeit wie etwas gänzlich Unwirkliches an meinem Geiste vorüberglitt, so, als hätte dies jemand anders erlebt und nicht ich, fühlte ich, wie fremd er mir geworden und wie heftig dennoch mein Sehnen war, ihn zur Rede zu stellen und Aufklärung zu fordern, weshalb er mich so lange ohne Nachricht ließ und vor mir floh …! Ich muß Klarheit haben! – Sollte ich etwa von Ihnen, Olaf, auch das Opfer noch fordern, mich nach St. Antonius zu begleiten?!«

»Ich werde Sie begleiten, Wera …« sagte ich bedrückt.

»Nein, nein …!« Sie lehnte sich an mich. »Olaf, das … soll nicht sein! Ich habe Ihnen … nichts zu geben als Dank für Ihre … Treue.«

Sie wollte »Liebe« sagen …

»Nichts, Olaf …! Vielleicht könnte ich Ihnen etwas geben, wenn Zubanoff … niemals in dem Kloster erschiene … – Würden wir ihn dort aber finden, würde er nach uns eintreffen, würde es ein Wiedersehen geben, dann …« – sie ließ sich in den Sessel fallen und starrte vor sich hin – »dann würde ich … ich … ich weiß nicht, was ich tun würde, und … Ihre Anwesenheit, Olaf, würde alles nur noch … schlimmer machen …«

Sie brauchte nicht deutlicher zu werden.

Sie tat mir unendlich leid, und ich konnte sie durchaus verstehen. Sie mußte Klarheit schaffen zwischen sich und Zubanoff.

»Steenpool«, sagte ich zart, »Steenpool würde sich niemals abschütteln lassen, Wera … Er ist gezwungen, seinen Vorgesetzten einen lückenlosen Bericht über seine geheime Mission zu liefern, und die Lücke ›Iwan Zubanoff‹ füllt er bestimmt aus. Wir reisen zusammen, Wera …«

Dann ließ ich sie allein.

Es war für uns beide besser. –

Wir reisten schneller ab, als wir es gedacht hatten.

Mitten in der Nacht weckte uns der Armenier.

»Sie müssen fliehen …« – er war sehr aufgeregt. »Ich habe Nachricht erhalten, daß man Sie alle hier in aller Stille gefangennehmen und wegschaffen will … Diesmal liegen die Dinge umgekehrt: Die Wangs wollen Sie, weil Sie zu viel wissen, nicht aus der Mandschurei herauslassen …«

Er hatte ein Lastauto bereit, – in wilder Hast mußten wir uns unter halbgefüllten Säcken verbergen, – – es war der letzte abenteuerliche Akkord dieser seltsamen Sinfonie von Erlebnissen. Das Auto ratterte durch die Nacht über fürchterliche Wege bis zu einer Bahnstation … Als der Nachtzug von Wladiwostok einlief, schlüpften wir in ein Abteil, in dem ein vertrauter Diener des Armeniers uns erwartete.

Vier Tage darauf befanden wir uns an Bord eines chinesischen Küstendampfers …

Unser Ziel war St. Antonius. Steenpool hatte das nötige Geld, uns bis Hongkong auf einem englischen Luxussteamer unterzubringen. Da erst waren wir wirklich in Sicherheit.

Wir sahen im Morgengrauen die felsigen Terrassengestade der Insel Hongkong hinter uns verschwinden … Wera stand neben mir an der Reling … Dschunken, alt wie Methusalem, zogen mit prallen Segeln vorüber …

Asien, Ostasien entschwand …

Die Wangs mögen in geringer Zahl noch jetzt zusammenhalten. Die chinesischen Generale haben neun von den Tschu-Wangs ermittelt und geköpft, las ich in einem englischen Blatt. Die phantastische Idee eines Mongolenreiches mit Einschluß Japans dürfte kaum mehr in alter Größe aufleben. Aus dem Reste der Wangs wird wohl ein Bund der »armen Leute« geworden sein: Banditen, Räuber, Flußpiraten!

»Für Europa ist dies nur günstig«, meinte Steenpool in Kairo im Prachtgarten des Mena-House-Hotel und nahm einen neuen Strohhalm für seine Eislimonade und ließ seinen Brillantring blitzen.

Gupa, im weißen tadellosen Tropenanzug vollkommen Gentleman, blickte Steenpool nachdenklich an. »Ich war ein Wang … Es wird ein neuer Doktor Wang-Ho sich finden, und eines Tages wird Asien rein werden von fremden Spekulanten … Asien den Asiaten, Mr. Steenpool! Auch Sie werden die Entwicklung der Dinge nicht verhindern …«

Wera blickte träumerisch in die Kronen der Palmen empor … Am Nebentische lärmten amerikanische Globetrotter, und auf der hellen Straße zog ein Regiment ägyptischer Infanterie mit schmetternder Marschmusik vorüber. Ägypten war nicht mehr englische Kolonie, und die letzten Zeichen englischer Bevormundung würden auch sehr bald verschwinden.

Am nächsten Morgen ritten wir hoch zu Kamel durch die weißen Berge gen Sankt Antonius.


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