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14.

Dunkle Glut stieg ihr in die Wangen, beschämt löste sie sich aus meinen Armen, senkte den Kopf …

»Olaf, was müssen Sie von mir denken!«

Ich hatte noch ihre Hände umklammert …

»Ich denke, daß du mich liebst, Wera …«

Sie riß sich los …

»Mein Gott, – nur das nicht …! – Olaf, vergessen Sie meine Schwäche, – ich bin nicht frei, ich …«

»… ich vergesse nichts, Wera, – nie! Wie sollte ich?!«

Sie wandte sich langsam weg.

»Sie müssen vergessen! Es darf nicht sein. – Wollen Sie mir auch das noch aufbürden?!«

Sie war so hilflos, so ganz Weib … Der Widerstreit ihrer Empfindungen rührte mich.

»Ich bin so froh, daß ich Sie gefunden habe«, – so fanden wir uns auch in den bisherigen trügerischen kameradschaftlichen Ton zurück.

Aber – vergessen?! Wera, wie töricht bist du doch! Vergessen, wenn du mich so geküßt hast!

… Dann saßen wir nebeneinander, Wera erzählte … Sie war erst aufgewacht, als ihr einer der Chinesen die Kehle im Zelte zudrückte und ein zweiter sie emporhob. Die Schufte hatten die Zeltbahn hinten zerschnitten, der eine hatte Wera dann vor sich in den Sattel genommen, und die Angst vor uns hatte die Banditen bis hierher getrieben. Hier machten sie halt, ahnten nicht, daß ihre Gefangene bereits die Pistole in der Hand hatte. Das Ende waren vier rasche unerwartete Schüsse gewesen …

»… Mein Gewissen ist frei«, sagte Wera mit der alten Energie, und ihre Züge waren hart und erbarmungslos … »Aus den gemeinen Redensarten der Schurken erkannte ich, was mir drohte. Es gab keinen anderen Ausweg für mich …«

»Wer wird Ihnen Vorwürfe machen?!« Ich blickte mich nach den Gäulen um. »Haben Sie die Satteltaschen durchsucht?! Wir sollten etwas essen …«

»Und Sie sollten schlafen, Olaf … Sie sehen miserabel aus … Übrigens weiß ich nun aus den Gesprächen der vier, daß wir im ganzen sechzehn von diesem Gesindel hinter uns haben. Man hatte unsere Spur verloren, und diese vier waren nur ausgeschickt, die Fährte zu suchen. Wo der Haupttrupp steckt, weiß ich nicht.«

Ich war müde, nein, wie zerschlagen. Nun kam erst die Abspannung. Ich erhob mich, ich taumelte, Wrangel schlief längst zusammengerollt wie ein Wollbündel, mein Gaul hatte sich in das hohe Gras gelegt, Wera hatte ihm eine Decke übergeworfen.

Ich untersuchte die Waffen der Toten, die Wera neben sich gesammelt hatte. Die Gewehre waren nicht viel wert, die unmodernen Revolver, erst recht nicht. Die Läufe hatten Rostflecken, die Schlösser klapperten.

Von diesem Hügel hatte man weite Fernsicht. Die Wüste war unverdächtig. Friedlich grasten drüben Hirsche – jene Art ohne Geweih, die in der Gobi so häufig anzutreffen ist. Ich sah hier die ersten Wildkamele, es waren acht Tiere, plumper als das Zugkamel, dichter im Haar. Nirgends eine Jurte, ein Reiter oder eine Rauchsäule.

Wir sammelten dürres Holz. Die Toten hatten kleine Teekessel mit sich geführt, leider auch nur den fragwürdigen billigen Ziegeltee, der, zu Platten zusammenpreßt, so leicht alle möglichen Gerüche anzieht. Aber Hartbrotpakete und drei Büchsen Reis verhalfen uns doch zu einer stärkenden Mahlzeit.

Wir sprachen nicht viel. Eine gewisse Verlegenheit blieb zwischen uns, und Weras Augen mieden die meinen.

Kaum hatte ich mich dann im Schatten niedergelegt, als ich auch schon einschlief. Die Sonne brannte heiß, obwohl es erst sieben Uhr morgens war. Ein feiner zarter Dunst hatte die Steppe zuletzt überzogen, der reichliche Tau erzeugte die schwachen Nebel, die später wieder verschwanden.

Ich schlief. Ich hatte zwei treue Wächter, und meine Träume gaukelten mir ein Glück vor, das niemals Wirklichkeit werden konnte.

Mittags weckte Wera mich. Steenpool und Gupa mit unseren Packpferden nahten von Osten her, es gab eine lärmende, freudige Begrüßung, und Steenpool konnte sich die Frage nicht verkneifen, wie es Mr. und Mrs. Smith derweil ergangen sei, wobei er vielsagend schmunzelte.

Wera wandte sich errötend ab, ich wurde grob und meinte, wir hätten jetzt wohl an anderes zu denken, das Dutzend Banditen, das hier immer noch irgendwo umherstrolche, lasse es geraten erscheinen, schleunigst wieder aufzubrechen.

Wir brachen auf. Gupa ritt als Späher weit voraus, wir wichen wieder einigen Jurten und einem größeren Zeltlager im Bogen aus und sahen gegen Abend die bläulichen Gipfel des Chingan-Gebirges vor uns. Gupa hatte nachmittags eine kleine Karawane nach der Lage des Dorfes Choto ausgefragt, und wir hatten uns weit nördlicher halten müssen. Die Gegend war hier bereits bedeutend baumreicher, einzelne Wasserläufe, kleine Tümpel, sehr hohes Gras und kegelförmige, vollständig kahle Felshügel gaben der Landschaft das kennzeichnende Gepräge des Übergangs zum Gebirge. Die Dauersiedlungen nahmen gleichfalls zu, und Jurten mit Lehmziegelunterbau, ganze Lehmhäuser, Stallungen und eingezäunte Weiden zwangen uns nicht nur zu weiten Umwegen, sondern auch zu doppelter Vorsicht.

Choto sollte in einem Tale mit schroffen Wänden liegen, dicht daneben, hatte der Karawanenführer erklärt, gab es einen größeren See und einen alten Tempel aus der Glanzzeit des geeinten Mongolenreiches.

Wir mußten dem Ziele ziemlich nahe sein, und Gupa schlug vor, erst einmal die Sache in einem großen Gebüsch abzuwarten.

Wera war wieder sehr still geworden, Steenpool schwatzte wie immer allerlei scheinbar ungereimtes Zeug, in dem noch der scharf geschliffene Witz dieses kleinen eigenartigen Vertreters Oldenglands stets geistreich aufleuchtete. Wir saßen nebeneinander, Gupa hielt vor den Büschen Wache, und ich … wünschte mich tausend Meilen weg.

Ich zweifelte nicht daran, daß wir die Gesuchten in Choto vorfinden würden, zumindest ganz in der Nähe. Ich hatte den Gefährten längst von der Chiffredepesche Mitteilung gemacht, die ich auf der Diktaphonwalze entdeckt hatte, und wenn dort auch Charbin als Treffpunkt angegeben gewesen war, so hatte dies gegenüber Gupas Feststellungen in Charbin nichts zu bedeuten. Der Fürst, Gowin und Chedee mußten in Choto sein. Zu welchem Zweck, – die Frage blieb offen.

Wera hatte mit Dank eine von Steenpools Zigaretten angenommen. Der Oberinspektor erzählte eigene Erlebnisse, und er war ein glänzender Erzähler. Ich begriff, daß sein Beruf ihn vollkommen fesselte und befriedigte.

Plötzlich fragte die Fürstin ihn: »Glauben Sie, daß der Wang-Bund Waffen einschmuggeln läßt?«

Es war schon dunkel, aber mir entging Steenpools peinlich überraschte Miene doch nicht.

»Wie kommen Sie denn darauf, Fürstin?«

»Das ist keine Antwort«, meinte sie etwas gereizt. »Mir fiel soeben ein, daß Iwan (sie nannte ihn nie mehr Witscha) in Angora öfters mit einem Belgier verhandelte, der, wie ich zufällig erfuhr, Vertreter einer Waffenfabrik sein sollte.«

Steenpool räusperte sich. Das Thema war ihm unangenehm. »Hm, Sie denken an das Wort »Sendung« in der Depesche … Nun, unsere Gedanken begegnen sich, Fürstin. Ich habe längst daran gedacht, und ich vermute, daß ihr Gatte, mag er auch als dreizehnter Tschu-Wang zurückgetreten sein, doch noch für die Übernahme dieser Sendung notwendig ist.«

Wera fragte weiter: »Und wenn nun das Dutzend chinesischer Banditen hiervon Kenntnis hätte, wenn sie vor uns in Choto einträfen?!«

Steenpool lachte. »Ein Gowin hat mehr Spione, als diese chinesischen Halsabschneider, die der General Fangsoleng besoldet …«

»Wenn dem so wäre, hätte man uns wohl in Charbin rechtzeitiger gewarnt«, sagte Wera düsteren Tones. »Ich fürchte, wir alle überschätzen die Macht der Wangs. Gowin redete da soviel von tausenden von Mongolen, die seinem Wink gehorchten, – ich merke nichts davon! Gupa ist ein Wang, und nirgends hier spürte ich etwas von dem Vorhandensein nomadisierender Wangs. Würden wir also nach Choto kommen, könnte es sehr wohl geschehen, daß wir nur das Schicksal derer teilten, die wir gern wiedersehen möchten.«

Es waren Bedenken, Befürchtungen, die ich längst gehegt hatte. »Gupa und ich werden Choto zunächst allein besuchen«, erklärte ich. »Sie, Fürstin, und auch Steenpool sind für ein solches Unternehmen, bei dem von Ohr, Auge und Hand schnellstes Zusammenwirken verlangt wird, nicht geeignet. Ich bin Abenteurer, Gupa war noch mehr als das, nehme ich an, und mit ihm zusammen würde ich auch des Teufels Großmutter in der Hölle meine Aufwartung machen. – Wir werden sofort aufbrechen.«

Steenpool legte mir die Hand auf das Knie. »Immer gemach, Abelsen, … Sie reden wie ein Weiser oder wie Howard Steenpool, – die Banditen, falls sie in dem Neste stecken, sind schlimmer als des Teufels Großmutter, mein Lieber … Ich weiß nicht, ob sie einer chinesischen Massenhinrichtung beigewohnt haben … Ich ja … Bei solchem Volksschauspiel lernt man erst das Gesicht Asiens richtig kennen. Es ist kein schönes Gesicht nach unserem verweichlichtem Geschmack, Abelsen. – Ich werde Gupa begleiten, denn mein Paß, meine Papiere würden auch dem fanatischsten Gelben Respekt einflößen. Bisher hat man hier noch immer einige Angst vor Englands schwimmenden Bügeleisen, die so wunderbare 32-Zentimeter-Granaten spucken – pardon …«

Es war ein edler Wettstreit. Jeder wollte seine Haut zu Markte tragen, Steenpool ließ nicht locker und zum Schluß mengte sich auch noch Wera ein.

»Sie beide wollen sich für mich opfern, auch Gupa würde es tun, – ich lehne das ab.« Sie sprach mit einem Nachdruck, der keinerlei Widerspruch duldete. »Ich werde allein reiten, dabei bleibt es … In meinem Reisesack habe ich noch die Verkleidung, die ich als Mongolin in Zubanowo trug, dazu Perücke, Schminken … Eine alte Bettlerin hält niemand an, – ein Mann fällt hier überall auf, und …«

»Sie haben recht«, brach ich diese zwecklose Erörterung ab und stieß dabei Steenpool vielsagend mit dem Ellbogen in die Seite. »Noch ist es zu früh, Fürstin … Außerdem müssen wir erst näher an das Dorf heran …«

Mein Plan war fertig. Steenpool ahnte meine Absicht und schauspielerte wie ich.

Eine halbe Stunde darauf ritten wir weiter. Diesmal war ich Vorhut, ich hatte das beste Fernglas, und meine Pampaserfahrungen übertrafen auch Gupas vielseitige dunkle Abenteuer an lehrreichen Einzelheiten.

Diese Nacht, kühl wie die gestrige, nur fast zu hell und klar, goß mir wieder das lebendige Feuer einer hohen Verantwortung in die Adern. Es erging mir wie stets: War ich allein auf mich angewiesen, verdoppelten sich meine Instinkte, – nichts lenkte mich ab, und mein Wrangel, den ich vor mir an der Leine hatte, war mir wertvoller als ein Dutzend mit dieser Wüste vertraute Nomaden.

Ein bewaldeter Hügelrücken lag hinter mir. Im Sternenlicht erkannte ich durch das Glas große Herden, zumeist Fettschwanzschafe, einige Umzäunungen mit Pferden und Kamelen, drei Jurten, aus denen Qualm emporstieg, und ganz fern im Dämmer der ersten Berge eine Anzahl heller Pünktchen, links davon eine blanke weite Fläche. Das mußte der See von Choto sein.

Ich hatte also wirklich das Tal vor mir, ich sah auch die schroffen Abhänge der Talwände, – hinter dem Dorfe brannten ein paar gewaltige Feuer zum Schutz gegen die Wölfe, die aus den Wäldern des Gebirges nachts herabkamen.

Von hier oben merkte ich mir genau die Richtung, die ich einzuschlagen hatte, um die Herden und ihre Wächter zu meiden. Dann trabte ich weiter, ich fand ein ausgetrocknetes Bachbett, das mir genügend Deckung bot, und nach einer Viertelstunde hatte ich das Dorf erreicht. In einer leeren offenen Stallung, deren Filzwände man jetzt im Sommer entfernt hatte, lagen noch Haufen von Reisstroh und Laub, – ein besseres Versteck konnte es nicht geben, zumal gleich rechter Hand die felsige Talwand aufstieg, die zahlreiche Gestrüppgruppen, Terrassen und Geröllhalden besaß. Im Notfalle konnten wir dort nach oben, und die nahen Berge boten die beste Möglichkeit zur Flucht.

Als meine drei Gefährten mit den Packpferden eintrafen, drückte Wera mir stumm die Hand. Steenpool meinte anerkennend, daß auch er die Sache kaum besser erledigt hätte, und Gupa tat das Klügste und häufte das Stroh derart in fast geschlossenen Kreise auf, daß unsere Gäule sogar für einen zufällig Vorüberkommenden verborgen blieben.

Die ersten Häuser der langgestreckten Ortschaft waren von dem Stall etwa dreihundert Meter entfernt. Es gab da Lehmhütten, Steingebäude, Jurten, braune Leinwandzelte und allerlei Wirtschaftshäuser, Ställe, Bretterspeicher, plumpe Backöfen …

Der Ort war größer, als wir gedacht hatten. Aber zwischen den Baulichkeiten zeigte sich selten eine menschliche Gestalt. Es mochte jetzt elf Uhr sein, und die Mongolen sind Frühaufsteher und lieben die nächtliche Kühle nicht. Das Dorf schlief.

Leider aber, und das warf eigentlich alle Pläne über den Haufen, trieben sich überall die ruppigen mageren Köter herum, von denen man allerlei Unangenehmes zu erwarten hatte. Sie sind schon aus Selbsterhaltungstrieb sehr wachsam, denn das Chingan-Gebirge und dessen Randgebiete beherbergen nicht nur Wölfe, sondern auch einige Arten von Pantherkatzen, dazu Bären und Tiger.

Gupa mit seinem starren Mongolengesicht blickt über das Dorf hin und scheint zu überlegen, wie man die Hunde weglocken könnte.

»Komm, Gupa«, sage ich. »Wir holen einen Hammel …«

Er versteht sofort.

Aber Steenpool und Wera fordern lange Erklärungen.

Wir kriechen zur nächsten Hürde, – leider ist nun auch noch der Mond erschienen –, und ein dicker Fettschwanzwidder, der sich stolz abseits hält, findet einen schnellen Tod. Gupa stößt nur einmal zu, und dann schleifen wir das tote Tier am Riemen hinter uns her, die Böschung empor, von Terrasse zu Terrasse, schleichen oben am Talrand dahin, bis wir etwa die Mitte des Dorfes hinter uns haben und schleudern den ausgeweideten Kadaver in die Tiefe, ebenso die inneren Teile …

Der Erfolg bleibt nicht aus. Die nächsten Hunde wittern den seltenen Braten, der Blutdunst breitet sich aus, und in kurzem balgen sich etwa zwanzig gierige Köter um die leichte Beute.

Gupa kniet neben mir hinter einem Strauche. Er nimmt mein Fernglas und äugt nach den hellen großen Feuern hinüber, die ich für Hirtenfeuer gegen die Bestien der Berge hielt.

»Blicken Sie hin«, sagt er gepreßt …

Ich höre es seiner Stimme an, daß da irgend etwas nicht stimmt.

Ich stelle das Glas ein …

Es sind vier Riesenfeuer … Und zwischen ihnen bewegen sich Menschen … Eine Menschenmauer steht außerhalb des hellen Vierecks …

Ich springe auf …

Wir laufen geduckt gen Westen, wir rennen wie die Hirsche, wir fiebern … auch Gupas Gleichmut ist dahin.

Dann sind wir auf einer Höhe mit den mächtigen flackernden Holzstößen …

Wir sehen …

Sehen alles ganz deutlich …

Vor ein paar Felsen stehen zwei Männer, die Arme über der Brust gefesselt, im Munde Knebel mit Schnüren, die im Genick enden …

Gowin …

Chedee …

Gowin, hoch aufgerichtet, ein verächtliches Lächeln auf dem Gesicht …

Chedee stumpf, den Kopf gesenkt.

Ihnen gegenüber zehn der chinesischen Banditen in Khaki, Gewehre im Anschlag … Neben diesen ein Kerl mit einem Säbel … Wohl ein Offizier des Rebellengenerals …

Und seitwärts ein dritter Mann, eine schlanke Gestalt, fast zu schlank, ein feines, weiches, zu weichliches Gesicht …

Auch gefesselt und geknebelt.

Ich hatte Fürst Iwan Zubanoff noch nie gesehen, nicht einmal ein Bild von ihm, aber eine innere Stimme sagte mir es, der ist es, und er mußte es auch wohl sein … –

Geschehnisse können sich in die winzige Zeitspanne von Sekunden zusammendrängen … Unser Hirn ist imstande, in Bruchteilen von Sekunden äußere Eindrücke zu verarbeiten. Träume sind zumeist, mag ihr Inhalt auch ganze, wirre Romane umfassen, nur Gehirnarbeit von kürzester Dauer.

Hier war es ähnlich …

Ich sah alles, ich sah auch den dichten Wall der neugierigen Dorfbewohner, – ich zergliederte nichts von dem Geschauten, ich nahm nur den Gesamteindruck in mich auf …

Und riß die Büchse hoch …

Das, was sich da Offizier schimpfte und soeben den Säbel senkte, bekam die Kugel von hinten durch den Schädel, aber zugleich auch mit Gupas Schuß war auch die doppelte Salve erklungen …

Das, was sich da Offizier schimpfte, fiel nach vorn ins Gras, aber auch Gowin und Chedee hatten des Sterbens letztes Rätsel kennengelernt, waren umgesunken …

Wie ein Tiger sprang Gupa den Abhang hinab, wie ein Löwe brüllte er den Zuschauern ein paar Worte zu, von denen ich nur den Ausdruck Tschu-Wang verstand … Den Worten folgte ein schriller, besonderer Pfiff. Gupa hatte dazu die Mittelfinger in den Mund gesteckt, – der Pfiff gellte durch die Nacht wie das Sausen einer Schwertklinge …

Es mochten an die hundert Mongolen und Chinesen sein, die den breiten Halbkreis der Gaffer bildeten …

Es mochte die Hälfte von ihnen sein, die jetzt über die uniformierten Banditen herfiel … Ein Heulen, Kreischen, Brüllen erfüllte die Luft, als ob alle Teufel der Hölle losgelassen wären …

Ich begriff: Die Wangs nahmen blutige Rache! Die Wangs konnten nicht gewußt haben, wer hier erschossen wurde: Ihresgleichen, Brüder vom Bunde, mehr noch, der oberste Tschu-Wang …!

In diesem Augenblick war es, als ob ich aus fürchterlichem Traum erwachte …

Ich sprang gleichfalls die Böschung hinab, ich stolperte, ich zerkratzte mir die Hände, zerschlug mir die Knie, – ich hielt nur immer die Büchse hoch, damit sie unbeschädigt bliebe …

Ich sah, daß hinter dem Fürsten noch zwei der gelben Affen im Gestein hockten, daß der eine den Revolver zog …

Zum Abdrücken kam er nicht mehr, mein Zeigefinger krümmte sich zweimal, dann war ich vor Iwan Zubanoff, zerschnitt seine Stricke, zerschnitt seine Schnur im Genick und zog ihm den Knebel aus dem Munde …

Er schaute mich nur geistesabwesend an. Er hatte die melancholische Schönheit so vieler Russen, er hatte verträumte Augen …

Und – das war Weras Gatte?!

Das?!

»Ihre Frau ist in der Nähe, Fürst Zubanoff«, stieß ich atemlos hervor. »Weshalb fliehen Sie Ihre Gattin?! Wissen Sie nicht, daß sie in jahrelanger Treue nach Ihnen gesucht hat?!«

Er blickte mit tiefem Erschrecken um sich …

»Wera?!«

Und dann – droben vom Talrande her ihr heller Ruf …

»Iwan … Iwan …!!«

Droben stand sie, neben ihr Howard Steenpool.

In ihrer Stimme schwang nicht die Sehnsucht des liebenden Weibes, nur Überraschung, nur etwas Zaghaftes, Unsicheres.

Fürst Zubanoff winkte ihr nicht einmal zu …

Sein Gesicht war grau geworden …

»Grüßen Sie sie … auf Nimmerwiedersehen!« – er lallte es mehr, und dann lief er hinüber zu den gesattelten Pferden der gelben Strolche, schwang sich auf das eine hinauf, galoppierte davon, als ob der Satan hinter ihm her wäre.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, – ich hatte das Verhalten dieses Mannes nie verstanden. Und jetzt?!

… Gupa tauchte neben mir auf, in seiner Begleitung war ein kleiner, engbrüstiger Chinese mit Hornbrille, dessen verkniffenes Gesicht in eine Studierstube, nicht hier auf diesen blutgetränkten Boden paßte.

Der Bebrillte raunte mir hastig ins Ohr:

»Ich bin Tschu-Wang elf … Wenn ich nur geahnt hätte, weshalb die Soldaten niemand an die Gefangenen heranließen …!!! Auch du bist ein Tschu-Wang, Bruder … Wohin sollen die Waffen geschafft werden?«

Im Augenblick waren mir sowohl meine angemaßte Würde und alles übrige höchst gleichgültig.

Ich beobachtete Wera. Sie stieg mit Steenpools Hilfe den Abhang hinab …

»Laß sie, wo sie sind«, sagte ich zu dem bebrillten Bruder …

Ich eilte der Frau entgegen, die eines erbärmlichen Schwächlings wegen so viele Jahre Mühsale und Gefahren auf sich genommen hatte.

 

… Wir hatten die Jagd auf Iwan Zubanoff sehr bald als zwecklos aufgegeben. Er war in die Berge entkommen, wir hatten uns auch nur auf Weras Bitten hin dazu verstanden, einem Manne zu folgen, der vor seinem Weibe floh.

Langsam ritten wir drei und mein braver Hund wieder durch schäumende Bäche und finstere Täler abwärts dem Dorfe zu.

Wera sprach kein Wort, Steenpool murmelte allerhand fatale Unliebenswürdigkeiten, die sich auf Zubanoff bezogen, – und ich – – ich war Egoist genug, mit dieser Wendung der Dinge durchaus einverstanden zu sein.

Als wir an die Stätte gelangten, wo noch immer die Holzfeuer brannten, waren die Leichen der Banditen bereits verschwunden, – verschwunden waren auch all die Gaffer, die nicht zum Wang gehörten, und auf einem flachen Felsen, den man mit kostbaren Perlenstoffen behängt hatte, lagen Gowin und Chedee, die linken Arme am Leibe, die rechten Hände auf dem Herzen.

Man hatte ihnen die blutgetränkten Kleidungsstücke ausgezogen und die Leichen in gelbe Seide gehüllt. Unter den Köpfen lagen buntgestickte Kissen, und so starrten Gowin und Chedee mit gebrochenen Augen zum verblassenden Nachthimmel empor.

Vor diesem provisorischen Katafalk hockten die Wangs, Chinesen und Mongolen, die Waffen im Schöße. Und vor diesem Halbkreis wieder saß mit untergeschlagenen Beinen der kleine bebrillte Tschu-Wang und brannte Räucherstäbchen zu Ehren der Toten ab.

Die stille Versammlung nahm von uns keine Notiz. Nur Gupa kam herbei und sagte leise:

»Die Wangs und Tschu-Wang elf erwarten deine Befehle, Tschu-Wang dreizehn …«

Ich glaubte nicht richtig verstanden zu haben, – ich hielt es nunmehr auch für meine Pflicht, diese Lüge zu zerstören.

»Gupa« – ich zog ihn beiseite, »ich möchte dich nicht länger darüber im unklaren lassen, daß ich mit dem Wang-Bunde nichts zu tun habe …«

Gupa lächelte unmerklich. Seine Augen ruhten trotzdem mit gewisser Ehrfurcht auf meinem schweißigen, zerschrammten Gesicht.

»Gowin«, und er betont jedes Wort, »Gowin, der große Wassili Charbinow, hat in seinen Kleidern eine Schrift gehabt, und die Schrift bestimmt dich zu seinem Nachfolger. Du bist der dreizehnte Tschu-Wang, du bist der Herr …«

Er verneigt sich tief und deutet auf den kleinen Gelehrten. »Tschu-Wang elf hat die Schrift … Er ist ein Doktor, wie es Wang-Ho, der Gründer, war, und er kennt alle Länder und Städte, er kennt alle Völker, und doch ist er weniger als du, Bruder Abelsen.«

»Es ist gut«, – ich schreite zu dem Elften hinüber, der sich sofort erhebt und mir feierlich ein gefaltetes, blutiges Papier überreicht.

Die Leuchtkraft der Holzstöße genügt. Ich lese das, was Gowin mit seinem Herzblut getränkt hat.

 

»Freund Olaf, ich zweifele nicht daran, daß ihr uns finden werdet. Sollte mir etwas zustoßen, so bestimme ich, daß Du mein Nachfolger im Wang wirst, und ich bitte Dich, dieses mein Vermächtnis nicht auszuschlagen. Gleichzeitig hinterlasse ich Dir mein gesamtes Vermögen, das bei verschiedenen Banken deponiert ist, die angewiesen sind, auf ein bestimmtes Geheimzeichen und ein Stichwort, die Du unter diesem Text siehst, meine Depositen dem Betreffenden auszuhändigen. – Du bist ohne Heimat, Du verzettelst Deine Kräfte um nichts, hier hast Du eine Aufgabe, die Dein Leben ausfüllen wird. Europa verstieß Dich, Asien öffnet Dir seine Arme. Dir winkt ein Ziel, das Deiner würdig ist

Wassili Gowin.«

 

Vor dem Elften brannte am Boden ein kleines Feuer in einer Messingschale – wohlriechende Harze, Zedernäste …

Ich hielt das Papier über die Flammen … Es lohte auf, zerfiel in Asche.

»Du bist jetzt der Dreizehnte«, sagte ich zu dem kleinen Doktor. »Dich ernenne ich zu meinem Nachfolger …«

Und ich gab ihm den unteren Teil des Papiers, den ich in der Hand vor der Glut bewahrt hatte. »Hier – verwende Gowins Millionen für den Wang-Bund …!«

In dem faltigen klugen Gesicht zuckte kein Muskel.

»Wie du befiehlst, Bruder«, sagte er nur, nahm den Papierstreifen, setzte sich wieder, und … ich war diese Sorge los. – –

Choto ist einer der Durchgangsorte der Karawanen, die von Urga über Chana und den Gokiol-Paß nach Charbin oder Cirin unterwegs sind. Es ist nicht der gesuchteste Durchgangsort, besitzt immerhin ein öffentliches Rasthaus, das über saubere Räume, eiserne Feldbetten und manch andere Bequemlichkeit verfügt.

Zur Zeit war es leer, und Gupa belegte dort für uns die drei besten Räume, in denen sonst nur die reichen Handelsherren und Herdenbesitzer untergebracht werden.

Wera zog sich sofort in ihr Eckgemach zurück, Steenpool und ich nahmen den Nebenraum, und Gupa trug sein Sattelzeug und geringes Gepäck in den dritten. Ich war geistig und körperlich vollkommen erledigt, und auch dem doch weit weniger interessierten Steenpool ging es genau so. Wir warfen uns auf die Betten, – wenn ich die Augen schloß, drehte sich alles um mich her im tollen Wirbel, ich selbst mit, und ich schien kreisend in einen Abgrund zu versinken. Durch die nur mit Ölpapier beklebten Fenster sah ich die Tageshelle zunehmen. Was ich erlebt hatte, war wie etwas Spukhaft-Unwirkliches, die letzten Stunden waren dahingerast mit ihrer Überfülle von Geschehen wie tolle Rosse.

Und jetzt – – war Totenstille ringsum …

Diese Stille peinigte. Die überreizten Nerven verlangten nach einem allmählichen Abflauen dieser wehmütigen Szenen, die mich aufgepeitscht hatten bis zum Äußersten.

Gupa schlich herein und trug ein Teebrett mit winzigen Tassen. Es war nicht Tee, es war Teeextrakt, und vielleicht werde ich nie mehr diesen echten Kanton-Tee trinken, der mit Handschuhen gepflückt wird, den man behandelt wie das zarteste Kindlein.

Steenpool trank … Dann knipste sein Zigarettenetui. »Abelsen, ich werde wieder Mensch!«

Er stützte den Kopf in die Linke.

»Abelsen, was soll nun eigentlich werden – ich meine mit der Fürstin?« Er rieb ein Zündholz an … »Sie ist arm, auch Sie sind arm, – ich könnte für euch beide die Passage bis Europa bezahlen, aber …«

»Ich danke verbindlichst, Steenpool … Europa sieht mich nicht wieder: Sie wissen: Der Steckbrief – – und auch sonst … – doch Wera …?!«

Ich war ratlos.

»Sie müßte nach Schweden zurück, oder ich beschaffe ihr in London eine Stellung«, sagte Steenpool nachdenklich. »Irgend etwas muß doch geschehen …«

Gupa füllte uns wieder die Täßchen. Er meinte bescheiden: »Dein Freund Chi Api in San Franzisko ist auch ein Wang«, – dabei schaute er mich prüfend an. »Chi Api ist reich, und …«

Ich winkte ab.

»Wir werden wohl zunächst Weras Entschlüsse hören müssen …«

Steenpool lachte ärgerlich auf. »Sie wird diesem großen Fragezeichen von Gatten doch hoffentlich nicht noch weiter nachrennen?! Das wäre ja geradezu Wahnsinn und … Herabwürdigung vor sich selbst!«

Die Verbindungstür hatte nur zwei dicke Filzvorhänge. Wir hatten leise gesprochen, aber Wera meldete sich trotzdem, drückte die beiden Decken beiseite und lehnte sich an die Türfüllung. Sie war erschreckend bleich, aber ihre Stimme klang kühl und beherrscht.

»Olaf, würden Sie auf die Lösung der Frage verzichten, weshalb Iwan Zubanoff mich so behandelt?!«

»Nein!«

»Nun also …!«

»Gestatten Sie, Wera«, sagte ich rasch, »mein Nein hat Einschränkungen. Iwan, der zu Pferde ins Chingan-Gebirge flieht, ist nach menschlichem Ermessen nicht mehr aufzufinden. Der Fürst trug mir auf, Sie … auf Nimmerwiedersehen zu grüßen. Damit hat er sich von Ihnen losgesagt. Wenn ich nun eine Möglichkeit wüßte, ihn irgendwie zur Rede zu stellen, – ich täte es. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, es sei denn, daß der bebrillte kleine Doktor ihn so genau kannte, daß der uns zu irgendeinem erfolgversprechenden Schritt raten könnte. Wir werden ihn fragen.«

Gupa hörte alles mit an. »Fürstin, er weiß etwas, der Doktor … Ich darf seinen Namen nicht nennen, denn auf seinen Kopf ist ein hoher Preis gesetzt, und er lebt zumeist unter den ›armen Leuten‹ der Wüste.« Gupa flüsterte nur. »Wir müssen hier überhaupt sehr vorsichtig sein, denn die Bewohner von Choto sind zumeist Anhänger des Rebellengenerals und die Wangs unter ihnen haben ihre Zugehörigkeit zum Bunde bisher streng geheim gehalten. Das Dorf ist nun in zwei Parteien gespalten, und die uns feindlich Gesinnten befinden sich in der Übermacht. Ich wünschte, wir wären erst wieder in der offenen Steppe. Dieses Tal ist eine Mausefalle.«

Des riesigen Mongolen Warnung war nur zu berechtigt. – Steenpool nickte mir verstohlen zu, wir verstanden uns, wir hatten beide bereits mit Feindseligkeiten der völlig unzuverlässigen, recht gemischten Bevölkerung gerechnet.

Es gab eine Zeit, in der die Mongolen, insbesondere jene Nomadenvölker, die der große Eroberer Dschingis Chan bis tief nach Indien hineingeführt hatte, ein überaus tapferer, ehrlicher Menschenschlag waren. Jene Zeiten sind vorüber. Heute ist der durch die Zivilisation angekränkelte Nomade ein feiger, hinterlistiger, geldgieriger Schleicher geworden, – leicht bestechlich, hauptsächlich verdorben durch chinesische Einflüsse, weniger durch das Geld Rußlands, Englands und Japans, obwohl auch diese Großmächte ein Interesse daran haben, die Steppenvölker gegeneinander aufzuwiegeln und jede Einigkeit zu hintertreiben.

Die Fürstin hatte während Gupas eindringlichen Worten den Kopf gesenkt und schien noch bedrückter als vorhin. Als sie nun mich anblickte, sah ich ein steinernes, kalt-zielbewußtes Gesicht.

»Unter diesen Umständen«, sagte sie festen Tones, »müssen meine Interessen zurücktreten. Verlassen wir das Dorf – sofort …«

Steenpool hatte durch einen der Risse des Ölpapiers der Fenster ins Freie gespäht. Das Rasthaus lag etwa in der Mitte des Dorfes, aber mehr nach der südlichen Talwand zu und dem Choto-See am nächsten. Bis zum Ufer waren es nur wenige Schritte, und als wir hierher kamen, hatte ich auf dem Wasser große Flöße von langen Fichten liegen sehen, die im Gebirge gefällt und über eine Rutschbahn ins Tal hinabgeschafft sein mußten.

Steenpool drehte sich uns langsam wieder zu.

»Es ist zu spät«, meinte er achselzuckend und holte seine Pistole hervor. »Drüben an der Talwand erkenne ich bewaffnete Leute, und der Weg zum Dorfe ist auch besetzt. Wir sind eingekreist.«

»Und wir haben uns wie die Narren benommen!« entfuhr es mir. »Wir hätten unbedingt mit dieser Wendung der Dinge rechnen müssen!«

In demselben Augenblick taten mir diese Sätze, die Wera nur auf sich beziehen konnte, wieder leid. Ihre Augen glitten mit einem Ausdruck peinvollen Erschreckens über mein gereiztes Gesicht.

»Ich bin schuld daran«, sagte sie mit einer schwerfälligen Kopfbewegung nach den Fenstern hin. »Wir haben kostbare Stunden durch die nutzlose Jagd auf den Fürsten vergeudet … Ich werde Ihnen, meine Freunde, nicht länger lästig fallen. Mein Leben ist ohnedies zerbrochen … Ich werde …«

Was sie beabsichtigte, hätte ich nie geduldet, – sie sprach es nicht aus, denn das Geknatter von Schüssen und gellende Schreie trieben uns unter das Vordach des Hauses. Im Morgengrauen sahen wir den kleinen Doktor mit einer Schar Wangs – mehr als vierzehn waren es nicht mehr – über einen Hügel auf uns zustürmen.

Ich konnte gerade Wera noch hinter die Haustür zurückstoßen, als auch schon hinter der nächsten Steinhürde neue Schüsse aufblitzten. Der Doktor und vier Wangs waren die einzigen, die uns erreichten. Wir hatten draußen Deckung genommen, meine Repetierbüchse spie Kugel um Kugel, Steenpool feuerte mit seiner Pistole, und Gupa war mit der Fürstin nach der Wasserseite des Rasthauses geeilt, um dort die Angreifer abzuwehren.

Ich schmetterte dann die Holztür zu, schob den Riegel vor … Wir waren vorläufig in Sicherheit, denn die feige Bande unternahm nichts weiter, und ihre Patronenvergeudung schadete nur den Lehmwänden und dem Ölpapier der Fenster.

Wir verteilten uns kriechend über die Räume, wir stießen in das Ölpapier große Löcher, richteten die Bettgestelle vor den Fenstern auf und benutzten auch die dicken Filzvorhänge als Kugelfang.

Absichtlich gesellte ich mich Wera und unserem braven Gupa bei, – wir hatten im ganzen sieben Büchsen und fünf Pistolen zur Verfügung, leider jedoch nur wenig Munition. Wera hatte wacker geholfen, das Haus in Verteidigungszustand zu setzen, jetzt kniete sie neben mir, und die Röte auf ihren Wangen und die harten Falten um den Mund mahnten mich an meine unüberlegten Äußerungen.

»Sind Sie mir sehr böse, Wera?« – ich tastete nach ihrer Hand und sie erwiderte den Druck meiner Finger.

»Nein, Olaf … Ihnen nicht, mir selbst!« sagte sie gedämpft. »Ich mache mir die bittersten Vorwürfe, weil ich …«

»Lassen Sie das doch …« – meine Aufmerksamkeit galt plötzlich nur den großen Holzstößen am Seeufer.

Ich konnte von meinem Platze aus die Talwand überblicken, – die Gegner dort waren verschwunden … Offenbar hatte die ganze Bande sich an der Vorderseite des Hauses versammelt, denn nur dort knallte es noch zuweilen, und Steenpools frohlockende Stimme klang schrill durch die Räume – so recht der Kürbis – Steenpool war es, der uns zubrüllte:

»Die dachten, ich könnte nur mit Robbenkeulen werfen, – sie reißen aus, Abelsen! Nicht mal hinter der Hürde bleiben sie liegen, die Kerle!«

Nochmals drei – vier Schüsse …

Dann stieß Gupa mich an …

»Die Flöße …!«

Er hatte genau denselben Gedanken wie ich …

Was dann folgte, war Spiel ums Leben, war Wettrennen mit dem Tode …

Wir alle brachen durch die Hintertür nach dem nahen See hin eilenden Laufes durch, – Gupa zerschnitt die Weidenruten, wir wälzten ein paar Stämme des größten Floßes als Brustwehr übereinander, wir wurden aus den Häusern und Jurten mit Kugeln überschüttet, wir stießen vom Ufer ab, – der Riese Gupa allein genügte, das plumpe Floß vorwärtszutreiben … Mit einer Kaltblütigkeit, die ohnegleichen war, handhabte er die Stoßstange, – er mußte aufrecht stehen, er schrie mich grob an, als ich ihm helfen wollte …

Nach Westen zu reichte der See bis dicht an die Talwand, – das Gelände war flach, und jeder Versuch der Feinde, aus den Häusern hervorzubrechen, kostete ein paar gesunde Knochen – nicht bei uns! Steenpool war hier unvergleichlich, Wera war eine Schützin, die alle Anerkennung verdiente, und ich …?! Nun, ich hatte auf schnelleres Wild schon gefeuert, und der Doktor und die vier Wangs spielten klugerweise nur die Büchsenspanner und reichten uns die Gewehre zu …

Gupa aber – Gupa allein verdankten wir unser Leben, unser Entkommen … Keiner von uns besaß seine Bärenkräfte, keiner hätte das Floß so dirigiert wie er …

Seine linke Schulter blutete, seine Ärmel zeigten Kugellöcher, – und dann stieß das Floß gegen das flache Ufer …

Wieder schnellten wir wie die Panther davon, hinein in die Büsche, hinein in die Felsen des Abhangs, arbeiteten uns empor …

In solchen Minuten verlieren sich die Einzelheiten des Geschehens, – erst später besinnt man sich auf dies und jenes, das als besondere Episode die Gedanken für Sekunden ablenkte.

Ich half Wera empor, neben uns klatschten Kugeln gegen das Gestein, kleinere Bienen summten unaufhörlich vorüber, zerstiebten, Bleisplitter ritzten uns die Gesichter, – ein letzter Stoß, und Wera rollte über den Rand des Abhangs ins Gras, ich kroch hinterdrein, – Gupa trug jetzt den kleinen Doktor, wir rannten … rannten … drüben war ein Zaun, dahinter an die dreißig struppige Gäule.

Hier deckte uns der Abhang. Wir konnten wenigstens etwas Atem schöpfen. Zu meinem Schreck sah ich, daß der arme bebrillte Doktor, den der tapfere Gupa in das Gras gelegt hatte, ohne Bewußtsein war. Aus dem halb geöffneten Munde rannen ihm zwei blasige Blutfäden zum Kinn herab.

»Schuß durch die Lunge«, sagte Gupa nur. Menschenleben war hier billig. Und er begann sofort mit Hilfe der Wangs aus Riemen und Stricken für die Pferde Trensen zu knoten. Sättel hatten wir nicht. Aber in dem erbärmlichen Winterstall der Gäule hingen verrottete Filzdecken, – daraus schnitten wir Ersatzsättel zurecht. Alles ging wie im Fluge, mußte wie im Fluge gehen, denn jeden Moment konnten die Dorfbewohner auftauchen.

Die Wangs, die sich gerettet hatten, waren sämtlich Halbchinesen, Mischlinge, und nur vorübergehend hier in Choto anwesend. Sie hatten, wie sie nun offen zugaben, eine Karawane mit Waffenkisten von der Amurstadt Chailar hierher begleitet und die Kisten vorläufig drüben im Gebirge versteckt. Die anderen Wangs, die der Totenfeier für Gowin und Chedee beigewohnt hatten, waren hinterrücks zusammengeschossen worden.

Wir brachen auf. Den todwunden Doktor nahm Gupa vor sich in den Sattel. Unser Ziel waren die nahen Ausläufer des Chingan-Gebirges. Wir trabten davon, – die ersten Feinde erschienen beritten hinter uns, als wir bereits die erste Felsschlucht erreicht hatten.

Mongolengäule klettern wie die Katzen. Wir wählten einen flachen Gießbach zum Anstieg, der unsere Fährten unsichtbar machte und durch einen Hochwald sich schlängelte. Einer der Wangs machte den Führer, wir wollten das geheime Waffenlager aufsuchen und unsere Munition ergänzen. Die Gefahr für uns war vorüber, unser Vorsprung in diesem bergigen, unübersichtlichen Gelände genügte, die Verfolger abzuschütteln.

Nach einer Stunde bog der Führer in ein schmales, düsteres Hochtal ein. Die Wände waren mit riesigen Tannen bestanden, im Hintergrunde gab es verschiedene Windbrüche, riesige Haufen entwurzelter Bäume, die jedes Vordringen unmöglich zu machen schienen. Trotzdem gab es versteckte Durchschlüpfe, und in einem dritten Windbruch fanden wir unter Steingeröll die gesuchten Kisten, fanden aber auch deutliche Anzeichen, daß kurz vorher jemand zwei der Kisten geöffnet hatte. Es fehlten eine Büchse, zwei Pistolen und fünf Pakete mit Patronen. Wer dieser Mann gewesen, der sich hier bewaffnet hatte, brauchte nicht weiter erörtert zu werden. Zubanoff hatte als dreizehnter Tschu dieses oft benutzte Versteck gekannt, – er hatte für seine weitere Flucht sich mit Schußwaffen versorgt.

Der kleine Doktor, der als elfter Tschu ein Geächteter war und nun mit dem Tode rang, kam nur noch einmal halb zum Bewußtsein. Wir saßen um sein Leidenslager herum: Wera, Steenpool und ich. Wir sahen, daß er die Augen mühsam öffnete. Sein Blick suchte Wera, und dann wollte er sprechen. Ein Blutstrom schoß ihm aus dem Munde, – mit allerletzter Anstrengung stieß er die vom Sprudeln des Lebenssaftes kaum verständlich klingenden Worte hervor:

»Er … Sankt Antonius … Mönch …«

Mehr verstanden wir nicht.

Der kleine Doktor war tot.

In der Nähe begruben wir ihn. Gupa hielt mit den vier Halbchinesen die Totengebete am Grabe, verbrannte harzige Äste, – wir Europäer standen mit gefalteten Händen dabei.

Meine Gedanken waren bei des Toten letzten unklaren Äußerungen, die doch zweifellos für Wera ein Wink hatten sein sollen, was Zubanoff fernerhin beabsichtigte.

Was war dies?!

Was bedeutete Sankt Antonius, was sollte »Mönch« besagen?!

Nachher rieten Steenpool und ich hin und her, während die anderen eine Mahlzeit am Feuer bereiteten. Wera zeigte keinerlei Teilnahme. Sie hatte Gupas Schulterstreifschuß verbunden, so gut es ging, – nun saß sie abwesenden Blickes da und ließ uns beide dem Rätsel dieses »Sankt Antonius« nachspüren.

Ich hatte an den Eingang des Tales einen der Wangs als Wache aufgestellt. Stunden vergingen. Die Verfolger hatten unsere Fährte verloren, und wir streckten uns zum Schlafe hin.

Als ich erwachte, war es dunkel geworden. Das Lagerfeuer glühte nur noch, und die trockenen langen Moospolster, die wir an Stelle von Decken benutzten, waren kein Schutz gegen die empfindliche Kälte der Berge. Ich war derart durchgefroren, daß ich die Gefährten weckte, – wir hätten uns unweigerlich eine ernste Erkrankung zugezogen, denn die Kälte würde noch zunehmen. – Steenpool erlegte durch Steinwürfe ein Bergschaf, – zu schießen wagten wir nicht, das Feuer loderte hoch, und die zweite Mahlzeit hier im Dschingan-Gebirge wurde durch das Jaulen einiger Tiger begleitet, die in der Nähe umherstrichen. – Gupa war verschwunden. Er kehrte erst im Morgengrauen zurück, beladen mit Decken, Sätteln und einem Sack Hirse sowie mehreren Platten Ziegeltee und einem Kochtopf. Er war in einem Mongolenlager gewesen und hatte die Sachen gegen Steenpools Pfundnoten eingehandelt.

Unsere gemeinsame Beratung endete mit dem Ergebnis, daß die vier Wangs nach Osten zu in ihr Heimatdorf bei Kirin zurückwollten, wir anderen gedachten uns nordwärts zu wenden und am Amur ein Fahrzeug zu mieten, das uns wieder zur Küste brächte. Steenpool verfügte über reichlich Geld, und, wie ich schon betonte, die Melodie dieser Noten singt jeder gern, wir würden uns schon irgendwie durchschlagen.


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