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4. Kapitel. Die Talmifabrik

Der Lift hielt, und das Stubenmädchen ging uns anmelden, kehrte zurück und erklärte, Mylady habe zwar Besuch, wolle uns jedoch trotzdem empfangen.

Der Salon Gwendolyn Hooys lag nach dem See hinaus. Die seidenen Fenstervorhänge waren der Sonne wegen geschlossen, und der schlanke Herr im grauen Anzug, der uns als Mr. Gilles Tirom vorgestellt wurde, hatte ein fades, rasiertes Gesicht und einen sehr dünnen semmelblonden Scheitel. Sein randloses Monokel am Seidenband konnte diesen ausdruckslosen Zügen keinerlei Reiz verleihen, und sein Englisch klang so unverfälscht nach Londoner Luft, daß die ernste, bedrückende Gwendolyn kaum hätte hinzuzufügen brauchen, Mr. Giles Tirom sei ein früherer Kollege von ihr und Schauspieler in London. »Ich habe vor Giles, der mein Freund ist, keinerlei Geheimnisse, Mr. Harst. Sprechen Sie also ohne jede Scheu ...«

Giles Tirom sagte steif: »Außerdem bin ich durchaus verschwiegen – selbstverständlich.«

Das Dämmerlicht hier störte mich. Lady Gwendolyn saß noch dazu mit dem Rücken nach dem Fenster, und als Harst fragte, ob sie sich bei dem kühnen Sprung mit dem Schirm nicht verletzt habe, entgegnete sie kopfschüttelnd:

»Sprung?! Ich fiel heute leider im Zirkus vom Pferde.«

»Der Zirkus war der Wald unterhalb der Blockhütte, Lady Hooy. – Liegt Ihnen nichts mehr daran, den Blauen Hooy zurückzubehalten?«

Sie schwieg sekundenlang. »Oh, mir liegt sehr viel daran, Mr. Harst.«

»So?! – Was taten Sie heute droben in der Hütte?«

Giles Tirom sagte unfreundlich: »Haben Sie immer diese eigentümliche Art, Damen auszufragen, Mr. Harst?!«

»Ich kann auch anders fragen, Mr. Tirom ... gewiß. Seit wann sind Sie denn in St. Moritz ...? Uebrigens eine Ortsbezeichnung, die, ins Deutsche übertragen, recht komisch wirkt: Heiliger Moritz!«

Giles Tirom erwiderte kühl: »Das dürfte Sie kaum interessieren, Mr. Harst.«

»Ganz recht, zumal ich genau weiß, wie lange Sie hier weilen: Zwei Wochen.«

»Erstaunlich! In der Tat erstaunlich. Und woher diese Kenntnis?« Giles lächelte frech.

»Von dem Oberkellner. – Lady Hooy, Sie waren heute droben in der Hütte. Ich nehme an, jemand hat Sie dorthin bestellt. Vielleicht durch einen Brief, dessen Handschrift Sie zu kennen glaubten?!«

Gwendolyn konnte eine Bewegung höchster Überraschung nicht unterdrücken. Trotzdem erklärte sie, wenn auch ohne jede Ueberzeugungstreue: »Sie irren sich wirklich, Mr. Harst.«

»Ich finde,« sagte Harst ironisch, »Mr. Giles Tiroms Erscheinen hat Ihre Wahrheitsliebe schlecht beeinflußt. – Der Brief trug die Unterschrift Ihres Gatten, Mylady, wie ich vermute, war aber eine Fälschung. Sie gerieten so in eine Falle, und nur Ihre Kühnheit rettete Sie, außerdem auch Moritz Seligfeld, Ihr stiller Verehrer. – Ich möchte Sie nicht weiter zwingen, sich um Ausflüchte zu bemühen. Was ich wissen wollte, weiß ich nun. Sie schenken jetzt anderen Herren mehr Vertrauen als uns, – ich finde mich damit ab. Möglich, daß Sie es noch bereuen ... – Wir empfehlen uns ...«

Mr. Giles Tirom brummelte noch etwas von »Unerhörtes Benehmen«, – dann standen wir wieder im Flur vor dem Lift, der schnurrend nach oben kam.

In unserem Zimmer fragte ich Harst, wer denn nun eigentlich dieser ekelhafte Giles sei.

»Das ist der Mann von der Blockhütte, – ich gebe dir mein Wort darauf!« entgegnete Harst und rieb ein Zündholz für eine Zigarette an.

»Wie, – der Kerl, der Gwendolyn Hooy zu dem Sprung in die Tiefe zwang und der beinahe Holger Tomahsen erschossen hätte?!« Ich glaubte, er hielt mich zum besten.

Da es jedoch klopfte und der nervöse Polizeichef hereinstürmte: »Moritz Seligfeld ist entflohen!« rief er, – wurde Harald einer Antwort überhoben.

»Herr Harst, er ist nirgends aufzufinden,« jammerte der Chef. »Solch' ein wichtiger Zeuge! Ich habe jetzt übrigens einen Beamten in die Hütte als Wache einquartiert mit zwei scharfen Hunden.«

»Sehr bedauerlich!«

»Weshalb?«

»Weil Schraut und ich sofort hinaufwollen. – Geben Sie mir ein Schreiben für den Mann mit. Wir beide werden dort wachen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß bis heute abend die Diebe festgestellt sind.«

Der Chef fiel Harst beinahe um den Hals. –

Beim Anstieg legte Harald wieder ein Tempo vor, daß mir die Lust zum Fragen und auch die Luft zum Atmen verging. Während einer kurzen Rast bekam ich sanfte Wadenkrämpfe. Diese Tagesleistung war eben zu viel für einen Amateurkletterer. Massage half, und leicht gereizt fragte ich: »Wie ist das nun eigentlich mit Moritz Seligfeld?! Und was sollen wir droben in der Hütte?!« – Wir saßen auf dick bemoosten Steinen unweit des großen Felsens, wo wir Holger Tomahsen mit dem Brustschuß aufgefunden hatten. Wir hatten den bequemeren Weg über die Alp Statz gewählt, und in einer weiteren halben Stunde konnten wir am Ziele sein.

»Moritz?« sagte Harst und beschaute die Sohlen seiner genagelten Schuhe. »Ich nehme an, er wird jetzt soupieren, falls er nicht mit Alarich Gepp ein neues Renkontre hat. Und die Hütte, – vielleicht finden wir dort noch den Steinwerfer vor.« Er sprach das ganz ernst, und seine folgenden Sätze waren nur eine leidlich befriedigende Erklärung für seine Hoffnung, den unbekannten Mordgesellen da oben zu stellen. »Der Mann ist zweifellos nach dem Mordanschlag auf Holger Tomahsen, den er für Termoolen hielt, in sein Versteck zurückgekehrt. Er fühlt sich anderswo nicht mehr sicher. Er mag erwartet haben, der Schuß sei tödlich gewesen und habe ihn von einem gefährlichen Mitwisser befreit. Ich will damit nicht sagen, daß Frau Gildas Gatte etwa mit dem Manne verbündet sei. Nein, Tomahsen wäre nur in der Lage gewesen, der Polizei wichtige Fingerzeige zu geben.«

Ich knetete noch immer meine empfindliche Wade. »Die Geschichte bleibt mir ziemlich schleierhaft, Harald. Nur in einem Punkte glaube ich klar zu sehen: Der Oberkellner aus dem Albana ist kein harmloser Smokingträger, sondern ...«

»Brechen wir wieder auf!« – und ich war so klug wie zuvor.

Der Polizeibeamte saß mit seinen Hunden, die durchaus reinrassige Bernhardiner waren, auf der Terrasse im Sonnenschein und hatte seinen Karabiner auf den Knien liegen. Ihm schien sein Auftrag wenig zu behagen, und mit sichtlicher Erleichterung seines friedfertigen Herzens zog er samt seinen ebenso lammfrommen, mächtigen Rüden ab. Wir blickten ihm nach, und kaum war er unterhalb des Schneestreifens im Walde verschwunden, als Harald die Hütte betrat und die Tür, die in die Grotte führte, aufschloß und hier in der geräumigen Höhle mit ihren Bretterzwischenwänden gerade diesen Wänden besondere Beachtung schenkte. Sie reichten fast bis zu der unregelmäßigen Decke empor, und die eine zeigte im Lichte unserer Taschenlampen deutliche dunkle Kratzer von Stiefelspitzen. Harst schwang sich empor, setzte sich auf das oberste Brett und befühlte die Felsendecke, – er suchte einen Zugang zu dem sogenannten Geisterberg, eben eine Spalte, die sich durch das Gestein nach oben zog.

Er fand, was er suchte. Man hatte hier den alten Trick angewandt und die Oeffnung der Spalte durch ein Brett verschlossen, das in eisernen Gelenken beweglich und mit dünnen Steinplatten benagelt war, so daß diese Falltür vollkommen der grauschwarzen Umgebung glich. – In diesem Felskamin hing eine schmale eiserne Leiter an mehreren Eisenhaken, die mit Blei in den Fels eingegossen waren. Die Leiter hatte achtzig Sprossen, war aus mehreren Stücken zusammengenietet und endete unter einer ähnlichen Falltür. Sie ließ sich unschwer emporheben. Zu unserem Erstaunen standen wir nun in einem kleinen Zimmer mit zwei großen Fenstern und allerhand Möbelstücken. Ein Holztisch war mit Werkzeugen aller Art bedeckt. Lötlampen, Schraubstöcke, Metallstücke, drei Glasschalen mit Similisteinen und künstlichen Perlen verrieten uns, daß wir uns in der Talmifabrik befanden. – Eine Holztür im Hintergrunde deutete noch auf einen zweiten Raum hin. – Wir mußten vorsichtig sein. Harst schlich zur Tür, nahm die entsicherte Clement in die Rechte und öffnete ganz behutsam. In diesem zweiten Stübchen dieses mitten in die Felszacken des Geisterberges sehr geschickt hineingebauten Steinhäuschens, von dessen Existenz bisher nur Oberspahn und seine Bande Kenntnis hatten, lag auf einem Bettkasten auf wollenen Decken und mit Moos gepolsterten Säcken ein schlafender Mann mit grauem Spitzbart und grauem vollen Haar. Das gebräunte magere Gesicht war von tiefen Falten durchkerbt. Eine kühne schmale Nase und ein Mund mit dünnen Lippen verliehen dem Fremden etwas Brutal-Energisches. Auf einem Holzschemel neben diesem Aelplerlager bildeten eine Repetierpistole, eine Damenhandtasche aus Krokodilleder, mehrere Brillantringe, ein Kognakfläschen und ... der Blaue Hooy an seinem Platinkettchen ein verdächtiges Stilleben. Der Mann atmete tief und ruhig, und als Harst nun den echten Blauen Hooy vorsichtig gegen die Imitation austauschte, die er aus seiner Tasche hervorzog, rührte sich der Schläfer immer noch nicht.

Harst stand eine Weile regungslos und schien über irgend etwas angestrengt nachzudenken. Dann raunte er mir ins Ohr: »Du siehst hier eine Mutter, die in der Liebe zu ihrem einzigen Sohne weit über die Grenzen dessen hinausging, was man mütterliche Fürsorge nennt.«

Ich starrte die verkleidete Lady Palmyra Hooy wie ein Gespenst an. Ich begriff jetzt alles, und mir graute vor dieser Frau, die heute vormittag vielleicht ihre Schwiegertochter getötet hätte, wenn Gwendolyn nicht den tollkühnen Fallschirmsprung gewagt haben würde. Sie also hatte Gwendolyn durch den gefälschten Brief hierher gelockt, sie wäre beinahe auch Tomahsens Mörderin geworden! Und all das aus blindem Haß gegen Gwendolyn, geborene Lany, einstige Schauspielerin!!

Harst hustete stark, und blitzschnell fuhr das Weib empor. Sie war im Nu völlig munter. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet weder Bestürzung noch Angst. Ihre harten scharfen Augen glitten feindselig über uns hin, und als Harst jetzt die Pistole vom Schemel nahm, packte sie gleichfalls zu, freilich zu spät.

»Lady Hooy, ich werde mich nicht zum Richter über Ihre Taten aufwerfen, meinte er kalt. »Jedenfalls sind Sie entlarvt, und es wäre gut, wenn Sie schleunigst fliehen würden. Ich weiß, daß ein Mann, den Sie für Professor Termoolen hielten, Ihre Doppelrolle hier gekannt hat und daß Sie ihn töten wollten. Ich weiß auch, daß Sie Ihre Mitschuldigen nicht verraten werden. Den echten Blauen Hooy habe ich nun, und das weitere geht mich nichts an.«

Lady Palmyra Hooy beugte sich vor, ergriff den falschen Blauen Hooy, betrachtete ihn und brach in ein hysterisches Gelächter aus.

Wortlos verließen wir das Steinhaus und stiegen schnell in die Hütte hinab und traten den Rückweg an.


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