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Siebentes Kapitel.

»Bleiben Sie bitte hier, meine Herren, und wohnen Sie der Vernehmung bei,« sagte Märker, als es gleich darauf läutete.

Marville trat ein. Ich konnte meine Ueberraschung schwer verbergen. – Der Mann sollte ein Verbrecher sein?! Niemals! – Ich besann mich, daß ich dasselbe gedacht hatte, als ich gestern den Maler Merling kennenlernte. Eigentlich war es doch seltsam: Alle Bewohner des Spukhauses, die ich bisher gesehen hatte, machten einen so günstigen Eindruck, daß es schwer fiel, ihnen auch nur das geringste Schlechte zuzutrauen. Vielleicht bildete nur Doris Marville eine kleine Ausnahme, wenn man an die Angst in ihrem Blick sich erinnerte.

Percy Marville war groß, schlank, sehr gut angezogen und von sicherem, vornehmen Auftreten. Das Gesicht, blaß, von edlem Schnitt, sah schwermütig und verbittert aus. Der graue, halblange Vollbart, das graue, gescheitelte Haar waren wie der ganze Mensch tadellos gepflegt. Marville hielt viel auf sein Aeußeres. Die Augen riefen mir sofort die seiner Tochter ins Gedächtnis zurück, – dunkel, sehr lange Wimpern, etwas verschleiert.

Marville stellte sich uns vor, als ob wir uns bei einer Gesellschaft begegneten. – Märker wies auf einen Stuhl und fragte, sofort auf den Kernpunkt des Verhörs kommend:

»Jener Herr Herbst ist flüchtig geworden, das genügt mir als Beweis dafür, daß das altertümliche Schränkchen nicht jene drei Kunstgegenstände, sondern eine Leiche enthielt, als es gestern aus diesem Hause fortgeschafft wurde. Ich rate Ihnen daher, Herr Marville, nicht länger bei Ihrem Leugnen zu beharren wie gestern meinem Kollegen Halfner gegenüber. All Ihre Ausflüchte nützen Ihnen nicht. Sie verschlimmern dadurch Ihre Lage nur noch mehr.«

Der Rentier erwiderte sehr förmlich:

»Ich habe meiner Aussage von gestern nichts hinzuzufügen, Herr Kommissar.«

Märker blieb höflich. Nur zwischen den Augen lag jetzt auf der Stirn eine kleine Falte.

»Zu meinem Bedauern sehe ich mich unter diesen Umständen genötigt, Sie zu verhaften,« meinte er.

Marville verbeugte sich leicht. »Sie müssen wissen, was Sie tun.«

Da mischte sich Hosea ein.

»Ich bin Maler, Herr Marville, nebenbei auch begeisterter Turner. Treiben Sie auch Sport?«

Der Rentier musterte Hosea mit deutlichem Mißtrauen, antwortete aber ohne Zögern:

»Wenn ich Gelegenheit dazu habe, – ja.«

»Und welche Art Sport bevorzugen Sie? Turnen Sie auch?«

»Jetzt nicht mehr. Früher, in jungen Jahren habe –«

»Sie sollen einen Streit zwischen mir und Malwa entscheiden,« fiel ihm Hosea schnell ins Wort. »Kann man, wie einer der Kriminalbeamten heute früh behauptete, aus Ihrer Küche mit Hilfe des Blitzableiters in die Küche dieser Wohnung hinaufgelangen? – Malwa meint nein, – ich das Gegenteil.«

Ah – Marville war das Blut ins Gesicht gestiegen! Der Menümaler wußte seine Leute zu nehmen!

»Außerdem,« fuhr Hosea fort, ohne Marville Zeit zum Antworten zu lassen, »– außerdem hat Herr Kriminalkommissar Halfner schon gestern festgestellt, daß Sie jene drehbaren, runden Gummiabsätze unter den Schuhen tragen, die nur mit einer Schraube an den Stiefelhacken befestigt werden, – sehr praktische, angenehme Erfindung das, nur, hm – ja, nur sagte Herr Märker vorhin, wovon ich ja als Laie nichts verstehe, daß solche Gummiabsätze in rußbeschmutztem Schnee von Fenstersimsen sehr verräterische Spuren hinterlassen, hübsche, runde Stempel, – besser Siegeleindrücke, die dann auch, infolge des schwarzen Rußes, auf dem Fensterkopf innen in der Küche zu finden sind und auf Kletterkunststücke an einem Blitzableiter hindeuten. – Ist Ihnen plötzlich schlecht geworden, Herr Marville? Sie sehen so blaß aus. – Erwin, gib dem Herrn doch einen Kognak, vielleicht hat Herr Marville sich in der verflossenen Nacht überanstrengt, was schon Herr Märker vermutete, – überanstrengt bei den Turnübungen am Blitzableiter.«

Mir fiel es plötzlich – die Phrase paßt hier vorzüglich! – wirklich wie Schuppen von den Augen. In meiner Küche hatte ich ja vorhin tatsächlich solche runden, schwärzlichen Stempel auf dem Fensterkopf bemerkt, nachdem mich Hosea darauf aufmerksam gemacht hatte.

Auch Märker begriff schnell, worauf dieser seltsame, unerwartete Angriff Hoseas gegen Marvilles ruhige Sicherheit hinauslief, und er gab nun auch noch ganz geschickt »seinen Senf dazu«.

»Ja, Herr Marville,« sagte er mild, »wozu sind Sie eigentlich an dem Blitzableiter hochgeklettert? Wollen Sie uns das nicht erklären?«

Des Rentiers Lippen preßten sich fest aufeinander. In sein blasses Gesicht trat ein Ausdruck von Trotz und schlecht verhehlter Verlegenheit. Er schaute zur Seite – gerade auf meiner Tante Oelporträt. – Die Sekunden schlichen, wir warteten auf seine Antwort, – aber sie blieb aus.

Hosea hatte Märker unauffällig sein Skizzenbuch aufgeschlagen unter dem Tisch gereicht und auf eine seiner Notizen gedeutet.

Märkers Augen weiteten sich jetzt, und er warf mir einen Blick zu, in dem ungläubiges Erstaunen zu lesen war. Und dieser Blick glitt nun weiter nach Hermine Löckners Bild hin, so daß zwei Augenpaare jetzt die scharfen Züge des alten Fräuleins, allerdings wohl mit sehr verschiedenen Gedanken, musterten.

Ich war begierig, ob Märkers nächste Aeußerung mir darüber Aufschluß geben würde, welche von Hoseas zahlreichen Notizen auf den Kriminalkommissar diese Wirkung ausgeübt hatte.

Zunächst sagte Märker jetzt, immer noch im Ton eines wohlmeinenden Freundes:

»Wollen Sie mir nicht antworten, Herr Marville?«

Der Rentier senkte den Kopf, strich sich mit der wohlgepflegten Rechten nervös den grauen Vollbart und schien zu überlegen, wie er sich am besten aus dieser bösen Schlinge wieder befreien könnte.

Es lag jetzt wie elektrische Spannung, wie Gewitterstimmung in der Luft. – Was würde Marville erwidern? Würde er zu leugnen versuchen? Dazu war's eigentlich schon zu spät. Dann hätte er nicht so lange zögern dürfen.

Ah – nun kam's –

»Ich verweigere die Antwort – vorläufig!« erklärte er mit seiner kräftigen, angenehm klingenden Stimme, und sein Blick ruhte fest auf Märkers Gesicht, als ob er zeigen wollte, daß nicht einem belasteten Gewissen dieser Entschluß zuzuschreiben war.

»Vorläufig?« fragte Märker, und die Stirnfalte grub sich tiefer.

»Ja – ich habe meine Gründe, jetzt noch zu schweigen, selbst auf die Gefahr einer Verhaftung hin.«

In diesem Augenblick erhob sich Hosea ganz unvermittelt und ging hinaus. Märker und ich blickten ihm etwas erstaunt nach.

Eine Weile blieb es still in dem behaglich durchwärmten Zimmer. Dann sagte der Kommissar, jedes Wort betonend:

»Sie scheinen sich über die Tragweite dieser Ihrer Weigerung nicht recht klar zu sein, Herr Marville. Es handelt sich hier nicht lediglich um den Fall Wehrhut.« Eine kurze Pause. »Vielmehr besteht der Verdacht, daß in diesem alten Gebäude noch ein zweites Verbrechen nach Sühne ruft.«

Marville war leicht zusammengezuckt, blieb aber stumm. Seine Augen irrten jetzt durch das Zimmer, fanden keinen Ruhepunkt.

»Ein zweites Verbrechen!« fuhr Märker mit ungewohnter Schärfe fort, »– ein Raubmord wahrscheinlich, – kein Selbstmord – Fräulein Hermine Löckner!«

Der Rentier nickte wie selbstvergessen mit dem Kopf. Sein Gesicht sah keineswegs bestürzt, eher betrübt aus.

Auch Märker faßte dieses Kopfnicken offenbar ebenso auf wie ich.

»Es macht beinahe den Eindruck,« sagte er, als Marville beharrlich schwieg, »daß das tragische Geschick der früheren Hausbesitzerin Ihnen in seiner wahren Bedeutung bekannt gewesen ist.«

Die Antwort war seltsam genug.

»Tun Sie Ihre Pflicht, Herr Kommissar,« meinte der Rentier bescheiden. »Ich vermag vorläufig nichts weiter zu alledem zu erklären.«

Wieder dieses »vorläufig« –! – Das klang doch so, als erwarte Marville mit Bestimmtheit, nach einiger Zeit auf seine eigenen Angaben hin, die er dann machen würde, wieder freizukommen.

Märker sah ein, daß er hier nichts mehr ausrichten konnte. Er erklärte also Marville für verhaftet. Kaum hatte er das schwerwiegende Wort ausgesprochen, als Hosea hastig eintrat und rief:

»Wissen Sie, Herr Kommissar, was einer Ihrer Leute soeben entdeckt hat? – Etwas sehr Merkwürdiges! In dem von Wehrhut als Schlafzimmer benutzten Raume befindet sich ein Loch im Fußboden, ein enges Löchlein, das durch die Decke bis zu Marvilles hinuntergeht. Das Loch ist recht geschickt in einer Ecke an einer rissigen Stelle der Dielen verborgen und mal mit einem Zentrumbohrer gebohrt worden. An den Rändern hat Ihr tüchtiger Geheimpolizist feine, dünne Seidenfädchen von grüner Farbe bemerkt, und er schwört nun Stein und Bein, daß durch das Loch noch vor kurzem ein grünbesponnener Kupferdraht nach unten in die Wohnung des Herrn Marville hinablief.«

Hosea war der reine Schwätzer geworden. Er spielte den Laien, den der Fall Wehrhut nur aus Sensationslüsternheit interessierte, vorzüglich. Natürlich hatte er, nur er soeben das Loch in der Decke gefunden! Er wollte aber alles anderen als besonderes Verdienst zuschreiben, um sich selbst nicht vor Marville eine Blöße zu geben.

Wie nahm nun der Rentier diese Mitteilung hin, die ihn doch abermals in ein recht eigentümliches Licht rückte? Ich hatte sofort an die Geheimschrift gedacht. Woran mochte dieser Mann denken, nach dem soeben die Schergen der Justiz den Arm ausgestreckt hatten?

Sein Gesicht behielt unverändert den ernsten, verbitterten Ausdruck bei. Als Märker ihn fragte, was es mit dieser Verbindung der beiden Wohnungen durch einen elektrischen Draht auf sich hätte, sagte er wieder nur: »Ich habe nichts hinzuzufügen.«

Hosea meinte jetzt mit einem langen Seufzer:

»Dazu bin ich nun hierher zur Erholung gekommen –! Mir wird diese Aufregung fraglos schaden. Kann ich etwas dafür, daß ich mich so schnell für etwas begeistere? Ich werde jetzt nur darüber nachgrübeln, weshalb Sie sich so seltsam benehmen, Herr Marville, und dem Herrn Kommissar sich nicht anvertrauen, wenn Sie ein reines Gewissen haben.« –

Gleich darauf führte ein Kriminalbeamter den Rentier hinüber in das Schlafzimmer meiner Tante, wo Marville bewacht werden sollte, bis Merlings Verhör erledigt war. –

Der Maler trat ein, verbeugte sich und nahm auf Märkers einladende Handbewegung auf einem Stuhle Platz.

Merling sah blaß und übernächtig aus. Die Gesichtsfarbe war ein ungesundes Grau. Sein Anzug war etwas vernachlässigt, ebenso die Frisur.

Der Kommissar schaute ihn erst eine Weile prüfend an. Dann fragte er, ob Merling jetzt zugeben wolle, sich damals in der Wohnung Wehrhuts befunden zu haben.

»Es unterliegt keinem Zweifel,« meinte er, »daß Sie dort eingeschlossen gewesen sind – zusammen mit einem Schwerverletzten oder Toten. Aber Sie konnten leicht hinaus. Es wird sicher in der Wohnung noch ein zweiter Flurschlüssel vorhanden gewesen sein. Und Herr Malwa und der Major hatten ja leider verabsäumt, den von ihnen benutzten Schlüssel von außen im Schloß stecken zu lassen. Nur Sie allein sind es gewesen, der Wehrhut tot oder lebendig, jedenfalls aber in ohnmächtigem Zustande, hinunter zu Marvilles schaffte.«

Ich muß bemerken, daß Hosea abermals verschwunden war, und daß Merling heute einen braunen Anzug aus flockigem Stoff trug, während er damals am Fenster einen von sogenannter Pfeffer und Salz-Farbe angehabt hatte.

Merlings Taktik gegenüber den Angriffen des Kommissars war genau dieselbe wie die Marvilles. Auch er erklärte, er könnte vorläufig nichts aussagen.

Also wieder das rätselhafte »vorläufig« –!

Auch auf Märkers Frage, ob er mit Marville gestern oder heute früh, überhaupt seit dem Verschwinden Wehrhuts, zusammengekommen wäre und über dieses Ereignis gesprochen hätte, beschränkte er sich auf ein: »Meine Zunge ist vorläufig gebunden.«

Die Vernehmung drehte sich im Kreise, kam nicht vom Fleck. Ich bewunderte Märkers Geduld.

Dann traten Hosea und der andere Kriminalbeamte ein. Letzterer hatte ein graues Pfeffer und Salz-Herrenjackett auf dem Arm, zeigte es nun Märker, deutete auf einen verwischten Fleck auf dem rechten Aermel dicht an der Schulter und sagte mit einem langen Blick nach Heinz Merling hin:

»Dies dürfte ein Blutfleck gewesen sein, Herr Kommissar, den der Maler auszuwaschen versucht hat und der recht gut entstanden sein kann, als Merling den Kanzleirat auf den Armen forttrug.«

Der Maler ließ den Kopf auf die Brust sinken, schien kraftlos wie eine Puppe jede Haltung verlieren zu wollen, nahm sich aber schnell zusammen und fragte ärgerlich:

»Sie sind in meine Wohnung eingedrungen? – Das ist nicht statthaft. Ich werde mich beschweren.«

»Das können Sie,« meinte Märker kalt, »vom Untersuchungsgefängnis aus. Sie sind hiermit verhaftet!« –

Marville bekam seine Tochter nicht mehr zu sehen. Hosea übernahm es, Fräulein Doris von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen. Und ich schloß mich ihm an. Daß Hosea in vollem Einverständnis mit Märker sich dieser keineswegs angenehmen Aufgabe unterzog, ist selbstverständlich.

Bei Doris Marville ließen wir uns durch die Köchin, eine ältere, freundliche Person, anmelden und wurden sogleich in ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Damenzimmer geführt.

Ich weiß nicht, woher es kam. Aber mir pochte das Herz wie vor einem Examen, dem man sich mit recht ungenügenden Kenntnissen unterziehen will.

Der hundeschnäuzige Menümaler schaute sich um, als befinde er sich in einem Panoptikum. Jeder Gegenstand schien für ihn Interesse zu haben.

Dann trat Doris ein.

Oh, wie eigenartig liebreizend war dieses Mädchen doch! Und welch ruhige Sicherheit, welche wundervoll abgerundeten Bewegungen besaß sie, wie schön waren nur diese Augen, die unter den langen Wimpern hervorleuchteten –! Wenn man einem Weibe einen seelenvollen Blick zusprechen konnte, dann war es Doris Marville!

Auf unsere Verbeugung – die meinige fiel sehr tief aus! – neigte sie kaum merklich den Kopf. Sie forderte uns nicht zum Platznehmen auf, lehnte sich gegen den zierlichen Damenschreibtisch und fragte:

»Die Herren wünschen?«

Ich merkte, daß selbst Hosea sich etwas befangen fühlte.

»Ihr Herr Vater, gnädiges Fräulein, ist leider verhindert, sich von Ihnen zu verabschieden,« begann er dann. »Es ist für mich nicht –«

Sie hatte die Hand gehoben.

»Geben Sie sich keine Mühe, mich besonders zu schonen,« sagte sie, ihm ins Wort fallend. »Mein Vater ist, was vorauszusehen war, verhaftet worden. Auch das muß noch ertragen werden. – Grüßen Sie ihn bitte von mir. – Welche von seinen Kleidungsstücken will er mitnehmen?«

So wurde in einem kühl-sachlichen Tone das Nötige besprochen. – Ich war geradezu begeistert von der ruhigen Vornehmheit und ausgeglichenen Selbstbeherrschung dieses jungen Weibes, habe sie wohl mit allzu unverhohlener Bewunderung angestarrt, da sie mir dann einen Blick sehr von oben herab zuwarf, der eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns zu öffnen schien.

Als Hosea und ich wieder die Treppe emporstiegen, mußte ich mir von dem Freunde sagen lassen, daß ich auf dem besten Wege wäre, mein Herz an jemand zu verlieren, der als Verlobungsobjekt »vorläufig« wohl kaum in Frage käme.

Ich fand diese Bemerkung sehr zynisch. Es gab Augenblicke, in denen ich Hosea zu hassen glaubte, – eben weil ich seinen Scharfblick fürchtete. –

Nachdem Marville und der Maler im Polizeiauto ohne Aufsehen fortgeschafft worden waren, gab es in meinem Wohnzimmer zwischen Märker und uns noch eine Art Besprechung der allgemeinen Lage.

Als das Thema Wehrhut erledigt war, ging Märker zu der großen tragischen Neuigkeit, wie er sich ausdrückte, über, – zu Hoseas Verdacht, Hermine Löckner könnte ermordet worden sein.

»Ich möchte gerne Ihre Beweise für die Richtigkeit dieser Vermutung kennenlernen,« meinte Märker zu Hosea, der auch sofort aufstand und die Kontobücher, im ganzen sechs, vom Schreibtisch holte.

»Die ersten Tage nach jedem Quartal erzählen eine besondere Geschichte,« sagte Hosea. »Das alte Fräulein hat vor zwölf Jahren einen Lotteriegewinn von 50 000 Mark gemacht. Und auf dieses Geld hatte der Mörder es abgesehen.«

Märker und ich saßen mit keineswegs geistreichen Gesichtern da, was wohl verständlich ist. Das Nachlaßgericht hatte sich doch um meiner Tante Besitz sehr gründlich gekümmert, ohne auch nur einen einzigen Hinweis dafür gefunden zu haben, daß Barvermögen vorhanden wäre. Und nun wollte Hosea gleich so genau unterrichtet sein über den Betrag, Art des Erwerbes und Dauer des Besitzes dieser Summe.

Märker blätterte die Kontobücher durch. Ich tat dasselbe. Das älteste reichte mit seinen Eintragungen gerade dreizehn Jahre zurück. Jetzt, wo uns Hosea auf die Tage nach den Quartalsersten aufmerksam gemacht hatte, fanden wir folgendes heraus. Die Tante hatte ein ganzes Los der Preußischen Klassenlotterie gespielt und den Betrag hierfür noch in dem ältesten Kontobuch an den Quartalsersten unter »vierteljährliche Ausgaben« derart gebucht, daß sie die Nummer des Loses und daneben den Betrag für die Ziehungen eingetragen hatte. Die Nummer war 131 465. Im Januar vor zwölf Jahren war dann dieser Ausgabenposten verschwunden. Dafür fand sich unter Vierteljährlichen Einnahmen abgesondert die Zahl 131 465 wieder und dahinter die Buchstaben x<.

Ich wurde aus diesen x< nicht klug, aber Märker hatte schnell heraus, daß die Tante auch anderswo in ihren Kontobüchern mit Buchstaben eine Art Geheimschrift sich zurechtgemacht hatte. – Z war 0, y gleich 1, x gleich 2, w gleich 3 und so weiter. Kurz: die Zahl 131 465 ergab eine Einnahme von 2000 Mark, und Märker meinte, die Tante hätte sich für den Gewinn vierprozentige Papiere gekauft, ohne dieses Vermögen jedoch versteuert zu haben.

Hosea hatte unsere Bemühungen, seinen Gedankengang von rückwärts aufzurollen, durch sein Monokel mit hochgezogener Oberlippe verfolgt. Als jetzt Märker in dem neuesten Kontobuche die Entdeckung machte, daß hier seit einem Jahre das x< als Einnahme fehlte, und dies sich zu erklären suchte, sagte der Menümaler ironisch:

»Würden Sie als Mörder auch ein Radiermesser benutzt haben, Herr Kommissar?«

Märker verstand sofort, ging mit dem Kontobuch ans Fenster und hielt diese und jene Seite einzeln gegen das Licht.

»Wahrhaftig – wegradiert!« rief er.

»Würden Sie als Mörder dies nicht auch getan haben, he?« fragte Hosea abermals. »Gerade die Einnahmen und Ausgaben des letzten Jahres prüft doch das Gericht genau durch. Da war es besser, daß 131 465 x< verschwand. Man hätte doch darauf aufmerksam werden und nachforschen können. – Aber gerade diese Rasuren wiesen mich auf ein Verbrechen hin. Hermine Löckner hatte auch diese Posten gebucht wie bisher. Der Dieb der Wertpapiere radierte sie weg. Und der Dieb ist der Mörder.«

Märker schüttelte den Kopf. »Es kann auch jemand nach Hermine Löckners Selbstmord dies getan haben,« meinte er.

»Selbstmord?!« Hosea lachte auf. »Ich weiß so genau über das alte Fräulein Bescheid, daß die Annahme einer Selbstentleibung der hellste Blödsinn wäre. Sie war gesund, lebenslustig, hatte ihr gutes Auskommen, hatte angenehmen Verkehr, empfing oft Besuch, gab kleine Gesellschaften, liebte die Natur, liebte Fußtouren, wußte sich von vielen Leuten geschätzt, die ihr mit Hochachtung und Verehrung begegneten; sie hat noch am Tage ihres »Selbstmordes« sechs Damen als Gäste bis zehn Uhr abends bei sich gesehen, hat bei ihrer Schneiderin zwei neue Kleider in Arbeit gehabt und bereits schriftlich eine Fußtour durch das Riesengebirge für Ende dieses Monats ausgearbeitet, an der sich noch zwei Damen und ein älterer Herr beteiligen sollten –, sieht das alles nach Selbstmord aus?!«

»Woher weißt Du das alles?« fragte ich verblüfft.

»Der Schreibtisch hat es mir heute morgen gesagt, dann gestern nachmittag, bevor wir uns im Wartesaal trafen, ein paar alte Damen, und gestern abend der Major, – so wurde aus Stückwerk ein ganzes, eben die Ueberzeugung, daß Deine Tante – ermordet worden ist.«

Märker nickte jetzt eifrig. »Ja, ja, – Sie werden wohl recht haben! Ich besinne mich: dieser Selbstmord hat allgemeines Kopfschütteln hervorgerufen. Man sprach von einer plötzlichen Geistesverwirrung –«

Darauf brach Märker auf. Hosea wollte noch einen Spaziergang machen, und daher schlossen wir uns dem Kommissar an.

Wir traten vor die Haustür, blieben stehen, freuten uns an dem prächtigen, klaren Himmel, an dem Sonnenschein und schauten den Kindern des Amtsschreibers Sauerbier zu, die dicht an der Gartenpforte einen Schneemann bauten. – Nachdem wir uns von dem Kommissar verabschiedet hatten, schlug Hosea einen Seitenweg ein, der auf die Berge hinter meinem Besitz zuzuführen schien und nach einer Viertelstunde einen Fußpfad kreuzte.

»Gib acht,« sagte Hosea, »wie dieser Pfad, der hinter uns bis nach dem Fabrikviertel von Palmburg läuft, alle Vorteile der Bodengestaltung und die Baumgruppen ausnutzt.«

Ich verstand ihn nicht, das heißt, ich begriff nicht, welchen Zweck diese Bemerkung hatte. – Er ging voran, denn dieser Fußsteg durch den Schnee war nur schmal wie eine Furche.

»Vor acht Tagen hat es hier den letzten tüchtigen Schneefall gegeben,« sagte Hosea nach einer Weile.

Dann machte er auf einer Anhöhe halt, zog mich hinter eine Tanne und deutete mit der Hand nach vorwärts.

Dort lag die Schlucht, dort die Krähenhütte des Majors, weiterhin die Ruine, der Gemüsegarten, mein Haus.

»Wenn Du gute Augen hast, Phantasiemörder, so wirst Du an einer der Tannen in den obersten Aesten eine dünne Stange sehen,« meinte Hosea eifrig.

Ja, ich sah die Stange. Sie ragte wie ein fadendünner Strich in den Himmel hinein.

»Was soll's damit, Hosea?«

»Oh, das wollte ich Dich als Hausbesitzer fragen. – Aber – sprich zu niemandem von der Stange, vielleicht wird daraus ein Galgen, den Doppelmörder aufzuhängen.«

Dann gingen wir weiter, immer die Furche entlang, durch die Schlucht – bis zur Ruine. Hier verlor sich der Pfad bereits draußen vor der Gartenpforte in zahlreichen Spuren von Erwachsenen und Kindern, den Bewohnern des Spukhauses.

Ich grübelte darüber nach, wer wohl diesen Pfad in dem erst vor einer Woche gefallenen Schnee ausgetreten haben könne. Wie oft mußten da mehrere Leute wohl hin- und zurückgewandert sein, um eine so feste Furche auszustapfen?! Und – was hatten diese Leute hier zu tun? Warum benutzten sie nicht die große Straße, warum gingen sie, gedeckt durch grüne, verschneite Tannen und durch Talmulden – zum Spukhause hin, zum Fabrikviertel zurück –?! – Ach – das waren wieder viele, viele Fragen. Und mein Hirn war schon so müde von dem ewigen Nachsinnen, auf der Lauer Liegen und fruchtlosen Rätselraten –!

Da kam uns vom Hause her der Lehrer Max Bruchstück entgegen.


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