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Erstes Kapitel.

Draußen wütete der Wintersturm, jagte Eiskörner gegen die Scheiben.

Ich ließ die Hand mit dem amtlichen Schreiben des Gerichts in Palmburg sinken. Meine Augen wanderten von dem Papier zu dem Brotrest hin, der auf einem Pappteller neben der Petroleumlampe lag. Es war, als wanderten diese Augen von einer glücklichen Zukunft ängstlich in die jämmerliche Gegenwart zurück: das amtliche Schreiben war die Zukunft, das trockene Brot – mein Nachtmahl! – die Gegenwart –

Ich dachte an das, was meine Mutter mir so und so oft gesagt hatte –

»– Nimm nie etwas von ihr an, nicht mal eine Kartoffel! Auch eine Kartoffel kann vergiftet sein!« – Für meine Mutter war eine Kartoffel das Allergeringste. Andere sagen in solchen Fällen Heller oder Pfennig.

Diese Warnung hatte sich schon dem Knaben mit glühendem Griffel ins Hirn gebrannt. Und in dem Siebenundzwanzigjährigen lebte sie noch genau so eindrucksvoll, – wie ein Ton, der unsere Nerven einmal erzittern ließ und den wir ständig im Ohr haben.

Es war die Fanfare des Hasses –

Und all das um meinen Vater, der zuviel Liebe gefunden hatte, den ich noch vor mir sehe, wie er scheu und geduckt durch das Dasein schlich, in den Augen stets die unsichere Frage:

»– Warum mußte gerade ich dies Traurige anrichten gegen meinen Willen –?! – Warum nur?!«

Die Frage lag in seinem Blick als großes Leid. Sein Lächeln war stets so gequält. Und er schüttelte stets mißbilligend den Kopf, wenn meine Mutter der ersten Warnung hinzufügte:

»– Sie ist vergiftet, – glaube mir, – denn ›sie‹ haßt Dich, wie sie uns drei haßt, weil Du sein und mein Kind bist.«

Diese Sätze erfuhren selten eine geringe Aenderung. Die Fanfare des Hasses verfügt nicht über viele Töne. –

Von dem Brotrest gingen die Augen gierig zum Reichtum zurück.

Da stand in der charakterlosen Kanzlistenschrift: »Das Grundstück wirft einen jährlichen Ueberschuß von 1200 Mark ab.«

Monatlich hundert Mark, täglich also ein gesichertes Einkommen von mindestens 3,30 Mark, rechnete ich zum vierten Male mir vor.

Die Fanfare wurde schon leiser. –

Nachdem ich nochmals den Pappteller mit meinem Abendbrot mir angesehen hatte, stand ich auf und war mit meinem Entschluß fertig.

Ich ging zu meiner Wirtin hinüber, zeigte ihr die Benachrichtigung von der Erbschaft und borgte sie um 20 Mark an. Dann begab ich mich in den »Blauen Dunst«.

Als ich, seit vierzehn Tagen zum ersten Male wieder, die Stammkneipe betrat, fand ich nur den dichtenden Kommißbock und den Menümaler am runden Tische mit dem Pappschilde »Künstlerverein Blauer Dunst«

Oberleutnant von Bock war natürlich in Zivil. Anders konnte er auch nicht gut in die Kutscherkneipe kommen, wo er ohnehin seiner anständigen Kleidung wegen stets unangenehm auffiel.

Die beiden Vereinsbrüder begrüßten mich mit jener besonderen Herzlichkeit, wie sie zwischen uns üblich war, nämlich gar nicht. Der Menümaler (er lebte von Entwürfen für Ulkpostkarten und Menükarten und hieß für die bürgerliche Umwelt Hosea Garblig) begann sofort die Unterhaltung mit der Bitte, ich solle ihm doch bis morgen drei Mark borgen. Den dichtenden Kommißbock konnte er nicht mehr anpumpen, da die Summen »bis morgen« inzwischen wohl beinahe eine vierstellige Zahl erreicht hatten.

Ich zeigte dem Oberleutnant die Mitteilung des Amtsgerichts von der Erbschaft und erhielt von ihm zwanzig Mark daraufhin, gab dem Menümaler drei Mark und bestellte mir eine doppelte Portion Eisbein mit Sauerkohl, ein großes Helles und das Reichskursbuch, in dem ich mich dann aber nicht zurechtfand, so daß der Kommißbock mir einen günstigen Zug nach Palmburg aussuchen mußte. –

Vierzehn Stunden Personenzug bis Palmburg waren selbst für meine robuste Gesundheit etwas viel. Ein Taxameter brachte mich vom Bahnhof immer an einem schmalen Fluß entlang durch eine endlose Vorstadt, die den Namen Bäckershagen führt, nach der Ziegengasse.

In Berlin hatten wir zwei Grad Frost gehabt, hier kämpfte mein dünnes Pelerinensieb gegen acht Grad an. Ich merkte, daß ich im Osten Deutschlands war.

Der Schnee auf der Straße knirschte, der Fluß war zugefroren und die Kinder tummelten sich auf dem Ehe.

Die Droschke bog rechts ab in einen Hohlweg, hinter dem sich bewaldete Hügel auftürmten. Hier gab es am Wege nur noch vereinzelte Häuser, und in der Mitte dieses Ablegers der Vorstadt stand als größtes Gebäude Ziegengasse Nr. 9, mein neuer Besitz.

Die Taxe rumpelte zur Stadt zurück. Ich beschaute mir das Haus. Es lag ein gutes Stück von der Straße entfernt, inmitten eines Gartens, der mit Stacheldraht hoch eingezäunt war.

Daß es altehrwürdig war, sah jeder auf den ersten Blick. Ueber drei niedrigen Stockwerken hing ein vorspringendes Dach wie ein großer Sargdeckel. Die Dachziegel waren grünbemoost und stachen angenehm ab gegen den braungelben Anstrich der Mauern und den hellgelben der kleinen Fenster. Die rechte Giebelwand war bis zur halben Höhe des dritten Stocks unverhältnismäßig dick. Es sah so aus, als ob man das Gebäude hier an eine einzelne, starke Mauer, die von früher her noch stehen geblieben war, angeklebt hatte.

Ich sah nach der Uhr. Ich wollte feststellen, wann ich von meinem Grundstück Besitz ergriff. Meine Sieben-Mark-Nickeluhr zeigte genau drei Minuten vor halb zwölf.

Der bleiche Schein der Wintersonne tauchte jetzt plötzlich das Haus in ein eigentümlich verschwommenes Licht. Ich nahm diesen Gruß des Tagesgestirns als ein gutes Vorzeichen entgegen, obwohl gleich darauf graues Schneegewölk die bisherige Beleuchtung wiederherstellte.

Drei ausgetretene, breite Steinstufen führten zu der mit eisernen Ziernägeln beschlagenen Haustür empor.

Mit einem bisher nie gekannten selbstsicheren Gefühl legte ich die Hand auf die Klinke, schob die Tür auf und trat ein. Mein erster Gedanke beim Anblick dieses geräumigen Hausflures war: unnötige Raumverschwendung!

Der Flur war sehr hell, denn über der Haustür gab es noch ein breites Glasfenster, ebenso gegenüber, wo eine zweite Tür auf den Hof mündete.

In dem amtlichen Schreiben hatte gestanden: »Der Schlossermeister Gottlieb Hähnchen, einer der Einwohner, verwaltet bis zu Ihrem Eintreffen das Grundstück.«

Hähnchen wohnte rechter Hand im Erdgeschoß.

Ein trauliches Zimmer mit fauchendem Ofen und vielen gerahmten Bibelsprüchen an den Wänden erwärmte mich sehr schnell und wurde die Stätte, wo ich näheres über die Tante, meinen Besitz, die Mieter, die Einnahmen und Ausgaben und so weiter erfuhr.

Wir saßen am viereckigen Eßtisch. – Hähnchen war mittelgroß, gut genährt, wenn auch schlank und sehnig, und bieder und treuherzig; seine Frau einen Kopf größer, starkknochig, poltrig, aber gutmütig.

Ich mußte mit ihnen zusammen Mittag essen, lernte so die drei Lehrjungen kennen und ein neues Gericht: Barse mit Klößen, säuerlich. – Es schmeckte vorzüglich.

Das Gespräch drehte sich immer um das Haus und die Schwester meiner Mutter, die Tante Hermine, die es mir hinterlassen hatte.

Es gab im ganzen sieben Mietspartien. Ich muß sie aufzählen, wie es Hähnchen mir gegenüber tat, denn alle diese Menschen standen, wie sich später herausstellte, in wunderlichen Beziehungen zueinander und hatten ihren Teil an den bösen Ereignissen, die meiner harrten.

Erdgeschoß, rechts: Hähnchens, nebst Werkstatt im Keller. – Links: Amtsschreiber Sauerbier nebst Familie, sechs Personen.

Erster Stock, rechts und links zu einer Wohnung vereinigt: Rentier Marville nebst Tochter und Köchin.

Zweiter Stock, rechts: Tante Hermine Löckner. – Links: pensionierter Kanzleirat Wehrhut, Junggeselle.

Dritter Stock, rechts und links zu einer Wohnung vereinigt: Major a. D. von Balting-Gattary, fünf Personen.

Mansarde, rechts: Kunstmaler Merling, Junggeselle. – Links: Volksschullehrer Bruchstück, Junggeselle. –

Jede Wohnung, mit Ausnahme der Mansardenstuben, bestand aus drei Zimmern nebst reichlichem Zubehör, die Doppelwohnungen aus sieben Zimmern, da hier die zweite Küche in eine Stube umgebaut war.

Bis auf den Kanzleirat Wehrhut, der erst am 1. Januar, also vor fünf Wochen eingezogen war, wohnten sämtliche Mieter bereits länger als fünf Jahre im Hause.

Hähnchen schickte jetzt die Lehrlinge nach oben in den zweiten Stock rechts und ließ heizen. – Auf meinen Wunsch.

»Wie Sie wollen, Herr Malwa, – wie Sie wollen!« sagte er nochmals sehr gedehnt, als die Jungen draußen waren.

Frau Hähnchen räumte den Tisch ab, und wir Männer steckten uns eine Zigarre an.

Dieses wiederholte »Wie Sie wollen« machte mich stutzig.

»Natürlich werde ich die leere Wohnung beziehen,« meinte ich. »Hätte ich gewußt, daß dieses Haus so hübsch im Freien liegt, dann hätte ich meine Berliner Wohnung gleich gekündigt. Ich hänge nicht an Berlin. Ich werde hier in Ruhe arbeiten können. Sie wissen, ich bin Schriftsteller.« Das letzte sagte ich mit Selbstgefühl, obwohl ich mich nach der durch die Verhältnisse bedingten Aufgabe meines Studiums – ich hatte Oberlehrer werden wollen – mit der Feder nur sehr knapp vor dem Verhungern geschützt hatte.

»So – so – ruhig arbeiten!« murmelte Hähnchen, indem er die Hände über dem Leibe faltete. Sein bartloses, rosiges Gesicht sah jetzt beinahe kummervoll aus, und seine leicht von dem Staube der Werkstatt entzündeten Augen suchten einen der Haussegen an der Wand. Unwillkürlich folgte ich dem Blick. Der Haussegen lautete:

Vor böser Geister Schar
Du, Herrgott, uns bewahr'!
Amen.

»Zweifeln Sie daran, Meister, daß man hier mit dem Kopf arbeiten kann?« fragte ich, um einen Gegensatz zu seiner Tätigkeit als Schlosser und demnach Handarbeiter herzustellen.

Er zuckte die Achseln.

»Es ist eine ganz niederträchtige Geschichte, Herr Malwa!« meinte er. »Das Haus könnte tausend Mark im Jahr mehr abwerfen, wenn – ja, wenn – Glauben Sie an übernatürliche Dinge?«

Dieser Satz überraschte mich ein bißchen. Dann lächelte ich.

»Ich bin ein aufgeklärter Mensch,« erwiderte ich mit einer Ironie, die Hähnchen treffen sollte. »Es spukt hier wohl? Das wäre ja sehr interessant, sehr! Ich liebe Hausgeister –« Und ich blickte nach dem eingerahmten Spruche hin, den er vorher mit den Augen gesucht hatte.

»Soll ich es Ihnen erzählen?« fragte er, indem er wie mißbilligend den biederen Kopf hin und her wiegte.

»Nein – ich danke!« sagte ich schnell. »Geistern muß man ohne Voreingenommenheit gegenübertreten.«

»Vielleicht wär's anders doch besser –,« brummelte er vor sich hin. Und Frau Guste Hähnchen unterstützte ihn feierlich: »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde –!« Dann ging sie hinaus.

Ich stand auf. »Ich möchte mir jetzt mein neues Heim ansehen.«

»Hm – ja, – geheizt ist ja nun. Aber – nachts stellen wir Ihnen doch wohl besser ein Bett hier bei uns auf, Herr Malwa,« sagte er leise und beschaute seine leicht geschwärzten Finger.

»Unsinn!« erklärte ich kurz, verbesserte mich aber schnell: »Natürlich ist es ja sehr freundlich von Ihnen, dieses Angebot. Aber – es hausen hier doch noch andere Junggesellen, denen der liebenswürdige Hausgeist auch nicht den Hals umdreht. Also –«

Er erhob sich. Und mir war's, als seufzte er abermals.

Wir gingen in den Hausflur hinaus, wollten gerade die breite Treppe hinauf, als Frau Hähnchen hinter uns her kam.

»Gottlieb, Du weißt, der Herr Sanitätsrat hat Dir eine halbe Stunde Mittagsschlaf verordnet,« rief sie besorgt. »Ich werde mit Herrn Malwa nach oben gehen.«

Ich schickte nun selbst den Meister zurück. Er sträubte sich erst.

»Gustchen, auf dies eine Mal –« Da nahm ich ihn beim Aermel und schob ihn hinter die Tür.

Frau Hähnchen blieb dann auf dem Vorflur der ersten Etage stehen. Rechts und links führten die Türen in die hier zu einer Gelegenheit verschmolzenen Wohnungen. An der rechten Tür war ein Messingschild mit der Aufschrift »Percy Marville«. – Aha – also der Rentier!

Die starkknochige Meisterin flüsterte mir zu: »Die gehören auch nicht in dieses anständige Haus!« Dabei wies sie auf das Messingschild und sie fügte allerlei Bemerkungen hinzu, die mich zu ebenso vielen Fragen veranlaßten, bis ich ungeduldig sagte: »Heraus nun endlich mit der Wahrheit –!«

In diesem Augenblick war es mir, als ob im oberen Flur eine Tür leise geöffnet wurde, als ob dann zweimal eine Diele knarrte und nun – das vernahm ich ganz genau – eine elektrische Glocke kurz anschlug.

Aber meine Aufmerksamkeit war doch mehr dem zugewandt, was die Meisterin soeben gesagt hatte.

»Weshalb sollen also Marvilles nicht –«

Weiter konnte ich den Satz nicht aussprechen. Ich hatte fragen wollen, was gegen den Rentier und seine Tochter denn nun eigentlich vorläge.

Ein dumpfer Knall ließ mich verstummen. Es hatte geklungen, als ob ein Schuß oben in der zweiten Etage gefallen war – nicht im Flur, sonst hätte das Treppenhaus die Schallwellen deutlicher zurückwerfen müssen.

»Mein Gott – was war das?« stieß Frau Guste hervor und packte voll Angst meinen Arm. Sie sah ganz verstört aus. Ich hätte ihr bessere Nerven zugetraut.

»Ich glaube, es war ein Schuß,« flüsterte ich zurück.

Da – täuschte ich mich –? Wieder knarrte oben zweimal eine Diele – Ja – es war so, – mein Ohr hatte mich sicher nicht betrogen.

Wir standen und schauten uns unsicher an.

Die Meisterin beleckte sich die Lippen, strich sich mit der Rechten das Haar glatt.

»Es ist ein unheimliches Haus,« seufzte sie.

Da ärgerte ich mich über sie und stieg schnell die Treppe weiter nach oben. – Nun war ich im zweiten Stock. Rechts ein Porzellanschild über dem Druckknopf der Türglocke: »Hermine Löckner«. Dort ging's also in mein neues Heim.

Die linke Flurtür trug nur eine mit zwei Reißstiften befestigte Visitenkarte.

Ah – diese Tür stand eine Handbreit auf!

Blitzschnell durchzuckte mich ein aus dem Nichts aufsteigender Verdacht: hinter dieser Tür ist der Schuß gefallen!

Neben mir Schritte – Frau Hähnchen!

»Mein lieber Gott, Herr Malwa, wenn hier man bloß nicht wieder sich einer umgebracht hat,« hauchte das starke Weib ganz verängstigt.

Ich wurde aufmerksam. »Wieder –?! Frau Hähnchen? – Was heißt das –?!« fragte ich mißtrauisch.

Sie bedeckte das Gesicht mit ihren großen Händen, schluchzte ganz leise, würgte an Tränen.

»Ihre Tante hat sich doch auch –,« stöhnte sie gramvoll hinter den Händen hervor.

Ich fuhr nun doch zusammen.

»Etwa – selbst das Leben genommen?« forschte ich hastig.

Sie nickte nur und behielt die Hände noch immer wie in stillem Grauen vor dem Gesicht.

Ich gebe zu – auch mir lief es plötzlich kalt über den Rücken.

»Selbstmord, Meisterin?« fragte ich kurz, indem ich eine Gelassenheit heuchelte, hinter der doch schon eine bange Scheu grinste. Mir war das eingefallen, was meine Mutter so und so oft von der vergifteten Kartoffel gesagt hatte, – die Fanfare des Hasses erklang wieder –

»Sie hat sich mit Gas vergiftet, die Hähne der Krone in ihrem Schlafzimmer geöffnet, – ist erstickt,« erklärte Frau Guste mit einer Stimme, die ganz heiser und undeutlich war.

»Also deshalb soll ich bei Ihnen Unterkunft für die Nacht erhalten –?!« sagte ich, nur um nicht zu schweigen. Die Frau sollte nicht merken, daß das Haus auch mir bereits unheimlich zu werden begann.

»Weil – weil – doch der Herr Bruchstück sie als Geist gesehen hat,« erwiderte sie und ließ die Hände sinken.

»Bruchstück?«

»Der Lehrer aus der Mansarde links.«

»Ein Lehrer –?! Der sollte doch an derlei Dinge besser nicht –«

Von oben eine scharfe Stimme, die wie ein eisiger Guß auf unsere Köpfe fiel –:

»Meisterin – he, – sind Sie's?!«

Wir waren zusammengezuckt.

»Jawohl, Herr Major, – jawohl,« rief sie mit rückwärts geneigtem Kopf.

Schritte dröhnten die Treppe abwärts.

Major von Balting-Gattary stellte sich mir vor.

»So – der Erbe also! Na gut! – Jetzt kann man nicht mal mehr sein Verdauungsschläfchen halten!« polterte der magere Herr, in dessen blaurotem Gesicht ein grauer Schnurrbart sich rechts und links von der starken Nase hochsträubte. »Irmgard sagt, es sei bestimmt ein Schuß gewesen. Verdammte Bude dies! – Wer hat geschossen, he?!«

»Keine Ahnung, Herr Major.«

»Irmgard meint, hier in dieser Etage müßte der Schuß gefallen sein,« knurrte er und ließ seine Blicke über die Tür des Kanzleirats Wehrhut hingleiten. »Ah – die Tür steht auf! Ich muß doch mal –«

Er trat näher nach links, drückte auf den Knopf der elektrischen Glocke, die sofort im Flur der Wohnung laut zu schrillen begann.

Wir warteten. – Abermals druckte der Major.

»Die Geschichte gefällt mir nicht,« meinte er. »Selbst wenn der Kanzleirat geschlafen hätte, müßte er jetzt munter geworden sein.«

Er schob die Tür langsam auf. Sie schlug nach innen, und nun konnten wir den Flur überblicken.

Die Zimmertüren, die in ihn einmündeten, hatten oben matte Glasscheiben, so daß genügend Licht den Korridor erhellte.

Frau Hähnchen kreischte auf, und der Major und ich prallten zurück.

In der Mitte auf dem roten Plüschläufer lag ein Mensch auf dem Rücken – regungslos – starr –

Der Major faßte sich ein Herz und trat näher, Frau Hähnchen und ich standen wie die Bildsäulen da. Dann nahm ich all meine Willenskraft zusammen und folgte Herrn von Balting.

Er deutete mit dem Finger, sich tief herabbeugend, auf eine blutige Stelle etwa vier Zentimeter über dem rechten Auge des Daliegenden und sagte: »Es ist der Kanzleirat. Schuß in den Kopf, tödlich ohne Zweifel! Kenne das Aussehen derartiger Wunden. War in den Kolonien! – Eine Waffe ist nirgends zu bemerken. Also nicht Selbstmord, sondern –« Er sprach das andere nicht aus, richtete sich auf und fuhr fort: »Kommen Sie, wir werden die Wohnung abschließen und die Polizei benachrichtigen.«

In der Flurtür steckte der Schlüssel von innen. Herr von Balting nahm ihn dann an sich.

Wir hörten Frau Guste die Treppe hinablaufen. Der Meister Hähnchen würde einen schönen Schreck bekommen –!

»Ich habe Telephon oben bei mir. Bitte, wenn Sie mich begleiten wollen, Herr Malwa.«

Ich schritt neben Balting die Stufen hinan.

»Eine ganz verdammte Bude!« knurrte er wieder. »Ich beneide Sie um diese Erbschaft nicht!«

Das Telephon hing im Flur. Als der Major gerade das Amt anrief, erschien ein junges Mädchen, stutzte bei meinem Anblick und blieb stehen, bis Herr von Balting zu mir sagte: »Leitung besetzt.« Dann stellte er mich seiner Tochter Irmgard vor.

»Meine Jüngste, Herr Malwa. Angehender Lenbach, worauf schon die Malschürze hinweist.«

Irmgard war blond, mittelgroß, schlank und auffallend hübsch. Dabei hatte ihr Gesicht einen deutlich hervortretenden Zug von Energie und Selbstbewußtsein.

»War es nun eigentlich ein Schuß, Papa?« fragte sie ahnungslos.

Er erzählte ihr kurz, was wir in dem Flur unten gefunden hatten.

Irmgard verriet kaum ein Zeichen des Schreckens. Nur ihre Augen wurden größer. Sie mußte ein außerordentlich starker Charakter sein.

»An der Brücke drüben steht zumeist ein Schutzmann oder patrouilliert doch wenigstens in der Nähe auf und ab,« sagte sie jetzt schnell. »Man müßte ihn holen und des Kanzleirats Wohnung durchsuchen, vielleicht hält sich der Mörder dort noch versteckt.«

Ich fand dies sehr zweckmäßig und erklärte mich bereit, nach der Brücke zu laufen, die ich ja von der Herfahrt kannte und die keine vierhundert Meter entfernt war.

Gleich darauf eilte ich die Treppe hinab. Auf dem Flur des ersten Stockwerks begegnete ich einer jungen Dame, die sich dann aber schnell hinter die Tür des Rentiers Marville zurückzog, nachdem sie mich mit seltsamem Blick gemustert hatte.

Auch das Ehepaar Hähnchen kam mir entgegen. Der Meister wollte etwas fragen, ich stürmte jedoch die Treppe weiter abwärts, indem ich ihm zurief: »Ich hole die Polizei!«

Barhäuptig rannte ich durch den Vorgarten. An der Gartenpforte drehte ich mich – es war ein bloßer Zufall – nach dem Hause um und überflog die Fenster mit den hellen, freundlichen Gardinen.

Da – mein Blick muß ganz stier gewesen sein! – an einem Fenster des zweiten Stockwerks links ein Gesicht – ein Männergesicht, das blitzschnell wieder verschwand.

Ich stand wie angewurzelt. Und dann an einem der Fenster der Wohnung Marvilles, also im ersten Stock, genau unter dem »anderen« Fenster, die Gestalt eines Weibes – eines jungen Weibes, – derselben, die so eilig hinter der Tür des Rentiers sich vor meinen Blicken in Sicherheit gebracht hatte.

War's Marvilles Tochter –? Und – schaute sie mir nach?«

Noch ein Blick eine Etage höher, zu den Fenstern des Ermordeten. Doch dort zeigte sich jetzt nichts –

Ich rannte weiter, fand nach fünf Minuten den Schutzmann und nahm ihn mit nach meinem Hause.


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