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Die Unterwelt

Die Entwicklung liegt zwischen dem einzelligen, für das bloße Auge unsichtbaren Urwesen und der höchsten Klasse des Tierreichs, den Säugetieren, zu denen der Mensch gehört; alle höher entwickelten Tiere sind Koloniewesen, aufgebaut aus einer ungeheuren Anzahl von Zellen, die von der Arbeitsteilung innerhalb des Organismus umgeprägt werden, eine Analogie zu den vielen Arten innerhalb des Tierreichs, einige führend, andere von der Entwicklungslinie abschweifend. Noch geht die Fortpflanzung vor sich durch einen einzelnen, einzelligen Organismus, eine angeborene Anlage, das Ei. Während ihres Wachstums vom Ei zum ausgewachsenen Individuum durchlaufen alle Arten vorübergehend die ganze Geschichte der Entwicklung oder einen Teil davon.

Auf dem Wege zu seinem »Ziel«, dem Säugetier, dem Menschen – ein Ziel will man der Entwicklung gern unterschieben, da man Mensch ist, aber an den Küsten der Entwicklung sieht man keine Feuer – auf dem Wege zum Ziel teilt sich das Tierreich in mehrere wesensverschiedene Klassen, aufsteigende Stufen, Versuche, Seitenlinien, eingezeichnet in der Karte der zoologischen Systematik.

Man sucht die Art, Spezies, um überhaupt eine Identifikation zustande zu bringen; die zoologische Systematik hat indessen keine festeren Grenzen, als sie zum Beispiel die Töne in Wirklichkeit haben; nur in bezug auf einen musikalischen Apparat spricht man von der Tonleiter, die Noten sind eine Schriftsprache; ebenso flüssig ist der Übergang zwischen den verschiedenen Tierarten; will man sie ordnen, so teilt man sie nun einmal ein in Wirbeltiere, Gliedertiere, Weichtiere und Stachelhäuter, Cölenteraten oder Polypen, Urtiere; die Einteilung wird um so unsicherer, je tiefer man abwärts kommt; die Wirbeltiere wieder in die große Klasse Säugetiere, Vögel, Kriechtiere und Lurche, Fische, alles zusammen aus irgendeinem elementaren Leitfaden der Zoologie zu schöpfen. Noch zu meiner Schulzeit begann die Naturgeschichte mit dem Menschen und endete mit dem Gewürm; jetzt beginnt jedes Lehrbuch mit dem Anfang, der Zelle, und endet mit den Säugetieren, die Systematik selbst gibt den Verlauf der Entwicklung; bezeichnend, daß die Reihe so spät umgekehrt ist! Der Entwicklungsgedanke ist jüngsten Datums im Verhältnis zum Material.

Die Untersuchung ist hier auf die Säugetiere gerichtet als die Klasse, die den Menschen vorbereitet, nur en passant werden die übrigen Klassen und Reihen berührt, so oft sie Licht auf die Vorgeschichte des Menschen in dem Aufstieg durchs Tierreich werfen. Die Entwicklung durch die Stufen wird als eine Richtung angenommen, ob man nun von einem Bestreben reden will oder nicht.

Der Verlauf hat unübersehbar lange Zeit gedauert, den größten Teil der Zeitalter der Erde; erst spät, verhältnismäßig ganz vor kurzem, gestalteten sich die Bedingungen auf Erden so, daß die Tiere sich zu der großen Klasse emporarbeiten konnten, in der wir stehen; von der langen, weitversprengten Verwandlungsspaltung ist es die endliche Gestaltung der Säugetiere, die uns am nächsten berührt, unsere eigene Entwicklung verliert sich darin. Der Mensch wurde Mensch in Verwandtschaft mit Tieren und in ihrer Gesellschaft.

Die Abzweigung des Menschen als Art für sich verlegt man irgendwann in die Tertiärzeit, verhältnismäßig eine kleine Zeitspanne zurück, vom geologischen Gesichtspunkt aus gestern, und doch hat es solange gedauert, daß der menschliche Verstand es nicht unmittelbar übersehen kann; einfach anzunehmen, daß es nicht wahr sei, verursacht weniger Anstrengung. Die Weltteile und die Meere lagerten sich in dieser Periode um, die Berge erhoben sich, wo sie jetzt stehen, und verwitterten teilweise wieder, Wälder kamen und gingen, neue Pflanzenarten entwickelten sich, bis die Eiszeit die Grenze setzte, man kann nur sagen, daß von einem Ende der Periode bis zum anderen die Säugetiere aufmarschierten.

Und das war ihre große Zeit, die bewegteste und die reichste, die sie gehabt haben; sie kommt nicht wieder. Ein Paradies im biblischen Sinne war es keineswegs. Wolf und Lamm sind nie versöhnt auf derselben Blütenwiese Seite an Seite gegangen; aber vom Menschen waren sie noch nicht abhängig; jetzt beruht das Schicksal der Säugetiere ziemlich auf dem Gutbefinden des Menschen.

Das Tierreich im heutigen Afrika, die großen Reservate, wo das Wild sich ergehen darf, wie es von Anfang an getan, Zebra, Giraffe und Löwe in derselben ihnen befreundeten Parklandschaft mit einem Berg darüber, das gibt uns eine Vorstellung vom Europa der Tertiärzeit, hat aber kaum dieselbe Gewalt, das junge Gepräge, selbst die Tiere scheinen in den Formen nicht mehr so beweglich, oder wir können es nicht sehen. In der Tertiärzeit hatte Europa ein Klima wie jetzt die Halbtropen mit Palmen und Brotfruchtbäumen, Bambus, Pisang, gewaltigen schönen Gärten, wo die Tiere zunahmen und emporwuchsen zu den Gruppen und Familien, die wir kennen, aus einem geringen Anfang, kleinen mausartigen Dingen mit Eidechsengepräge; später kam Ungemach, aber solange diese Ewigkeit dauerte, war es der Garten Eden, das verlorene Land. In unseren ursprünglichsten Instinkten und in unserer Kindheit tragen wir Spuren davon, auch in der Güte, die wir für unsere Begleiter auf dem Wege, die haarigen, warmblütigen Tiere, übrig haben. Mit den Säugetieren haben wir eine alte dunkle Paradieseserinnerung gemein, wir kennen uns selbst wieder in ihnen, ohne über unser Wesen hinausgehen zu müssen. In der Fabel treffen sich von alters her Mensch und Tier. Eine grimmigere und einfältigere Stimmung, die doch unserm wachen Bewußtsein verwandt ist, holen wir von den zottigen Brüdern.

 

Was uns dagegen bei Tieren vor ihnen, den Kaltblütern, den niederen Stufen, der Welt des Wassers, den schuppigen und kalten Tieren in ihrem Sumpf, begegnet, wenn wir versuchen wollen, uns mit ihnen zu identifizieren – entspricht das denn nicht mehr unserem dunkelsten Unterbewußtsein, schlimmen Träumen, Fieberphantasien, Alpdrücken, den Vorstellungen Verrückter oder dem Zustand, dessen wir uns nicht erinnern können, aus der Zeit, da wir Embryonen waren, obwohl wir doch auch damals lebten; alles in allem: die niedere Insektenwelt, die Seele des Gewürms, hat sie nicht etwas Entsprechendes in dem, was wir Wahnsinn nennen?

Sogar gewisse Arten von Geistestrübung müssen wir doch von unserm Ursprung mitgenommen haben. Was uns zutiefst in der Seele haust, wo sollte es seine Wurzel haben, wenn nicht eben in der niederen Tierwelt?

Im Schlafe sind wir wieder in diesen Sphären daheim, und wir verbringen ja doch unser halbes Leben in einem gebundenen, unbewußten und doch lebenden Zustand, wenn wir schlafen; wir sind dann in einer Unterwelt. Eine ungewisse Welt, ungelenkt, ein Schlummerzustand, dem der Schrecken naheliegt, so gestaltet sich das Dasein für uns, wenn wir träumen. Die niederen Tiere verlieren sich für unsere Phantasie, von innen gesehen, in einer solchen Unterwelt. Sie leben dort stets, Würmer, Kriechtiere und Lurche, all das klamme Getier, das vor den Säugetieren auf Erden lebte, Echsen und Amphibien, Fische, Quallen, geradeswegs bis zum Urtier hinab, dem kriechenden Schleimding, mit dem alles Leben beginnt – man wird schon kalt, wenn man daran denkt, bekommt Eis in die Haut ...

Das Meer ist noch voll von all diesen ersten, gestaltlosen Geleetieren, Medusen, Polypen, von denen die Tiere zuallerletzt in der Reihe herkommen, sie erregen elementaren Schrecken, wenn man sie sieht oder unversehens im Wasser berührt; es ist, als spüre man das Urstadium im Bewußtsein sich auslösen, eine Finsternis, die ansteckt, ein Wahnsinnsgefühl, und man gebärdet sich denn auch elementar, wenn man mit einer Qualle in Berührung kommt – unartikuliertes Gebrüll der Badenden und ein Schaum in der See, wo Homo sapiens plantscht: das ist die Begegnung zwischen Qualle und Mensch.

Ist Furcht, Grauen denn das allgemeine Lebensgefühl, mit dem das Dasein beginnt? Herman Melville sagt in seinem merkwürdigen Buch vom Wal, Moby-Dick: Though in many of its aspects this visible world seems formed in love, the invisible spheres were formed in fright; ein tiefsinniges Wort. Sich, mental, auf die erste Stufe zurückzuversetzen, ist, wie man fühlt, mit Unlust verknüpft; aber es ist auch der innere Zustand, von dem das Tier auf seinem Entwicklungswege fortstrebte!

Schrecken steckt an – warum? Der Deckel über dem Keller der Menschenseele liegt lose drauf, es gehört nicht viel dazu, ihn abzuschütteln. Viel hat man sich belustigt über den panischen Schrecken von Frauenzimmern über Spinnen; er ist natürlich, die Spinne ist abscheulich, der Schrecken kommt von selber als Reaktion nach einem Erlebnis.

Vom Lebensgefühl der Spinne kann man nichts Wirkliches wissen, so wenig wie von dem des Krokodils, man mißt hier wie ein Barometer, dessen Quecksilbersäule entzwei ist, aber man kann sich ihrer Welt nicht ohne aufreibende, innere Umlagerungen nähern, es schmerzt in der Seele, wie bei Leuten, die ein Bein verloren haben und davon reden, daß ihre Zehen schmerzen. Furcht und Unbehagen hängen an allen kriechenden Widerwärtigkeiten des Meeres, den unheimlichen Krebsen, der wasserkalten, gähnenden Gesellschaft der Fische, der Kellerwelt, der Unterwelt!

 

Bis hierher kamen die Fische und nicht weiter. Der unermeßliche Formenreichtum der Fische ist ein anziehender Stoff für sich, merkwürdig durch die reiche Abwechslung, trotz dem doch, wie man glauben sollte, ziemlich gleichartigen Element, das sie umgibt; es ist wohl der Kampf ums Dasein in einseitigem Sinne, der sie geprägt und ausgeprägt hat, und der Umstand, daß sie in so besonderem Maße darauf angewiesen sind, voneinander zu leben. Alle Fische in einem Schwarm sind gleich groß, eine Beobachtung, die ich bei einem amerikanischen Biologen, William Beebe, finde; keiner kann größer sein, denn er würde die anderen fressen, und keiner kleiner, denn er würde gefressen werden.

Die Fische, die richtig knochigen und schuppigen Familien, liegen fern von der Stammlinie der Säugetiere, die primitiven dagegen, wie der Hai oder der Stör, näher. Hier, wo die aufsteigenden Formen gesucht werden, sollen uns die Fische, als, evolutionsmäßig gesehen, weit hinausgeschoben unter den Geschöpfen, nicht lange beschäftigen. Gefühlsmäßig hat man wenig übrig für sie; von einem Standpunkt aus, wo geschmackliche Rücksichten sich geltend machen, dürfte gesagt werden, daß der Fisch es alles in allem nicht weiter gebracht hat, als sich einen hübschen Platz zwischen Suppe und Braten zu sichern.

Physiognomisch haben einige der Fische, vornehmlich der Dorsch, das Urbild für ein niedrigstes Maß an Verstand abgegeben. Das scheint sich der Aufmerksamkeit früh aufgedrängt zu haben, in Verbindung mit anderm rohen Grauen, das der Unterwelt anhängt; Künstler wie Breughel und Bosch entleihen ihren unheimlichsten und dämonischsten Alp der Welt der Fische. Aber selbst in ihren wildesten Orgien übertreiben sie nicht die Monstrositäten, zu denen die Fische es selbst bringen können, sie haben keine Tiefseefische gesehen, die erst eine Nachwelt aus dem Urdunkel eine Meile unter der Oberfläche des Meeres heraufgebracht hat. Breughels Gesichte und Delirien erscheinen literarisch im Vergleich mit den wirklichen Geschöpfen wie den Seeteufeln und der Exzellenz unter ihnen, dem Angler, der wie ein Sack auf dem Meeresboden liegt, eine Art Fahne auf der Nase, ein Ködergerät oder eine Fühlflosse – kommt ein Fisch in seine Nähe, so öffnet der Meeresboden sich wie ein mit Nägeln ausgeschlagenes Faß und schnappt den Fisch, wenn er auch nur gerade eine Nummer kleiner ist als der Sack. Der Angler ist nicht auf dem Wege zu etwas Höherem. Im Gegenteil, er soll hören, daß er zurückgeht zur Seeanemone und den anderen frühen Magentieren, ein Maul, Verzeihung, camoufliert mit Schlamm, mit dem niedrigen Phlegma der Spinne und des Wucherers!

Im übrigen sollen die Fische gar nicht verleumdet werden!

Ihre Welt fesselt durch eine unerschöpfliche Plastik, den sichtbaren Übergang der Formen ineinander, das vom Wasser abgeschliffene, gleichsam Gegossene, das über einem Fisch liegt, die Verwandlung auf frischer Tat – der Flunder! Man kann ja sehen, wie er den Boden gedrückt hat und der Boden ihn, das Problem, sich flach zu machen und doch beide Augen oben zu behalten, hat er gelöst, aber das Maul steht schief, es verzerrt sich, sozusagen noch unter der Bemühung. Das Flunderjunge sieht wie ein gewöhnlicher Fisch aus, während des Wachstums kann man den ganzen Übergang verfolgen.

Lange, ehe die Fische Fische wurden, tritt eine gemeinsame Stammform auf, ein wurmartiges, lanzettfischartiges, lungenfischähnliches, knorpeliges Wesen, dessen Umbildungen nach der einen Seite im Wasser blieben und zu den höheren Fischen führten, nach der anderen Seite Glieder auf dem festen Boden ansetzten, mit einer erweiterten Zukunft vor sich.

Erwähnt werden muß wieder der Amphioxus, angesehen für ein Zwischenglied auf der Grenze zwischen Wurm und Wirbeltier, er hat Züge, die anatomisch an den Bürstenwurm erinnern, hat einen Rückenstrang entwickelt und befindet sich also auf dem Wege zu einem inneren Skelett.

Durchgreifender ist die Verwandlung, die dazu führt, daß einige Wesen, die gewohnt gewesen sind, im Wasser zu atmen, Sauerstoff auf dem nassen Wege aufzunehmen, sich dazu umbilden, in der Luft zu atmen, sie wechseln das Element und werden Stammformen für die Amphibien. Aus der Fischflosse wird auf dem Lande eine »Hand«, beim Wal wird sie wieder zur Flosse oder Finne.

Die Verwandlung von Wassertieren zu Amphibien muß man sich als vorgegangen denken an Küstengebieten mit ausgesprochener Ebbe und Flut, Mangroven, die bald trockengelegt, bald unter Wasser sind, ein Verhältnis, das man noch kennt und das einige Fische veranlaßt, sich für beide Lebensbedingungen auszubilden, wie denn auch Gliedertiere, Krabben, aus diesem Grunde an Land gehen. Lange, wiederkehrende Trockenperioden, wie man sie zum Beispiel in Australien kennt, periodische Überschwemmungen in Flußgebieten wie am Nil, zwingen das Geschöpf, sich danach zu bilden. Die Lungenfische leben unter solchen Anpassungsverhältnissen, als eine Illustration für den Ursprung der Landwirbeltiere, noch heutigen Tags; der Name gibt die ganze Verwandlung.

Die Biologen erklären das Entstehen der Amphibien aus dieser sehr natürlichen, aber an sich durchaus nicht notwendigen Ursache; zu ihrem Verständnis gehört die Annahme gleichartig wechselnder Ursachen in sehr langen Zeiträumen, wie eben Ebbe und Flut. Der Mond ist mitschuldig am Entstehen der Amphibien; das ist es, was die Frösche an Mondabenden in der Torfgrube sagen: Dank! Dank!

Bei den Amphibien wiederholt sich der Entwicklungsgang in der »Verwandlung«, die jedes einzelne Individuum durchmachen muß; als Junge sind die Amphibien Wassertiere und atmen durch Kiemen, sie haben Fischschwänze, in diesem Zustand durchleben sie wieder das Kellerdasein der Familie. Später gehen sie an Land und werden lungenatmende Lurche, sehr naßkalt nach ihrem Ursprung.

Die Salamander befinden sich auf dem Wege zum Kriechtier. Aber, erst wenn der Lurch »trocken« geworden ist und das Kiemenstadium überwunden hat, ist er ganz an Land gegangen und Echse geworden. Von der Echse stammen, in weiterem Sinne, Säugetiere und Vögel ab. Das Geschöpf hat jetzt die Unterwelt verlassen und ist warmblütig geworden. Dies ist die Herkunft in kurzer Fassung, wie man sie aus leichtzugänglichen Handbüchern lernen kann.


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