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Magen und Bewegung

Die günstige Form, die dem Wurm seine Karriere sicherte, ist nicht zufällig, sie hängt mit einer Grundbedingung für das Dasein zusammen.

In einer fundamentalen Beziehung begegnen wir uns als Menschen mit jedem Geschöpf die ganze Entwicklungsreihe hindurch, selbst mit den fernsten, kaum noch sichtbaren Polypenwesen: in unserer Verdauung; den Magen haben wir mit allen Tieren gemein. Von einem Ernährungsgesichtspunkt aus ist der Magen als das Grundtier selbst zu betrachten, das sich effektuiert, sich unter allen Umständen geltend macht, wie auch die Verwandlung sich gestaltet.

Die niedrigsten Organismen bestehen aus nichts anderem als einem Magen, einem Sack mit einer Öffnung, durch die die Nahrung aufgenommen wird und unverdaute Teile wieder ausgestoßen werden, Geschöpfe natürlich im Wasser. In einfachster Form ist der Sack aus Zellen aufgebaut, die nach innen, dem Hohlraum zu, die Ernährung übernehmen, während die äußere Schicht sich zu einer Haut im Dienste des Schutzes und der Bewegung umbildet. Ursprünglich einzellige Wesen haben sich hier zu einer einfach aus Zellenteilung entstandenen Kolonie zusammengetan.

Die Zellen können sich verschiedenartig bei der Teilung zusammenschließen, das Pflanzenreich ist eine Richtung für sich, mit Reihen unermeßlichen Umfangs, was nicht hierhergehört; aber die Grenze zwischen Tieren und Pflanzen in den allerniedrigsten Anfangsstadien kann im übrigen nicht biologisch festgestellt werden.

Man hat das Entstehen der ersten blasenförmigen Zellenkolonien durch die Einwirkung des Wellenschlages zu erklären versucht, eine unwahrscheinliche Erklärung. Eher sind sie einfach entstanden als die einzige Möglichkeit unter Möglichkeiten. Geht man von der Zelle als einem Punkt aus, so kann man ihn sich als durch Teilung zu einer fortgesetzten Linie, einer Kette von Zellen formieren sehen, in der die Zusammenarbeit sich schnell verlieren wird; er kann sich nach allen Seiten in einer Ebene, ein Kuchen von Zellen, formieren, auch ohne praktische Zukunft vor sich; formiert er sich kubisch, in einem massiven Klumpen, so werden die inneren Zellen von der Ernährung abgeschnitten. In Wirklichkeit ist die hohle Sphäre mit einer Öffnung nach innen denn auch die einzige Kolonieform, die Bedingungen für eine Entwicklung hat.

Wenn die Zellen sich nach einem Sphärenprinzip zusammentun und zu einem Hohlraum einstülpen, befindet sich die Natur auf dem Wege zum Tier. Eine Arbeitsteilung, eine Organisation ist eingeleitet, auf so praktischer Fährte, daß sie im wesentlichen Prinzip seither nicht verlassen worden ist: Sackform mit der Ernährung nach innen und motorischer Hilfsfunktion außen. Zwei Öffnungen im Sack statt einer, eine zur Einfuhr und eine zur Ausfuhr, sind eine weitere Verbesserung, die den Grund zu dem System legt, das in Wirklichkeit bei allen zur Entwicklung geeigneten Tieren wiederkehrt, Mund, Darm und Afterloch. Die meisten primitiven Seetiere sind, recht besehen, nicht weitergekommen als zu einem solchen verdauenden Sack, wenn sie sich auch eine phantastisch variierte Ausstattung zugelegt haben können.

Innerhalb der Fortpflanzung aller Tiere kehrt diese erste Entwicklungsstufe wieder im Keim des Fötus aus dem Ei, das die Urzelle ist: die Spaltung, die Zellenteilung, aus der eine mikroskopische Blase, bestehend aus sphärisch in einer Schicht zusammengefügten Zellen, die Blastula, hervorgeht; sie stülpt sich ein und bildet wieder einen kugelrunden Körper, jetzt aber aus einer Zellenschicht bestehend, deren Innerstes der Ernährung dienen soll wie beim Urtier, während die äußerste Haut mit allem, zu dem sie sich umbildet, das äußere Wesen, die Gestalt ausmacht. Zu diesem Zeitpunkt spricht man von einer Gastrula, einem Magenwesen. Von jetzt ab geht der Fötus eigene Wege, indem er die ganze Entwicklungsgeschichte der Art durchläuft und abspiegelt, bis er selbst Art geworden ist.

Als Magenwesen hat der Fötus eine Urstufe, eine frei lebende Zellengemeinschaft in einfachster Form, abgespiegelt, zu der noch lebende Urgeschöpfe einen annähernden Typ abgeben. Haeckel suchte den Typ selbst, von dem alle höheren Wesen abstammen, und nannte ihn von vornherein eine Gasträa; seine Hypothese wird bezweifelt. Ein Zweifel kann indessen nicht darüber herrschen, daß alle tierischen Organismen sich aus dem bilden, was ursprünglich eine einfache Anordnung im Dienst der Ernährung, ein »Magen« ist. Ein Verdauungsorgan, im Bilde eines Sacktieres, findet sich als zentrale Lebensfunktion in jedem höheren Tier, den Menschen nicht ausgeschlossen, wieder.

Auf den frühesten Stufen tastet die Natur auf vielen Wegen, gerät auf weitläufige Bahnen, die sich reich nuancieren, während doch die ganze Zeit eine gewisse Mittellinie bewahrt wird; die aufsteigende Entwicklungsreihe liegt auf ihr. Um es gleich zu sagen: wenn man davon spricht, daß die »Natur« tastet, so ist das natürlich nur eine Ausdrucksweise, ein Subjekt im Satze, um die Sprache in Gang zu bekommen, die Natur hat kein eingreifendes Prinzip. Die Zweckmäßigkeit kommt von selbst, da das Unzweckmäßige zu nichts führt; Zufälligkeiten, die gegebenen passiven Naturgesetzen folgen, sind Motiv genug, um die Entwicklung der Arten voneinander zu erklären.

Hier ist ein Magen, der Nahrung fordert; es ist klar, daß der äußere Habitus, die Form, der Umgebung gegenüber von Bedeutung ist. Setzt ihn wie einen Beutel auf dem Meeresboden fest, und es bleibt der Aktivität der ganzen Welt überlassen, ob etwas hineinkommt, es setzt eine Beweglichkeit der Beute voraus: die Beute ist besser gestellt! Ja, denn sie ist ja auch ein Tier, das nach Nahrung umherschwärmt. Die Ortsveränderlichkeit des Magens ist dort ein Vorteil. Man behilft sich mit Fangarmen, aber fest sitzt man. Der frei schwebende Magen kommt von der Stelle. Ist er länglich, so eignet er sich besser dazu, durchs Wasser vorzudringen; gebt ihm Flossen, und es geht wie der Blitz; setzt Beine unter den Magen, und er geht an Land, beginnt zu laufen, erhebt sich; gebt ihm Flügel, und er erobert die Luft!

Eine Scheidelinie macht sich hier geltend: der Magen, der wartet, und der Magen, der die Bewegung in seinen Dienst nimmt. Das Meer ist voller Magentiere mit einer hohen Entwicklung des Fangapparats, von Flimmerhaaren bis zu Nesselfäden, aber festsitzenden, und da sitzen sie, Polypen, Schwämme, Weichtiere, während Fischzüge über sie hinweggehen und die Luft über dem Meere von Vögeln belebt ist. All die niederen Tiere – die Unendlichkeit des Meeres an Launen – sie sind eben nur Launen, es ermüdet den Gedanken, all diesen Seitenlinien nachzugehen, und mit gutem Grunde, sie bringen sich nicht selbst in Erinnerung, liegen nicht auf der einfachen Linie, die der Gedanke greift, wie die Natur sie griff, auf der Mittellinie, die zu den höheren Tieren führte und unseren Gedanken selbst schuf. Hier ist der »Wurm« die führende Form.

Die Bewegungsfreiheit, die Vorzeichnung einer Richtung in der Form, wies den Würmern die Zukunft an. Die Entwicklung selbst hat natürlich Zeitalter, ganze Erdperioden gedauert, beruht auf einer ungeheuer langen Anpassung und Auswahl.

Die Würmer werden wieder von den Stachelhäutern abgeleitet, Geschöpfen wie Seesternen und Seeigeln; eine besondere Abteilung, die Meerwalzen, verrät denn auch in ihrem Namen eine Annäherung an die langgestreckte Form. Die Abstammung ist in einer Arbeit von Boas untersucht. Von den einfachen Magentieren, den Cölenteraten, sind die Stachelhäuter gekommen.

Die Weichtiere, die verwandelte Würmer sind, haben die günstige Form wieder aufgegeben; die Schalenbekleidung, auf die Muscheln und Schnecken verfallen sind, hindert sie für immer an einer freieren Entwicklung; eine Auster ist im Dänischen der volkstümliche Begriff für mangelnde Intelligenz. Und wirklich, sie hat sich den Weg mit dicken Türen aus Kalk versperrt.

Ein rücklaufendes Prinzip, in der erfolglosen Richtung, macht sich auch in der Natur geltend. Eine solche Rückkehr zur primitiven Form, sogar hoch oben auf der Entwicklungsleiter, hat man in den merkwürdigen Seescheiden, die wieder Sacktiere geworden sind, festsitzenden, polypenartigen Tieren auf dem Meeresboden, aber mit einer späten, komplizierten Organisation; ihre Brut, freilebende Larven, weist auf einen ursprünglichen Ausgangspunkt hin, der schon so weit fortgeschritten war wie bei den Wirbeltieren.

 

Der Mühe wert wäre es, einige Formen der Seitenlinien durchzugehen, um zum Vergleich zu sehen, welche Versuche in bezug auf die Bewegung gemacht worden sind. Auch außerhalb der aufsteigenden Linie haben niedere Tiere – während sie sich in anderen vitalen Beziehungen den Weg zum Wirbeltier versperrt haben – die Fähigkeit entwickelt, sich von der Stelle zu bewegen, sogar eine hochentwickelte Fähigkeit, wie z.B. der zehnarmige Tintenfisch, ein Weichtier, entwicklungsmäßig gesehen in hohem Maße ein Sonderling; er erinnert in seinem Bau an einen Aeroplan, hat auf seinem Fluge eine Art Flächen entwickelt, aber am Hinterende, denn er bewegt sich mit Vorliebe rückwärts durchs Wasser, durch kräftiges Ausstoßen von Wasser aus einem Trichter vorn zwischen den Fangarmen, eine Anordnung, die an einen organisch nachgeahmten Motor, Propeller erinnert; Bewegung kann auf vielerlei Art, aber auf analogem Wege zustande kommen; die Natur hat einen Fond von Möglichkeiten, innerhalb dieser aber eine gewisse Zwangsläufigkeit. Medusen bewegen sich durch eine pulsierende Einengung des glockenförmigen Körpers, wodurch sie das Wasser hinaus- und sich selbst vorwärtstreiben, eine Methode, die nicht weit führt. Seesterne regen sich nur wenig, ein mühseliges Sichvorwärtssaugen und -heften, das naheliegend ist und auch von anderen im Tierreich angewandt wird; die Schnecke ist auf dem richtigen Wege, aber sie bleibt zurück.

Das einfache Prinzip, auf dem kürzesten Wege den Magen zum Ziele zu führen, hat der Wurm eingeführt, er reduziert sich, schematisch gesehen, zu einem Verdauungskanal, der sich in der Richtung des Futters lang macht, zu einem außen mit einer Muskulatur armierten Darm, er ist, wie früher gesagt, frei, geht selbst auf Nahrung aus, unabhängig von Strömungen im Wasser. Der Wurm krümmt sich, dringt ein, wandert, vagabundiert; und von den Würmern geht es nach der einen Seite zu den Gliedertieren, nach der anderen zu den Wirbeltieren hinauf, den beiden großen Hauptgruppen, die jede für sich die Bewegung zum Fortschritt gemacht haben, die Wirbeltiere auf dem glücklicheren Wege.

Daß die Natur nicht absichtlich, planmäßig arbeitet, geht aus solchen Zügen hervor, wie daß die Eingeweidewürmer, z.B. die Bandwürmer, auf dem von ihnen gewählten Wege sogar das Grundmotiv selbst, den Magen zugesetzt haben; das Wünschenswerte, sich dorthin zu bringen, wo Nahrung zu finden ist, bewahrt bei den Eingeweidewürmern eine praktisch bohrende Form, aber der Verdauungskanal selbst verschwindet als unnötig, das Tier ernährt sich mit dem ganzen Körper, von außen, da es in der Nahrungsflüssigkeit eines anderen Tieres lebt, es ist zu einem Prinzip vor dem Magentier zurückgekehrt; die Natur hat ebensowenig Absichten, wie das Wasser die Stelle sucht, wo ein Loch im Deiche ist.

Aus den Würmern entstehen die eilenden Fische. Der Torpedo entleiht seine Form von ihnen, Steifheit und Zuspitzung an beiden Enden geben die größte Schnelligkeit durchs Wasser; und hier endet der Fisch seine Bahn. Geschmeidiger ist der Aal, er hat sich etwas mehr vom Wurm bewahrt. Man muß nicht zum Fisch, sondern zu einer Stammform zurückgehen, um zur Menschenlinie zu gelangen, zu einer Art Fischwurm, der an Land geht und seine Flossen zu Gliedern umbildet. Durch Winden und Schlängeln kommt das Geschöpf vorwärts, steif hält der Fisch sich und bleibt, wo er ist. Aber dem Magen läuft man nicht weg, im Gegenteil, mit ihm kommt man erst dorthin, wo es etwas gibt, von dem man leben kann.

 

Es kann nun kein Zweifel herrschen, daß alle übrigen Organe, die sich um den Magensack gruppieren, Eingeweide, Blutkreislauf und Nerven, sowie der ganze äußere Mechanismus, die Glieder, die Sinne, nur eine sehr zusammengesetzte Hilfsmaschine sind, geformt für den allerältesten, einfachen Zweck: die Ernährung. Was anfangs nur eine Schleimhaut und ein Hautüberzug unter sichtbarer Größe war, wurde später immer komplizierter, je mehr der Sack wuchs und forderte, und je schwieriger das Problem und der Wettstreit um die Ernährung ward. Selbst der höchste und schönste Apparat der Entwicklung, wie wir ihn von Säugetieren und Vögeln kennen, die Fähigkeit zu Lauf und Sprung, Flug, vollkommene Bewaffnung, herrliche Zähne, Schnäbel und Klauen, feinster Geruch, Ohren wie die der Fledermaus, allessehende Augen, Kraft und List – wozu sollte das sonst dienen als zu dem täglichen Ziel: den Magen zu füllen? Man pflanzt sich fort, viele interessante Umstände, Kunst und Gewalt, die höchsten Äußerungen der Natur in Blüte auch hier aufgeboten, aber nur, um den Jungen dasselbe unveränderte Ziel zu vererben: den Magen zu füllen. Der Tiger, in physischer Beziehung ein Meisterstück der Natur, prachtvoll, erhaben gestellt, den meisten Geschöpfen überlegen – welch andere Aufgabe will man nachweisen als die tägliche blutige Mahlzeit?

Erst vom Menschen kann – mit Vorsicht und nicht von allen – gesagt werden, daß er sich über seinen Magen erhebt, insofern er Überlegung ausgebildet hat und sich mehr sichern, als was er jeden Tag für seinen physischen Unterhalt braucht, sich mit Freimachung von Zeit und Kräften auf anderen Gebieten entfalten kann, eine Tätigkeit, die über die Notdurft des Tieres hinausgeht. Aber selbst als Kulturwesen wird der Mensch sich kaum je darüber erheben, zu essen, jedenfalls nicht darüber, sich zu ernähren. Hier ist die Begrenzung des Geschöpfes, wie es sein Ausgangspunkt war; hört man auf, sich zu ernähren, so muß man zweimal sterben, als Individuum und als Art.

Ein großer Teil von dem Überschuß, den der Mensch an Fähigkeiten besitzt, geht in weitverzweigter sozialer Umbildung auf die Ernährung aller aus, ist zwar noch »Magen«, aber in einem höheren, organisierten Plan, nicht mehr Jäger und Jagd, sondern Gesellschaft und Ernährungsmöglichkeiten. Die Bewegung, die Bewegungsfähigkeit – man beachte, wie geschärft und erweitert sie im Dienste der Menschheit ist, aus dem kriechenden Wurm ist der Verkehr geworden.

Erst der freie geistige Überblick, den der Mensch ausbildet, das Bewußtsein von seinem Platz in der Natur, die Entfaltung von Fähigkeiten als Ziel für sich, eine sehr späte und bei weitem nicht von allen Menschen gemachte Erwerbung – die meisten gehen ganz ungekünstelt an die Sache heran, eine Wurst in der einen und ein Glas Bier in der anderen Hand –, erst die Erfahrung (laßt uns auch nicht sentimental sein), daß die Mahlzeiten doch nicht den ganzen Tag ausfüllen, sondern daß der Rest sich zu Arbeit und Nachdenken eignet, ist im Begriff, das Gleichgewicht zu verschieben; der Schwerpunkt liegt eher im Hilfsorgan, beziehungsweise dessen Zentrale, dem Kopf, als in der ursprünglichen animalischen Eingebung.

Mit dem Urtier gehen wir noch in unserem Innern, aber gezügelt, zu Appetit reduziert, während sich unser oberes Wesen als Mensch im Geschmack, in immer mehr übertragener Bedeutung, äußert und sich im übrigen überall sonst als bei Tische bemerkbar macht.

In der Sichloslösung von der Anlage, die ursprünglich nur von der Verdauung diktiert war, sind die nächststehenden Tiere dem Menschen ein weites Stück auf dem Wege gefolgt.

Es ist dieser Aufmarsch zum Menschen, immer mit der Erinnerung an das Sacktier in der Mitte, dem hier bruchstückweise nachgegangen werden soll. Gleichzeitig soll nachgespürt werden, wann das Bewußtsein, die innere Figur für die Entwicklungsstufe, die Seele, sich äußert, so daß man sie erkennen kann, und wie sie sich während ihres langen, vorwärtsschreitenden Wachstums gestaltet.


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