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Die Schöpfung und die Zeit

Der Mensch hat seinen Ursprung aus und zwischen verwandelten Tieren. Das letzte Kapitel der langen Umformungsgeschichte der Tiere, im Zusammenhang mit den Zeitaltern der Erde, ist die Einleitung zur Geschichte des primitiven Menschen.

Das Bild von den Übergängen innerhalb des Tierreiches zeigt sich uns in Verkürzung, ist Zug für Zug auf dem Wege der Forschung zusammengestellt. Man kann es sich sozusagen auf einmal, durch einen mentalen Verdichtungsprozeß, in einer augenblicklichen Betrachtung von Zeiträumen und Veränderungen vorstellen, die in Wirklichkeit Millionen und Abermillionen Jahre gedauert haben. Das, was an einer Stelle an Wissen gesammelt ist, läßt uns die Schöpfung in der Zeit – nicht allein, wie sie zu jeder Zeit war, sondern während der Verwandlung, auf dem Wege von einem Tier zum anderen – sehen, in einer Fiktion, in Begriffen und Figuren, aber doch gerade so, wie die Verwandlung sich wirklich zugetragen hat und nicht anders.

Ein wirklicher, aber im Grunde unfaßbarer Umstand hierbei ist die Zeit.

Wir können uns keine auf unmittelbarer Wahrnehmung beruhende Vorstellung darüber bilden, wie schwindelnd lange das alles her ist. Für die Zeit oder den Verlauf von Zeitmaßen hat der kurzlebige Mensch keinen Maßstab in sich. Es sind uns Organe zur Auffassung von Licht und Laut gegeben, wir können uns Form und Stofflichkeit der Dinge, Wärmegrade durch das Gefühl, verschiedenartige Wahrnehmung aneignen, wie man auch einen Sinn für Gleichgewicht hat; wir können die Zusammensetzung der Stoffe schmecken, ja, sie auf ziemlich große Entfernung durch ihren Geruch unterscheiden, eine Reagenz, so haarfein, daß die Chemie keine feinere hat; ich weiß nicht, ob man einen Duft wiegen kann, aber es gehören sicher besonders genaue Instrumente dazu; der Zeit gegenüber aber haben wir nur eine vage, erfahrungsmäßige Gewißheit, daß sie »geht«. Primitive Menschen haben eine andere Zeitvorstellung als moderne Menschen, eine gewisse Entwicklung macht sich auch hier geltend. Zu verschiedenen Zeiten fassen wir die Zeit verschieden auf, in der Jugend sind wir in ihr, der Ewigkeit, solange sie dauert, die Zeit geht, hinterläßt aber keine Eindrücke; mit dem Alter verliert alles an Dauer, dafür erscheint der Augenblick reicher, kostbarer, läßt sich aber nicht festhalten. Mathematik, Zahlengrößen schieben andere Figuren an Stelle der Zeit ein, geben sie aber nicht selber.

Der innere, relative Eindruck von Zeit muß wohl vom Zustand des Gewebes abhängen. Womit man rechnet, Nacht und Tag, Umlaufszeit von Mond und Erde, das ist Almanach, Wachstum hingegen ist ein Tempo, in dem wir leben. Mit jungen Zellen und einem im Wachsen begriffenen Organismus steht man in einem anderen Rapport zum Dasein, als wenn die Erneuerung des Gewebes langsamer und absteigend ist, das Gefühl muß ein anderes sein, man erhält eine andere Botschaft aus seinen inneren Provinzen; aber die Zeit ist doch wohl die ganze Zeit dieselbe, Junge und Alte werden von derselben Zeitspanne begleitet, mit je einer bedeutend verschiedenen Auffassung von der Dauer. Die Zeit klafft im Universum, man kann damit rechnen, wie lange ein Berg braucht, um niederzuerodieren, ein Nichts im Verhältnis zu der Sonne und den Perioden der Sterne – was ist Zeit? Alles in allem gibt es weder Jugend noch Alter in dem, was wir Zeit nennen, es gibt ein Vorher und ein Nachher, eine Zeitfolge, die durch die Beobachtung des Aufstiegs und Verfalls der Dinge entsteht. Betrachtet man eine Funktion derart, so kann man die Zeit auf dem, was sie auch sein mag, beruhen lassen. Jedenfalls ist hinterher weder mehr noch weniger als hinterher, sei es nun kurz oder lange. In ihrer Verlängerung gesehen ist selbst die unendliche Linie nur ein Punkt. Eine innere Anschauung empfindet entschwundene Zeit ebenso nahe wie gegenwärtige.

Soll man aber die Entwicklung und ihre Abhängigkeit von der Zeit festhalten, so ist es notwendig, mit den großen Zeiträumen als einer Realität, einer Bedingung zu operieren, genau so lange müßten Aufstieg und Verfall fungieren, damit wir uns die Formen und ihre Umbildungen erklären könnten.

 

Macht man sich unmittelbare, elementare Vorstellungen von der Entwicklung, so fällt in die Augen, daß alle die frühesten Stufen noch neben den spätesten innerhalb ganz derselben Zeit existieren; man kann sich an einem Sommertage von der ganzen Stufenreihe auf einmal umgeben fühlen.

Die Fliegen, die heiß an der sonnenbeschienenen Mauer summen, und die Libelle, die mit Feuer auf den Flügeln vorbeischwirrt, das sind Wesen, die den fernsten heißen Urperioden zeitgenössisch sind, unverändert seit damals, im wesentlichen aber einer Periode angehörend, als die Abkühlung der Erde noch nicht so vorgeschritten war, wie sie es jetzt ist. Die Insekten waren, als der Mensch in seiner Entwicklung noch nicht weiter entfaltet war als zu einem salamanderartigen Geschöpf in den heißen Sümpfen jener Zeit. Der Frosch, der vor Wohlbehagen in seinem Schlamm um die Mittagszeit im Moore stöhnt, ist noch ein Bürger dieser Amphibienwelt, wo das Geschöpf sich in und außer dem Wasser wohl fühlt.

Der Storch kommt angesegelt, seinen Schatten tief unter sich auf dem Moore, das Gespenst einer Vergangenheit, der Storch ist von schwindelnd altem Ursprung und in der Reptilienzeit zu Hause; und seine gewohnte Atmosphäre sucht er jedes Halbjahr in Afrika, wo die Hitze sich gehalten hat, aber im Norden brütet er, denn von hier ist er gekommen, vor Jahrmillionen.

Die Kuh steht im Tüder: ein gezähmter Wiederkäuer. Das Kalb, das eine frühere Stufe widerspiegelt, gleicht ganz dem kleinen Anoa aus Celebes, von einigen Zoologen eine Antilope, von anderen ein Büffel genannt: Alter und Abstände, die sich der Phantasie eröffnen, das Fließende in der Abstammung, die Arten, die ineinander übergehen. Der Bauersmann treibt seine Gäule an, der Herr der Schöpfung; dicht dabei, in der Torfgrube, kriecht die Amöbe auf einer Wasserpflanze: die Extreme, die sich treffen, alle Entwicklungsstufen, Urzeit und Gegenwart, innerhalb derselben Sekunde! Der Beginn ist ebenso gegenwärtig wie der Schluß, und doch liegen ungeheure, vollkommen unübersehbare Zeiträume dazwischen.

Einige Arten bleiben auf einer frühen Entwicklungsstufe und gehen weiter als verlassene Formen, eine Verwandlung an Ort und Stelle, während andere sich von der Stufe entfernen und in neue hinüberentwickeln; Zwischenformen halten sich, Varianten, jedoch nicht alle; viele »Versuche« sterben aus und sind nur aus fossilen Funden bekannt, keine aber, die nicht in irgendeinem leicht wiedererkennbaren Verwandtschaftsverhältnis zu lebenden Arten steht; die Abstammung macht scheinbar Sprünge, hinterläßt aber keine Zweifel, daß alle Glieder existiert haben. Der Bauersmann würde sich so dagegen wehren, in gerader Linie vom Schleimklumpen im Torfmoor abstammen zu sollen, daß er schließlich zur Rammkeule griffe, ein Argumentum humanum; und doch bietet ein Studium aller existierenden Glieder keine Möglichkeit für eine andere vernünftige Erklärung.

In Rekonstruktion und Verkürzung nimmt die Verwandlung der Tiere sich wie eine Art natürlichen Zeichenfilms aus; und als Zeichenfilm sollte man versuchen, die ganze Entwicklungsreihe darzustellen, etwas für das Auge und die Erziehung, da die gradweise Formveränderung an Stelle der Bewegung träte; das würde endlich einmal ein sehenswerter Film werden.

Das Auftreten der Tiere auf Erden gleicht einem jagendem Gastspiel durch die verschiedenen Erdperioden, sie galoppieren über sich selbst hinaus als Art und in ganz andere Gestalten hinein, und das ungeachtet des Umstandes, daß es kaum möglich gewesen wäre, den geringsten Unterschied von einer Generation zur anderen zu prüfen. Aber die Zeit macht es, hunderttausend Generationen machen es, sie verwandeln sich immer, beginnen eine neue Diät und passen das Gebiß an, wechseln Element und aus dem Anlaß Glieder – zuweilen wieder zurück, wie der Wal –, sie verbreiten sich über einen Weltteil und nehmen an Größe zu oder sterben plötzlich aus: Blendwerk, wenn auch völlig handgreifliches, Prozessionen von Tieren in allen Formen, die sich auf Erden zeigen und sich in Hast und Eile mehrmals ummaskieren, bis sie entweder wieder verschwunden oder in scheinbar ganz anderen Geschöpfen aufgegangen sind. Wer sollte sich vorstellen, daß der Ameisenfresser, ein phantastisches Tier aus der Ordnung der Zahnarmen, daß er ursprünglich von den Insektenfressern gekommen ist, eine Umbildung also von einem spitzmausähnlichen Tier? In der Erde gefundene Zahnarme sagen es.

Die Erdschichten, in denen man die versteinerten Züge all der ausgestorbenen Zwischenglieder findet, zeugen mit ihrem erhärteten klingenden Klang dafür, wie lange es gedauert hat und wie lange es her ist. Schlamm und Teile mikroskopischer Kleintiere haben sich mittlerweile in einem Meere, dem unermeßlichen Stundenglas der Natur, zu Boden gesetzt, samt Überresten größerer Tiere, die dort versunken sind. Das Meer trocknete aus, der Boden versteinerte, lagerte sich später um und wurde hochgeschraubt zu einem Gebirgsprofil, aus Schlamm wurde Schiefer in Schichten von mehreren hundert Metern – und das alles dauerte genau so und so lange und ist so und so lange her! Berge erodierten und wurden zu Sand, dem Ende aller Berge, der Sand ist zusammengekittet, verhärtet und zu Sandstein geworden, daraus sind wieder Berge entstanden, die wieder anfangen können zu erodieren und Sand zu werden, zum zweitenmal! Alter Meeresboden ist in Sandstein gefunden, mit Spuren von Tieren, die, vor mehreren Erdperioden, den Strand entlang im Sande gegangen sind!

Huldigung den Geologen, den Zoologen, die das schwierige Palimpsest der Erdgeschichte gedeutet haben! Ein glückliches Völkchen, das mit dem Hammer in der Hand und unter offenem Himmel in den Tafeln der Natur geblättert hat, Bergsteiger und Wahrheitssucher, Leute wie Humboldt, Lyell, Cuvier, Paläontologen, die der Natur selbst ihren Zusammenhang ablasen. Ihre Gedanken zu heben ist leicht – nach ihnen; und doch gibt es noch Leute, die darunter stöhnen oder die einfache Erklärung zurückweisen, zum Vorteil für von Pfuschern übernommenes Pfuschwerk.

Niels Steensens, eines Dänen, soll man gedenken als dessen, der zum ersten Male aus in der Erde gefundenen Haizähnen den natürlichen Ursprung von Versteinerungen und ihren Platz in der Naturgeschichte erkannte.


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