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Neuntes Kapitel

Die Tage kamen und wechselten, die Wochen, die Semester, und mit ihnen die Bänke, die Klassen, die lateinischen und griechischen Autoren. Wie ein nächtliches Traumbild um die Mittagsstunde lag es schon hinter mir, daß ich mit Philipp Imhof in seiner Vaterstadt gewesen, und wie durch einen Nebel bewegten sich die schwarzen Zylinder, Blumenhütchen und Sonnenschirme in meiner Vorstellung über die besonnten Kieswege des Gartens mit dem vergoldeten Gitter.

Jede Zeit hat ihren Inhalt, doch von mancher vermag die Erinnerung ihn leicht, von mancher schwerer zu fassen. Es gibt farblose Jahre, wie Gegenden; während wir hindurchschritten, blühte es uns heimlich zur Linken und zur Rechten, daß Aug' und Sinne freudig darauf verweilten; wir bestaunten manches Neue, Seltsame; Sonnenträume und Wolkenbilder wechselten unablässig über der Landschaft. Aber hinter dem Rückschauenden liegt sie dennoch im Großen mit einer gewissen gleichmäßigen Eintönigkeit und regt nur die Empfindung, daß der Fuß, nie innehaltend, ein geraumes Stück Weges durch sie hin zurückgelegt.

Und doch, wenn wir so die Höhe eines Geländes erreicht haben und den Blick noch einmal rückwärts schweifen lassen nach der grauen jenseitigen Bodenschwellung am Horizont, von wo der Weg uns herübergeführt, da geschieht es trotzdem stets mit einem dunklen Gefühl, daß es ein andrer war, der vor einer Weile da drüben stand und über die vor ihm verschleiert sich dehnende Niederung vorausblickte. Unmerklich sind Wegesbegleiter seitdem gekommen, von denen der jenseits Stehende noch nichts ahnte, und haben sich dem Klopfen des Herzschlags, den Gedanken, Hoffnungen und Wünschen des Kopfes angeschlossen, sind ihnen untrennbar zugehörig geworden, als hätten sie von je ihre Werkstatt dort gehabt. Andere aber sind ausgezogen, um nie wieder zu kehren, schon halb, schon ganz vergessen, wie niemals gewesen. Es ist ein Aufsprießen und Abwelken, ein Sterben im Leben fort und fort. Aber der Jugend kommt das Verdorrende nicht zum Bewußtsein, weil ihr Reichtum der unerschöpflichen Kraft des Urwaldes gleicht, der seine stürzenden Trümmer unter immer neu aufwachsenden Wundern verbirgt, und das Sterben bleibt unbemerkt, weil es keinen Lebensfaden plötzlich zerreißt, sondern ihn nur allmählich lockert, verdünnt, unscheinbarer macht, sein Verschwinden gleichfalls unter der Fülle neuer Einschläge verbirgt. Erstaunt dann blicken wir eines Tages zurück, doch wir sagen uns nicht, daß unser Fuß über Gräber hingegangen, daß wir selbst zu gleichgültigen Totengräbern an Menschen, Gegenständen, Empfindungen und Hoffnungen geworden, die wir einst gehegt und geliebt, sondern wir zucken die Achsel: Sie hätten sich im Lauf der Zeit verändert und – naturgemäß – wir mit ihnen.

»Siehst Du, Reinold Keßler,« sagte Erich Billrod, »so belügt der Mensch sich selbst und stirbt unablässig, ohne es zu ahnen. Was bist Du, was ist Dein eigentliches Selbst, das Dich von allen Andern unterscheidet? Deine Hand, die Stütze Deines körperlichen Daseins, die Dir zu allem Tun unentbehrlich ist? In wenig Jahren ist sie gestorben, denn keine Zelle von ihr blieb dann die nämliche. Ist's das Blut, das Dein Herz ausströmt und wieder einsaugt? Es stirbt, denn es wechselt wie jeder andere Bestandteil Deines Leibes. Und so tötet der Fortschritt Deiner Kenntnisse, Deiner Bildung, Deines Verstandes von Tag zu Tag die bisherigen Anschauungen, Meinungen, Folgerungen Deines Gehirnes, Deine Grundsätze wandeln sich um, Deine Neigungen erlöschen und andere glimmen empor. Alles, was Du als Dein auszeichnendes Eigentum, als Dein unterscheidendes Selbst betrachtest, stirbt, nicht plötzlich, doch Stück um Stück Neuem Raum schaffend, während die Leute sagen, daß Du der Alte bist, daß Du in Lebensfülle stehst, und Dich mit demselben Namen benennen. Was ist denn Dein Ich? Keime, die rastlos aus Moder treiben, um wieder zu vermodern, lang' ehe die Zeitung Freunden und Bekannten die betrübende Mitteilung macht, Du seiest tot. Nur die Narrheit, Heuchelei und Erbärmlichkeit in den Menschenköpfen sind unsterblich, sie wandern seit Anbeginn über die Erde, wie die Wellen da, und nagen, wühlen und höhlen an den Schutzdämmen der Menschheit, die das Herz und die Vernunft ihr, immer reparaturbedürftig, aufgerichtet haben. Es ist, wie man eine Geldmünze aus einem Zauberkasten umdreht, Gold und Blei, ein Mensch zu sein, aber jedenfalls ist der Urheber dieses Kunststückes kein großer Zauberer in meinen Augen.«

Wir lagen in einer Tangbrüstung an der offenen, glänzenden See; die Wellen kamen, wie gleichmäßige Atemzüge des Meeres, und rollten zu unseren Füßen auf den Sand. Rechtshin zog sich die Hafenbucht der Stadt landein, das jenseitige Ufer schwand undeutlich in bläulichem Duft. Als Erich Billrod schwieg, erwiderte ich:

»Doch weiß ich eines, das nicht in mir gestorben, seitdem es zu leben angefangen, und erst mit mir selbst sterben wird.«

»Und das wäre, Reinold?«

Meine Liebe zu Dir.«

»Glaubst Du?« – Erich Billrod drehte den auf die Wellen hinausgewandten Blick zu mir herum. »Also das wäre ein perpetuum mobile für Deine Brust? Ich muß Dich zunächst philologisch verbessern, denn mindestens stirbt die Liebe, von der Du sprichst, nicht erst mit Dir, sondern um einige Zeit zuvor schon mit mir, da Du weißt, daß ich ein paar Jahrzehnte früher als Du Anwartschaft darauf habe. Das war ein Betrug, den Dein Kopf Dir spielte, Reinold Keßler, der sich schnell feststellen ließ. Welche Fehlerquellen noch in Deinem Herzen verschlossen warten, wird die Zukunft zu Tage fördern. Die Italiener haben ein Sprichwort, daß nur der glücklich sei, der in den Windeln gestorben; mache ein deutsches, ein für die ganze Menschheit gültiges daraus, nur das Gefühl sei ein wahrhaft beglückendes gewesen, das in jenen Windeln gestorben. Es klingt paradox, daß der Tod notwendig ist, um Unvergänglichkeit zu erzeugen, aber es ist so wahr, wie die Gewißheit, daß die Göttergestalt der Venus von Milos nicht auf uns gekommen wäre, wenn eine barbarische Hand sie nicht frühzeitig herabgestürzt und uns ihre Schönheit Jahrtausende lang unter Schutt und Trümmern bewahrt hätte. Was in der Erde liegt, bleibt jung und unwandelbar, und unser eignes Altern kann es nicht mehr mit Furchen überziehen. Sieh, da scheidet die Sonne Homers, wir wollen sie grüßen, Reinold!«

Er sprang auf, nahm, an die Wellen hinuntertretend, den Hut von der Stirn und ließ sich das Haar vom Wind durchstreichen, der, wie ein Gruß von dem rot versinkenden Ball herüber, aufschauernd herankam. Eine Weile stand Erich Billrod so abgewendet, dann setzte er sich neben mich auf die Tangbrüstung zurück.

Er war mir oft ein Rätsel, war's mir stets durch die Jahre geblieben, wie seit dem ersten, schon unendlich fernen Tag, an dem seine Hand sich in der Dämmerung vor unserm Hause auf meinen Scheitel gelegt. Ich konnte mir kein Leben ohne ihn denken, ohne seinen Rat, seinen Trost, seine Hilfe. Was ich an Dingen, die für mich Wert besaßen, wußte, entstammte von ihm; selbst die Gedanken, welche in der Einsamkeit meinem eigenen Kopf entsprangen, schienen mir nur aufgehende Saatkörner, von ihm unbemerkt in mich hineingestreut. Wie das Wasser zweier Flüsse von verschiedener Schnelligkeit und Klarheit im Zusammenströmen nebeneinander hinläuft, ohne sich zu vermischen, so beherbergte ich seine Anschauungen, Denkart und Urteile nebeneinander mit den Lehren der Schule und besaß die letzteren nur für die Klassenstunden oder die Fragen des Doktor Pomarius, gedächtnismäßig, den Antworten eines Automaten ähnlich. Erich Billrod schien nie zu lehren, und doch fühlte ich jedesmal, wenn ich von ihm ging, daß ich gelernt, ihn wie mit einem spielend mir dargebotenen Geschenk verlassen hatte. Und wie in mir, empfand ich das nämliche an Magda Helmuth, unserer oftmaligen Begleiterin, sobald wir nicht weitere, für sie unmögliche Fußwanderungen unternahmen. Auch sie war ein Spiegelbild seiner Eigenart, ein lebendes Schriftwerk seines Kopfes und Herzens, nur in ihrer stillen, nachdenklichen Weise vielleicht noch aufmerksamer, gegengewichtsloser von ihm beeinflußt, als ich. Jedes seiner Worte blieb ihr im Gedächtnis, sie hing mit zärtlicher Liebe an ihm und nahm seit Jahren stets an unseren nachmittäglichen Zusammenkünften in seinem Zimmer teil. Wir bildeten dort eine Familie, deren väterliches Oberhaupt ›Onkel‹ Billrod war – Frau Helmuth nahm für uns alle die unbestrittene Stellung einer Großmama ein – Magda und ich aber wußten kaum mehr, daß wir uns einst scherzweise zu Geschwistern gemacht. Wir nannten uns nicht allein Bruder und Schwester, sondern waren es, setzten keinen Zweifel darein, daß wir es nicht seien. Es gab kein Vertrauen, das wir nicht teilten, keine Freude, wenn nicht der andere sie mit besaß. Wie bei der selbstverständlichen, unbewußten Schonung eines eigenen verwundeten Armes, war es mir auch zur eigenen Natur geworden, in jedem Augenblick ohne bestimmte Gedankenrichtung zu empfinden, was Magdas Gesundheitszustand erlaube und fordere, was sie dürfe und was ihr zu schaden vermöge. So von ihrer Großmutter, von Erich Billrod wie von mir, den einzigen drei Menschen, mit denen sie zusammenlebte, sorglich vor jeder Schädlichkeit behütet, wuchs sie kräftiger auf, als der Arzt zu hoffen gewagt hatte. Sie blieb nicht hinter den Mädchen ihres Alters zurück, nur ihr Gang behielt das Schleppende, wie einst, ermüdete sie bei größerer Anstrengung und rief oft plötzlich das warnende Herzklopfen wach. Dann lag wohl eine Minute lang auch der schwermütige Duft wieder über ihren Augen, doch unter unseren besorgten Fragen sank er ebenso schnell wieder ab, zerging wesenlos wie ein Wölkchen, das die Sonne am blauen Himmel aufsaugt.

Warum schloß Erich Billrod sich fast von allen Menschen der Stadt ab, die ihn als einen Sonderling, einen rücksichtslosen, unfeinen, spöttischen und frivolen Beobachter mieden, fürchteten und verdammten – die ihn gefeiert und bewundert haben würden, wenn er sich nur den Zwang auferlegt hätte, seine Mißachtung und seinen Widerwillen gegen sie zu verbergen – und ließ im ausschließlichen Verkehr mit uns seine andere Natur zu Tage treten? Warum lebte er in einer Stadt, in der nichts ihm Zuneigung einflößte, als zwei Kinder, und warum häufte er auf diese, unausgesprochen noch mehr als in klar ausgedrückten Worten, den ganzen Wärmereichtum seines Herzens? Freilich bei Magda bedurfte es keines anderen Grundes als ihres eigenen Wesens. Wer konnte sie sehen, ohne sie zu bemitleiden, sich an ihr zu freuen und um sie trauern, ohne sie lieb zu haben? Sie war ein Pflänzchen, dem von der Natur bestimmt worden, schlank und freudig in die Luft empor zu wachsen, doch im ersten Frühling hatte der Schnee sich auf sie gelegt, sie auf den Boden zurück gedrückt, und nur der Blütenkelch ihres Antlitzes vermochte sich so zart und lieblich zu entfalten, wie er sich auf dem schlanken Stiel zu wiegen berufen gewesen. Vielleicht duftreicher so über dem gehemmten Blätterwuchs und der liebevollen Pflege des Gärtners höher an Wert, als andre, deren Kraft ausreichte, sich selbst der Sonne zuzuwenden und sich ihr volles Teil an der Daseinsfreude zu erobern. Erich Billrod hatte ein schwermütigeres, bezeichnenderes Gleichnis für Magda Helmuth gebraucht, das mir nie aus dem Gedächtnis entfiel; sie war ein weißer Schmetterling, der im Schatten nach Sonnenuntergang flog.

Aber warum liebte Erich Billrod mich? Was war ich ihm, jetzt und dereinst, konnte ich ihm jemals bieten? Ich fühlte, daß ich immer, wie die Jahre kommen mochten, hinter ihm in demselben Abstand zurückbleiben müsse, ihn nie erreichen werde, um selbständig, nicht nur nehmend, sondern gebend neben ihm zu stehn.

Schon manchmal hatte ich ihn vergeblich gefragt, wenn auch nicht mit graden Worten, ich tat's heut noch einmal. Der Wind schauerte die Dämmerung über's Wasser und warf uns den Schaum der rollenden Wellen ab und zu leissprühend ins Gesicht, und ich fragte plötzlich:

»Warum liebst Du mich, der nichts ist und nicht imstande ist, Dir etwas zu geben?«

Er blieb der unvermuteten Anforderung gegenüber eine Weile stumm, ich fühlte nur mehr, als ich es sah, daß seine Augen auf mir ruhten. Dann lachte er in dem Tone, der mir besagte, daß ich keine Antwort erhalten würde, und erwiderte:

»Du mußt Psychologie studieren, Reinold Keßler, da wirst Du erfahren, daß man nicht diejenigen liebt, von denen man empfängt, sondern die, welchen man gibt. Und kommst Du zu einem Philosophen vom Fach in die Lehre, wird er Dir Deine Frage dahin kommentieren, die Liebe sei blind, unberechenbar und eine unbegreifliche Torheit, ein Fall, der halbwegs auf uns paßt, denn ein Auge muß ich Dir gegenüber dann und wann zudrücken. Es kommt indeß auch vor, daß die Liebe sehend und klug ist, Leute wollen das erlebt haben. Sonst weiß ich Dir keinen Aufschluß zu geben, als daß wir vielleicht einmal während der Seelenwanderung, die noch das Klügste aller transzendentalen Hirngespinste ist, auf einem andern Steine zusammengetroffen sind, von dem her ich Dir für etwas Dank schulde, den ich Dir hier unten mit dem unbewußt abtrage, was die Menschen Liebe benennen. So wird überhaupt diese philosophische unbegreifliche Torheit vermutlich zusammenhängen.«

Ich hatte heut im Dunkel mit den rauschenden Wellen unter mir Mut und versetzte:

»Du sprichst anders, als Du denkst; daß Du lachst, ist keine Antwort und keine Wahrheit.«

Doch ich erschrak, denn er fuhr heftig auf: »Wer gibt Dir ein Recht, Wahrheit von mir zu verlangen, Reinold Keßler? Gäbe ich sie Dir, wer weiß, ob in ihrem Spiegel die Liebe sich nicht als ein tötlicher Hohn erkennen und in Haß umwandeln würde!«

Der Wind brauste, rieselndes Gestein rollte unsichtbar mit dem Wellenschlag vorwärts und zurück, mit beklemmter Brust saß ich, ins Dunkel horchend, stumm und antwortlos. Dann sagte Erich Billrod freundlich, offenbar mit ausgestrecktem Arm vor sich hinunterdeutend:

»Das da kann sehr zornig werden und ist dann höchst unvernünftig, wie alle zornigen Geschöpfe. Ich glaube, es spürt heut abend Lust dazu – wir wollen ihm aus dem Wege gehen, Reinold – das Richtigste, was man der Unvernunft gegenüber tun kann.«

Er stand auf, legte den Arm um meine Schulter und wir gingen zur umdunkelten Stadt zurück.

*

Die letzte Charakterisierung des Wassers sollte sich uns nach einigen Tagen als zutreffend bestätigen. Es war ein schöner Sommernachmittag, vermutlich der eines Sonnabends, als ein schulfreier, und Erich Billrod, Magda und ich segelten, wie oftmals, in einem Boot auf die Hafenbucht hinaus. Eigentlich ließ es sich kaum so nennen, die Segel spannten sich nur leise in der fast windstillen Luft, und Erich Billrod und ich ruderten, hielten inne und trieben eine Weile auf der spiegelnden Fläche. Um uns lag die Welt friedlich und heiter, ein Podiceps zog, sich langhalsig umblickend, vor uns auf, tauchte unter und schoß hinter unserm Steuer wieder in die Höh'; darüber stieg das Spiegelbild des grünen Kirchturms so tief und so klar ins Wasser hinab, wie sein Goldknauf ins Blaue aufragte. Auch Magdas über den Kahnbord vorgebeugtes Gesicht kam aus der Tiefe wieder zurück und schaukelte langsam neben uns her. Es hatte leicht rot überhauchte Wangen und helle Augen, denn die Seeluft tat ihr allemal wohl und färbte ihre Züge mit frischerer Gesundheit. In Wirklichkeit sahen wir uns nicht an, aber von drunten blickten die Bilder uns gegenseitig ins Gesicht. Sie lächelte und strich manchmal mit ihrer zartfingerigen Hand kurz über die Fläche, daß diese sich in kleine Kräuselwellen verwandelte und ihr Bildnis darunter verschwand. Doch dann kam es, wie aus Nebeln tauchend, wieder, allmählich deutlicher, voll und ganz, und ihre Augen nickten mir zu. Es war ein hübsches Spiel und ein träumerisches Spiel, grad' wie es für die weiche, träumerische Sonnenluft paßte.

»Aufgepaßt, Reinold!« kommandierte Erich Billrod jetzt, »es kommt Ostbrise.« Flimmernd, leicht dunkel gewellt zog's aus der genannten Richtung über die Glätte daher, der Wind bauschte im nächsten Augenblick die Segel, deren Umlegung mir oblag, und wir flogen luftiger dahin. Unser heutiges Nachmittagsziel bildete eine kleine Insel, etwa tausend Schritt vom jenseitigen Ufer entfernt und kaum tausend Schritt auch im Umfang haltend. Ein winziges Eiland mit einigen Bäumchen und Gartensträuchern darauf, das Frau Helmuth, oder vielmehr Magda gehörte, denn der Vater der letzteren hatte es einstmals gekauft, um während seiner Abwesenheit auf Seefahrten für seine Mutter, Frau und Tochter eine Sommerwohnung dort einzurichten. Dann waren nur die Großmutter und Magda übrig geblieben, und sie hatten die Insel und das darauf befindliche Häuschen an Bewohner des gegenüberliegenden Fischerdorfs vermietet, um ihr kleines Einkommen dadurch wenigstens um ein Geringfügiges zu vermehren. Ab und zu war, besonders auf Anraten des Arztes, der die Zuträglichkeit der Seeluft für Magda erkannte, die Rede davon gewesen, daß sie, zum mindesten für die Sommermonate, auf die Insel hinausziehen wollten, allein die Schwierigkeit des Umzugs und die gleichzeitig daraus erwachsende pekuniäre Einbuße hatte jedesmal hingereicht, den Gedanken ebenso schnell, wie er entstanden, wieder fallen zu lassen, zumal da Magdas Befinden in den letzten Jahren keine sich steigernde Besorgnisse einflößte. Bei der Entfernung von der Stadt, die immerhin eine Stunde betrug, kamen wir jedoch nur selten, stets unter der Bedingung günstigen Windes für die Hin- und Rückfahrt, auf das kleine Eiland, und es bildete immer ein Fest für uns, wenn Erich Billrod ankündigte, daß wir die Insel besuchen wollten. In diesem Jahre geschah's zum erstenmal, und wir blickten der näher Kommenden mit freudiger Erwartung entgegen.

Sie lag auch schöner da, als wir uns erinnerten, sie je gesehen zu haben. In der Mitte kaum um mehr als ein halb Dutzend Fuß über den Spiegel gehoben, ward sie am seichten, mit feuchtglänzenden Steinchen und Muscheln bekränzten Strand rundhin von kleinen Wellen umplätschert; Sanddistel und graugrünes Ufergras, mit moosartig den Boden überziehendem, gelblichblühendem Steinbrech untermischt, umflochten den leis anschwellenden höheren Rand. Die Bäume und Sträucher deuteten alle, nach der nämlichen Seite gleichsam zurückgekämmt, die vorherrschende Windrichtung, halb verdunkelten sie das von grünbemoostem Stroh überdachte Häuschen, halb ließen sie die kleinen, grüngerandeten Fenster freundlich hervorblicken. Es war Rosenzeit, und alle Wände zeigten sich dicht mit weißen und roten Kelchen übergittert, die hochverrankt bis an die grauen Holz-Pferdeköpfe des Giebels hinankletterten, so sommerfröhlich, heimlich leuchtend und in die Ferne schon ihren süßen Duft ausströmend, daß Magda beglückt ihre Hände zusammenschlug und ausrief: »Ich möchte doch, daß wir hier wohnen müßten, – Schöneres kann es auf der Welt nicht geben!«

»Als daß wir uns dann nicht jeden Tag, sondern höchstens alle Monat sähen – fändest Du das so schön, Magda?« fiel ich scherzend ein.

Sie griff mechanisch nach meiner Hand und hielt sie fest. »Nein – ich war recht töricht, vergieb mir, Reinold! Oder doch nicht – denn das verstand sich ja von selbst, daß Du mit uns hier wohnen müßtest–«

»Doch bei mir verstand sich's nicht von selbst,« sagte Erich Billrod jetzt, und es klang mir eigentümlich, als ob eine leise Bitterkeit sich in den Ton einmische, »und ich müßte sehen, wie ich bei Wind und Wetter zu Euch herauskäme, nicht wahr?«

Magda sah ihn einen Augenblick halb nachdenklich an und versetzte dann eilig:

»Nein, ebenso wie bei Reinold – wie magst Du das sagen, Onkel Billrod – gehören wir drei nicht überall zusammen? Und wenn Du nicht hier wohnen könntest, wie wollte ich mich täglich auf die Stunde freuen, wo Du kämst, und Dich mit etwas Hübschem überraschen, das Reinold und ich für Dich ausfindig gemacht. Ach, es wäre doch herrlich!«

»Daß Du so krank wärest, um hier sein zu müssen.« Er ergänzte es, und es tönte mir halb hart, halb spöttisch durch die sonnige Luft ins Ohr, so daß ich mich überrascht nach dem Ausdruck seines Gesichts umwandte. Doch ich gewahrte es nicht, er hatte sich gleichzeitig abgedreht, um das Segel zu befestigen, wir liefen den kleinen Hafensteg der Insel an, das Boot legte sich an die muschelüberzogenen Bretterpfosten, und Erich Billrod fügte seinen letzten, sonderbar, mir fast herzlos erklungenen Worten in verändertem, scherzendem Tone nach:

»Hier ist Dein Reich und bist Du die Herrin, Magda Helmuth. Willst Du mich auf Deinem Grund und Boden haben, mußt Du mir die Erlaubnis dazu geben.«

Seine vorherigen Worte hatten Magda ebenfalls betroffen gemacht, denn sie fühlte an ihnen, daß sie ihn mit etwas gekränkt haben müßte. Doch jetzt schlug sie über seine wieder verwandelte Stimme glücklich, die Augen zu ihm auf, bewegte sich, so rasch sie konnte, an ihn hinan, suchte, die Hand nach ihm ausstreckend, allein den Steg zu erklimmen und sagte mit komischer Grandezza:

»Ich lade Dich ein, mich auf mein Schloß hier zu führen, Onkel Billrod –«

Er sprang zu, ergriff ihre Hand und hob sie auf die Bretter. »Du wärst beinah' ausgeglitten,« zürnte er mit zärtlichem Vorwurf und hielt sie auf dem schmalen, geländerlosen Steg, bis sie das Ende erreicht, sorglich den Arm um sie geschlungen. »Komm, nun führe mich auf Dein Feenschloß, und der Bootsmann Reinold kann das Festlegen der Kette besorgen.«

Wirklich ein heimliches Plätzchen wasserummurmelter Erde war's, für den Glücklichen nicht schöner zu denken, und für den Traurigen jedenfalls ein stilles Asyl, das den Gram in trostvolle Einsamkeit hüllte, den Lärm, die Neugier und die Fragen der Welt von ihm fernhielt. Drüben am Schluß der Bucht lag, von dem grünen Turm übergipfelt, halb noch unterscheidbar wie ein freundliches Bild die Stadt und ließ die dumpfluftige Enge, den Schmutz ihrer Gassen, das Bleilicht ihrer Wohnungen und die Art ihrer Menschen nicht ahnen; nach der andern Seite dehnte sich uferlos die blaue See. Zur Rechten hinüber an der benachbarten Küste reihten sich unter den Abhängen goldgelber Kornfelder die rauchumzogenen Strohdächer des Dorfes in lückenhafter Kette am Strande hin. Man sah deutlich die Fischer ausbessernd an ihren großen aufgehängten Netzen stehn, die Kinder barfüßig in die Uferwellen hineinlaufen oder sich im tieferen Flugsand des höheren Randes staubaufwirbelnd umhertummeln. Vom Steg, nachdem ich das Boot angekettet, dem Häuschen zuschlendernd, hielt ich noch eine Minute überrascht inne, denn vor mir in die offene See hinaus gewahrte ich plötzlich etwas mir Unerklärliches, wenigstens Fremdartiges, das ich noch nie zuvor gesehn. Der blaue Spiegel hörte draußen mit einer scharfabgeschnittenen Linie auf, die mir als der weißbewölkte Himmelshorizont erschienen und nicht aufgefallen wäre, wenn sich der klar begrenzte Strich nicht von der Wasserfläche über das entfernte linksseitige Ufer der Bucht mit fortgezogen und dies teilweise völlig verhüllt hatte. Es sah phantastisch aus, wie eine herabgestiegene Wolkenbank, oben von schimmernden Aufwölbungen und silberglänzenden Kuppen gekrönt, doch unbeweglich still, wie das sommerabendliche Brauen des Fuchses über dem Wiesengrunde. Unfraglich barg sich kein Unwetter, nicht Blitz noch Regen in dem lichten Gewand; es mußte ein eigentümlicher Dunstnebel sein, den der warme Sonnentag aus dem Meere aufgesogen und den irgend eine besondere atmosphärische Ursache verhinderte, aufzusteigen und sich in der Luft zu zerstreuen.

*

Als ich das Rosenhäuschen erreichte, standen Erich Billrod und Magda schon im Gespräch mit den wohlbekannten Fischersleuten, die jenes bewohnten. Der Mann schien mir noch graubärtiger und verwitterter geworden, die Stirn der Frau mehr von Furchen durchrissen, Söhne und Töchter gewaltig in die Höhe geschossen, sonst waren sie die nämlichen seit meiner ersten Bekanntschaft mit ihnen. Auch die Milch war ebenso frisch, das derbe Brot und die geräucherten Fische mundeten so köstlich, wie sie uns vor Jahren zum erstenmal hier entzückt. Magda fand Freude daran, die Fiction Erich Billrods fortzusetzen und sich als Herrin des kleinen Eilandes zu geberden. Sie hatte sich – freilich, etwas im Widerspruch zu ihrer Souveränität, mit Erlaubnis der zeitigen Bewohner – eine weiße und eine rote Rose gepflückt, sie im Haar befestigt und führte uns – wieder mit eingeholter Erlaubnis – stolz durch die Räumlichkeit des Hauses. Die Zimmer waren nicht groß, doch hoher und luftiger, als sie von draußen vermuten ließen, überall nickten die Rosen zum Fenster herein oder schaukelten sich leise an den Scheiben. Mit beglückter Miene hing Magda ihrer Einbildung nach, daß sie wirklich in dem Häuschen eine zeitlang wohnen solle, und richtete blitzschnell und verständig für uns alle in der Vorstellung die Stübchen ein. »Da ist Großmamas Platz am Fenster, daß sie auf die offene See hinaussieht, und hier schlafen wir, und Dein Zimmer, Reinold, ist dies hier neben uns an. Da können wir uns durch die Wand wecken und guten Morgen zurufen. Onkel Billrod schläft dort über'm Flur, und die Milch und das Brot sollt Ihr immer ebenso schön und frisch bei mir bekommen, denn ich melke unsere Kuh auf dem Weidestück in der Frühe selbst. Fische selbst fangen und räuchern kann ich freilich nicht, aber ich hole sie täglich im Kahn von drüben aus dem Dorf und Butter und Eier dazu – nein, wie ungeschickt, Eier habe ich natürlich von eigenen Hühnern, und Gemüse und Küchenkräuter baue ich im Garten. Außerdem braucht Ihr keine Angst zu haben, daß ich laufe, denn dazu ist die Insel zu klein – nun, was sagt Ihr zu meinem Reich und zu seiner Schloßherrin?«

Ihre Augen leuchteten so sonnenheiter, wie ich sie kaum jemals noch gesehen; es war ein köstlicher Nachmittag, Erich Billrod mußte an den Aufbruch mahnen, wir hätten nicht daran gedacht. Er blickte, neben dem alten Fischer stehend, noch einmal bei der Verabschiedung über die Insel und sprach einen, offenbar aus der Anschauung in ihm geweckten Gedanken aus, daß die Erhöhung des Eilandes über den Wasserspiegel eine ausfallend geringe sei und daß ihm bei einer außergewöhnlichen Sturmflut Gefahr vorhanden scheine, die ganze Insel könne einmal überschwemmt und das Haus selbst von den Wellen mit fortgerissen werden. Doch der Alte erwiderte kopfschüttelnd: »Das täuscht, Herr Doktor, 's ist höher als man so glaubt, und das Wasser müßt schon zwölf Fuß über hohen Stand, wie heut, steigen, um an's Haus zu kommen. Im Dorf weiß keiner von Urgroßvätern her, daß es jemals so gewesen, und man erzählt sich's nur, vor ein paar hundert Jahren war's einmal drüber weggegangen, daß eine Kuh von hier da an's Land hinüber schwimmen gewollt und unterwegs ertrunken sein soll. Aber die Leute reden aus der alten Zeit, die keiner mit Augen gesehn, viel, und ich glaub's nicht, denn seit sechzig Jahren versteh' ich mich auch auf unser Wasser hier und da ist's nie höher gekommen, als bis an den Baum da, und das auch nur ein einzigsmal.«

Wir gaben dem Alten zum Abschied die Hand und sagten bedauerlich, daß wir ihn nun in diesem Jahr wohl nicht wiedersehen würden, allein er versetzte:

»Kann man nicht wissen, 's weiß keiner, wie Wind und Wetter wehen. Heut so, morgen so, 's dreht sich wie in Menschenköpfen, die auch wohl 'ne Windfahne unter den Knochen haben. Uns findet Ihr aber immer ebenso; freilich mit Euch ist's was anders – wenn man Euch ansieht, kann man Euch eigentlich wohl nicht ›Du‹ mehr heißen. Na, ich will's ›Sie‹ für's Fräulein und den jungen Herrn noch aufsparen bis zum nächsten Jahr. Lebt wohl, und sobald Ihr auch wiederkommt, Ihr seid uns jederzeit willkommen.«

Der Fischer ging zurück, Erich Billrod führte Magda wieder über den Landungssteg und hob sie ins Boot, während ich die Kette löste. Mein Blick ging dabei über die Wasserfläche, und mir war's, als setzte sich die weiße Bank seewärts, die, wie ich eben zuvor wahrgenommen, regungslos wie vor einer Stunde drüben gelegen, mit einem Ruck in Bewegung. Doch gleich danach eifrig beschäftigt, die Segel loszumachen, achtete ich nicht darauf. Erich Billrod setzte sich an's Steuer, drehte es herum, und der Wind summte in die Linnen, schwellte sie leis und trieb uns von der Insel ab, dem Goldgefunkel der schrägen Nachmittagssonne entgegen. Etwa zwei- bis dreihundert Schritt nach meiner Rechnung, dann flog mir plötzlich etwas wie ein weißes Schleierstück von hinten an den Augen vorüber, und eine Sekunde hinterdrein drehte es mich wirbelnd im Boot herum. Kein krachender Stoß, sondern ein ungeheurer breiter Schlag traf aus der vor uns vollblauen Luft in die Segel und drückte sie mit widerstehlicher Wucht' auf das Niveau des Wasserspiegels herunter. Ich sah noch, wie Magda den Halt verlor und kopfüber in eine mit fabelhafter Schnelligkeit hoch aufrauschende Welle hinausstürzte und hörte einen Schrei Erich Billrods. Dann war der Boden unter mir ebenfalls gewichen, offenbar das Boot gekentert, oder mit Wasser gefüllt, gesunken, die Wellen schlugen mir über Augen und Mund und schleuderten mich, des Atems beraubt, einige Momente halb besinnungslos umher.

*

Ich war ein geübter Schwimmer, so daß ich mich, zum Bewußtsein des Geschehenen gelangt, trotz dem hohen Seegang und meinen Kleidern oben hielt und nach meinen verschwundenen Begleitern umherzuspähen versuchte. Doch von ihnen war nichts zu gewahren, wie überhaupt nichts von der Welt ringsum. Ein weißer, rinnender Schleier jagte windgepeitscht unablässig über die schwarzen Wellenberge und ließ auf doppelte Armeslänge nicht das geringste mehr unterscheiden. Die Ufer der Bucht, selbst die Insel, die uns noch eben nah' im Rücken gelegen, waren verschwunden; hinter der weißen Bank hatte, von keinem Auge vorher wahrnehmbar, der Sturm gelauert, plötzlich auffahrend mit einem Stoß den Nebel in Bewegung gesetzt und im selben Augenblick, in dem er unser Segel getroffen, auch alles um uns her mit der verhüllenden Wolkenmasse überzogen.

Erich Billrod – es war das letzte, was ich gesehn – hatte sich unmittelbar nach dem Umschlagen des Bootes der Richtung zu, in der Magda verschwunden, über Bord gestürzt. Er mußte sie erreicht haben, war kraftvoll und mir im Schwimmen noch überlegen; ich sagte es mir zum Trost, während ich ziellos umherruderte und durch den Nebel laut zu rufen versuchte. Aber die Wellen gingen zu hoch, dazu empfand ich mit einemmal, daß meine durchtränkten Kleider mich schwerer hinunterzuziehen anfingen, und das Gefühl kam über mich, die Kraft würde mir, wenn ich nicht bald Land erreiche, versagen. Doch lag nichts Erschreckendes für mich darin, eher etwas Traumhaftes mit sonderbaren, freundlichen Visionen. Ich sah den grünen Kirchturm vor mir, nur blickte er wunderlicher Weise nicht auf die braunen Dächer meiner Vaterstadt herab, sondern auf die besonnten Kieswege eines Gartens mit blühenden Orangen, Oleandern, Rhododendren, und zwischen diesen stand blauäugig und rotwangig Anna Wende und lachte: »Siehst Du, ich hatte Recht, daß wir uns nie wiedersehen würden.« Dann kam's aus allen Wegen über uns von schwarzen Zylindern, Blumenhütchen und Sonnenschirmen herangewimmelt und überfloß mir Augen, Lippen und Sinne, daß ich fühlte, wie ich langsam darin untersank. Doch in der nächsten Sekunde stieß mein Fuß auf etwas Festes, ich versank nur bis an den Nacken und behielt den Kopf frei über dem Wasser. Mechanisch weiter fortschreitend, befreite ich mich bis an die Arme, das Bewußtsein kam zurück und die Erkenntnis, daß ich in glücklichem Zufall die einzig Rettung bietende Richtung eingeschlagen haben und mich auf dem seicht abfallenden Vorstrand der Insel befinden mußte. Von dieser selbst war noch nichts zu entdecken – mit dem kehrenden Bewußtsein aber stieg mir eine plötzliche, tätliche Angst zu Häupten, die sich aus bisheriger, nebelnder Verschwommenheit meines Denkens aufrang, Erich Billrod könne die Richtung nach der Insel verfehlt haben und mit Magda in die offene See hinaus schwimmen, und ich schrie, so laut ich vermochte, besinnungslos seinen und ihren Namen über die Wellen. Herzklopfend wartete ich auf Antwort; sie kam nicht, immer nicht, so oft ich den Ruf wiederholte. Dann endlich klang's mir fernher wie ein keuchender Ton, ich rief: »Hierher! Hier ist die Insel!« und ein Aufklatschen nicht von Wellenart schien darauf zu erwidern. Mein Mund fuhr unablässig mit seinem deutenden Ruf fort, und das Plätschern näherte sich, ward unverkennbar. Nun tauchte ein Gesicht aus Nebel und Wasser, und ein zweites, dicht daran geschmiegt, doch noch höher über dem Wasser gehalten – seltsam, mir war keinen Augenblick ein Zweifel gekommen, daß Erich Billrod Magda gerettet haben müsse und eher selbst in die Tiefe nachgesunken sein würde, als ohne sie an's Ufer zu kehren – und er kam mit ihr, deren Haar aufgelöst im Wasser nachschwamm, und sein Auge suchte mich. Doch es lag etwas Starres in dem Blick, der mir deutlich besagte, es sei der letzte Moment gewesen und seine starke Kraft gebrochen. Sein Wille reichte noch aus, den Grund zu gewinnen und taumelnd neben mir an's Ufer zu schreiten. Ich wollte Magda umfassen, ihn von seiner Bürde befreien und sie auf die Arme nehmen, aber er hielt sie gewaltsam umklammert und stieß ein ächzendes, fast feindselig klingendes »Nein!« zwischen den Zähnen hervor. Dann hatte er mit ihr den Strand erreicht, seine Arme lösten sich von ihr ab, und er fiel ohnmächtig in den weißen Sand.

Magda stand neben mir, blaß und leicht zitternd, wie eine Nixe von ihrem triefenden Haar umflossen, doch unverletzt und die hellen Augen glückselig auf mich gerichtet. Unwillkürlich war meine erste Frage: »Hast Du böses Herzklopfen, Magda?« – »Jetzt nicht mehr, da Du gerettet bist, Reinold,« antwortete sie; »nur vorhin, bis ich Deine Stimme hörte. – Wo sind wir? In meinem Reich? O wie leicht kann ein Königtum zu Ende gehen!«

»Wenn es keinen so treuen Beschützer gehabt,« sagte ich, mich auf Erich Billrods regungsloses Gesicht niederbeugend.

Nun kniete sie ebenfalls ängstlich an ihm nieder. »O Gott, Onkel Billrod, ich hatte ihn ganz vergessen. Wir müssen die Leute holen, um ihn ins Leben zu bringen, Reinold.«

Der alte Fischer stand, als wir kamen, vor der Tür und sah in den Nebel. Wie er unserer ansichtig ward, lachte er: »Habt Ihr beigedreht? Seht Ihr, 's weiß keiner, wie Wind und Wetter kommt und wann man sich wiedersieht.« Dann aber erkannte er unsern Zustand, wir berichteten schnell, und er rief seiner Frau ins Haus: »Zieh Magda um, daß sie nicht kalt wird!« Auch seine Söhne kamen auf den Ruf, und wir eilten an die Stelle hinaus, wo Erich Billrod zurückgeblieben. Der Alte fühlte ihm nach der Stirn und dem Herzen, nickte philosophisch und sagte: »Hat nichts zu bedeuten, ist ein Wasserschlaf, aus dem man gesund wieder aufwacht. Aber singen hat er sie drunten gehört.«

Wir trugen den noch immer Bewußtlosen gemeinsam ins Haus, der Fischer kleidete ihn aus und brachte ihn ins Bett, während einer der Söhne Kleider für mich aus dem großen Wandschrank holte. Mir war das letzte Wort des Alten im Kopf hängen geblieben, und ich fragte ihn:

»Was heißt das, sie drunten singen zu hören, und wer singt?«

»Ja, wer sie zu sehen kriegt,« antwortete er in seiner gleichmütigen Sprechweise, »der kann's nicht mehr sagen. Nur wer einmal dicht davor gewesen, aber noch wieder heraufgekommen ist, weiß davon zu erzählen. Ich hab's auch einmal gehört, 's ist ein Singen im Ohr, hübscher als irgend was hier oben, und dabei fällt einem dann noch einmal das ein, was einem auf der Welt das Liebste gewesen ist, und so geht's vorbei. Jeder, welcher das Singen gehört hat, sagt, so wär's, und wenn man doch wieder heraufkommt, weiß man's eben besser, als vorher, was einem das Liebste ist!«

Erich Billrods Stimme unterbrach ihn vom Bett her. Er war noch nicht zur Besinnung gekommen, aber seine Lippen murmelten ein Wort und wiederholten es dann lauter, angstvoller. Offenbar trieb er im Traum noch über der umnebelten Tiefe, denn das Wort, das er, mit den Händen über sich greifend, ausstieß, war: »Magda!«

»Woll'n ihn schlafen lassen und dann ein ordentliches Glas mit steifem Rum, das kuriert alles und kann Dir und der Magda auch nicht schaden,« meinte der Alte, und wir gingen in die Wohnstube hinüber. Als ich eintrat, befand Magda sich schon dort, und wir standen uns gegenüber und lachten beide hell auf. Sie sah zu wunderlich in den Holzschuhen, den dicken Wollenröcken, dem umgeknoteten braunen Kopftuch der Fischersfrau aus, in dem derben Mieder, darin ihr Oberkörper zweimal Platz zu haben schien, und aus dessen langen Aermeln ihre kleinen Hände nur mit mühsamer Anstrengung, doch wie die einer verkleideten Fee hervorschlüpften. Der grobe Gewandstoff mochte in der Tat den Gegensatz steigern, allein mir fiel zum erstenmal auf, daß ich nie ein Mädchen oder eine junge Dame gesehen, die so besondere und schöne Hände besessen hätte, als Magda Helmuth. So schmal und durchsichtigweiß und feingeädert, so zart die Gelenke der langgestreckten Finger, die Nägel so rosenblattgleich. Sie schlug mir die beiden Hände jetzt um den Nacken zusammen, trat zurück und betrachtete lachend meinen Fischeranzug, der mir auch komisch stehen mochte; dann ließ sie sich wieder in ihrem bäurischen Kostüm bewundern. Dies verdeckte den Fehler ihrer Gestalt, ließ ihn sogar beim Gehen kaum hervortreten, und sie mußte selbst ein Gefühl davon haben, das ihr Freude bereitete, denn sie wiederholte mehrmals: »Bitte, sieh mich an, Reinold! Soll ich immer so gehen? O ich möchte tanzen!« Und sie drehte sich fast ausgelassen im Kreise herum.

Das kalte Bad, der Schreck und die Anstrengung hatten ihr offenbar wirklich nicht geschadet, und da sie erfahren, daß für den Onkel Billrod keinerlei Besorgnis zu hegen sei, kam eine ihr fremde, übermütige Fröhlichkeit zum Ausbruch und sie jubelte über die seltsame Fügung, die uns sobald auf die Insel zurückgebracht. »Das ist doch gewiß ein Zeichen, daß ich die Frau vom Hause hier sein soll,« lachte sie und schenkte mir den von der Fischerin bereiteten Kaffee ein – »Du sollst es auch süßer als anderswo bei mir haben« – und ihre rosigen Fingerspitzen griffen in die Steingutkumme, die als Zuckerschale diente, und füllte meine Tasse mit doppeltem Maß. Ja, sie streckte die Hand sogar nach dem Gläschen mit Rum, das der Alte mir brachte, nahm es behend vorweg und schlürfte einige Tropfen von dem übervollen Rande. Aber mit dem Ausruf: »Das ist ja wie Feuer und macht noch unkluger im Kopf, als ich schon bin!« reichte sie mir das Glas zurück und griff hastig – immer mußte ich heut ihre Hände dabei betrachten – nach ihrer Tasse, um das Brennen auf der Zunge wieder zu löschen. Wir saßen, plauderten und erzählten, stellten Vermutungen auf, wo unser Boot geblieben sein möge und wie wir nach Hause kommen sollten. »Wär's nicht um die Großmama, die sich ängstigen würde, ich bliebe am liebsten die Nacht hier,« meinte Magda. »Wer weiß, ob's uns noch einmal im Leben wieder so hübsch wird.« Da Wind und Nebel anhielten, äußerte der Alte, es sei das Beste, daß er uns, sobald Erich Billrod aufgewacht, nach dem Dorf übersetze, von wo wir einen Wagen zur Rückfahrt in die Stadt bekommen könnten. Er ging, Anstalten dafür zu machen, auch die Frau verließ das Zimmer, und Magda und ich blieben allein. Der Nebel draußen füllte das Stübchen mit früher Dämmerung, wir saßen dicht neben einander, und Magda erzählte mir auf meine Fragen, welchen Eindruck sie bei dem plötzlichen Umschlagen des Bootes gehabt, und was ihr zunächst geschehen. »Ich stürzte über Bord,« sagte sie, »und fühlte, daß gleich eine Welle mich aufhob und wieder hinunterwarf, daß mein Kopf ganz in dem schwarzen Wasser vergraben war. Aber fast ebenso schnell kam er auch wieder in die Höh', und ich versuchte mit den Händen zu tun, wie Du's mir manchmal vorgemacht hast, daß man schwimmen müsse. Es half indeß nichts, denn ich sank abermals unter und dann noch einmal und dabei fühlte ich, ich käme nicht wieder herauf. Doch es war gar nicht fürchterlich, ganz sanft, beinah' köstlich, wie wenn man sich recht müde zu Bett legt, und als ob etwas unter mir mit wundersüßer Stimme singe – und dann mußte ich noch an Dich denken, Reinold –«

Ihr schmales Händchen hatte sich bei der Erzählung ausgestreckt und, wie eine Stütze suchend, auf meine gelegt. Ich wußte nicht, warum es mich sonderbar, fast einem elektrischen Strome ähnlich dabei durchrann, und ich fiel ein:

»Und in dem Augenblick faßte Dich der Onkel Billrod?«

»Ja, mir war's fast – da ist er, ich höre seine Stimme auf dem Flur!« Und ihre Hand eilig von meiner zurückziehend, stand Magda auf und trat Erich Billrod in der Tür entgegen.


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