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Siebentes Kapitel

Es geht Alles vorüber, und Warten ist der Inbegriff aller Lebenskunst. Für ihr Verständnis bin ich von frühauf dem Gymnasium meiner Vaterstadt verpflichtet gewesen, denn wie ich mir an sonnenfreudigem Sommermorgen beim Eintritt auf den lichtlosen, ausgewandelten roten Steinflur heimlich sagte, es möge kommen, was da wolle, aber einmal müsse es vom grünen Turm herunter Mittag schlagen, und dann sei alles gut, und alles, was mir jetzt noch bevorstehe, so gut wie nicht gewesen – so hat oft dieser Gedanke mir auch später in der Schule des Lebens den nämlichen Trost zugeraunt, Mühsal, Sorge und Weh der Gegenwart sei im Grunde nur wesenlose Traumesnot für den, der zuversichtlich an den sonnigen Punkt hinüberblicke, wo die Uhr einmal schlagen müsse und alles Vergangene gleichgültig geworden. Nur daß die Uhren der Sterblichen sehr verschieden gehen und manchmal für diesen oder jenen die Sonne schon verschwunden ist, wenn der erharrte Glockenschlag herabtönt.

So ging denn auch die häusliche Zucht bei Wasser und trockenem Brot für mich vorüber, und da es nach dem alten Sprichwort ein böser Wind sein muß, der nicht etwas Gutes herbeiweht, gewann ich auf Kosten meiner mittäglichen Eßlust Zwei freie Stunden, in welchen ich von niemanden beachtet durch den Gartenzaun auf's Feld hinausschlüpfen und mit Lea indem Golddrosselnest auf dem einsamen Wall zusammentreffen konnte. Die Wintersaat stand jetzt schuhhoch ringsum und flirrte in Wind und Sonnenglanz, die Haselsträuche um unser Versteck rollten grüne Blätter auf, und wie absinkende Schatten schwand unter ihnen von Tag zu Tag das braune vorjährige Laub, aber die Lerchen jubelten heller noch als früher über der stillen Ackerwelt, und aus dem Busche blickten die Augen Leas, die mich stets schon im Nest erwartete, mir täglich vertrauter, mich als ein heimliches und darum desto köstlicheres Glück begrüßend, entgegen. Ich begriff nicht mehr, daß ich ihre Augensterne zum erstenmal für die eines Fuchses gehalten, so freundlich, zutraulich-offen, ja unterwürfig richteten sie sich mir ins Gesicht, und mit dem gelben Kleide, das sie abgelegt, war auch die manchmal sonderbar in mir aufdämmernde Aehnlichkeit mit dem andern Tier, das sich zuerst raschelnd unter ihrem Zaunbau fortgeringelt, verschwunden, so daß nur noch das schwarze, jetzt ebenfalls nicht mehr lose, sondern in dicken Zöpfen aufgeflochtene Haar sie von andern Mädchen unterschied.

Es waren einige Tage vergangen, ehe wir zum erstenmal wieder zusammentrafen, und ich sah schon von fern, daß sie auf dem Wall stand und ihr Auge gegen die Sonne schattete, um mir entgegen zu blicken. Dann kam ich heran, und sie sprang nieder und faßte heftig meine Hand. »Sie haben Dich geschlagen, um meinetwillen,« und ihre Hände glitten streichelnd mir über den Rücken. Ich lachte: »Es waren Schneebällen, die nicht weh taten,« aber ich sah plötzlich, daß ihr Tränen über's Gesicht herabglänzten und fragte hastig: »Was hast Du, Lea? Hat Dir auch jemand weh getan?«

»Mir? – Du!« stieß sie fast zornig aus.

Verwundert entgegnete ich: »Was habe ich – womit, Lea?«

»Weil Du für mich Böses gelitten hast und ich's nicht wieder kann für Dich! Weil ich nicht schlafen kann, bis ich's auch getan habe! Weil ich nun immerfort alles tun muß, was Du von mir verlangst, um es wieder gut zu machen.«

Es sprudelte ihr wie ein aus der Erde hervorbrechender Quell von den Lippen, ich schüttelte den Kopf ohne eigentliches Verständnis ihrer Worte: »Ich verlange ja nichts von Dir, warum sollt' ich's denn?«

»Das ist's eben, tu's! Soll ich mir die Haare vom Kopf reißen? Soll ich mir mit den Nägeln das Gesicht zerkratzen? Bitte, sag' ja! Soll ich – weißt Du, daß ich im Dunkeln mich hinten in den Garten hinein um das abscheuliche Haus geschlichen habe, wo sie Dich geschlagen, weil ich es in Brand stecken wollte?«

Ich erschrak, so ungestüm überstürzte sich alles aus ihrem Munde. »Um Gotteswillen, Lea,« – Aber dann lachte ich: »Garnichts sollst Du tun, als da hinauf in's Nest klettern.«

Nun flog sie wie ein zahmer Vogel, der in seinen Käfig zurückbeordert wird, und saß denn auch gleich einem Vogel, doch wie ein trauriger, der das Köpfchen hängen läßt, zwischen den Moos- und Glaswänden. Einsilbig gab sie auf meine Fragen Antwort. Warum sie das gelbe Kleid nicht mehr trage? – Weil ihr Oheim ihr ein andres gegeben, damit die Christenknaben sie nicht mehr aus der Ferne an der hellen Farbe erkennen sollten. – Weshalb sie ihr Haar in Zöpfen geflochten habe? – Auch aus demselben Grund. – Ob der alte Aaron, der mit dem Sacke auf dem Rücken gehe, ihr Oheim sei? – Ja. – Ob sonst niemand in ihrem Hause wohne? – Die Tante und die beiden Muhmen.

Bei der letzten Antwort kam mir plötzlich eine Erinnerung. Von dem Lindenplatz vor unserm Hause bog ein schmaler Gang ab zwischen Gärten hinein, und hinten, in einer Gegend, die ich nie besucht, blickte kaum unterscheidbar aus dichtem Gebüsch ein kleines eigentümlich geartetes Gebäude mit rundem Dach wie es von weitem schien. Ueber den Platz aber und den schmalen Gang hinunter schritten, so lang ich zurückdenken konnte, stets am Freitag abend, wenn die tiefe Dämmerung hereingebrochen, mehrere dicht verschleierte weibliche Gestalten und verschwanden zwischen dem Gebüsch, welches das runde Dach umgab, aus dem wallend und sonderbar dann ein weißlicher Nebel ins Dunkel zerflatterte. Ein geheimnisvolles, phantastisches Etwas umbreitete mir das Ganze, das noch erhöht wurde, als Tante Dorthe eines Abends neben mir stehend die schreitenden Gestalten wahrnahm und zu sich selbst redend seufzte: »Da gehen die Judenweiber wieder, ihre bösen Schabbeskünste zu treiben.« »Was für Künste, Tante Dorthe?« fragte ich neugierig. Sie wandte sich erschrocken um. »Gott behüte, Kind, wer das wüßte! Ein Greuel muß es sein, mehr kann niemand sagen.«

Das alles kam mir plötzlich ins Gedächtnis, wie Lea von ihren Muhmen sprach, und ich erzählte ihr davon, wie ich für mein Leben gern schon lang' einmal gewußt und gesehen hätte, was in dem Häuschen mit dem runden Dach geschähe, und ich fragte, ob ihre Muhmen auch mit zu den verschleierten Frauen gehörten, und ob es wirklich solch' ein Greuel sei, der dort getrieben werde? Lea horchte, seitdem ich zu sprechen begonnen, eigentümlich auf, ließ mich jedoch wortlos zu Ende fragen und erwiderte dann nur, mit ihren weißen Zähnen auflachend:

»Ein Greuel? Ich hab's oft gesehen, aber nichts Greuliches dabei.«

»Doch was ist's denn?« fragte ich eifrig.

Sie blieb stumm und drehte einen abgebrochenen Zweig zwischen den Fingern. Endlich versetzte sie:

»Willst Du's wissen?« »Wenn Du es oft gesehen, kann ich's da nicht auch sehen?«

Lea hatte bisher vor sich niedergeblickt, nun schlug sie plötzlich die Lider zu mir auf, und halb lag ein Lachen in ihrem Gesicht, halb in ihren Augen ein ungewisses, scheues Funkeln, doch mir unverständlicher, anderer Art, als ich es je in ihnen wahrgenommen. Dann sagte sie langsam.

»Wenn Du es verlangst, muß ich es tun.«

Mir kam es jetzt auf einmal aus ihren Worten, daß ich eine Macht über sie ausübte, und ich antwortete mit freudiger Ueberraschung nachdrücklich: »Ja, ich verlange – nein, ich bitte Dich darum. Das heißt, wird man mir auch etwas Schlimmes dort antun?«

Sie schüttelte die Stirn. »Dir nicht – ich will Dich schon gut verstecken, denn ich kenne jede dunkle Ecke d'rin. Aber mich würden sie – es wäre nichts dagegen, zu hungern und Schläge zu bekommen – warum, weiß ich nicht, ich denk's mir nur. Wenn Du gewiß keinen Ton von Dir geben willst, der uns verrät, bringe ich Dich am nächsten Freitag hin.«

Ich versprach's und wollte fragen, warum ihre Tante und Muhmen denn, da sie nichts Böses trieben, so zornig werden würden, falls sie uns entdeckten, aber Lea faßte im selben Augenblicke meine Hand und deutete durch eine fensterartige Lücke des Busches auf das Kornfeld unter uns. Eine weiße Wolke trieb an der Sonne vorbei, und ihr Schatten lief, wie Schritt um Schritt gegen uns herankommend, über die grüne Saat. Ich sah, daß es Lea schaudernd von den Schläfen herunter über den Körper floß, und mir war's auch so, und wir saßen stumm Hand in Hand, dem Schatten entgegen blickend. Als er kam und auch über uns mit fröstelndem Anhauch die Sonne weglöschte, drückte Lea plötzlich mit heftigem Ungestüm ihre Stirn wider meine Brust, faßte meine Hände und zog sie sich fest gegen Ohr und Schläfe; mit meinem Herzschlag zugleich fühlte ich ihr schleuniges Atmen in der Brust. Dann kam Glanz und Wärme zurück, und sie hob, ängstlich nachspähend, den Kopf. »Was war Dir?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, aber mir grauste. Kannst Du Dir nicht denken, es käme so, aber nicht über Einem weg, sondern faßte mich an, daß alles kalt wie Eis in mir würde, ich hab's gefühlt. O, die Sonne ist so schön, Reinold, ich hab' nur sie lieb und Dich, und ich würde mich selbst töten, eh' ich euch beiden Böses antäte.«

Es klang so wunderlich, ich begriff nicht, was sie meinte, und halb dunkel empfand ich's doch; ihre Brust war noch wie von einem kalten Schauer gerüttelt, und mir flog's heraus:

»Hast Du die Sonne so lieb, Lea? Der Kollaborator sagte, Du wärest eine Fledermaus, die nur im Dunkel ausflöge, ein Vampyr.«

»Was ist das, ein Vampyr, Reinold?«

Ich wußte es zum Glück und belehrte sie, nicht ohne heimlichen Stolz. »Ein Tier, das bei uns nicht vorkommt, sondern in den heißen Ländern. Eine Art Fledermaus ist es auch, aber größer, und bei Nacht schleicht er sich zu den Menschen an's Bett und trinkt ihnen das Blut aus. Es gibt auch abergläubische Leute, die meinen, er sei im Grunde gar kein Tier, sondern ein verwandelter Mensch, der nächtlich wiederkomme, um die zu verderben und sich an ihnen zu rächen, welche ihm bei Lebzeiten Böses getan, aber das ist natürlich nur eine Fabel.«

Lea hatte zugehört, schwieg, doch sah mich mit ihren rätselhaften Augen an. »Was denkst Du?« fragte ich nach einiger Zeit.

»Ueber Deine Fabel. Ich wollte gleich tot sein, wenn ich dann ein solcher Vampyr werden könnte.«

»Und wolltest dann nur bei Nacht leben?«

Nun lachte sie. »Was schwatzest Du für närrische Dinge, Reinold? Komm, wir wollen uns an der Sonne freuen und uns Maigrün zu Tapeten für unser Nest suchen.«

*

Es ward ein wunderliches Wetter, manchmal in der Folge einer Stunde bald heiß und bald winterkalt. Unten war es still, doch am Himmel trieb der Wind dann und wann blauschwarzes Gewölk auf; wenn es vorübergejagt, lag die Sonne wieder auf den roten Punkten, die das Aufbrechen der Dornblüte verkündeten, auf dem bläulichen Schimmer der Syringen und den noch grünen Kugeln der Schneebälle. Ich kam wie immer durch diese farbige Welt, von der die Gartenstraße ihren Namen erhalten, nach dem Nachmittagsunterricht zu Erich Billrod und klopfte an seine Tür, doch kein Hereinruf antwortete heut', und wie ich den Drücker anfaßte, war die Tür verschlossen. Aber zugleich klang eine leise, freundliche Stimme hinter mir: »Ich soll Dir sagen, daß der Herr Doktor habe ausgehen müssen, Du möchtest warten, er komme bald zurück.«

Als ich mich umsah, stand ein kleines Mädchen da, wohl nicht ganz so alt wie ich selbst. Ihr Gesicht war etwas blaß, gleich dem von Kindern, die sich nicht viel im Freien umhertummeln, und über den Augen lag's wie ein ganz leichter Flor, dem kaum wahrnehmbaren, schattenhaften Gitterschleier ähnlich, den manchmal eine Spinne über einen farbenfreudigen Blumenkelch gezogen. Doch daraus hervor leuchteten die Augen sammetweich und blau wie Veilchen; man hätte sagen können, sie dufteten unter der schmächtigen, durchsichtigen Stirne herauf. Zu diesen stand ein silbernes, fast weißliches Haar eigentümlich, wie ich es nie gesehen; es glich keinem ergrauten und auch nicht allein der Farbe des Silbers, sondern erschien wirklich wie unsagbar fein ausgesponnenes Metall, und der erste Gedanke, von dem ich bei seinem Anblick angerührt wurde, war der an einen weißen Finken, den mein Auge eines Tags mit staunender Ueberraschung unter seinen bunten Kameraden gewahrt hatte. Die Kleine stand, leicht mit der Hand auf ein niedriges Fenstergesims des Flurs aufgestützt, und nickte mir freundlich ins Gesicht. »Wer bist Du? Kennst Du mich?« fragte ich.

»Ich habe Dich oft hier hinein gehen sehen,« versetzte sie, »die Großmama und ich wohnen dort indem Häuschen.«

Sie deutete, und ich sah nach dem kleinen Hause am Gartenrande hinüber, das ich wohl früher schon wahrgenommen, doch bis jetzt kaum beachtet hatte. Es lag zwischen Gesträuch halb versteckt, ein unansehnliches, einstöckiges Nebengebäude, das ursprünglich als Gärtnerwohnung des alten herrschaftlichen Haupthauses gedient haben mochte. Ueber das Dach des Häuschens hin ging der dunkle Halbkranz der alten, sonderbar im Wind murrenden Bäume, die weit auf die See hinaus sahen.

Ich wußte nicht recht, was ich erwidern sollte und sagte: »Das ist hübsch von Dir, daß Du mir den Auftrag ausgerichtet hast, sonst wäre ich von der geschlossenen Tür weggegangen. Du hast wohl auf mich gewartet?«

Sie nickte, und ich fragte: »Wollen wir zusammen im Garten spielen, bis Dr. Billrod zurückkommt?« »O ja, ich mag so gern spielen,« und sie nahm meine Hand und wir gingen hinaus. Ich sah ihr ins Gesicht, und mir war's, als hätte ich mich vorhin getäuscht und der Flor über ihren Augen sei völlig verschwunden, so fröhlich ging ihr Blick jetzt auf mich und rund um uns her. Wir betrachteten zuerst die Blütenknospen der Gesträuche, manche davon waren in Doktor Pomarius' Garten nicht vorhanden und mir fremd, doch meine Begleiterin wußte von allen die Namen und nannte sie mir. Dann meinte ich: »Es ist kalt, wir müssen uns warm laufen. Was spielst Du am liebsten? Versteck oder Kriegen? Wir sind freilich immer nur zu zweien.«

Sie warf einen Blick nach dem Häuschen, dessen Fenster uns jetzt vom Gebüsch verdeckt waren, und versetzte: »Was am hübschesten ist und Du am liebsten tust; ich weiß es nicht.«

Ich sah sie wohl erstaunt an. »Kennst Du Versteck und Kriegen gar nicht?«

Der Flor war jetzt offenbar wieder unter der schmächtigen Stirn, die sie leis schüttelte: »Hast Du denn keine Freundinnen, mit denen Du spielst?« fragte ich.

»Ich gehe mit vielen Mädchen in die Schule, aber ich spiele nicht mit ihnen.«

Mir kam ein Gedanke. »Das geht zu zweien!« Wir standen am Rande eines ziemlich kreisrunden Bosquets. – »Du läufst hier rechts und ich links, und wer drüben zuerst an der Vase ankommt, hat gewonnen. Aber weil Du ein Mädchen bist, sollst Du zwanzig Schritte vorhaben; wenn ich »drei« zähle, laufen wir beide ab.« Sie entfernte sich zustimmend um die Laubecke und war verschwunden, ich zählte laut und lief und sprang nach einer Weile an der anderen Seite mit dem Ruf: »Ich bin hier!« auf die von einem Baumstamm getragene Tonvase zu. Dann sah ich auf, da kam meine Spielgegnerin erst um den Rand des breiten Gesträuchs. Sie lief mit voller Anstrengung, offenbar so schnell sie vermochte, doch unsicheren Schritts, ihr linker Fuß zog sich schleppend nach und ihre rechte Hüfte hob sich bei jedem Auftreten empor. Ich eilte ihr halb erschreckt entgegen und rief: »Bist Du gefallen oder hast Du Dir den Fuß gestoßen, daß Du hinkst?« »Nein, ich kann nicht anders,« antwortete sie halblaut. Auch zu sprechen vermochte sie merkbar nicht mehr, denn sie legte ihre beiden kleinen Hände gegen die Brust und stand mühselig Atem holend. Dabei bewegte sich neben ihrem linken Handgelenk eine Stelle ihres Kleides eigentümlich auf und ab, daß ich unwillkürlich fragte: »Was ist das?«

»Es kommt vom Herzklopfen, das tut's immer, wenn ich gelaufen bin.« Sie sah mich mit einem schwermütigen Blick an. »Nun magst Du wohl auch nicht mehr mit mir spielen, wie die andern?«

Ich fand nicht Zeit zu antworten, denn etwas uns beide Ueberraschendes kam. Eine der blauschwarzen Wolken, größer und dunkler noch als gewöhnlich, war über unsere Köpfe gezogen, öffnete plötzlich ihren Schoß und überschüttete in einem Nu uns und alles ringsum mit dichten, fast handflächegroßen Schneeflocken. Es glich der Verwandlung eines Zaubertheaters; wo eben die grüne Welt um uns gelegen, war mit Minutenschnelle alles weiß und ebenso das Silber auf dem bloßen Scheitel des Mädchens unter zollhoher Flockendecke begraben. Dann hatte der Wind die Wolke schon vorüber gejagt, die Sonne kam goldflammend zurück, und es war nichts, als daß ein Schnee auf den Frühling gefallen und vielleicht irgendwo eine zarte Knospe im innersten Lebenskeim erkältet hatte, daß sie nicht in ihrer Freudigkeit und vollen Schönheit zur Sommerblüte emporgedeihen würde.

»Das war Frau Holle, die ihr Bett ausschüttelte,« lachte meine Gespielin vergnügt und schüttelte sich selbst die niederstäubenden Flocken vom Kopf. Doch gleichzeitig rief es von dem ehemaligen Gärtnerhäuschen hinter dem Buschwerk mit heller Frauenstimme: »Magda! Magda!«

»Die Großmama ruft, ich muß hinein,« sagte sie, sich umblickend. Ich stand und sah jetzt deutlich, wie sie mit dem nachschleppenden Fuß einige Schritte vorwärts machte, und mir war's, als tue mir etwas im Herzen dabei weh. »Kommst Du nicht mit?« fragte sie, stehen bleibend.

»Heißt Du Magda? Das ist ein hübscher Name.«

Es freute sie sichtlich, denn sie lächelte. Ich war ihr nachgegangen, und sie faßte wieder meine Hand und bat: »Aber sag's der Großmama nicht, daß ich gelaufen bin, Reinold.«

»Woher weißt Du meinen Namen?«

»Schon lange, ich habe den Onkel Billrod danach gefragt, der hat ihn mir gesagt; ich finde ihn viel hübscher als meinen.«

Wir gingen zusammen durch den Schnee, der schon wieder um unsere Füße zerrann, und Magda erzählte mir, der Onkel Billrod sei oft bei ihnen, des Nachmittags und auch des Abends, ganz allein, und rede mit der Großmama stundenlang. Aber auch mit ihr selbst, fügte sie stolz und beglückt hinzu, und die meisten ihrer schönen Märchen wisse sie von ihm und habe er ihr im Buch geschenkt, in das er vorn auf dem ersten Blatt hineingeschrieben: »Magda Hellmuth.«

Wir bogen um den Gesträuchrand und standen gleich darauf dicht vor der Eingangstür des Nebenhäuschens, von deren Schwelle eine alte Frau nach uns ausblickte. Sie mußte schon in ziemlich hohem Alter sein, doch ihre Haltung war fest und grad', ihre Bewegung rüstig wie die kräftigster Jugend. Ihr Gesicht bot in den Zügen, und im Rahmen, welcher diese umgab, größte Aehnlichkeit mit denen Magdas, denn das Haar lag silberhell an den Schläfen herab, doch von den Jahren gebleicht, kein uranfängliches Spiel der Natur, wie bei der Enkelin. Das Kleid, das sie trug, bestand aus einfachstem, grauem Stoff, ohne jeden Aufputz, nur mit einem schlichten Leinwandkragen am Hals, aber dem eben gefallenen Schnee gleichend, und kein Stäubchen zeichnete sich von der, mir wollt's fast erscheinen anmutigen Sauberkeit ihres Anzugs ab. »Kommt ins Haus, Kinder, ihr holt euch nasse Füße im Schnee,« sagte sie freundlich, und wir folgten ihr in die Wohnstube. Es war ein niedriges Zimmer, auch ganz schlicht, beinah' übereinfach in seiner Ausstattung, allein nach wenigen Augenblicken däuchte mir, es könne gar nicht anders sein, wenn die Alte darin wohnen solle. Auch nicht freundlicher; blühende Geranien, Reseden und Goldlack befanden sich in irdenen Töpfen vor den Fenstern, ihr Duft hatte in dem kleinen Gemach etwas Süßeres, als ich je geglaubt, daß eine so geringe Blumenzahl ihn auszuströmen vermöge. Vor einem der Fenster stand ein altmodischer, mit bequemer Rückenlehne ausgebogener Sessel, ein Tischchen davor und ein aufgeschlagenes Buch drauf deuteten, daß es der gewöhnliche Platz der Großmutter sei. Außerdem machten einige andere Stühle, ein alter Eichentisch und ein langgestrecktes Sofa fast das ganze Mobiliar aus. Ein paar Kissen auf dem Sofa waren mit zierlich gehäkelten Schondecken bekleidet und darüber sahen aus wurmzerlöcherten Goldrahmen zwei alte Familienbilder herab, weich und farbig mit Pastell gezeichnet, Bruststücke, ein Mann und eine Frau, vielleicht aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, von denen das sanfte Gesicht der Frau unverkennbarste Aehnlichkeit mit dem der Großmama Magdas aufwies. Daneben hing an verblichener Kordel eine ziemlich breite Bücherrolle mit mehreren Stockwerken an der Wand nieder, und es fiel mir auf, daß sie nicht, wie ich es sonst überall bei alten Damen gesehen, dicke und schwarze Einbände mit vergoldetem Schnitt darauf befanden, aber meine Aufmerksamkeit ward schnell von allem anderen durch eigenartige, mir völlig fremde Ausschmückungen der Wände abgelenkt. Einige Seiten waren dicht damit bedeckt, die verschiedensten Gegenstände drängten sich hart aneinander. Große, fremdländische, getrocknete Blätter, darüber schwebend ein wunderlicher aufgespannter Schirm, der wie aus buntem, mit schwarzen Schnörkeln bemaltem Papier erschien. Dann weiße Korallen, wie ich einmal von einem Schulkameraden ein kleines Stückchen zum Geschenk bekommen und einen unermeßlichen Schatz darin zu besitzen glaubte. Doch hier waren sie an Größe der Krone des Myrtenbäumchens gleich, das mit vor dem Fenster stand, ich hatte nicht geahnt, daß es etwas so Herrliches in der Welt gäbe, und daran dehnte sich ein Glaskasten mit riesenhaften, leuchtenden Schmetterlingen von zehnfacher Größe und Schönheit, als sie auf unsern Feldern umherflogen. So ging es fort, der Blick wußte nicht, wohin er sich zunächst wenden sollte, und ich stand fast betroffen und scheu vor all' den Wundern, die das Häuschen, an dem ich täglich achtlos vorübergelaufen, umschlossen hielt. Endlich sah ich Magdas über mein Staunen frohlockendes Auge auf mich gerichtet. Halb sprachlos noch, fragte ich nur: »Gehört das alles Dir?«

Mein Vater hat es mitgebracht aus andern Ländern,« versetzte sie, »er war ein Schiffskapitän.« »Und ist er wieder dahin fort und bringt Dir noch mehr mit?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er kommt nicht wieder, denn er ist bei meiner Mutter, sagt die Großmama, und die ist tot.«

Frau Helmuth hatte sich in ihren Sessel gesetzt und das aufgeschlagene Buch zur Hand genommen, in dem sie ohne Brille las; sie drehte jetzt die Stirn und sagte:

»Zeig' Reinold Deine Sachen, Magda, wenn es ihn freut.«

»Darf ich, Großmama? Setz' Dich dahin, Reinold!« Und sie drängte mich auf das Sofa, dann nahm sie Stück um Stück, soweit sie es mit der Hand vom Boden aus erreichen konnte, behend-vorsichtig von den Wänden und legte es auf den Tisch. Doch die Schmetterlinge hingen zu hoch, sie holte eifrig einen Stuhl herbei und wollte hinaufsteigen, doch dabei versagte die Kraft ihr, und nach mehrmaligen fruchtlosen Versuchen, auf die ich, in Bewunderung der aufgehäuften Schätze versunken, nicht geachtet hatte, wandte sie mir den Kopf zu und flüsterte leise, mir schien's, um die Großmutter nicht aufmerksam zu machen: »Bitte, heb' mich ein bischen.« Der traurige Ausdruck lag dabei wieder in ihren Augen, ich sprang hinzu, um selbst den Kasten herabzunehmen, aber sie wehrte mir bittend: »Nein, nur mich stützen, dann kann ich's,« und ich hob sie halb in den Armen, daß sie sich auf den Stuhl zu schwingen vermochte. »Hinunter kann ich allein,« lachte sie nun, mir die Schmetterlinge behutsam in die Hände legend, und sie kniete auf der Stuhlplatte nieder, glitt zur Erde und setzte sich glücklich neben mich auf's Sofa.

Welche Wunderdinge! fast alle ohne Namen für mich, doch Magda kannte sie Stück für Stück genau und von jedem das Land, aus dem es herstammte. Ich hörte ihr mit Verwunderung zu, es war manchmal gar nicht, als ob ein Kind, jünger noch als ich, mir die fremden Herrlichkeiten erklärte, sondern wie wenn jemand, der selbst drüben in der weiten Ferne gewesen und alles mit eigenen Augen gesehen, mit seinen Ohren gehört, von den Dingen erzähle. Dabei ward ihr blasses Gesichtchen röter, und ihre Augen leuchteten wie zwei Edelsteine, die nie eine Trübung befallen könne. Allmählich antwortete ich nichts mehr, sondern hörte nur auf ihre leise Stimme, aber ich hätte auch keinen Anlaß gefunden, auf etwas zu erwidern, denn sie erzählte von allen Gegenständen, welche sie in die Hand nahm, die seltsamsten, phantastischen Berichte, als hätte sie diese selbst erlebt. »Das ist ein Sonnenschirm aus China,« sagte sie, »und die schwarzen Flecke darauf sind chinesische Buchstaben. Daran hat ein kleines chinesisches Mädchen lesen gelernt, das sah so possierlich aus mit dem langen Zopf auf dem Rücken und den kleinen Schuhen, worin sie kaum gehen konnte. Die Sonne schien so furchtbar heiß, wie sie auf der Bank an dem breiten Fluß saßen, sie mit ihrer Mutter zusammen, daß sie den Schirm nicht über ihrem Kopf wegziehen wollte, denn einen Hut hatte sie nicht, und sie sollte doch von dem Schirm lesen, das wollte die Mutter. Und dann flog der große blaue Schmetterling, der größte da im Kasten, vorbei und setzte sich oben auf die Buchstaben, weil er die bunten Farben dazwischen für Blumen ansah, und sie griff nach ihm mit der Hand, daß die Mutter zu schelten anfing. O, es war so schön und so warm, und die Wellen liefen über den Sand, mir beinah' bis an die Füße herauf –«

»Dir?« fragte ich erstaunt; »warst Du denn dabei?«

Sie sah mich halb befremdet an. »Kannst Du Dir nicht denken, Du wärest dabei gewesen? Mir ist's immer so,« und sie begann schon wieder eine andere Geschichte von der weißen Korallenkrone, und in ihren Erzählungen lief und tanzte und kletterte sie, daß ich ihr metallenes Haar im Meereswind vor mir fliegen sah. Dann schlug eine altmodische, vergoldete Pendule auf dem Gesims – die alte Uhr hatte ein helles Stimmchen, grad' wie die alte Dame am Fenster – und diese drehte gleichzeitig den Kopf und sagte: »Da kommt der Doktor Billrod nach Haus.« Ich hatte ihn und den Zweck meines Hierseins vollständig vergessen gehabt und warf wohl einen bedauerlichen Blick auf die Schätze, von denen Magda noch nicht erzählt, denn Frau Helmuth fügte hinzu: »Wenn Du wieder zu uns kommen willst, Reinold, wird Magda sich gewiß sehr freuen. Du bist ja vernünftig und nicht so wild, wie die meisten anderen Knaben und wirst Magda, wenn sie draußen spielt, nicht zum Laufen verführen, daß sie Herzklopfen bekommt und ihrer Gesundheit schlimm schadet, wie der Arzt gesagt.«

Die Großmutter gab mir die Hand, und die Enkelin brachte mich bis an die Haustür. Der Schnee draußen war schon spurlos zergangen, und die Nachmittags-Maiensonne lag wieder auf der frisch duftenden Erde. »Die Großmama ist so ängstlich,« sagte Magda, »aber wenn ich erst ganz gesund wieder bin, da will ich's nachholen, und Du sollst mir beim Laufen nichts vorzugeben brauchen. Kommst Du morgen?«

Ich erwiderte schnell bereit »Ja –«

»Gewiß? Gib mir die Hand darauf – und alle Tage, wenn Du zum Onkel Billrod gehst.«

Es ward mir leicht, was ich selbst seit einer halben Stunde sehnlichst wünschte, zu versprechen. Doch bei ihren Worten kam mir das Gedächtnis an etwas und ließ mich fragen: »Ist Erich Billrod wirklich Dein Oheim?«

Sie verneinte. »Wir haben niemand, der mit uns verwandt ist; ich heiße ihn nur so, weil ich ihn lieb habe.«

»Dann wollte ich, Du hießest mich Deinen Bruder; ich habe auch niemand, mit dem ich verwandt bin.«

Ich hatte es, fast ohne zu wissen, was, geantwortet, aber in ihren schönen, schwermütigen Augen glänzte es freudevoll auf, und sie erwiderte sogleich:

»O, gern, das will ich tun, Bruder Reinold. Leb' wohl und vergiß Deine Schwester morgen nicht, Bruder Reinold!« –

Der Weg bis zu Erich Billrods Zimmer hinüber war nur kurz, doch noch nie hatten sich in einer Minute in meinem Kopfe so viele Gedanken über einander gedrängt. Ich war so glücklich und stolz, im Herzen war's mir so warm, wie noch nie, und doch lag es zugleich mit einer Angst auf mir, ich hätte Magdas Gesundheit vielleicht schlimm dadurch geschadet, daß ich sie zum Laufen verführt, und mein eigenes Herz klopfte heftig, wie ich an die sonderbar zitternde Bewegung des Kleides dachte, die ihr Herzklopfen verraten. An der Schwelle des Haupthauses wandte ich mich noch einmal um, da stand Magda noch unter der Tür ihres Häuschens, hell von der Sonne überschüttet, ein weißes Bildchen im Grün, und lächelte und winkte mir mit der Hand. Vor einer Stunde hatte ich noch nichts von ihr gewußt, und jetzt war sie meine Schwester, als wäre ich in dem kleinen Stübchen unter all' den bunten Wundern mit ihr aufgewachsen, und als gäbe es keinen heimlicheren und altvertrauten Fleck für mich auf der Erde, selbst nicht das Golddrosselnest drüben in dem einsamen Feldzaun. Und da es so von allen Seiten über mich hereinkam, drängte sich auch die Erinnerung an das einfältige Wort Fritz Hornungs dazwischen; in der märchenhaften Welt, wie sie mich heut umgab, schien es mir nicht mehr so töricht, und ich setzte den Fuß über Erich Billrods Schwelle mit dem Entschluß, ihn darum zu befragen.

Von Unterricht war der Verspätung halber heut auch keine Rede mehr, und es gelang mir bald, eine Gelegenheit zu finden, bei der ich meine Frage anbringen konnte. Ich stand vor Erich Billrod, sah ihm neugierig ins Gesicht und sagte: »Kann jemand auch zwei Väter haben?«

Er lachte. »Warum meinst Du?« Aber dann war es seine andere Art, mit der er hinzusetzte: »Ich denke, Du müßtest Dir selbst die Frage am erfreulichsten beantworten können, Reinold, da grade Du das Glück gehabt hast, als Waise einen zweiten, so christlich-ausgezeichneten Vater zu finden.«

Ich stand trotz meiner vorherigen Empfindung doch fast verblüfft vor der Erwiderung, die mithin dennoch Fritz Hornung Recht gab und versetzte stotternd:

»Also ist es doch wahr, was die Leute sagen –«

»Was sagen die Leute, amice

»Daß Du eigentlich mein Vater bist?«

Ich erschrak, fast noch ehe ich das letzte Wort zu Ende gesprochen, denn Erich Billrods Gesicht ward so weiß wie der Schnee, der vorhin draußen die Büsche überdeckte, und gleich danach glühte es ihm in den Schläfen auf, und es pochte darin, ähnlich wie Magdas Kleid auf der Brust zitternd hin und wieder geflogen. Seine Hand hatte sich hart, wie noch niemals, auf meinen Arm gelegt und umschloß ihn mit den Fingern, daß mir der Muskel schmerzhaft zuckte, aber das heftige, zürnende Wort, das ich über meine offenbar zu einfältige Frage als Begleitung von seinen Lippen erwarten mußte, kam nicht, sondern die Finger lösten langsam ihren Griff von meinem Arm, und er wiederholte nur, starr an mir vorübersehend: »Eigentlich?« –

Dann lachte er sonderbar, schrillen Klangs, der mich an Möwenschrei im Nordsturm erinnerte, auf.

»Eigentlich! Du bist ein kluger Geselle, Reinold Keßler, daß Du einen eigentlichen und einen uneigentlichen Vater haben zu müssen meinst. Sag' den Leuten, wenn sie es Dir wiedererzählen, sie seien Narren oder Schurken – und geh', es ist spät heut –«

Er schickte mich unverkennbar fort, ich stand zaudernd und fragte bekümmert: »Bist Du böse auf mich, weil ich so dumm gewesen?«

»Pah, Du bist ein sciolus

Das Wort und der Nasenstüber, den er mir dazu versetzte, ermutigten mich etwas wieder, daß ich noch zu fragen wagte:

»Was ist Magda denn, die, wenn sie von Dir spricht, Dich auch Onkel Billrod nennt, ohne daß Du doch eigentlich ihr Oheim bist?«

Sein Antlitz war wieder ruhig und freundlich begütigt, wie ich es bis heut nicht anders gekannt, und er lächelte:

»Dann ist Magda wohl eine sciola. – Woher weißt Du denn das?«

Ich erzählte, wie sie ihren Auftrag an mich ausgerichtet, daß wir zusammen gespielt und ich darauf in ihrem Hause gewesen, um ihre Schätze zu besehn, und daß ich morgen und jeden Tag wiederkommen dürfe. Erich Billrod nickte dazu: »Tu's – die Frommen würden sagen, Du verdientest Dir Gotteslohn damit –«

Er brach ab und stand einige Augenblicke schweigsam da, dann sah er mich an und fügte hinzu:

»Hast Du einmal einen weißen Schmetterling gesehen, Reinold, den die Natur am späten Nachmittag aus seiner Puppe hervorschlüpfen ließ, daß er nach Sonnenuntergang noch im kalten Schatten umherflatterte? Das war Magda Helmuth.«

*

Der Freitag-Nachmittag kam, auch der Schluß der Schulstunde mit ihm, doch unsäglich langsam, wie diese, rückte heut die Sonne am Himmel hinunter. Meine Erwartung steigerte sich mit jeder Minute zu höherer Ungeduld, ich freute mich, als ein Dunst am Horizont aufzog und wenigstens die Sonne vor der Zeit zu überdunkeln begann. Er verstärkte sich allmählich und bedeckte den ganzen Himmel mit grauem Blei, aber die Luft ward mit der dämmernden Trübung fast noch schwül-heißer, als sie den Tag hindurch gewesen. Dann sagte ich mir, es sei jetzt Zwielicht und die verabredete Stunde gekommen, und ich lief ins Feld hinaus, dem Zaunnest entgegen. Lea war bereits dort, doch empfing mich mit dem Gruß: »Es ist noch zu früh, Reinold, die Sonne ständ' noch am Himmel, wenn die Wolken nicht wären,« und wir hockten uns zusammen und plauderten. Ich sah sie zum erstenmal seit mehreren Tagen wieder und erzählte ihr, daß ich Magda Helmuth kennen gelernt und was diese für Herrlichkeiten von ihrem Vater besitze und mir gezeigt. Lea schaltete einsilbig ein: »Also darum bist Du nicht gekommen?« Und wie ich fortfuhr, zu berichten, unterbrach sie mich nach kurzer Weile mit dem Ruf: »Sieh' den Hasen, wie er drüben am Graben die Ohren spitzt, das ist amüsanter, als all' Deine fremdländischen Schmetterlinge, Vögel, Korallen und Geschichten.«

»Die sind auch nicht das Schönste daran,« entgegnete ich, »aber ich wollte, daß Du Schwester Magda selbst einmal sähest. Du müßtest sie auch lieb haben.«

Lea gähnte, hob die Hand über sich und sagte: »Ich glaube, es regnet.« Dann jedoch drehte sie den Kopf und fragte mit scharfer Stimme: »Was heißt das, Schwester Magda? Sie ist doch nicht Deine Schwester.«

»Nein, wir haben abgemacht, wir nennen uns nur so. Sie heißt mich ihren Bruder, ist das nicht hübsch?«

Ich wurde völlig sprachlos, denn Lea sprang plötzlich auf und in das grüne Haselgesträuch hinein, das sie fast verdeckte und aus dem nur ihr Kopf und ihre Augen, wie sie mir zum erstenmal aus dem braunen Laub entgegen gefunkelt, sich mir in's Gesicht wandten. »Hübsch?« wiederholte sie, »ich finde es abscheulich, eine häßliche Lüge, ein Mädchen seine Schwester zu nennen, wenn sie es nicht ist. Und noch mehr finde ich es einfältig und albern und kindisch – und von ihr – ich hätte nicht gedacht, daß ein Geschöpf so schlecht sein könnte.«

Damit knackte das Gezweig, und sie verschwand, und ich hörte, daß sie vom Wall auf das Feld hinuntersprang. Ich eilte ihr nach und rief: »Was willst Du, Lea? Sollen wir jetzt gehen?«

»Geh' Du zu Deiner Lahmen und Hinkenden und sorge dafür, daß sie kein Herzklopfen bekommt!« antwortete sie. »Ich mag heut nicht und gehe nach Haus.«

Es gelang mir indeß, ihren Arm zu fassen, sie zu halten, und ich entgegnete:

»Ich verstehe nicht, was Dich aufgebracht hat, Lea, Du bist heut launisch und ungerecht –«

»Nein, gerecht!«

»Ist es gerecht, etwas nicht zu halten, was man versprochen hat? Und bin ich nicht deshalb hierher gekommen, um Dich zu treffen?«

Sie sah mich zaudernd an. »Und bist Du deshalb nicht heute bei der – bei den Schmetterlingen und Korallen gewesen?«

»Nein, weil ich wußte, daß Du auf mich warten würdest.«

Nun nahm sie meine Hand. »So komm; was man verspricht, muß man immer halten,« und wir gingen am Rain entlang. Es regnete in der Tat, doch in seinen Sprühtropfen, die man kaum empfand, nur von den Zweigen rieselte es leis auf die Grashalme darunter nieder, die in seltener Unbeweglichkeit, von keinem Luftzug geregt in die Höh' standen. Auch die Ackerkrume wurde weich und hielt den Fuß zurück; ich sagte unwillkürlich: »Die arme Magda, auf dem schlüpfrigen Boden würde sie gar nicht gehen können. Hast Du denn kein Mitleid mit ihr, Lea?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte sie nicht gehen können? Sie wird sich nur so anstellen, damit Du sie bedauerst.« Und nach einigen Augenblicken des Nachdenkens fügte sie hinzu: »Hätte sie mit mir Mitleid gehabt, wenn sie gehört, daß die Christenbuben mich mit Steinen geworfen?«

»Gewiß, sie ist so gut –«

»Ich will aber kein Mitleid von ihr haben,« fiel Lea heftig ein, »und mir soll sie nicht gut sein –«

Sie verschluckte etwas und sprach nicht weiter. Es war jetzt wirklich tiefste Dämmerung, wir näherten uns, ohne das Dorf zu berühren, auf einem Umweg durch's Feld unserm Ziel und erreichten von der Rückseite den Garten, in welchem das geheimnisvolle Dach unter den Wipfeln hervorlugte. Man unterschied es kaum mehr, nur der weißliche Nebel, der meine Phantasie oft aus der Ferne gereizt, stieg jetzt, wallend und zerflatternd, dicht vor uns aus dem Dunkel auf; rund umher tropfte es hörbar von blütenschwer niederhängenden Syringenbüschen, die fast betäubenden Geruch in die schwüle Luft des eingeschlossenen Raumes ausströmten. Von weitem kam ein leises Rollen und vermurmelte; es legte sich mir mit einer Art von Unheimlichkeit um die Sinne, daß sich das Verlangen in mir regte, von meiner Absicht abzustehen, doch ich schämte mich, es auszusprechen und fragte nur:

»Was geschieht denn eigentlich drinnen, Lea? Es ist schon spät, und wenn es nicht sehr interessant ist, tue ich vielleicht besser, nach Hause zu gehen, ehe Doktor Pomarius mich vermißt.«

»Hast Du auch Furcht, wie Deine einfältige Tante Dorthe?« flüsterte sie halb spöttisch.

Das stachelte meinen Knabenehrgeiz. – »Nein!«

»So wirst Du's schon sehen, wenn Du drinnen bist, und daß es nichts Teuflisches und nichts zum Erschrecken ist.«

Lea flüsterte es, wie zuvor, ich konnte ihr Gesicht nicht mehr gewahren, aber mir klang's, als ob ihre gedämpfte Stimme ein hervordrängendes Lachen unterdrücke. »Denke dran, daß Du mir versprochen hast, keinen Laut von Dir zu geben,« wisperte sie hinterdrein, und sie zog mich an der Hand in eine niedrige, dunkle Rücköffnung an der Wand und durch tote Finsternis einige Schritte weiter. Ich folgte ihr mit laut klopfendem Herzen, offenbar kannte sie auch in der völligen Lichtlosigkeit jeden Fußbreit genau, denn sie duckte mich nach einigen Sekunden auf einen feuchten Boden nieder, drückte ihren Mund an mein Ohr und raunte: »Wir müssen warten, sie sind noch nicht da.«

Ich sah umher, denn es lag ein Schimmer jetzt vor mir, der, wie mein Auge sich gewöhnte, allmählich etwas heller wurde, ohne daß ich erkennen konnte, woher er seinen Ursprung nahm. Nur die Mutmaßung kam mir, daß er aus der Höhe von einer dicht verhängten, rötlichen Ampel stammen müsse, die ihren matten Schein so undeutlich auf eine ziemlich breite, ab und zu leicht glitzernde Fläche vor mir herabwarf, daß ich mir nicht zu deuten vermochte, woraus die letztere bestehe. Dabei lag mir eine feuchte Hitze so drückend auf den Lidern, daß ich diese kaum geöffnet zu halten imstande war und mich nach und nach der Einbildung hingab, ich liege in einem wunderlichen, beängstigenden Traum, aus dem ich plötzlich von Fritz Hornungs lachendem Ruf und Rütteln: »Reinold, Siebenschläfer, Murmeltier, Dachs, es hat sieben geschlagen!« aufwachen müßte. Dann hörte ich in der halben Betäubung ein Geräusch von Türen und Stimmen, Rauschen von Kleidern, und es ward wieder still, bis nach einer Weile eine Hand mich anstieß und ich Leas hauchende Stimme erkannte, die mir »Da!« zuflüsterte. Ich öffnete gewaltsam die Augen, doch sah ich nichts, als einen weißen, mystischen Schimmer, der auf die mattglimmernde Fläche heranzuschweben schien, und hörte ein leises Plätschern, wie das Aufschnellen eines Fisches, oder wie von einem Fuß, der sich prüfend ins Wasser taucht.

Dann schrie ich von plötzlicher Blendung, Schreck, unheimlichem Grausen und Verwirrung aller Sinne überwältigt laut auf. Der kaum wie von Sternenlicht erhellte Raum war wie mit einem Schlage von schwefelgelber Flamme greller als der vollste Mittagssonnenglanz es vermocht hätte, überlodert, ich erkannte die rätselhafte Fläche vor mir als ein aus Steinen und Zement ausgemauertes, mit leicht dampfendem Wasser bis fast zum Rand gefülltes Becken, in das von drüben aus einer Art Nische eine kleine Holztreppe hinabführte, und auf der vordersten Stufe stand eine völlig unbekleidete Gestalt, der das schwarze Haar Leas, nur länger noch, über die vollen weißen Arme und den Rücken niederzufallen schien. Auch die Gesichtszüge Leas waren es, nur nicht die eines Kindes, sondern die eines erwachsenen jungen Weibes – und so tauchte die weiße, nackte Gestalt – die erste, die ich im meinem Leben sah – einem blendend bestrahlten und Strahlen ausgießenden Marmorgespenst gleich, schreckhaft drohend aus der Finsternis.

Ein Augenblick nur, und alles war wieder in Nacht verschwunden. Ich weiß nicht, ob mein Schrei der erste war, ob das Gekreisch von drüben zugleich ausgestoßen worden. Ein Schmettern und ein furchtbarer Krach, wie Einsturz eines Turmes, verschlang alles; ich fühlte Leas zitternde Handfläche auf meinen Mund gepreßt, jenseits des Wasserbeckens schrie es: »Der Blitz hat ins Bad geschlagen!« Wie wir hinausgekommen, vermochte ich nicht zu sagen; um uns sauste der Regen mit der Wucht von Schlossen und der Sturm heulte und peitschte den Wipfel einer, wie lodernde Kerze aufflammenden Föhre hinüber und herüber. Wir standen ziemlich fernab und ich starrte darauf hin und hörte wieder wie im Traum Leas Stimme mit noch bebenden Lippen sagen:

»Es hat nur in den Baum geschlagen, nicht ins Bad. Gottlob, daß sie alle so vor Schreck aufschrien, sonst hätten sie Dich gehört und uns entdeckt, denn grad meine Muhme Rebecca hat Augen wie ein Habicht. Aber der Blitz kam von unserer Seite oben durch's Fenster und blendete sie, darum hat sie uns nicht gesehen.«


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