Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Unsere Augen unterhalten manche Bekanntschaft mit Menschen und Dingen, ohne daß unser Kopf es anerkennt, und deutlich steht in meiner Erinnerung, wann ich den grünen Kirchturm, unter dem ich täglich vorüber in's Gymnasium ging, zum erstenmal mit Bewußtsein gesehen. Ich kam mit anderen Knaben von einer nachmittägigen Fußtour zurück, der Stiefel drückte mich, ich war totmüde und konnte nicht weiter, sondern setzte mich auf einen Stein am Wege. Meine Kameraden bekümmerte das nicht übermäßig, ihnen tat der Fuß nicht weh, und sie hatten ganz recht, nicht zu begreifen, wie und warum er Einem überhaupt weh tun könne. Ich habe in späteren Jahren gefunden, daß die erwachsenen Menschen es zumeist nicht viel anders machten, an Leiden des Körpers und Gemüts gemeiniglich mit dem hübschen Trostwort vorüberliefen: »So etwas kommt und geht, man muß nur Energie dagegen aufwenden und nicht gleich den Kopf hängen lassen.« In Anbetracht, daß selten jemand einen besseren Rat im Besitz hat, ist freilich auch dieser gut, und wer ihn nicht befolgt, mag es sich selbst zuschreiben, wenn die Teilnehmenden ärgerlich werden und sich um seine Eigenwilligkeit nicht weiter bekümmern.

Meine Altersgenossen ermahnten mich also, mit ihnen zu gehen, und da ich antwortete, daß ich im Augenblick nicht könne, trösteten sie mich mit der zutreffenden Voraussetzung, ich würde, sobald es mir möglich sei, nachkommen, und marschierten schwatzend, lachend, ich glaube einer von ihnen auch – wenngleich ohne großen Genuß – rauchend, vorwärts. So blieb ich mithin auf dem Stein sitzen und ließ nicht den Kopf, doch den Fuß hängen. Kurz vielleicht auch den ersteren, dann indeß überkam's mich mit einem unbekannten und jedenfalls weniger beunruhigenden Genuß, als ihn die Zigarre dem Fortwandernden bereitete. Unfraglich hatte ich mich oft in meinem etwa zehnjährigen Leben allein befunden, doch mir war's, als geschehe dies jetzt zum erstenmal, und ebenso, obwohl jeder Vernünftige höchst mutmaßlich die Landstraße als langweiligsten Aufenthaltsfleck vermieden hätte, schien mir plötzlich, daß es nichts Köstlicheres auf der Welt geben könne. Es war Sommerspätnachmittag und alles dicht und grau mit Wegstaub bedeckt. Aber darunter grünte, blühte und wirrte es sich in Hecke und Graben durcheinander, Haselstauden mit noch winzigen Nußdolden, Geißblatt, Kälberkraut. Von einigen Pflanzen wußte ich die Namen, hundert andere, die mein Blick jetzt rundumher entdeckte, waren namenlos, doch die bekannten wie die unbekannten sah ich alle in dieser Stunde zum erstenmal. Mir war, als hätten sie früher ganz andere Gesichter oder vielmehr gar keine gehabt – nur flüchtig indes dauerte diese Empfindung – dann ging mir dämmernd eine Vorstellung durch den Kopf, wie wenn ich bisher keine Augen besessen. Sehr dunkel und unverständlich; ein leiser Windschauer spielte nun durch das Zaunlaub der einsamen Landstraße und mir kam's vor, als laufe er mir zugleich sonderbar über den Rücken herunter. Ich sah die Blätter sich drehen und wenden, sie flüsterten und wurden wieder lautlos still.

Meine Erinnerung bewahrt mir kein Angedenken an eine Zeit, in der ich geglaubt hätte, daß die Tiere und Blumen jemals wirklich Sprache besessen, und so glaubte ich auch jetzt keineswegs, einer Unterhaltung der Blätter untereinander beizuwohnen. Aber mein bereits am Cornelius Nepos kritisch geläuterter Verstand konnte das unbestimmte Gefühl nicht überwinden, daß sie zu mir redeten, in einer Sprache, deren Anfangslaute ich heut auch zum erstenmal vernahm, von deren Syntax jedoch auf der Schulbank noch nie die Rede gewesen. Ich wußte genau, es sei höchst natürlich und notwendig, daß Blätter sich im Winde bewegten, und bei einigem Nachdenken hätte ich vielleicht sogar aus der Fülle meiner Quartanerkenntnis einen physikalischen Grund dafür aufzubieten vermocht. Doch nicht, daß sie es mußten, war märchenhaft, sondern daß sie es taten und daß mir dabei ein Schauer über den Rücken lief.

Eine Goldammer saß mit sonnbeglänzter Brust mir gegenüber auf dem höchsten Haselzweig und sang ihre Tonleiter mit dem langausgedehnten Schlußakkord, auf der Straße trippelten ein paar Haubenlerchen, suchten mit den Augen im Staub, pickten mit dem Schnabel und nickten mit dem Schopf. Auch das war so selbstverständlich wie möglich; was sollten Vögel denn tun als singen, Nahrung suchen, fortfliegen? So natürlich war's, daß es nicht einmal in Rebau's Naturgeschichte der drei Reiche stand, und nur ein Tauber und Blinder wußte es nicht. Aber warum war's mir denn wieder heut nachmittag, als sei ich, trotzdem ich den Rebau dreimal von der Einleitung bis zum Schluß durchstudiert, bis jetzt taub und blind gewesen?

Redete der Gesang einer Goldammer, das Umhertrippeln einer Schopflerche auf der Landstraße denn etwa eine – wie sollte ich sagen? – deutlichere, bezeichnendere oder vielmehr eigentlichere Sprache als das dicke Buch des Professors oder Oberlehrers an irgend einem anderen Gymnasium, der alles wußte und kannte, was vom Menschen bis zum Feuerstein herunter auf der Erde existierte?

Der Gedanke war so lächerlich, daß ich darüber lachen mußte. Doch im Grunde war er mehr als das, abgeschmackt, frevelhaft und strafwürdig, denn er verglich mich mit einem Oberlehrer und raunte mir die heimliche Frage ins Ohr, ob diesem wohl selbst die drei Reiche seiner Naturgeschichte schon einmal so vorgekommen wie mir heut nachmittag und ihm dabei ein Schauer über den Rücken gelaufen sei? Und als Antwort hörte ich meinen eigenen Klassenordinarius mit weiß aufgedrehten Augen sagen: »Dummer Schlingel, soll ich ihm einmal einen Schauer über den Rücken laufen lassen? Konjugiere er mal das Passiv von ύπτετ und hüte er sich mit Seinen albernen Schopflerchen, daß ich ihn nicht selbst beim Schopf fasse, Er Windbeutel mit Seinem Wind, der zu ihm geredet!«

Es gab keine Worte für das, was mir da plötzlich auf dem Stein nicht in Ohr und Auge, sondern, mich wollt's so bedünken, ohne Vermittlung gradhinein in die Seele gesprochen; indes zugleich fühlte ich, wenn es auch in Worten ausdrückbar gewesen wäre, so hätte es doch niemand verstanden, wenigstens niemand, den ich kannte. Und wieder im selben Augenblick war's mir, ich müsse einen solchen, der es verstände, unbeschreiblich lieb haben und ohne das könne man überhaupt Keinen lieben.

Mein Fuß schmerzte durchaus nicht mehr, aber mir kam kein Antrieb, aufzustehn und den andern nachzugehen. Der Schatten einer vereinzelten Pappel ziemlich weit drüben, von dem ich anfänglich nichts wahrgenommen, kam über den Zaun geklettert und wuchs wie ein riesiger vorkriechender Schneckenleib gegen meine Füße heran. Das veranlaßte mich, nach der Sonne in die Höhe zu blicken, und dabei sah ich drunten in der Ferne den spitzen grünen Kirchturm vor mir.

Nichts als ihn, wie er über den gewölbten Rücken einer Waizenkoppel herüberstieg, die alle übrigen Gebäude der Stadt mit ihrem gelbwerdenden Vorhang verdeckte. Er war sehr hoch, stach wie eine nadelartige Pyramide in den mattblauen Abendhimmel hinein und schaute unfraglich nach allen Richtungen wie nach dieser, weit ins Land und auf die See. Aber kurios, als sei alles um mich herum und in meinem Kopf wunderlich heut, kam mir nicht der Gedanke, was er augenblicklich, so weit er um sich sehe, gewahre, sondern was er in früheren Tagen, an denen er schon immer ebenso dagestanden, gesehen.

Es entstand ein plötzliches Gedränge in meinem Kopf, so viel kam mir auf einmal in den Sinn, worauf er heruntergeblickt haben mußte. Immer wieder auf weiß verschneite Felder, auf blühende Kirschbäume, und auf gelbwogendes Korn, wie jetzt. Auf Feuer- und Wassersnot, wie ich sie auch schon erlebt, auf andere, noch sonderbarere Giebelhäuser, als sie heut noch da und dort in den alten engen Gassen standen. Auf Mauern und Tore, deren Ueberbleibsel noch stellenweise geblieben waren, von denen ich gehört, daß sie dereinst die ganze Stadt umschlossen, um diese gegen feindlichen Angriff zu schützen. Hatte der grüne Turm auch einen solchen mitgesehen? Er hätte, um es nicht zu tun, die Augen zudrücken müssen, wie ich in diesem Moment, aber trotzdem hätte er doch wie ich den wilden Lärm um die Stadtmauern, das Geschrei der Kämpfenden, den Jammer der Verwundeten gehört. Ich lief plötzlich mitten unter den dicksten Haufen in wunderlichsten Anzügen, ein donnerartiges Dröhnen kam fortwährend von drunten die Straße herauf, alles rannte, fragte, schrie, und ich rannte, fragte, schrie mit. Nun ein furchtbares Krachen, und jemand neben mir kreischte in höchstem Entsetzen: »Sie haben das Tor eingebrochen – sie kommen – sie sind da!« Kopfüber stürzte ich mit dem wilden Schwarm davon, eine Steintreppe hinan, um in ein Haus zu flüchten, aber die Tür war verschlossen. Ich hämmerte mit dem alten Messingklopfer, von dem mich ein Löwenkopf mit spöttisch verzerrtem Maul angrinste, und da kamen sie um die Ecke im Sturmschritt mit Eisenkolben, Nachtwächter-Morgensternen, Hellebarden, wie bei unserm Vogelschießen.

Eine Fliege kitzelte mich auf der Stirn, ich jagte sie fort und schlug die Augen auf – da lag der alte grüne Turm über der gelben Waizenkoppel unbeweglich, nur fing die Dämmerung an, ein schattenhaftes Gewebe um ihn zu spinnen.

Mich hatte er nicht unter dem Getümmel gesehen, wie ich mir eingebildet, aber gewahrt hatte er es doch, grad so. Gewiß auch einmal einen Knaben in so tötlicher Angst; nur andere Menschen als heut, lang' begrabene, vergessene, von denen er allein noch wußte.

Andere Menschen, lang' begrabene – auch kürzer erst begrabene – darunter meine Eltern, meinen Vater, meine Mutter.

Ja, der Turm hatte auch sie gesehen; zum erstenmal betraf mich dieser Gedanke. Es war wieder selbstverständlich, daß ich Eltern gehabt, denn als sie gestorben, hatte Doktor Pomarius, wie er mich ins Haus und die Vormundschaft für mich übernahm, obendrein gesagt: »Ich werde Dir jetzt Vater und Mutter sein, Reinold,« und wer es mir später erzählte, wurde von der Erinnerung noch zu Tränen gerührt, aus dem Munde des ernsten Schulmannes so zartfühlend für das betrübte Kindergemüt berechnete Worte vernommen zu haben. War ich eigentlich damals so betrübt gewesen? Ich trug keine Erinnerung davon in mir, ebenso wenig wie an meine Eltern selbst. Höchstens hatte mich ab und zu eine dunkle Vorstellung berührt, daß ich, da Doktor Pomarius mir nach seiner Erklärung Vater und Mutter darstellte, keinen Grund besaß, diese selbst für mich ins Leben zurückzuwünschen.

Nun verknüpften sich mir plötzlich mit meinem Herumdenken zwei närrische Einfälle. Wäre dem Doktor Pomarius, wenn er hier auf dem Stein gesessen, vorhin ebenfalls ein Schauer über den Rücken gelaufen – oder etwa meinen Eltern?

Die erste der beiden Fragen konnte ich mir selbst beantworten. Ich wußte garnichts bestimmter auf der Welt, als daß sie sich unbedingt verneinen ließ. Und wenn der alte Schulpedell mir mit Schlägen ein Ja hätte herausnötigen sollen, ich würde doch Nein gesagt haben.

Eine Antwort auf die zweite Frage war für mich schwierig, eigentlich unmöglich. Ich konnte sie mir nur indirekt auf dem Umwege über Doktor Pomarius erteilen, der ja an die Stelle meiner Eltern getreten, also –

War es eine Sinnestäuschung? Wie ich zufällig bei dieser Erwägung aufsah, schüttelte der grüne Turm drüben deutlich verneinend seinen Goldknauf, und unwillkürlich fing ich an halblaut hinüberzufragen: »Also wäre meinen Eltern –?« und da unterbrach er mich, indem er ebenso entschieden nickte.

Mußte er es nicht wissen, er, der sie tausendmal gesehen? Ich fühlte mich auf einmal innerlich glücklich wie noch niemals, mir war's, als sei die am Himmel verschwundene Sonne nochmals blitzschnell zurückgekommen und habe mich eine Sekunde lang mit wundersamer Mittagswärme übergossen. Und aus dem wonnigen Gefühl rann ein süßer Schauer jetzt mir durchs Herz, der Doktor Pomarius sei mir nicht in Wirklichkeit Vater und Mutter, sondern ich hätte diese lieb gehabt, würde sie jetzt und immer lieben, wenn das Grab sie mir zurückgäbe.

»Hab Dank!« sagte ich laut und nickte dem alten Turm zu, der mir seit wenigen Minuten zum liebsten, vertrautesten Freunde geworden. Er erwiderte nichts, hüllte sich nur schweigsam tiefer in Zwielicht. Ueber mir schoß eine Fledermaus im Zickzack durch die Luft, und die Nachtstimmen der Felder begannen ihr eintönig-schwermütiges Konzert. Doch ich sprang von meinem Sitz und sang fröhlich dazwischen; ich wußte, daß ich hinfort zu keiner Stunde in der Stadt mehr allein sei, und ging meinen Kameraden nach, voll Dankes, daß sie mich heute allein gelassen.

*

Ist es meine eigene Erinnerung, oder zieht die Resedenkerze ihren strengen Duft hindurch?

Es war ein kleines Städtchen, das unter dem alten Grünspanturm lag, vielleicht mehr still als klein, denn immerhin bildete es den ansehnlichsten Ort der Provinz und fühlte sich als ihr Haupt vom Scheitel bis in den Zeh, oder von den Spitzen der Gesellschaft bis zur Basis der Bevölkerungspyramide hinunter. Die Stadt lag an der See, und Fremde fanden, daß sie in ihrer Umgebung das einzig Häßliche sei. Wer an einem Winter- oder Regentage durch sie hinging, hatte nicht Muße, darüber nachzudenken, da er in steter Gefahr des Versinkens im Schmutz schwebte, doch ein heller blauer Sonnentag ließ in den engen, dumpfluftigen Gassen annähernd das Gefühl des lebendig Begrabenseins erwachen. Zum Glück deshalb war der letztere ebenso selten, wie ein weißer Sperling, und jene andern so häufig, wie die grauen. Der Winter dauerte vom September bis in den Juni, und in der übrigen Zeit pflegte es zu regnen. Es gab sogenannte Frühlingstage, an denen beides nicht zutraf; dann pfiff der Ostwind vom heitern Himmel her durch die Gassen, daß landesunkundige Reisende die Veilchen beschuldigten, keinen Geruch zu haben, während einfach die Nasen aller Tadler vom Schnupfen verstockt waren. Im Allgemeinen zeichnete der Winter sich gleicherweise durch Milde, wie der Sommer durch Kälte aus, das Thermometer allein gab keinen Anhalt darüber, ob Januar oder Juli im Kalender stehe, und die Einwohner der Stadt benannten diese nicht häufig vorkommende Erscheinung »ein durch die Lage zwischen zwei Meeren köstlich gemildertes Klima«. Denn es gehörte zu den vortrefflichen Eigenschaften der Stadtinsassen, daß sie die Bewunderung für alles mit ihrem Heimatsort Zusammenhängende auch auf die Eigenschaften des Himmels darüber ausdehnten, in der Kälte anerkennend auf die Regenlosigkeit hinwiesen und bei andauernden Wolkenbrüchen die etwaige Windstille als etwas Ausgezeichnetes hervorhoben.

Unter diesem Himmel besaß die Stadt Vertretung alles dessen, was die Reputation einer Musteranstalt und eines Augenmerks der näher und ferner umwohnenden Menschheit erheischte. Sie betrieb Handel und Wandel zur See und zu Lande; an den Rändern landein herrschten die Strohdächer vor, und die mehr oder minder reinlichen, doch insgesamt nutzbringenden Vierfüßler standen in häuslich-familiärem Verhältnis zu den unmündigen und erwachsenen Zweifüßlern, welche vorzugsweise dem Kohl- und Rübenbau oblagen. Sie vollbrachten Außerordentliches im Essen von Brot, Kartoffeln und Klößen und unterschieden sich dadurch von den Stammgästen des Quartiers an der Seeseite, die Bewunderung durch ihre Leistungen auf dem Gebiet des Trinkens erregten. Die letzteren waren ihrem Beruf gemäß nicht so seßhaft, wie die ersteren, sondern wechselten stets mit dem Ein- und Auslaufen der Schiffe, hielten jedoch an der Beständigkeit der Natureinrichtung fest, daß nicht die Brotnahrung, sondern der Konsum von Rum Betrunkenheit erzeugt.

Zwischen diesen verschiedenartigen Quartieren lag das Hauptkorps der Stadt, wenn die Ausdrucksweise weniger auf die Gebäude als auf die darin Wohnenden Rücksicht zu nehmen berechtigt ist, und diese strategische Bezeichnung ließ sich wieder in die Unterabteilungen von gemeinen und Elitetruppen, Subalternen, Chargierten und Generalstab zerlegen. Den letzten bildeten die Spitzen der Behörden, administrativen, richterlichen, polizeilichen und hundertfach anderen Standes, in corpore diejenigen, deren Unterschriften zur Feier des landesherrlichen Geburtstags geziemendst aufzufordern und einzuladen befugt waren. Sie bewegten sich bei diesem festlichen Anlaß der Mehrzahl nach in Uniformen, von denen jede einzelne in Verbindung mit der darüber hervorragenden Würde des Gesichtes bei der gaffenden Straßenjugend die Vermutung wachrief, den zur Verherrlichung seiner Geburt herzugekommenen König selbst vor sich zu sehen, bis irgend eine näher eingeweihte Persönlichkeit die allgemeine staunende Ehrerbietung etwa durch den Ruf: »Es ist nur der Obersteuerrevisor Oldekop!« etwas beschwichtigte. Im Allgemeinen jedoch überwog dieser Tag an öffentlich dargebotenem Genuß sogar den Aufzug der Schützengilde, obwohl der letztere einige Feinschmecker auf dem Gebiet imposanter Kostümierung um der Massenhaftigkeit des Eindrucks willen den Vorzug gaben.

Zu den offiziellen Spitzen der Behörden zählte in erster Reihe auch der rector magnificus der Universität, von dem wir uns mit geheimem Schauer zuraunten, daß ihm, sobald er seinen violettfadenscheinigen Sammetmantel aus dem 17. Jahrhundert angelegt und das Baret auf die Perrücke gedrückt, das Recht zustehe, den König ›Du‹ zu nennen, wie unser Klassenlehrer uns Quartaner bis zur Sekunda hinauf. Es lag etwas tief Geheimnisvolles um die Magnifizenz, die eigentlich in dem Mantel steckte, denn wenn er ohne diesen einherschritt, begrüßte er sich mit den übrigen Spitzen der Stadt, wie ein Mensch mit dem anderen, sogar vermittelst eines sehr abgegriffenen Filzhutes, so daß mir allmählich ein Zweifel darüber zu keimen anfing, ob er wirklich, wie der Papst, – vorausgesetzt, daß er den Sammetmantel angezogen – jeden, der sein Mißfallen errege, auf einen Holzstoß legen und verbrennen lassen könne. Der Zweifel aber hat eine um sich fressende, weiter greifende Natur, und so kam es – doch ich spreche an dieser Stelle nicht von mir, sondern von der Stadt und ihren Bewohnern. Und demgemäß zunächst

»Wandelten Läftrygonen gewaltvoll dorther und daher,
Tausende, gleich nicht Männern von Anseh'n, sondern Giganten.«

Allerdings in höherem Sinn, als der Vater Homer es gemeint, denn diejenigen, welche mir, nachdem ich mit dem edlen Dulder Odysseus umherzuirren begonnen, unwillkürlich als moderne Nachkommen jenes Riesengeschlechtes erschienen, erhuben auf diese Erbschaft weniger durch die reckenartige Bildung ihrer Körper, als durch die allen gemeinsam ausgeprägte Gewaltigkeit des Geistes Anspruch. Sie bedurften keiner außergewöhnlichen, offiziellen Anlässe, um ihr Elitewesen an den Tag zu legen, sondern sie bildeten auch im gewöhnlichen Lauf der Dinge ebenso gut bei Nacht wie bei Tage jederzeit die geistigen Spitzen der Stadt; auch nannte man sie nicht Lästrygonen, sondern Professoren, und unterschied sie wieder in ordentliche und außerordentliche, eine Distinktion, deren Verständnis mir anfänglich einige Mühe bereitete, da mir alle von jeher in gleicher Weise außerordentlich erschienen. Erst mit reifendem Verstande gelangte ich zu der Einsicht, daß das Außerordentliche ihnen gemeinsam von früh auf – gewissermaßen durch Prädestination – als unveräußerliche Kardinaleigenschaft anhafte und daher auch bei den ›ordentlichen‹ stets stillschweigende Voraussetzung sei, wohingegen die außerordentliche Außerordentlichkeit, wenn überhaupt von einer Erhöhung die Rede sein konnte, eine solche noch als möglich hinstellte. Der Gipfel der Menschheit war erreicht, doch es befand sich gleichsam noch eine Aussichtswarte darauf, auf der zeitweilig nur eine gewisse Anzahl ordentlichen Platz zu finden vermochte, und so ließ sich die Summe der übrigen, auf das Heruntersteigen eines der droben Befindlichen Wartenden mit einer Art Warteschule vergleichen, die ausschließlich aus Lehrern bestand. Sich einmal einer Aufnahme unter diese würdig zu erweisen, bildete aber die tägliche Ermahnung des Vaters für einen das Gymnasium besuchenden Sohn, es erhöhte die süßeste Mutterhoffnung schon vor der Geburt, und wer das Wort mensa zu deklinieren anhub und darunter nicht als höchstes Ziel irdisch erreichbarer Glückseligkeit heimlich das Klapptischchen eines Katheders verstand, war in der Tat der besonderen berufenden Gnade des Himmels, die ihn in dieser Stadt zum Licht der Welt kommen ließ, nicht wert.

Ich erwähnte bereits, daß die lästrygonische Aehnlichkeit sich nicht auf das Aeußere miterstreckte, wenigstens gibt die Schilderung Homers keinen Anhalt dafür, daß die Mehrzahl der Bewohner der Stadt Telepylos bei dem Besuch des Odysseus sich aus Buckligen, Dickbäuchen oder hageren Spinnenfiguren zusammengesetzt habe. Dagegen traf vollständig zu, daß dort

»ein Mann schlaflos zwiefälttigen Lohn sich erwürbe,
Diesen als Rinderhirt und den als Hüter des
Wollvieh's,«

und die verdienstvolle Tätigkeit wies auf beiden Seiten die erhebendste Uebereinstimmung auf. Wenn die antiken Lästrygonen die Gefährten des Odysseus packten und »zur Nachtkost rüsteten« (oder rösteten?), »unmenschliche Lasten Gesteins von den Felsen herab« warfen, unter Gekrach Schiffe und Menschen damit zerschmetterten und die letzteren »wie Fische durchbohrt zum entsetzlichen Fraß hintrugen« – so edierten, emendierten und purifizierten die modernen altklassische Schriftsteller, zerschmetterten gleich Fischen (nach der Methode, welche Köchinnen bei Karpfen anwenden) die Autoren ihrer eigenen Zeit, ergründeten die Geheimnistiefen des Graals und des Paraklets, setzten fest, ob nach der Carolina ein Verbrecher gerädert oder gevierteilt werden müsse, und fraßen in ciceronianischem Latein jeden anders Meinenden und zum Schluß sich untereinander mit Haut und Knochen auf, ohne daß dies indes ihrem Appetit, ihrer Lebendigkeit und ihrer kollegialischen Eintracht Eintrag bereitete.

Die Häuser der Stadt, die Perlmuscheln ihrer Bevölkerung, boten weder von Außen noch im Innern etwas Ansehnliches. Sie waren, mit wenigen Ausnahmen, weder groß noch klein, weder alt noch neu und enthielten sich jeder Hinweisung auf ein Jahrhundert und überhaupt auf einen Baustil. Manchmal staffelten sie sich, wie auf einem Rückzug von der Straße begriffen, einer aus Stockwerken bestehenden Treppe ähnlich, in die Höhe, und manchmal hingen ihre Oberstübchen so weit über, als ob es darin nach dem Sprichwort nicht ganz richtig sei. Den ins Innere Tretenden empfing zumeist, auch in den Häusern der weltlichen und geistigen Spitzen, ein ziemlich lichtloser, mit feuchtriechenden Steinfliesen bedeckter Flur, und eine mehr oder minder breite, doch im Durchschnitt gleichmäßig von den Füßen eines Jahrhunderts ausgehöhlte Holztreppe mit wackelndem Geländer führte aufwärts in die der ›besser situierten Minderheit‹ zukommende ›Beletage‹. Diese machte ihrem Begriff ungefähr gleiche Ehre, wie ihr Name dem Teil der französischen Sprache, welcher jenseits des Rheines gesprochen wird; sie bot abwechselnd enge und sehr geräumige Zimmer, die ein tertium comparationis in der von ihnen geübten Wirkung fanden, daß sie jedem Gefühl für Behaglichkeit unbestimmte Prokrustesgelüste einflößten. Was alle gemeinsam auszeichnete, war die Abneigung der Wände, Fußböden und Decken gegen horizontale und vertikale Richtungen, die eine wechselseitige Zuneigung und die Uebereinstimmung hervorrief, daß in jedem Raum ein annähernd kugelförmiger Gegenstand nach Axiomen der Gravitation nur an einem einzigen Eckpunkt Ruhe fand. Im übrigen wies der Anstrich des Holzgetäfels, der Türen, Fensterrahmen, Simse und Böden überall in zwillingsgeschwisterlicher Aehnlichkeit die nämliche bleigraue Farbe auf, die in genauester Harmonie mit dem zumeist ebenso gearteten Tageslicht eine für Klosterräume oder pennsilvanische Zellen unübertreffliche Stimmung von Melancholie verbreitete. Mit geschlossenen Augen glaubte man diese zu riechen und zu schmecken, und der Anblick der Einrichtungsgegenstände, welche die Stube warm und wohnlich machten, hätte einen Engländer vermutlich zu einer Nordpolexpedition veranlaßt und der Phantasie eines amerikanischen Schriftstellers zu Schilderungen hinterwäldlerischer Ansiedlungen Erregung verliehen. Alles in allem wohnten auch die Könige und Fürsten des Geistes nicht als ob sie von Gottes Gnaden die Grundherren, sondern nur die Pächter desselben seien, die statt des Herrenhauses mit einem altersschiefen, grämlichen Wirtschaftsgebäude abgefunden worden, und es legte glänzendstes Zeugnis für den Vollgehalt ihres inneren Würdebewußtseins ab, daß sie trotz häufig vorspringenden überkalkten Deckenbalken den Kopf in ihren Wohnungen mit der nämlichen Ueberzeugungstreue nicht um eine Linie niedriger trugen, als draußen, mit der Treue und Unantastbarkeit der Ueberzeugung, nicht das Residenzschloß mache den König, sondern dieser gestalte sola praesentia die Hütte zum Palast.

So die Stadt, die Straßen, die Häuser, die Wohnungen. Es bleibt übrig, ein paar Worte über die Bewohner dieses externen und internen Komplexes als Gesamtbegriff beizufügen. Man pflegt sich zu solcher Zusammenfassung der halb impersonellen Bezeichnung die Leute zu bedienen, und so waren die Leute dieser Stadt vor allem überaus achtbar, nicht aus Spezialgründen, sondern um ihrer allgemeinen Existenz willen, und sie hüteten ihre Achtbarkeit, wie ein Bohnenkönig seine Majestät. Unerschütterlich bewies sich ihr Abscheu gegen Nichtbeachtung religiöser und moralischer Vorschriften, ohne indes engherzig auf einer zu umfassenden Deutung dieser geheiligten Begriffe zu bestehen. Als Hüterinnen derselben hatte sich eine freiwillige weibliche Ehrengarde gebildet, deren Reihen kein bestimmt vorgeschriebenes Lebensalter erforderten, im allgemeinen jedoch bei der gereiften Erfahrung auch den regeren Eifer voraussetzten, und zur Ehre der Stadt ließ sich sagen, daß fast in keinem Hause eine dieser unermüdlichen Wächterinnen fehlte. Um mit vereinten Kräften alles im Verborgenen Anstößige an's Licht und damit zur Rechenschaft zu ziehen, fanden in den meisten Häusern regelmäßige Nachmittagssitzungen statt, deren Angehörige sich streng jedes verwerflichen Genusses spirituöser Getränke enthielten, sondern zur Belebung ihrer angestrengten körperlichen und geistigen Organe sich einzig der erforderlichen Tassen Kaffees bedienten. Da die Nächstenliebe den Hauptzweck der Versammelten bildete, lag diesen als oberste Pflicht auf, eingehend zu untersuchen, woher jener Gefahr drohen könne, und, insofern das noch Unbekannte am begründetsten derartigen Verdacht erweckt, erstreckte sich die sorgsame Forschung vorwiegend auf etwa von auswärts neu in die Stadt gelangte fremde Elemente. Die Theologie wie die Psychologie stimmen darin überein, daß kein Mensch von Schwächen frei sei, und weil diese gemeiniglich ein erhellendes Licht über den ganzen Charakter werfen, war es natürlich, daß die Fürsorglichen zuvörderst ihr Augenmerk auf die Mängel der Hinzugekommenen richteten. Sie blieben jedoch nicht in oberflächlicher Weise bei sittlichen und psychischen Gebrechen stehen, sondern erweiterten ihr Interesse stets unparteiisch auch auf etwaige Beeinträchtigungen oder Eigentümlichkeiten des Körpers, wie der allgemeinen und speziellen Familien- und sonstigen Verhältnisse. Ihre Teilnahme an diesem Allem war so unerschöpflich, wie der Grund der rundbäuchigen Porzellankanne, aber es muß zu ihrem hohen Lobe hinzugefügt werden, daß sie, wenn ihnen auch an Quantität und Qualität noch so erhebliche Fehler aufstießen, diese stets in ihrem Kreise geheim hielten und niemals den feinen Takt der Wohlerzogenheit und des Herzens dadurch verletzten, daß sie etwa ihre Entdeckungen den Betroffenen selbst gegenüber in beleidigender Rücksichtslosigkeit aussprachen. Wohlerzogenheit, Rücksicht und guter Ton bildeten überhaupt die Dreifaltigkeit des weltlichen Katechismus der Stadt, und ihre Aufrechterhaltung gegen alle, welche sich von dem schicklichen Trottoir (event. Bürgersteig) der goldenen Mittelstraße auf Seitenwege zu verirren Neigung zeigten, machte die Hauptbeschäftigung der guten Leute aus.

Wenn diese rastlose Tätigkeit ihrer Natur gemäß hauptsächlich, doch keineswegs ausschließlich, den Eifer der Frauen in Anspruch nahm, so traten die Verdienste der Männer schon dadurch zu jeder Stunde in die Oeffentlichkeit, daß es kaum einen mehr als dreißigjährigen angesehenen Bewohner der Stadt gab, dessen besondere Auszeichnung auf irgend einem Gebiet nicht vom Staate durch Behändigung eines taxfreien oder steuerpflichtigen Titels anerkannt worden wäre; ja, man konnte sagen, daß, wer keinen solchen besaß, eben nicht angesehen zu werden verdiente und es deshalb bei dahinzielenden Anlässen, z. B. einer Begegnung auf der Straße oder in der Gesellschaft billigerweise auch nicht ward. Lectoren einer fremden Sprache wurden, vermutlich der vielen Kämpfe halber, die sie mit der Zungen-Ungelehrigkeit ihrer Schüler zu bestehen hatten, Kriegsräte, und Aerzte, die sich rühmen konnten, eine gewisse Delinquentenzahl auf dem Kirchhof abgeliefert zu haben, erhielten den Titel Justizrat. Mutmaßlich geheimen kameralistischen Verdiensten entsprechend, gab es Kammerräte, Kammerjunker und Kammerherren; wer durch die Zahl seiner Lebensjahre Zeugnis dafür ablegte, daß er bereits seit einem halben Jahrhundert den Bevölkerungszustand des Staates mit aufrechterhalten, ward zum Etatsrat ernannt, und Kommerzien- wie Konferenzräte taten ihre Ansprüche auf diese Würdenstellung gemeiniglich schon durch ihre Grauhaarigkeit kund. Zu diesem dem Ohr wohllautenden, tonreichen Anerkennungen gesellten sich die das Auge erfreuenden, glanzvollen, in Gestalt mannigfacher, bunt vom schwarzen Untergrunde des Rockes abstechender Bänder, und da Farbenschönheit stets einen befriedigenden Eindruck bereitet, versäumten die Inhaber solcher Auszeichnungen keine Gelegenheit, sich wechselseitig durch den Anblick derselben zu vergnügen, indem sie obendrein dadurch das Bewußtsein der erquicklichen Empfindung inne hatten, die Nichtbesitzer derartigen Schmuckes zu Leistungen anzuspornen, welche auch ihnen die offene Signatur geheimer Verdienste eintragen würden.

Bei so hervorragender Vortrefflichkeit konnte es nicht befremden, daß gleichsam ein Durchriß die Bevölkerung der Stadt in zwei Hälften zertrennen mußte, von denen die eine, nur dem Höheren und Höchsten zugewandte, mit der anderen, fruges consumere nata, durchaus keinerlei Gemeinschaft besaß. In der Tat hätte eine solche Gemeinschaft etwas Gemeines gehabt, und das letztere Wort umschloß für das feinfühlende Gemüt ungefähr einen ähnlichen Häßlichkeitsbegriff, wie Straßenschmutz für weiße Atlastanzschuhe. Man unterschied demgemäß Gebildete und die Leute, denen pädagogisch bedachte Freunde der Jugend das schmückende Beiwort ›die ordinären‹ beizulegen pflegten, und man benutzte diese letzteren, wo man ihrer bedurfte, sprach mit ihnen unter vier Augen, setzte sich aber nie so weit herab, sich ihrer Bekanntschaft bei öffentlichen Begegnungen zu erinnern. Denn es konnte kein Zweifel über die tiefe Wahrheit des Sprichwortes bestehen: »Sage mir, mit wem Du umgehst« – und jeder hatte Recht, wenn er aus einem Verkehr mit, oder einem Verständnis für ›ordinäre Leute‹ eine ordinäre Sinnesart des Betreffenden selbst ableitete. Im höchsten Maße abscheuwürdig erschienen deshalb der guten Gesellschaft die sozialen Zustände in Süddeutschland, von denen hie und da ein Weitgereister das Unglaublichste berichtete, daß dort in öffentlichen Lokalen ein Beamter, ein Gelehrter, ein staatlicher Würdenträger, ja selbst ein Professor nicht selten mit einem Handwerker an demselben Tische sitze. Gegen einen Verbreiter derartiger Darstellungen hegte man, vermutlich nicht ohne Grund, den tief entrüsteten Verdacht, daß er entweder ein unmoralisches Pasquill oder eine seinem Innern entsprechende Verschlechterung der Sitten im Schilde führe. Man warnte und hütete deshalb die Jugend beider Geschlechter vor seinem Umgang, und wenn Doktor Pomarius die Pflicht empfand, mir im Superlativ auszudrücken, wie tadelnswert eine Handlung von meiner Seite gewesen, schloß er seine Verurteilung stets mit den Worten: »Wenn sich das noch einmal wiederholt, kannst Du nach Deiner Konfirmation Handwerker oder Krämer werden!«

Obwohl die Stadt, wie bemerkt, an Seelenzahl nicht eben bedeutend war, entsprach es doch dem Gewicht derselben – denn wenn man von schwerfälligen Geistern spricht, kann man auch wohl von gewichtigen Seelen reden – daß die sprichwörtlichen Mauern des Ortes auf dem Gebiete der Kunst alle diejenigen Anstalten umfaßten, welche zu greifbarer Darlegung des Kunstverständnisses erforderlich sind. Ein solches vermag sich in positiver und negativer Weise zum Ausdruck zu bringen, und inbezug auf das Theater schlug der gute Ton der gebildeten Gesellschaft den letzteren immer ein, indem sie die Aufführungen von Tragödien und Schauspielen ausschließlich den ordinären Leuten überließ und sich nur bei Possen und Opern im Theaterraum einfand. Es entsprang dies jedenfalls jener ästhetischen Erkenntnis, daß die Darstellungen klassischer Dramen nicht dem von jeglichem (und jeglicher) in der Brust gehegten Ideal entsprächen, und daß alle Bühnenstücke neuerer, besonders lebender Autoren entweder nichts taugten, oder doch mindestens so lange als zweifelhaften Wertes zu betrachten seien, bis die Verfasser gestorben und die literarhistorische Kritik daraus Anlaß genommen, ein Verdikt über sie festzustellen. Selbstverständlich erstreckte sich diese doppelgründige Abneigung nur auf dramatische Werke in deutscher Sprache und schlug in das Gegenteil um, sobald hie und da englische und französische Schauspieler einige Gastrollen auf der Durchreise gaben und dadurch den nur künstlich beschwichtigten Kunsthunger in einer Hochgradigkeit hervorriefen, daß stets schon mehrere Tage vorher kein Platz mehr an solcher für poetische Feinschmecker servierten Tafel zu erlangen war. In noch erhöhterem Maße fand dies statt, wenn unter der Regie des Professors für klassische Philologie in der Aula der Universität oder des Gymnasiums von philologischen Studenten oder Primanern eine Ausführung der ›Antigone‹, des ›Oedipus‹ usw. in der Originalsprache in's Werk gesetzt ward. Derartige Ereignisse bildeten gleichsam Olympiaden, nach denen der Kunstgenuß, besonders der Damen, rechnete, und sie förderten auf's Erhebendste die allgemeine Bildung, indem sie Monate lang in allen Theezirkeln auf's Neue die Bewunderung für den großartigen Unterschied zwischen den aristotelischen Einheiten des Sophocles und den im allgemeinen allerdings schätzenswerten, aber künstlerisch jedenfalls verunglückten Wiederbelebungsversuchen des Dramas durch Shakespeare und Goethe wachriefen. Die Erkenntnis, daß sich das feinere menschliche Gemüt nur aus den Ueberresten des klassischen Altertums Befriedigung zu holen vermöge und daß nur derjenige eine unverlierbare, wirkliche und mit dem Herzen verwachsene Heimat besitze, der im Stande sei, zur Zeit des Perikles mit geschlossenen Augen von der Statue der Pallas Athene vor dem Panthenon zur Wohnung der Aspasia hinzufinden, hatte in ihrer veredelnden Wirkung ebenso nachhaltig alle gebildeten Kreise durchdrungen, wie der übereinstimmende Maßstab, daß allein ein Solcher Anspruch auf die Palme feinsten gesellschaftlichen Tons erheben könne, der (oder die) es dahingebracht, in Sprachvollendung und Sicherheit mit einem Straßenjungen auf den Boulevards von Paris zu wetteifern. In Folge dieser steten Vergegenwärtigung aller Kunstwerke der griechischen Blütezeit, war es begreiflich, daß das plastische Museum der Stadt durch seine landläufigen Gipsstatuen, wie den vatikanischen Apoll, die Venus von Milos. bei den Besuchern im allgemeinen nur das Interesse wecken konnte, das ein Knabe, der sich den Magen mit Datteln verdorben, bei einem Korb mit Feigen empfindet – die Blätter derselben waren quantitativ und qualitativ in ausreichendstem Maße vorhanden – und die plastische Begeisterung der Stadt, wie der Besuch des Museums kulminierten deshalb nur dann, wenn es der Verwaltung des letzteren gelungen war, den Abguß eines dort bisher noch nicht gesehenen Rumpf- oder Kleidungsstückes einer unerkennbar zerbrochenen antiken Bildhauerarbeit zu erwerben. Es sammelte sich dann am Tage des Eintreffens sogleich eine atemlos lauschende Gruppe um einen hervorragenden Berufenen, der lange verschränkten Armes, in staunende Hingebung vertieft, vor dem Wunderwerke stand, bis er Sprache fand, den andachtvollen Hörern den tiefsinnigen Faltenwurf des übrig gebliebenen Tunikarestes zu erläutern, sie auf die göttliche Schönheit einer hervorblickenden Rippe (ungewiß bis jetzt noch für die Wissenschaft, ob einer männlichen oder älteren weiblichen) aufmerksam zu machen und alle zu tiefmenschlicher Trauer mit sich hinzureißen, daß uns die vandalische Hand der Zeit nicht wenigstens noch den Brustknorpel erhalten, aus dem ein Schluß ermöglicht worden wäre, ob die Gestalt den Arm in wagerechter oder gebogener Stellung ausgestreckt habe.

Es heißt – um in der klassischen Anschauungsweise zu verharren – Eulen nach Athen tragen, wenn ich erwähne, daß in Bezug auf Malerei die Darstellungen christlicher Mysterien als der Gipfelpunkt und eigentlich allein würdige und wertvolle Gegenstand dieser Kunst betrachtet wurden. In gerechter Besorgnis, von dem untergeordneten, körperlich-äußerlichen Gesichtssinne betrogen zu werden, machte man sein Urteil nicht von der scheinbaren Realität des Bildes selbst, sondern von der inneren Idealität desselben abhängig, die ihre Kennzeichen in dem Namen des Künstlers oder der Schule, welcher er angehörte, offenbarte. Daneben aber bewies man das vorurteilfreieste Verständnis für Auseinanderscheidung zweier, nur der Oberflächlichkeit nach verwandt erscheinender Gebiete, indem man in einer gemalten Madonna mit ihrem Kinde ebenso schwärmerisch die zum Ausdruck gelangte Göttlichkeit bewunderte, als man in der Kirche die Zumutung des katholischen Fetischdienstes einer Verehrung der Jungfrau Maria als überirdischen Wesens mit religiösem Abscheu von sich wies. Das Keusche bildete die Goldprobe für den Kunstwert eines Gemäldes, und ihm gegenüber stand das Nackte als Merkmal verwerflicher Tendenzen, doch erlitten diese Grundsätze selbstverständlich eine Umgestaltung, sobald die Weihe eines heiligen Anhauches läuterndes und verklärendes Licht über einen dem alten Testament entnommenen Vorwurf ausbreitete. Der Gliederbau einer ins Bad steigenden Susanna erschien um so anerkennenswerter, je naturwahrer er die biblische Ueberlieferung in vollster Glaubwürdigkeit zum Ausdruck brachte, daß die lauschenden Alten durch diesen Anblick zu ihrem Frevel verlockt worden seien, und eine paradiesische Verkörperung Adams und Evas vor dem Sündenfall war geeignet, in gleichem Grade christliches Wohlgefallen zu erregen, als der schamlose Bekleidungsmangel der heidnischen Gestalten eines goldenen Zeitalters sittlichen Widerwillen gegen Maler und Malerei einflößen mußte. In der letzteren hielt man, der Gründlichkeit aller wissenschaftlichen und künstlerischen Anforderungen entsprechend, vor allem auf vollendetste Ausprägung der Technik, da diese nur durch etwas wirklich Achtungswertes, Reelles, durch Fleiß und langjährige Studien erworben werden könne, während das rege Umherschweifen der Phantasie, die Auffassung von Menschen und Gegenständen, das sogenannte poetische Gefühl etwas von selbst für Jeden Erreichbares sei, der sich nicht mit ernsthaften Dingen zu beschäftigen vermöge.

Daß nach dem letzten Axiom die allgemeinste Mißachtung denjenigen betraf, der sich nicht scheute, sich – in deutscher Sprache – irgend einem Zweige der Dichtkunst hinzugeben, bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung. Wenn nicht das Mitleid, das an dem Verstande des Betreffenden zweifeln ließ, überwog, so erklärte man ihn mit Fug für einen arbeitsscheuen, alles sittlichen Ernstes unfähigen und verlorenen Menschen und schreckte vor keiner noch so langwierigen philanthropischen Anstrengung zurück, ihn von dem Abgrund geistiger Verwahrlosung, vor dem er stehe, zu überzeugen. Man bewies die aufopferndste Nächstenliebe in dem Mühaufwand, mit dem man ihn noch zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft zu veredeln suchte, indem man ihn einer ernsten Tätigkeit als Botengänger, Advokatenschreiber oder Geldrollenverfertiger zuzuwenden trachtete, und erst wenn alle diese gutherzigen Bestrebungen an der Verstocktheit seines Verstandes und Gemütes zerscheiterten, überließ man sich der letzten, schmerzlichen Notwendigkeit, ihn als ein gemeingefährliches, ausgeartetes Geschöpf anzusehen, gegen das die anständige Gesellschaft, wenn irgend möglich, wie gegen einen – zum Glück auch nur ebenso seltenen – tollen Hund Zwangsmaßregeln zu ergreifen verpflichtet sei. Waren diese letzteren nicht zu bewerkstelligen, so gab man ihn wenigstens der gesellschaftlichen Lächerlichkeit anheim und verwertete ihn als pädagogisches Abschreckungsmittel dadurch, daß man die Jugend mit dem Hinweis auf den kindisch-strafwürdigen Hochmut eines Individuums erzog, das, ohne die Stellung einer staatlich besoldeten Autorität einzunehmen, in einer jedem geläufigen Sprache – also mit einem Material, das keines sei – etwas hervorzubringen meine, was er nirgendwo gelernt habe und das demnach jeder, der sich dessen nicht schämen würde, besser könne als er.

Restat ars una, sublimis, augustissima. Das letztere Beiwort wird nur auf wahrhaft göttlich erhabene Dinge angewandt, und so enthält es die edelste Bezeichnung auch für die umfassendste, an pythische Begeisterung mahnende Verehrung, die in jedem männlichen und weiblichen Busen der guten Gesellschaft dem Heiligtum höchster Weihe, der Musik, entgegen getragen wurde. Der Ton eines Instrumentes versetzte sie in eine Art Ekstase, wie – sit venia simili – eine sich auf dem Herd wärmende Katze, der eine Kohle in den Pelz gefallen, und ein musikalischer Ton wurde dadurch insofern mit dem ›guten Ton‹ identisch, als der letztere ohne den ersteren nicht gedacht werden konnte. Die zärtliche Liebe aller Mütter äußerte sich deshalb vornehmlich in dem Wetteifer, mit dem sie ihre Töchter bald nach der Geburt zu Klaviervirtuosinnen auszubilden anfingen, und ein Haus, in welchem keine solche heranreifte, ward als ein vom Zorn des Himmels betroffenes angesehen und gemieden. Doch fanden sich nur wenig derartige, auf welche schon die unteren Klassen der Töchterschulen im Vorübergehen mit Fingern deuteten; gewöhnlich konnte man zu gewissen Tagesstunden durch jede beliebige vornehmere Straße gehen und sich so versichert halten, aus jeglichem Hause durch die Saitenerregung eines Flügels, Pianos, Pianinos, Pianofortes, Spinets entzückt zu werden, wie – das Gleichnis bezieht sich natürlich nur auf die Regelmäßigkeit des Genusses – der zum Spießrutenlaufen verurteilte Deserteur sich überzeugt halten durfte, daß seinem Rücken kein Holzinstrument des lebendigen Spaliers erspart bleiben würde. Es bildete das gewissermaßen die Alltagsandacht der in süßer Hingebung zerschmelzender Tonanbetung, die sonntägliche feierte ihren erhöhten Aufschwung in den wöchentlichen Konzerten, und die höchsten Feste der Verkündigung, Auferstehung und Ausgießung des heiligen Geistes fanden ihre Analoga in der Ankunft berühmter Geigen- und Flügelvirtuosen, Quartette, Bassisten, Tenoristen und Baritonisten. Der allgemeine Freudentaumel bei dem Bevorstehen eines solchen Ereignisses war nur etwa demjenigen vergleichbar, welchen die Gassenjugend beim Erscheinen eines Polichinelkastens und seines Hanswurstes an den Tag legte; Kranke wurden gesund, und in Trauerkleidung Wandelnde lächelten, der hochfeierliche Tag vereinigte unter der Wölbung der Kirche oder des Harmoniesaales tausend Herzen und einen Schlag. Monatelang in unermüdlichen Proben bereiteten sich ihm die eignen musikalischen Kräfte, die Träger und Trägerinnen des Stolzes der Stadt: die nordische Nachtigall, die Lerche vom Seerand, der Sprosser der Heimat. Niemand achtete sich zu hoch, noch in falscher Bescheidenheit seine Stimme zu gering, um sie nicht patriotisch zur Unterstützung des Chors darzubieten, selbst sechzigjährige Damen setzten sich heldenmütig der Gefahr wochenlanger Heiserkeit und Erkältung in Folge der schicklichkeitsgemäßen Dekolletierung aus. So erwuchs das Unvergleichliche aus dem einmütigen Bestreben, sich von Keinem an mitwirkendem Verdienst übertreffen zu lassen – rätselhaft blieb nur, woher überhaupt noch Zuhörer kamen – und es war ein von der Musik in solchem Umfang nirgendwo wieder gefeierter Triumph, zu gewahren, wie ihre schöpferische Kraft eine scheinbar nur physische Eigenschaft des Kehlkopfs und Uebungsgewandtheit der Fingermuskeln in tiefste innerliche Durchgeistigung, Empfindungsglut und himmelanstrebenden Adlerflug umsetzte und jeden gefühlvollen Hörer abwechselnd zu jauchzenden Tränen und schluchzendem Jubel hinriß. Ja, es war dies um so bewunderungswürdiger, als grade die hauptsächlichsten Nachtigallen, Lerchen und Sprosser, sobald sie nicht sangen, durch ihre Sprache und die Benutzung derselben zum Ausdruck ihrer Gedanken und Empfindungen eher die Mutmaßung, anderer Vogelgattung angehörig zu sein oder etwa der nützlichen Beschäftigung von Nähmädchen und Köchinnen obzuliegen, erweckten, wie denn überhaupt nach meinen Erfahrungen die höchste Kunstwürde und Göttlichkeit der Musik sich durch nichts beredter kundtut, als daß ihr Zauberstab – in umgekehrter Magie, wie derjenige der Circe – durch bloße Berührung Schafe, Esel und selbst Schweine in geistig verklärte, die innerste Geheimnistiefe aller Poesie durchdringende Geschöpfe umwandelt. Sobald die Schwingungen des Zauberstabes aufhören, sind sie wieder Schafe, Esel und Schweine, welche blöken, y-a-en und grunzen, doch alles nur scheinbar, denn darunter birgt sich in unsichtbarer Tiefe der himmlische Funke, den das nächste Konzert wieder zu einer Sonnenleuchte der Menschheit anbläst.

Nach Beendigung des Konzertes pflegte man den Dirigenten desselben mit Lorbeeren zu bekränzen, die Menge der ihn begeistert Umdrängenden hing atemlos an dem höchsten Urteilsspruch jeder Lobes- oder Tadelregung seiner Stirn, einige der am meisten aller profanen Wirklichkeit Entrückten drückten heimlich ihre Lippen auf seinen Taktierstock. Die Stadt erfreute sich des beneidenswerten Reichtums, unter den verschiedenen Titeln Musikdirektor, Kapellmeister und Organist drei solcher für ihren Beruf gleich ausgezeichneter Männer zu besitzen, denn in der richtigen Erkenntnis, daß die Vertiefung in einen Gegenstand den Meister bildet, wählte man stets nur Leute dazu, die den unzweifelbaren Nachweis zu liefern vermochten, daß sie durchaus nichts weiter verständen als Musik. Zu solchen, wo sich irgend eine Hoffnung dafür blicken ließ, suchte naturgemäß auch der Ehrgeiz der Eltern ihre Söhne heranzuziehen, und es machte das geheime Glück, den Stolz und die Beneidung einer Familie aus, wenn das Quartalzeugnis einem Knaben absoluten Mangel aller Gedanken in deutschen Arbeiten wie jeglicher anderen Begabung, dagegen ein auffällig richtiges Gehör in der Gesangsstunde zusprach. Der Vater eines heranwachsenden musikalischen Zukunftskünstlers genoß ebenso sehr Ehrerbietung vor den Verdiensten seiner Erziehung, wie der unglückliche Vater eines sich der Dichtkunst hingebenden Sohnes mit diesem zugleich der strengsten Verurteilung anheimfiel, wenn er sich nicht öffentlich in gültigster Form von dem Mißratenen losgesagt hatte. Für die weibliche Jugend war leider die höchste Kunststaffel eines Musikdirigenten so wenig erreichbar, als sie freilich andrerseits in der Gefahr schwebte, den unnützen Auswurf der zweiten Kategorie zu vermehren. So begnügten die Töchter sich mit der Ausbildung ihrer musikalischen Talente durch rastlosen Privatfleiß, nie versäumten Besuch eines Konzerts und die häufige Prüfung ihrer Fortschritte in traulicheren oder umfangreicheren Abendzirkeln, wobei sie in kindlicher Pietät ihren eignen Abscheu gegen alles mit dem verrufenen Begriff Dichtung Zusammenhängende dadurch aufs Nachdrücklichste und Verdienstlichste zu Tage förderten, daß sie nur solche Lieder sangen, deren Text geeignet war, den Anteil der Dichtkunst daran zur vollständigsten Abgeschmacktheit herabzusetzen.

Auf diese Stadt und Alles darin sah seit Jahrhunderten in unverrückter Haltung mein Freund, der alte, kupfergrüne Kirchturm herunter.


 << zurück weiter >>