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Viertes Kapitel

Unser Haus lag mit der Vorderseite nur durch eine Art erhöhter Rampe von der Straße des ländlichen Vorortes geschieden; oder vielmehr von einer marktähnlichen Platzerweiterung, die statt der geschlossenen Häuserreihen Gärten einfaßten, aus denen näher oder ferner, zumeist mit Linden vor der Tür, Strohdächer aufblickten. Nur nach einer Seite zog sich eine städtische Gasse mit rotbraunen Ziegeldächern fort, doch ebenfalls lückenhaft, häufig durch freie Zwischenräume hereindringender Wiesengründe unterbrochen. In den nicht grade ansehnlichen Baulichkeiten dieser Gasse befanden sich die ziemlich karg ausgestatteten Kaufläden für die täglichen Bedürfnisse der ländlichen Vorstadt, die unumgänglichen Handwerker, Tischler, Klempner, Flickschneider und Flickschuster hatten dort ihre Werkstätten, der Bäcker – der jedoch nur das Privileg besaß, Roggenbrot zu backen und den Kollegen der Stadt durch Weizenbrot keine Konkurrenz machen durfte, so daß Doktor Pomarius, »um den fleißigen Mann nach Verdienst zu unterstützen«, es zum unumstößlichen Hausgesetz gemacht hatte, daß kein Weißbrot bei uns gegessen wurde – der Bäcker erfüllte abendlich bei günstiger Windrichtung von der Gasse her Platz und Gärten mit dem brandigen Schornsteingeruch seines nächtlichen Berufs, und was wir, Philipp Imhof, Fritz Hornung und ich an unerläßlichen Bedingungen zur Lebensfreude in Gestalt von Bindfäden, Marmeln, Goldschaumblättchen und ähnlichen nicht zu entbehrenden Wertartikeln bedurften, fand sich in diesem oder jenem Zauberladen drüben vorrätig. Fritz Hornungs Tasche glich fast immer meiner darin, daß sie kein den Verkäufern angemessenes Aequivalent für jene Gegenstände, oder wenn sie in metallischem Besitz war, doch nur rostige Nägel, ausgedrehte Schrauben und derlei nicht kurante Eisenmünze enthielt; Imhof dagegen war nicht allein der Inhaber einer aus grüner Seide gehäkelten, mit kleinen Goldquästchen verzierten Börse, sondern diese besaß auch stets einen entsprechenden Inhalt, von dem er auf das Bereitwilligste für den gemeinsamen Nutzen zum Besten gab. Nichts lag seiner Natur ferner, als eigensüchtige Knauserigkeit, und Fritz Hornung schüttelte manchmal possierlich-vorwurfsvoll den Kopf und meinte: »Dein lieber Herr Vater wird keine große Freude an Dir haben, Philipp, denn zum Millionär hast Du nicht viel Anlage.« – »Ich will auch kein Krämer werden,« versetzte Imhof dann lachend und griff noch tiefer in die silbernen Fischschuppen seiner Börse. »Aber wir wollen mit Dir zum Krämer geh'n,« fiel Fritz Hornung ein und raunte mir ins Ohr: »Er will nur gern wieder gefragt sein, von wem er das hübsche seidene Ding hat; tu' ihm doch den Gefallen, Reinold!« Dann tat ich's, allein Philipp Imhof lächelte nur durchsichtig-geheimnisvoll und antwortete: »Ich habe heilig geschworen, es keinem zu sagen, denn es könnte jemand kompromittieren; – aber das versteht Ihr nicht.«

Wir drei befanden uns meistenteils zusammen, weil es fast kaum anders sein konnte. Unsere Neigungen zu diesem oder jenem Spiel, wie die Jahreszeit es mit sich brachte, glichen sich, und die besten Stellen dafür vereinigten uns mit Notwendigkeit. Allerdings schien uns gleichmäßig der große Dorfplatz vor dem Hause jeglicher Lokalität in unserm Garten vorzuziehen, weil er sich im Winter am vorteilhaftesten zur Schlittenfahrt, im Herbst und Frühling zum Ballspiel und Wettlauf eignete. Doch entsprang diese auf uns geübte Anziehungskraft vermutlich wieder nur unserer adamitisch-sündhaften Natur, weil der Aufenthalt uns dort verboten war, da die Kinder der ordinären Leute den Platz, besonders gegen Abend, zu ihren Lustbarkeiten benutzten. So hörten wir ihr allabendliches Lachen und Jubeln nur aus der Ferne, doch Fritz Hornung selbst wagte es, trotz aller angeborenen Lüsternheit, einem Verbot zuwider zu handeln, nicht sich darunter zu mischen, denn ein zufälliger Blick des Doktor Pomarius aus dem Studierzimmerfenster hatte genügt, den Gesetzübertreter entdecken und ihn auf Kosten seiner Eßbegehrlichkeit zur Verantwortung ziehen zu lassen. Es muß um die Zeit gewesen sein, als ich mit dem alten grünen Kirchturm Freundschaft geschlossen, daß mein Verhältnis zu den beiden Hausgenossen sich etwas änderte. Ich selbst empfand nichts davon, aber Fritz Hornung kam manchmal mit dem ärgerlichen Ruf auf mich zu: »Wo hast Du gesteckt? Wir suchen Dich seit Mittag wie einen Federhalter!« und ich hörte, daß er Imhoff zulachte: »Ich glaube, Reinold will das Gras wachsen hören, denn ich habe neulich gesehen, daß er eine Stunde allein drüben auf der Wiese lag und mit dem Ohr auf den Boden horchte. – Was hat's Dir Spaßiges erzählt?«

Er hatte wohl recht, darüber zu lachen, doch es lockte mich trotzdem – ich wußte nicht warum – unwiderstehlich jetzt oft für mich allein in's Feld hinaus. Zuweilen sah ich von weitem eine Stelle, den hochgelegenen Wallrand eines Zaunes, einen vereinzelten Baum am Horizont, daß es mir plötzlich war, als müsse mich dort ein unbekannter Freund, ein ungeahntes Glück erwarten, und ich lief atemlos vorwärts, bis ich den Platz erreichte. Dann war Alles leer, nur der Wind summte über mir durch's Gezweig oder ließ die Halme neben meinem Sitz flimmern. Gedankenlos vor mich hinausschauend, lag ich, bis die Erinnerung an versäumte Schularbeiten oder an die Hausordnung mich aufschreckte und eilig zurücktrieb. Aber wenn Alles nun klein wieder hinter mir blieb, da überkam mich dasselbe wunderliche Gefühl, wie beim Hinauswandern, nur in vergangener Form jetzt, als habe ich dort mit einem vertrauten Freunde gesprochen und sei unsagbar glücklich gewesen.

Mir lag seit Langem eine Absicht, fast eine Nötigung auf der Seele und eines Nachmittags führte ich sie aus. Ich faßte Fritz Hornungs Arm und bat ihn, mit mir in's Feld zu kommen, wo ich ihm etwas Interessantes zeigen wolle. »Ein Tier oder ein Nest?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf: »Viel schöner.« – »Kukuk auch, da bin ich neugierig, was Du aufgespürt hast, Reinold,« und wir liefen Hand in Hand. Es war Frühlingsbeginn, die Kätzchen hingen an den Weiden, das Grün drängte tausendgestaltig aus dem feuchtschwarzen Erdrund. Nun hielt ich im Winkel einer einsamen Koppel inne, ein kleiner Teich füllte ihn aus, der Wind wellte leiskräuselnd die dunkle Oberfläche des Wassers, daß es ab und zu wie Lichter daraus aufglimmte, knospendes Haselgesträuch murrte darüber, am Rande stand ein weißes Windröschen, schwankte auf dem langen Stiel hin und her und bewegte ebenso sein Spiegelbild drunten im Gewässer.

Ich schwieg erwartungsvoll, dann fragte ich: »Nun, Fritz, was sagst Du?«

»Sind Molche darin?«

»Das weiß ich nicht; aber ist's nicht schön?«

»Was?«

Die Frage machte mich etwas verwirrt. »Alles – wie es dunkel und hell zugleich ist – da, die Anemone, als schüttelte sie das Köpfchen und möchte fort von hier – und wie der Wind im Busch geht –« »Das war das Interessante, was ich sehen sollte?«

Ich öffnete den Mund, schloß ihn wieder und stand eine Weile. Darauf brachte ich stotternd hervor:

»Läuft Dir denn dabei kein Schauder über den Rücken, Fritz?«

»Wobei?« Fritz Hornung blickte mich kurios an, sah sich um und wieder auf mich. »Hast Du's Fieber?«

Ich nickte. »So ist's, als hätt' ich's – wenn der Wind so in den Spitzen singt –«

»Au!« schrie Fritz Hornung nun laut auf. »Du hast recht, mir läufts auch über den Rücken. Das sind Haselstöcke, die singen, daß es einem braun und blau auf dem Buckel werden kann. Ich danke für Deine Gesellschaft hier, sie ist mir zu interessant. Es dämmert schon und ich will machen, daß ich nach Haus komme, sonst mache ich mit dem Gesang noch heut' Abend Bekanntschaft!«

Er sprang von mir fort, ich rief ihm, zu warten. Als er neckisch sich den Schein gab, noch hurtiger zu laufen, durchschlüpfte ich in plötzlicher Anwandlung einen Zaun und hörte jetzt nicht auf seinen zurückkommenden und suchenden Ruf, sondern schlug einen ihm unbekannten Weg nach Hause ein.

*

Mit den Kindern der ordinären Leute draußen auf dem Platz zu spielen, war uns verboten, doch dies erstreckte sich nur auf unsere leibhaftige Anwesenheit, nicht auf Auge und Ohr, vermittelst deren man vom Gartenstaket aus Zuschauer und Zuhörer des Treibens zu sein vermochte. Imhof besaß von vornherein eine Abneigung gegen die schlechte und geschmacklose Kleidung der Dorfkinder, während Fritz Hornung diese keineswegs bekümmert, im Gegenteil eher angezogen hätte. Doch er meinte: »Hier innen stehen und drein zu gaffen, wär' schon das Oedeste, was ich mir vorstellen könnte; grad' wie bei Tisch sitzen und nichts mit zu beißen; das Vergnügen koste ich genug,« und so enthielt er sich ebenfalls mit frühzeitig auf diesem Gebiet gereifter Philosophie der Versuchung und des Appetits. Mir dagegen war es mit sonderbarem Verlangen, nicht nach der aktiven Anteilnahme, sondern eben nach dem Sehen und Hören, vorzüglich nach dem letzteren, gekommen und ich befand mich seit dem Anfang der milderen Jahreszeit nun allabendlich auf der Rampe vor unserm Hause, um mich an der lauten Vergnüglichkeit, die den Platz dann füllte, zu erfreuen. Knaben und Mädchen tummelten sich, lachten, lärmten und jubelten durcheinander; sie trieben bald in gesonderten Gruppen verschiedene Spiele, bald vereinigten sie sich zu einem gemeinsamen, schlangen lange Ketten, die Einzelne zu durchbrechen suchen mußten; mit der einfallenden Dämmerung ward die Lust immer ausgelassener, die umschleierten kleinen Gestalten huschten dann wie Fledermäuse im Zickzack, nur nicht lautlos, sondern durch eine von Stimmen vibrierende Atmosphäre hin und her. Zugleich kam aber auch das, worauf ich hauptsächlich wartete; die Mädchen schlossen Kreise, drehten sich in eiligem Rundtanz und sangen dazu. Wunderliche, meist sinnlose Reime und Bruchstücke, die sie selbst so wenig verstehen mochten, wie ich; doch ihre Vorgängerinnen auf dem Spielplatz hatten stets die nämlichen gesungen, ohne von ihrer Bedeutung einen Begriff zu haben, und so pflanzten sie die abgerissenen Liedzeilen fort, wie der Wind in der freien Natur den Samenstaub einer Blume um sie verweht und im nächsten Frühling dadurch die nämlichen Blüten unverändert wieder erstehen läßt. Einiges davon ist mir im Gedächtnis geblieben; sie faßten sich an der Hand und sangen:

»Mein Liebchen hat ein schönes Haus,
Das ist geschmückt mit Lilien aus,
Ein schöner Haus hat Keiner mehr –
      +Kommt her! Kommt her!«

Nun duckten sie sich alle hastig zu Boden, sprangen wieder auf und tanzten rund:

»Ach, ich armer Mann!
Meine Frau ist nichts nütze!
Zehn Kinder hab' ich,
Die schreien nach Grütze!
Schrei' einmal, schrei' zweimal!
Hebt all' das Geschrei 'mal:
Grütze, Grütze, Grütze, Grütze, Grütze!«

Das gab ein vielstimmiges Gekreisch, Gelächter, Gejauchz, bis zumeist eine aus dem Durcheinander helltönig wieder anhub:

»Die Blumen blüh'n und fallen ab,
      +Juchheisasa fileidi –
Sie fallen alle Dir auf's Grab,
      +Juchheisasa fileidi –
      +Fallt ab! Fallt ab!«

Den Refrain sang die ganze Runde mit und hockte sich bei den letzten Worten abermals zur Erde. Das Zwielicht überrann alles immer tiefer, aber ich konnte nicht mehr fort, eh' der wunderliche Singsang aufhörte, aus dessen närrischen und unverständlichen Reimen mir etwas außer Wort und Ton noch im Ohr vibrierte – ich konnte nicht sagen was – nur daß die lautschmetterndsten Lieder, die ich ab und zu unter Klavierbegleitung durch das offene Fenster eines der um ihre musikalischen Leistungen berühmtesten Häuser vernahm, niemals eine derartige Wirkung in meinem Ohr hervorriefen.

*

Die Stare aus dem ganzen Umkreis unserer Gegend versammelten sich eines Spätnachmittags oben in den höchsten Wipfelzweigen der noch laublosen Ulme, die ihr altknorriges Geäst über die Einfassung unseres Gartens hinüberbog, als die noch nicht zahlreich eingetroffenen Dorfkinder auf dem Platz mit Gekreisch mehr ausgelassen erkünstelter, denn wirklicher Angst vor einem hurtig heranrollenden Fuhrwerk auseinanderstoben. Ich stand unter dem Ulmenbaum und hörte das Rollen ziemlich lange vorher, ehe ich seine Ursache gewahren konnte; so blickte ich unwillkürlich mit einer Art Neugierde in die Richtung, aus der das Dröhnen erscholl, denn mehrere Stimmen drüben riefen: »Habt Acht! Lauft weg! Da kommt der Pelzmärtel von der Himmelswiese mit Birkenreis!« Dann bog plötzlich ein weißer Schimmel um die Ecke, ein holperndes, himmelblaues Wägelchen mit ziegelroten Rädern dahinter und zwei eigentümlichen Figuren darauf. Die eine war ein kleines Mädchen, das sich bei dem Auf- und Niederfliegen des federlosen Wagens auf dem Knüppeldamm des Weges mit beiden Händchen am Sitzrand festhielt, wobei ihr langes tintenschwarzes Haar ihr ebenfalls um Stirn und Schläfen auf- und niederflog. Sie suchte manchmal hastig ihre Augen von dem Gewirre zu befreien und ließ zu dem Behuf flüchtig eine Hand von ihrem Stützpunkt los. Aber dann schnellte das Rad wieder von einem Stoß in die Höh', sie klammerte sich, um nicht den Halt zu verlieren, schleunig abermals an, und das leichte Durchschimmern ihres Gesichtes war im selben Augenblick völlig unter dem dichten Geflatter des natürlichen Schleiers aufs neu verschwunden. »Haarliese – Haarliese!« lachten und schrien die Kinder; neben ihr saß ein Mann mit fast unglaublich lang erscheinendem Oberkörper, den ein enganschließender grauschwärzlich schillernder Rock umgab, auf dem beinahe bis über die Mitte der Brust ein breiter gelbweißer Bart herunterfiel. Auch die buschigen, über einer stark gekrümmten mächtigen Nase zusammenverwachsenen Augenbrauen waren von der nämlichen Farbe, und auf dem Kopf trug er eine umfangreiche, wie grau bereifte oder abgegriffene runde Pelzmütze, so daß seine ganze Erscheinung, zumal in einiger Ferne und in Verbindung mit dem bunten Fuhrwerk, in der Tat an das hergebrachte Bild des Knechts Ruprecht erinnerte. Der Schimmel stutzte jetzt vor dem Geschrei, der Wagenlenker schlug nach ihm mit der Peitsche, und die kecksten von den Buben drängten sich mit allerhand Zurufen und Gelärm wieder herbei. Es war mir zwiefach auffällig, daß sowohl der Alte nicht, wie andere Kutscher, ihre offenbare Ungezogenheit durch einige ausgeteilte Peitschenhiebe vergalt, als auch, daß sie sich keineswegs vor solchen zu fürchten, sondern in voller Sicherheit ihre mutwillige Kühnheit zu verdoppeln schienen. Nun aber schlug der Schimmel mit den Hinterfüßen aus, daß die Herandrängenden erschreckt zur Seite flogen, die Peitsche knallte, und das Gefährt rasselte blitzschnell, die Verfolger zurücklassend, weiter, der städtischen Dorfstraße zu. Ich hörte noch eine Weile das Dröhnen der eilfertigen Räder auf dem Gestein, dann verklang es, ob der Wagen drüben anhalten oder auf einen Sandweg aufsetzen mochte, und über mir in der Ulme musizierten wie zuvor die feinen Stimmchen der Stare, die auch ihr Abendlied eine Minute lang zu neugieriger Betrachtung des ungewöhnlichen Schaustücks unterbrochen gehabt. Die Dorfkinder steckten die Köpfe zusammen und deuteten, eifrig redend, hinter dem verschwundenen Fuhrwerk drein; dies schien ihnen zunächst wichtiger als Fortsetzung ihres täglichen Spiels, doch obgleich ich aufmerksam hinüberhorchte, konnte ich kein Wort erhaschen, das mir Aufschluß darüber gegeben hätte, was sie nachträglich zu so zungenschnellem und eifrigem Gedankenaustausch veranlaßte. Dann sagte plötzlich eine Stimme neben mir: »Wohnt der Herr Doktor Pomarius hier, junger Freund?«

Ich wandte mich um, ein fremder Herr war von mir unbemerkt halb in meinem Rücken herangekommen, stand und betrachtete mich. Er war von mittlerer Statur, vielleicht dreißig Jahre alt und sah sehr sonnverbrannt aus, mehr als ich's bis dahin bei irgend einem Menschen gesehen. Ich zog meine Mütze und antwortete: »Jawohl, Doktor Pomarius wohnt hier, das weiß jedes Kind in der Stadt.«

»Deshalb weißt Du es, mein Bester, aber Du mußt nicht alle Leute für so klug wie euch Stadtkinder halten,« versetzte der Fremde. »Ihr seid eben von alters her ein berühmtes Geschlecht und solltet etwas Mitleid mit Leuten haben, die von der Natur stiefmütterlicher bedacht sind als ihr.«

Er sagte das mit einem vertraulich nickenden, wunderhübschen Lächeln um den freundlichen Mund, doch der Spott, der in den Worten selbst lag, trat zu klar hervor, als daß es mir nicht zum Bewußtsein kommen mußte, in meiner Erwiderung auf seine erste Frage etwas Unpassendes gesetzt zu haben. So wurde ich rot, blieb mit meiner Mütze in der Hand stehen, sah zu Boden und stotterte halb: »Soll ich Sie zu Herrn Doktor Pomarius hinführen?«

»Wenn ich Dich darum bitten darf und ich Dir nicht zu häßlich scheine, um mich dabei anzusehn.«

Es lag etwas Absonderliches in dem Ton der letzten indirekten Frage; vielleicht täuschte ich mich, daß sie nur eine Fortsetzung der freundlichen Ironie von zuvor bildete, doch mir klang's eigenartig wie ein leis schwermütiger, fast schmerzlicher Hauch hindurch, daß ich sofort seiner Aufforderung nachkam und ihm voll ins Gesicht blickte. Er tat mir einige Sekunden lang das nämliche, dann ging langsam wieder das schöne Lächeln über seine Züge, und er sagte:

»Solltest Du etwa Reinold Keßler heißen?«

Ich wußte genau, den Fragesteller nie gesehen zu haben, und drückte wahrscheinlich große Verwunderung über den Besitz meines Namens in seinem Munde aus, denn er fügte gleich darauf hinzu:

»Wir andern armen Leute müssen uns doch auch auf etwas verstehen und so sehe ich Dir denn Deinen Namen an den Augen an. Das sind brotlose Künste, würde man hier bei euch in der Stadt sagen, und ich muß selbst zugeben, viel kommt nicht dabei heraus. Aber wer es einmal kann, der kann's und freut sich dessen doch – bringe mich zu Deinem Apfelhüter, Reinold Keßler.«

Halb war ich stolz, meine klassischen Fortschritte dadurch an den Tag zu legen, daß ich volles Verständnis für die Verdeutschung des Doktor Pomarius bewies, halb erschrak ich jedoch über die ungenierte und nicht gerade respektvolle Namensübertragung und drehte instinktiv den Kopf nach dem offenen Fenster des Studierzimmers. Der Fremde, der mir schon eine Probe seiner ungewöhnlichen Fähigkeit, in den Augen zu lesen, abgelegt hatte, reihte jetzt eine zweite daran und äußerte halblaut:

»Es scheint, wir fürchten den Obsthändler mehr als wir ihn lieben.«

Das war nicht in den Augen, sondern in der Seele gelesen. So war's, in ein Wort zusammengefaßt, und es offenbarte zugleich das Vollverständnis der ganzen Schlechtigkeit meines Innern. Was niemand sonst mir ansah, die Augen dieses Fremden vermochten es im ersten Moment unserer Begegnung. Ich schwieg betroffen, aber ich fühlte, daß ich mich dadurch wieder einer Lüge schuldig machte, und entgegnete stockend, während wir auf die Haustür zuschritten:

»Kann man jemand so recht lieben, der uns nicht wieder liebt, weil wir zu häßlich – ich meine, zu schlecht –?«

Ich verwickelte mich, doch auch das Benehmen des Fremden trug zu meiner Verwirrung bei. Er hielt seinen Schritt inne, und unter seinen Brauen strahlte einen Moment ein merkwürdiges Licht auf, hell und trüb, wie der Ton seiner Stimme es vorhin schon einmal in ähnlicher seltsamer Mischung gewesen – wenigstens erinnerte es mich daran – und er antwortete:

»Du stellst besondere Fragen, Reinold Keßler, die noch über die gewöhnliche Klugheit dieser Stadt hinausgehen, als hättest Du auch ein besonderes Organ dafür überkommen. Weil wir zu häßlich sind, als daß man uns wieder lieben könnte? Ist's vielleicht ein Aufsatzthema, das Dir einmal zur Behandlung gegeben? Schreib' nur, man kann es unter Umständen darum doch, recht sehr, recht tödlich – was sagtest Du? – geht es hier hinein?«

Auf dem Flur dunkelte es schon, und mein Begleiter setzte hinzu: »Gib mir Deine Hand und führe mich.« Ich tat's, und wir gingen neben einander, dann legte er seine andere Hand, als suche sie eine Stütze, mir auf den Scheitel. Eine sanfte Wärme strömte aus ihrem weichen Druck in mich herüber, und ihre Finger spielten leise durch das Haar an meiner Schläfe; ich konnte mich nicht besinnen, daß mir je eine Menschenhand sonst das getan, es lag etwas mich lieblich Ueberflutendes darin, daß ich unwillkürlich, das fremdartige Gefühl langer zu erhalten, langsamer vorwärts ging. Doch der Flur nahm ein Ende, aus einer geöffneten Tür scholl der Schritt eines Auf- und Abwandelnden. »Hier ist Doktor Pomarius' Zimmer,« flüsterte ich, und gleichzeitig erschien der Genannte mit einer langen Pfeife in der Hand auf der Schwelle. »Herr Doktor Pomarius?« fragte der Fremde.

»So ist mein Name. Mit wem habe ich das Vergnügen zu reden?«

»Ich heiße Dr. Billrod.«

»Darf ich Sie bitten, in meine schlichte Wohnung einzutreten.«

*

Ich war im dunklen Gange, ohne von Doktor Pomarius bemerkt worden zu sein, etwas zurückgeblieben und verharrte eine Weile mit allerhand mir durch den Kopf schießenden Gedanken auf meinem Standpunkt. Was wollte der Fremde, von dem es mir war, als liege seine Hand noch immer auf meinem Scheitel, was suchte er in unserm Hause? Hatte er einen Sohn, den er ebenfalls zu uns zu bringen beabsichtigte? Nach seinem Aussehen mußte ein solcher noch sehr klein, konnte höchstens in meinem Alter sein. Wie aber konnte er mir meinen Namen aus den Augen ablesen und legte mir, trotzdem er mein Inneres obendrein so vollständig durchschaut hatte, seine Hand auf den Kopf, daß es mir so köstlich zu Mut gewesen wie noch nie?

Die Tür war nur angelehnt geblieben, und ich hörte aus der Ferne das wechselnde Gesumme der beiden Stimmen. Wenn ich näher hinanginge?

Um meine Neugier zu befriedigen? Ich sah mich von Doktor Pomarius entdeckt und hörte ihn mit weit aufgeschlagenen Lidern sagen: »Womit Du gesündigt, daran sollst Du gestraft werden –«

Ich fühlte ahnungsvoll das Brennen an meinen Ohren, und doch zog's mich übermächtig vorwärts. Aber es hielt mich plötzlich ebenso an – wenn der Fremde wahrnahm, daß ich lauschte? Erst seit Minuten fast kannte ich ihn, und doch empfand ich deutlich, keine Strafe, die Doktor Pomarius über mich verhängen konnte, würde der gleichkommen, wenn jener mich mit wirklich erzürnten Augen ansähe. Und würde er's nicht, wenn er den Neugierigen ertappte?

Nein, ich war nicht neugierig. Ich wollte, ich mußte wissen, weshalb seine Hand sich im Flur so sonderbar auf mich gelegt, und ich machte die Probe, ob dies Vorgeben eine der gewöhnlichen Spitzfindigkeiten sei, mit denen ich bei der Versuchung mich frevelhaft selbst zu betrügen pflegte. Doch das Herz klopfte nicht anklägerisch, und ich schlich auf den Zehen geräuschlos an die Tür.

Der Spalt war so breit, daß ich auch etwas hindurch zu sehen vermochte, indeß nichts gewahrte als ein graues Dämmerlicht und ab und zu eine Rauchwolke, die Doktor Pomarius, mir selbst unsichtbar, zwischen den Zähnen hervorstieß, daß sie wie ein nebelndes Gewoge gegen das jetzt geschlossene Fenster hinanzog. Dazu antwortete er auf etwas Vorhergegangenes:

»Sie haben sich also recht lange an dieser sogenannten klassischen Stätte des alten Heidentums aufgehalten.«

»Recht lange,« wiederholte Doktor Billrod, »wenigstens für ein sogenanntes Menschenleben. Ein Kind, das bei meinem Fortgehen etwa noch, auf seine Abholung wartend, unter dem Busch der Frau Holle gesessen hätte, würde jetzt ungefähr das klassisch-heidnische Alter von drei Olympiaden erreicht haben.«

»Eine lange Zeit in der Tat, um während derselben christlich zu wirken. Und Sie hegen die Absicht, sich nun hier an unserer Universität als Privatdozent der Geschichte zu habilitieren?«

»Ich hatte bereits das Vergnügen, Ihnen zu bemerken, daß diese hoffentlich von Ihnen nicht gemißbilligte Absicht mir das andere Vergnügen bereitet hat, Ihnen heut meinen kollegialischen Besuch abzustatten, und ich nehme mir noch die Freiheit hinzuzufügen, daß Ihr christlich-pädagogischer Ruf und Beruf mir willkommenen Anlaß gegeben, mich Ihnen fast zuerst unter den hiesigen Koryphäen vorzustellen.«

»Eine dankenswerte Liebenswürdigkeit,« erwiderte Doktor Pomarius mit gemildertem Tonfall der Stimme. »Sollte Sie vielleicht noch ein anderer Zweck zu mir – ich vermag allerdings nach dem Abendlicht Ihr Alter nicht genauer zu schätzen, und es will mir noch von ziemlicher Jugend erscheinen – aber der liebreiche Segen Gottes erfreut den einen später und den anderen früher –«

»Wenn auch nicht mit Söhnen, so doch mitunter mit Neffen oder dergleichen näheren Angehörigen, deren Bestes uns am Herzen liegt,« fiel Doktor Billrod ein. »Ihr, wie ich vernommen, schon durch manche Jahre in diesen Angelegenheiten geschärfter Blick hat sogleich das Richtige durchschaut, daß mein Kommen noch durch einen anderen Zweck beschleunigt worden ist.« »Oh, oh,« stieß Doktor Pomarius zugleich mit einer dichten Rauchwolle aus – »das außerordentliche Interesse an dem geistigen und leiblichen Heil der Jugend –«

»Teile auch ich, wenngleich naturgemäß nur in beschränkterem Maße,« ergänzte der Fremde, »und Sie werden es mir deshalb nicht verübeln, daß ich vorher einige Erkundungen und zwar nach der Richtung einzog, ob nicht etwa eine zu weichherzige Gemütsanlage es Ihnen erschwere, bei Knaben, die ungewöhnlicher Strenge für ihre Erziehung bedürfen, solche scheinbare Härte in Anwendung zu bringen. Denn ich muß leider beifügen –«

»Scheinbare Härte,« wiederholte Doktor Pomarius mit schwermütigem Ernst; »Sie fassen die schwerste Pflicht des Pädagogen in ein unübertreffliches Wort zusammen.«

»Es gereichte mir deshalb zur Beruhigung, zu erfahren, daß die Mehrzahl der Ihnen anvertrauten Zöglinge aus völlig mißratenen Knaben bestehe, bei denen der törichte Aberglaube mancher Leute, man könne derartige Gemüter durch Güte, Nachsicht und Vertrauen zu brauchbaren Menschen heranbilden, auf durchaus falschen Voraussetzungen eines nicht urteilsfähigen Unverstandes beruht.«

»Scheinbare Güte, in Wahrheit unverantwortlicher Unverstand,« entgegnete Doktor Pomarius, und ich hörte an seinem Ton, daß er sich in ausgezeichnetster Stimmung befand.

»So vernahm ich von zweien Ihrer Pflegebefohlenen, namens Imhof und Fritz Hornung –«

Es war offenbar nichts besonders Erstaunliches darin, daß der Fremde mich mit Namen anzureden vermocht hatte, denn er wußte diejenigen meiner Kameraden ebenfalls und fuhr fort:

»Hauptsächlich soll es indes ein Reinold Keßler sein, der mir für meinen Zweck gleichsam als Paradigma dient und geeignet wäre, mich die höchste Zuversicht in Ihre Erziehung setzen zu lassen, wenn der Genannte in der Tat von so heilloser moralischer Beschaffenheit ist, wie der Ruf ihn darstellt.«

»Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand'.«

Das Wort summte mir heiß und kalt zugleich durch den Kopf, es war die Strafe für mein Tun und offenbarte mir obendrein zugleich, aus welchem Anlaß der Fremde sich in ein Gespräch mit mir eingelassen hatte. Er kannte meine Gemütsart schon vorher genau genug und hatte sich nur noch durch eigene Erfahrung vergewissern wollen, ob ich wirklich so von Grund aus verderbt sei, dem Doktor Pomarius für Alles, was er zu meiner Besserung tue, nicht einmal durch Liebe zu danken. Mir stieg ein Weinkrampf aus der Kehle heraus, und es zog mich gewaltsam von dem Türspalt fort, um nicht noch bitterlicher in meine Enttäuschung hinabgestürzt zu werden, doch der Fuß war mir wie mit Blei gefüllt, und ich hörte Doktor Pomarius erwidern:

»Eh, eh, Reinold Keßler« – er schien mit dem Finger dabei in seinen Pfeifenkopf zu stoßen – »eh, eh, das ist allerdings ein Paradigma, ein böses Beispiel, ich meine ein gutes, das beste, um daran die tägliche Verleugnung des Herzens zu bemessen, welche die Pflicht uns bei solchen Naturen auferlegt. Eine durchaus mißratene Kreatur, an der ich alle Fülle der Liebe, Nachsicht und Sanftmut erschöpft habe, bis ich zu der schmerzlichen Erkenntnis gelangte, daß ich durch solche Mittel eine Verabsäumnis unserer heiligsten Obliegenheiten auf mich lade.«

»Jedenfalls um so bedauerlicher und zugleich ruchloser,« sagte die Stimme Dr. Billrods, »als diese Kreatur, wie man mir mitgeteilt, schon in allerfrühester Kindheit Ihrer Obhut übergeben worden, mithin die Bosheit soweit getrieben hat, unter Ihren eigenen Händen dergestalt zu mißraten.«

»Eine wirklich ruchlose Bosheit« – ich vernahm, daß Doktor Pomarius einige stärkere Züge aus der Pfeife tat – »nur durch die Erbsünde erklärlich.«

»Wieso?«

»Als Erbteil vom Vater und der Mutter.«

»Die wären –?«

»Sie waren nicht Menschen, die nach Dem trachteten, was allein den Wert unseres vergänglichen Daseins ausmacht, besonders die Mutter, nach der ja zumeist, dem Ratschlusse der Vorsehung gemäß, die Söhne ihres Leibes zu arten pflegen. Ich habe sie nur noch kurze Jahre gekannt, doch als ich sie kennen gelernt, ihr Haus kaum mehr betreten, denn mein Herz empörte sich ob der Hoffärtigkeit ihres Wesens, und ich erkannte in ihrem frühzeitigen Tode die Vaterliebe Gottes, welche das unschuldige Kindlein den Händen seiner Verderberin entwinden wollte, um es der Zucht anzuvertrauen, die es in seine Arme zurückführen solle.«

»So, so – Sie erkannten das – ein Glück – eine wahrhaft väterliche Vorsehung.« Ich vernahm, daß der Sprecher aufgestanden war und eine Weile schweigend mit großen Schritten durch das Zimmer wanderte. Dann hob er wieder an:

»Und trotzdem oder vielmehr deshalb trieben Sie die Selbstverleugnung so weit, daß Sie nach dem Tode der Eltern das verwaiste Kind zusammt seiner voraussichtlichen Erbsünde zu sich ins Haus nahmen?«

»Es waren keine Verwandte, nicht einmal Freunde vorhanden, so übernahm ich – mein Beruf gebot es mir gewissermaßen – die Vormundschaft und Erziehung um Gotteslohn.«

Dr. Billrod stand offenbar still. »Ich dachte – ich meine gehört zu haben, daß die Eltern ein recht beträchtliches Vermögen hinterlassen. Vermutlich ist das ein Irrtum, der auf einer Verwechselung beruht.«

»Sicherlich eine Verwechselung,« bestätigte Doktor Pomarius. »Aber es ist nicht meine Art, bei einem irdischen Schaden, einer Einbuße weltlicher Güter, die ich durch ein Gotteswerk erleide, zu verweilen – lassen Sie uns auf Ihre Angelegenheit – und auf daß wir uns auch einmal von Angesicht zu Angesicht gewahren –«

Das Klirren einer Lampenkuppel brach die Worte ab. Es blieb etwa eine Minute still drinnen, und ich hatte Zeit, zum ersten Mal in meinem Leben außer meinem sonstigen Schuldbewußtsein noch den Gedanken aus mich einhämmern zu lassen, der plötzlich aus dem Dunkel über mich gefallen, daß ich eigentlich gar kein Recht auf etwas, nicht einmal auf meine eigene Existenz besaß, sondern lediglich alles der Barmherzigkeit des Doktor Pomarius dankte, der neben der geistigen Vekümmerung, die ich ihm bereitete, auch noch tägliche leibliche Einbuße durch mich erlitt. Ich erschien mir mit einem Schlage nicht würdig, vollständig unberechtigt, jemals auf ein Mittags- und Abendessen Anspruch zu erheben, und es war Ausfluß eigentlich unverantwortlicher Nachsicht, daß ich es manchmal erhielt. Nun blitzte das Licht der von Doktor Pomarius entzündeten Lampe auf und durch den Türspalt mir grade in die Augen. Ich erschrak, mit verdoppeltem Hammerschlag traf mich das heftig erwachte böse Gewissen und trieb mich fort. Nur mußte ich langsam vorsichtig auf den Zehen davonschleichen und vernahm deshalb noch einen Laut der Verwunderung von den Lippen Dr. Billrod's, die ersten Worte nach der eingetretenen Erhellung des Zimmers, mit denen er fragte:

»Täusche ich mich, oder sollten wir uns nicht schon einmal früher im Leben – etwa in München – aber mich däucht, es war ein anderer Name –?«

»Sicherlich wiederum eine Verwechselung, man verwechselt so manches aus früherer Zeit,« fiel Doktor Pomarius mit ziemlich ungewöhnlicher Schnelligkeit der Zunge ein, und eine Verdunkelung und Farbenveränderung des herausfallenden Lichtes deutete an, daß er gleichzeitig einen grünen Lampenschirm über die Kuppel deckte. »Mein Lebensweg hat mich nie in die Stadt München geführt und ebenso wenig vermag sich meine Erinnerung das Vergnügen vorzustellen, Ihnen auf jenem Wege einmal begegnet –«

Die Fortsetzung ward unverständlich, denn ich hatte mich, vorsichtig tastend, um ein halbes Dutzend Schritte jetzt von der Tür entfernt und gelangte, weiter laufend, in's Freie. Tief aufatmend begrüßte ich die weiche Frühlingsnachtluft; im Westen stand noch Abendröte, doch über mir brach schon hier und da ein Stern aus dem Dunkel. Mir war Eins unabänderlich zur Gewißheit geworden, ich mußte mich von einer erdrückend auf mir liegenden Gewissenslast befreien und zu dem Behuf den Fremden am Ausgang des Gartens erwarten. Aber wie in einer unruhvollen Spannung Einem oftmals die damit am wenigsten zusammenhängenden, trivialsten Gedanken durch den Kopf drängen und nicht weichen wollen, so gewahrte ich, während meines Harrens, in der Phantasie immer eine süddeutsche Wirtschaft vor mir, wie Doktor Pomarius sie einmal in unserer Gegenwart Eugen Bruma lebendig geschildert hatte, um ihm einen sittlichen Abscheu gegen das gemeinsame Zusammenkommen wohlerzogener, gebildeter Menschen mit der Rohheit der ordinären Leute einzuflößen. Dann vernahm ich nach einer Weile vom Hause herrannahenden Fußtritt und erkannte den Umriß des Fremden, der, wie es schien, umherblickend der Gartenpforte zuschritt. Zaudernd hielt ich mich zur Seite und machte mich ihm erst, als er bereits vorübergegangen, durch einen leisen Ton bemerklich. Er stand still, drehte rasch den Kopf und fragte: »Bist Du's etwa, Reinold Keßler?«

Ich bejahte, die Sprache versagte mir, und stotternd brachte ich hervor, daß ich auf ihn gewartet, weil ich ihm sagen müsse, ich sei noch viel schlechter, als er bereits wisse, denn ich habe seine Unterredung mit Doktor Pomarius an der halboffenen Tür belauscht.

»So wirst Du wissen,« entgegnete er, »daß Du in meinen Augen und Ohren nicht ›noch schlechter‹ werden konntest, wenngleich die Einfalt Deines Geständnisses nicht geeignet ist, eine besondere Meinung von Deiner Schlauheit zu erwecken. Sollte Dein Gewissen sich indeß mit der Erkenntnis Deiner Unklugheit nicht beruhigen, so findest Du mich morgen nachmittag in meinem Hause. Ich heiße Erich Billrod und wohne in der Gartenstraße, im Erdgeschoß des ersten Gebäudes links. – Wünschest Du noch etwas?«

Ich mußte irgend eine Bewegung gemacht haben, ihn noch zurückzuhalten, auf die hin er die letzte Frage stellte, und ich drückte die Augen zu und entgegnete noch mehr stammelnd als zuvor:

»Ich möchte – ich wollte Sie bitten – es tat mir so wohl – warum Sie mir vorhin im Flur Ihre Hand auf den Kopf –?«

»In der Art?« erwiderte Erich Billrod, und ich fühlte, daß seine Hand sich mir wieder in der nämlichen Weise gleich einem Sonnenstrahl weich und warm auf den Scheitel legte. »Es ist das einmal bei Blondköpfen so meine Gewohnheit, Reinold Keßler.«


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