Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Es mag um einige Wochen später gewesen sein, und der Vorfrühling ging in den wirklichen über, die gut entwickelte Wintersaat spreitete grünen Schimmer, wohin der Blick im Felde schweifte, und überall zierte die helle Osteranemone den Erdgrund, wie lichte Blüten das Kleid einer jungen Fee. Als liege auch ihr Goldhaar überall ausgebreitet, so lag der stille Sonnenglanz an Feld- und Waldesrand und ein blaues, lächelndes Auge darüber. Nur den breiten Zaun auf hohem Graswall, an dem ich, grüngoldigleuchtende Käfer suchend, entlangwanderte, füllte noch da und dort das braune, vorjährige Laub. Es knisterte manchmal im leisen Aprilhauch, die Lerchen schmetterten unsichtbar herum, ein Citronenfalter taumelte lenzfreudig und sattfarbig über den Acker. Drüben stieg der grüne Kirchturm mit dem Goldknauf in's Blau, ich stand, sah hinüber und es kam mir auf die Lippen, daß ich ihn, wie schon einmal, laut fragte: »Weißt du auch von der Hoffärtigkeit meiner Mutter, und daß es eine Vaterliebe Gottes für mich war –?«

Ich drehte mich plötzlich um, hinter mir raschelte es in dem dünnen Blattwerk des Zaunes so stark, daß ich im Moment alles Andere darüber vergaß. Ein Windstoß konnte es nicht sein, denn die Luft lag, so ruhig um mich, wie vorher. War's ein Hase, den meine Stimme aus dem Lager aufgescheucht, vielleicht gar ein –?

Nein, ein Fuchs, wie ich halb hoffnungsvoll erwartet, war es nicht, sondern eine große blaugelbe Ringelnatter, die sich am warmen Sandabfall des Walles gesonnt und in langsamen Windungen durch Gras und Gesträuch verschwand. Aber konnte ihre behutsame Bewegung das ungewöhnlich starke Blättergeräusch veranlaßt haben?

Es mußte sich noch etwas Anderes dahinter verbergen, mein Auge suchte den dichten Laubvorhang zu durchdringen und mir schlug das Herz in freudiger Spannung, denn ich gewahrte droben aus dem Versteck hervor jetzt in der Tat das unruhige Funkeln zweier beweglicher, dunkler Augensterne, die mir grade ins Gesicht leuchteten. Mehr vermochte ich nicht zu unterscheiden, aber unfraglich – was für ein Tier konnte es sonst überhaupt sein? – war es doch ein Fuchs, und ich sprang, ihn über's Feld fortzuscheuchen, mit lautem »Hussah!« den Wall hinan. Im selben Moment hob sich auch der Kopf mit den dunklen Augensternen erschreckt vor mir in die Höh', halb zum Fortsprung gewandt und halb zaudernd, während ich selbst fast ebenso überrascht und erschrocken stehen blieb, denn es war kein Fuchstopf, noch der irgend eines Tieres, sondern Stirn und Augen eines kleinen, noch etwas jüngeren Mädchens als ich.

Wir mögen uns wohl eine Minute lang gegenüber verweilt und uns stumm angeblickt haben, sie immer, einem überrumpelten Feldtiere gleich, das zögernd die Gefahr der Flucht und des Bleibens abwägt, zum Aufsprung bereit, ich noch vollständig verdutzt und sprachlos über den gänzlich unerwarteten und nur durchaus fremdartigen Anblick. Sie stand etwa bis an die Knie in hohem, überjährig vergilbtem und verdorrtem Gras und trug ein gelbes Kleid völlig von der grellen Farbe des Citronenfalters. Darauf fiel nach hinten auf Rücken und Schultern langes, dichtes Haar von einer Schwärze, die fast in's Bläuliche stach und mich an etwas erst kurz vorher von mir Gesehenes, doch ich wußte nicht woran, erinnerte; vorn aber hob sich von dem gelben Kleid ein magerer, bräunlicher Hals und ein länglich-schmales Gesicht von ein wenig heller schattierter Farbe, zu der das Weiß der Augen stärkeren Gegensatz als gewöhnlich bildete. Die Pupillen waren klein zusammengezogen und boten dadurch einen feindseligen, beinahe stechenden Ausdruck unter nur mäßig hoher Stirn, in die das Haar sowohl oben wie an den Schläfen – ich weiß keine andere Bezeichnung dafür – kranzartig-geflockt hineinwuchs. Ob das Ganze, Kleid, Gestalt, Züge und Haltung ansprechend oder das Gegenteil davon seien, kam mir nicht zur Vorstellung, nur daß ich noch nie etwas so Eigentümliches in der Gesamterscheinung gesehen. Der Rahmen des braunen Laubwerks, der sie einfaßte, die sonderbar abgeschiedene Welt droben auf dem breiten Wallrücken erhöhten das Wunderliche, und so verging geraume Weile, ehe ich mich von meinem Staunen so weit erholt, daß mir die Frage aus dem Mund flog:

»Was machst Du hier?«

Sie zuckte leicht mit den Wimpern, hielt den Kopf forschend zurückgebogen und ihre Lippen zogen sich ein wenig über schneeweiß glänzende Zahnreihen herauf und ließen die Gegenfrage hindurch:

»Willst Du mich schlagen?«

»Schlagen?« versetzte ich verwundert; »warum sollt' ich Dich schlagen? Tust Du Böses?«

»Gewiß nicht!«

Ich schüttelte wie vor einem Rätsel den Kopf; sie fragte hastig hinterdrein:

»Auch mich nicht kneifen, kratzen, beißen? Nichts? Mir gar nicht weh tun?«

Ihr Auge war noch immer mißtrauisch auf mich gerichtet, und ich sah deutlich, daß ihr unter dem gelben Kleid heftig das Herz klopfte. »Wenn Du solche Angst vor mir hast,« entgegnete ich, »will ich wieder herunterspringen.«

Ich drehte mich halb, um es auszuführen; sie schwieg; erst als ich den Fuß ansetzte, sagte sie: »Nein, bleib! Du weißt es jetzt doch einmal. Ich will Dir's glauben, weil Du keine blauen Augen hast.«

»Was tun Dir denn blaue Augen?«

»Die mich schlagen und verhöhnen, haben sie immer.«

»Aber wer schlägt und höhnt Dich denn, und warum?«

»Weil ich schwarze Augen habe.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schüttelte aber den Kopf, daß ihr kurz das Haar von den Schläfen wie ein Gitternetz über das ganze Gesicht wegflog und eine plötzliche Erinnerung in mir wachrief, die mich erwidern ließ:

»Bist Du nicht vor ein paar Wochen auf einem blauen Wägelchen mit einem Schimmel und einem alten weißbärtigen Mann drüben im Dorf vorbeigefahren?«

Sie nickte. »Mein Großvater war's, er hat mich hergebracht.«

»Also Du wohnst in der Stadt?«

»In der Dorfgasse. Ich soll hier bleiben.«

»Weshalb bist Du denn nicht bei Deinen Eltern?«

»Die sind gestorben.«

»Meine auch.«

Es entfuhr mir unwillkürlich, ich weiß nicht, lag's am Ton der Worte, aber mir war's, als ob ihre Augen mich plötzlich verändert betrachteten. »Dein Vater und Deine Mutter sind auch tot?« fragte sie nachdenklich, machte dann einen Schritt gegen mich vor und setzte schneller hinzu: »Da wirst Du mir nicht weh tun, und ich glaube Dir. Komm, laß uns zusammen wohnen; sieh', ist mein Nest nicht hübsch?«

Sie streckte jetzt auf einmal vertraulich die Hand aus, faßte nach der meinigen und zog mich ein paar Schritte mit sich. Da stand ich inmitten des braunen Buschwerks vor einem wahrhaftigen Nest, etwa in der Größe, wie ein Adler es sich gebaut hätte, doch mit der Sorgfalt und Zierlichkeit eines kleinen Singvogels zusammengetragen. Aus Gezweig und dichten Grasmengen war, von keiner Seite des Zaunes sichtbar, eine allerliebste ovale Lagerstatt ausgerundet und mit Moos überpolstert, das die Kleine ziemlich weither aus dem Wald geholt haben mußte; wie sie mit dem gelben Kleid und den dunklen Augen hineintrat, kam's mir plötzlich mit einem Vergleich, daß ich rief: »Du bist wie ein Pirol in seinem Nest.«

»Was ist ein Pirol?« frug sie.

»Ein gelber Vogel mit schwarzen Augen, er heißt auch Golddrossel.«

»Ja, die kenne ich, aber ich höre lieber, wenn die Schwarzdrossel singt, das läuft Einem so kalt über.«

Ich sah sie fragend an. »Was läuft Einem kalt über?«

»Da,« – ihre kleine braune Hand fuhr mir halb neckisch, halb ernsthaft vom Nacken über den Rücken herunter – »aber das tut's nur bei mir, der Oheim und die Muhme haben keinen solchen Rücken.«

Zum ersten Male war's, daß ein andrer Mund mir davon sprach, und ich hatte, fast noch eh' ich drum wußte, hastig geantwortet: »Bei mir tut's das auch –«

»Oh,« – ihre Augen blickten mich groß und prüfend an – »das kommt wohl daher, weil wir beide keine Eltern mehr haben? Aber dann wollen wir auch zusammen wohnen, nicht wahr?« Und sie zog mich jetzt mit vollster Vertraulichkeit in das Nest zu sich nieder.

So saßen wir in dem engen Raum fest aneinander gedrängt, zur Rechten und Linken über den Feldern sangen die Lerchen, doch ein grüner Schimmer der Aecker fiel in unser Versteck, nur der Himmel lag als eine köstliche blaue Glocke darüber. Bis vor wenigen Minuten war das alles noch ungedacht, in der Welt nicht vorhanden gewesen, und nun erschien es mir fast schon wie selbstverständlich, als hätte es so sein müssen und ich dies sonderbare Nest zu finden erwartet, wie ich in's Feld hinaus gegangen. Wir bogen das Gezweig weiter aus und besserten das Nest überall, um uns mehr Raum zu schaffen, dazwischen redeten wir bald dies, bald das. »Ich meinte, Du wärest ein Fuchs,« lachte ich, »Deine Augen glitzerten grad so aus dem Laub.« Eine Welle ihres langen Haars fiel mir über die Hand und schillerte blauschwärzlich in der Sonne, so daß ich plötzlich wußte, woran es mich vorhin erinnert hatte, und hinzufügte: »Es hat grad die Farbe von der Natter, die ich zuerst sich am Wall fortringeln sah, als ich Dich im Busch rascheln gehört.«

Ihre Schulter und ihr Kopf flogen herum, wohl nur das Geräusch der dürren Blatter war's, die ihr Arm bei der raschen Bewegung gestreift, doch in ihren Augsternen funkelte es einen Moment wieder eigentümlich, als hätte es in ihnen so geknistert, und ihre Lippen stießen kurz aus: »Ich wollt', ich wäre eine Schlange.«

»Warum?«

»Dann wollte ich die beißen, die mich verhöhnten.« Aber sie lachte gleich hinterdrein: »Es war recht närrisch, daß ich mich vor Dir fürchtete, weil ich auf einmal Deine Stimme unter mir hörte und recht dumm dazu, daß ich mich rührte. Sprachst Du mit Dir selber?«

»Nein, mit dem alten Kirchturm drüben.«

Sie nickte, und ihre Miene besagte, daß sie darin etwas ganz Begreifliches finde; nur entgegnete sie:

»Ja, Du kannst natürlich mit ihm reden.«

Sie hatte das »Du« betont, und ich fragte unwillkürlich:

»Warum ich? Könntest Du es nicht?«

»Er geht mich ja nichts an.«

Natürlich nicht, sie sah ihn ja seit wenigen Tagen erst, hatte keinerlei alte Verknüpfung mit ihm, und es war recht sinnlos von mir gewesen, daß ich geglaubt, sie könne auch mit ihm reden. Während ich mir das sagte, fragte sie plötzlich:

»Warum war denn Deine Mutter hoffärtig?«

»Ich weiß es nicht, denn ich habe sie nicht gekannt,« erwiderte ich, »aber mein Vormund hat es gesagt.«

»Und Du glaubst es?«

Ich gab keine Antwort, und sie fuhr fort:

»Ich würde es keinem glauben, wenn er mir von meiner Mutter Schlechtes erzählte, denn damit wollte er mir weh tun. Aber ich würde ihm eine Nadel in's Bett tun, daß er schreien sollte.«

Der Gedanke war mir so neu und seltsam, daß ich die Sprecherin verwundert ansah. »Wenn Du so schlimm bist, muß ich mich wohl vor Dir fürchten?«

Nun lachte sie wieder. »Gegen die, welche mir gut sind, bin ich nicht bös.« Sie griff nach einem Dorn, der neben meiner Hand aus dem Moos hervorsah, nahm ihn und fügte hinzu: »Ich drückte ihn mir eher in's Fleisch als Dir.«

»Das glaube ich nicht,« versetzte ich, halb ohne daran zu denken, was ich sagte.

Doch im selben Augenblick stieß sie sich die Spitze des Dorns tief in ihren braunen Arm, daß ein großer roter Blutstropfen drunter hervorquoll. Sie zuckte nicht dabei, sondern sagte nur ruhig:

»Ich lüge nicht; lügst Du?«

»Nein, ich habe noch nie gelogen,« antwortete ich, erschreckt auf ihren Arm blickend.

»Dann hattest Du auch ohne das glauben können, was ich Dir sagte. Willst Du's künftig immer?«

Ich versprach's und gab ihr zur Bekräftigung die Hand, und wir blieben Hand in Hand sitzen. So redeten wir weiter, über Feld und Wald, über die Tiere darin, die Bäume, die Pflanzen, die Blumen. Sie kannte alle, ohne die Namen von den meisten zu wissen; ich hatte noch nie jemanden gefunden, der mir so ähnlich war und über alles dasselbe dachte, wie ich. Was ich nur empfunden, ohne Worte dafür zu haben, sprach sie aus, ganz einfach, aber genau so, wie ich es selbst fühlte. Mich dünkte, sie sei viel klüger als ich, und es gereichte mir zu trostvoller Genugtuung, daß ich ihr gegenüber wenigstens inbezug auf die Namen der Tiere und Pflanzen manchmal als Lehrer auftreten konnte. Aufmerksam zuhörend, sprach sie das ihr bis dahin unbekannte Wort nach. Zuweilen falsch, so daß ich sie verbesserte, doch dann schüttelte sie den Kopf und meinte: »Wenn Du's auch anders sprichst, Blume und Vogel bleiben darum doch grad' so wie sie sind und bekümmern sich gar nicht drum, wie wir sie heißen.«

Eigentlich hatte sie darin auch Recht, mir war's nur noch nie eingefallen. Aber etwas anderes fiel mir jetzt bei dieser Wendung des Gesprächs ein, das mir nun erst auf einmal plötzlich über die Lippen kam:

»Wie heißt Du denn?«

Mir schien's, sie tat einen Augenblick, als hätte sie meine Frage nicht gehört, und ich hätte geglaubt, daß sie's wirklich nicht getan, wenn sie nicht danach den Kopf gedreht und kurz gesagt: »Ich heiße Lea.« Aber obwohl sie es mit rascher Bewegung und klarer Aussprache tat, lag etwas Zögerndes, ungewiß Erwartungsvolles in dem Blick ihrer dunklen Augen, die scheinbar vor sich hinaussehend, aus dem Winkel auf meinem Gesicht hafteten.

»Lea?« wiederholte ich, »das ist ein Name, den ich noch nie früher gehört –«

»Nein, Dein Kirchturm da kennt ihn auch nicht.«

»Aber er ist hübsch; das klingt ähnlich wie Dea, und das ist lateinisch und heißt eine Göttin.«

»Nein, Lea heißt eine Magd, glaub' ich,« fiel sie jetzt ein. »Und Du?«

Ich nannte ihr meinen Namen und erzählte ihr, wo und bei wem ich wohne, auch von Imhof, Fritz Hornung und Bruma. Sie ward etwas unruhig dabei und unterbrach mich: »Du darfst's ihnen nicht sagen, daß Du mich hier getroffen hast. Versprich's!«

»Wenn Du es nicht willst – doch warum nicht?«

»Weil sie vielleicht meinen Namen nicht möchten und Dir sagen könnten –«

Sie hielt inne. »Was, Lea?«

»Du solltest ihn auch nicht leiden, und dann würde ich blind werden und ihnen Uebles antun.«

»Du meinst immer, daß andere Dir etwas antun wollen. Bist Du deshalb etwa« – ich dachte einen Augenblick nach – »ist das der Grund, weshalb Du hier allein im Feld das Nest gebaut hast wie eine verwilderte Katze?«

Das letzte Gleichnis kam mir ohne alle Anzüglichkeit, nur um des Zutreffenden seiner Aehnlichkeit willen, doch Lea nickte ernsthaft mit dem Kopf: »Das hast Du gut gesagt, ich wußte das Wort nicht dafür, aber nun hab' ich's. Sie sind die Hunde – ich kann auch klettern und springen wie eine Katze, und wenn meine Nägel mir einmal lang gewachsen sind –«

Sie sprach nicht zu Ende, sondern sah mit einem auffunkelnden Blick auf ihre Finger nieder, die sie an den Spitzen mit ungemeiner Gelenkigkeit zusammenkrümmte und wieder streckte. »Aber Dich will ich nie kratzen, Reinold!« fuhr sie plötzlich ungestüm auf, schlang ihren Arm um meinen Hals und blickte mich so überzeugungsvoll treuherzig an, wie ich bis dahin nicht geglaubt, daß ihre Augen aussehen könnten. »Nicht wahr, wir verabreden, wann wir hier miteinander sein wollen, und dann lerne ich auch wieder von Dir, denn ich bin dumm und weiß nichts, aber ich möchte auch alles, was die andern mit den blauen Augen – nun muß ich nach Haus! Kommst Du morgen nachmittag?«

Sie trat aus dem Nest auf den freien Wallrand hinaus, ich wollte ihr raten und helfen, hinunter zu kommen, doch sie sprang mir unter den Händen fort in weitem Bogen von der beträchtlichen Höhe über den verrankten Graben hin auf den Acker. Dann gingen wir am Zaun entlang, drunter stand Lea still, gab mir die Hand und sagte: »Bis morgen.« – »Wohin willst Du?« fragte ich. Sie deutete: »Das Haus des Ohms liegt dahinüber.« – »So bringe ich Dich hin.«

Doch sie rief: »Nein, ich will's nicht!« und sprang eilig davon, kehrte indes nach einigen Schritten den Rücken, sah mich freundlich an und sagte: »Bitte, tu's nicht und halte, was Du versprochen hast!«

So blieb ich zurück. Die späte Nachmittagssonne stieg schräg an den Horizont, ich blickte Lea nach, wie sie schon ziemlich entfernt drüben lief. Ueber den Acker flog sie wie ein verspäteter Zitronenfalter, sprang nun einem Kätzchen ähnlich wieder einen steilen Wallrand hinan und verschwand in einem Gestrüpp gleich einer eilfertig-geräuschlos zwischen dem knorrigen Strauchwerk fortschlüpfenden blaugelben Natter.

*

Nur ein ziemlich unbeträchtlicher Umweg führte mich bei der Heimkehr vom Gymnasium durch die Gartenstraße am Hause Erich Billrods vorüber, und ich nahm erst wahr, daß es mir zur Gewohnheit geworden, allnachmittäglich diesen Umweg einzuschlagen, als es mir bereits vorkam, ich sei überhaupt niemals auf andere Weise nach Hause zurückgekommen. Es verstand sich von selbst, daß ich mindestens eine Stunde bei Erich Billrod vorsprach, und er schien dies ebenso natürlich und beinahe pflichtgemäß zu finden. Wie der Name der Straße es andeutete, befand seine Wohnung sich in einem Garten, war etwas erhöht und dadurch schön gelegen, denn sie sah bis auf die offene See hinaus, und alte, im Wind sonderbar murrende Bäume umschlossen sie nach der andern Seite mit dunklem Halbkranz. Dazwischen herein blickten die Rückseiten treppenartig gestufter Giebel, und über sie nieder schaute mein Freund, der grüne Kirchturm, in himmelanragender Nähe, daß man die Fugung seiner einzelnen Kupferplatten zu unterscheiden vermochte. Erich Billrod bewohnte zwei äußerst geräumige Zimmer im Erdgeschoß, sehr einfach mit altväterischen Möbeln ausgestattet, doch die Menge der von oben bis unten beladenen Büchergestelle, welche fast rundum die Wände verdeckten, lieh den Räumen eine gewisse Feierlichkeit, die mich beim Eintreten jedesmal mit einer eigentümlichen Stimmung überkam. Wo die Bücher noch einen leeren Fleck gelassen, hingen große, in schlichteste Holzrahmen gefaßte Landschaften, alle in einem mir fremdartigen, braunrötlichen Ton, als falle ein Abglanz herbstlicher Abendsonne darüber hin. Wenn die wirkliche Sonne sich hinzugesellte und durch die hohen, doch aus zahlreichen kleinen Scheiben wie ein Gitterwerk zusammengesetzten Fenster mit breitem Strahlenband hereinfiel, lag in den kühlluftigen Zimmern trotz der Helle, oder vielmehr je voller diese anwuchs, desto auffälliger ein Licht weltabgeschiedener Einsamkeit, als seien eigentlich seit Menschengedenken nur auf- und abtanzende Goldstäubchen die schweigsamen Bewohner und Rechtsinhaber der stillen Verlassenheit.

Erich Billrod saß, wenn ich kam, zumeist an seinem breiten Schreibtisch im äußersten Winkel, wie bei meinem ersten Besuch, und wenn er aufstand und auf mich zutrat, erschien seine Gestalt mir in dem weiten, hohen Raum immer auf's neue kleiner als draußen im Freien. Ich blieb damals etwas schüchtern und verlegen, was ich eigentlich bei ihm wolle, an der Tür stehen, und er kam heran, lächelte und sagte: »Meine Gewohnheit, mit Blondköpfen umzugehen, hat also wohl nicht Deinen Beifall, Reinold Keßler? Wenn Du Dich darüber beschweren willst, sag' es grad' heraus, und fällt Dir das leichter, indem Du mich gleichfalls mit Du anredest, so laß Deine Zunge einmal den Versuch anstellen. Dein Vormund sorgt genug für Schicklichkeit und Anstand, daß ich es mir schon erlauben darf, Dich nicht als einen Pudel zu betrachten, der ausschließlich dazu da ist, um an der Leine dressiert zu werden. Im Uebrigen ist auch das bei Blondköpfen so meine Gewohnheit, zumal wenn sie meine Schüler sind, und da Du den Einzigen dieser Sorte für mich bildest, so ist's die erste Aufgabe, die ich Dir als Lehrer stelle, daß Du mich anredest etwa als ob ich Dein älterer Bruder oder Dein – genug irgend ein Geschöpf wäre, bei dem die Natur Dir Recht und Pflicht auferlegt, es so mit dem Munde – das Herz kann man natürlich nicht dazu zwingen – anzusehn.«

Ich stand, halb vor Freude, halb aus Verlegenheit errötend, und stotterte überrascht: »Soll ich Ihr Schüler –?«

»Fehler und Strafe Nummer 1,« fiel Erich Billrod mir in's Wort, indem er seine Hand nach meinem Ohr ausstreckte und mich daran mit den Fingern leise zu sich heranzog. »Doktor Pomarius hat Recht, Du bist ein verstockter Bursche, bei dem mit Gutem nichts auszurichten ist und der sich nur mit Gewalt zu seiner Pflichterfüllung nötigen läßt. Her zu mir, den Kopf hoch und die Augen mir ohne tückische Furcht fest in's Gesicht gerichtet, wenn Dein böses Gewissen anders noch dazu fähig ist. Hat Dein Vormund Dir nicht gesagt, daß Du fortan jeden Nachmittag nach der Schule zu mir zu kommen hast, damit ich Dir Deiner Trägheit und Unwissenheit halber noch eine Stunde Privatunterricht in der Weltgeschichte erteile? Ich tue das nicht, wie Doktor Pomarius, um Gotteslohn oder Deinetwillen, sondern aus egoistischer Habsucht, denn die Stunde wird mir reichlich vergütet. Hüte Dich darum vor mir, ich bin keiner von den Lehrern, wie Du an sie gewöhnt sein magst, daß sie aus nachsichtiger Schwäche bei Uebertretungen ihrer Schüler ein Auge zudrücken. Du bist mein Schüler und hier völlig in meiner Hand. Also repetitio prima – wie heißt es? Soll ich –?«

Es war etwas wie Betäubung, das sich mir flimmernd vor die Augen und über meine Gedanken gelegt. Er hatte ungefähr die nämlichen Worte gesprochen, die ich von Doktor Pomarius und den Lehrern des Gymnasiums täglich zu vernehmen pflegte, und doch schwoll es mir köstlich und stürmisch aus der Brust, ich konnte nicht sagen warum, als müßte ich darüber aufjauchzen. Ich sah ihm grade und fest in die Augen, und aus ihnen kam eine Kraft über mich, die mich plötzlich mit vollem, kühnem und freudigem Mut durchströmte, seiner ersten Vorschrift Gehorsam zu leisten, daß ich in glückseliger Erregung ausstieß: »Soll ich Dein Schüler sein, wirklich sein – ich begreife es noch nicht –?«

»So ist's recht, Reinold Keßler,« versetzte Erich Billrod, indem seine strafende Hand mein Ohr fahren ließ und mir zur Belohnung meines Gehorsams einigemale das Haar aus der Stirn glättete. »Nur verrätst Du wieder Deinen Hochmut, der Alles gleich begreifen zu müssen glaubt. Es gibt Vieles im Leben, was sich schwer begreift, und das, denke ich, ist eben der Zweck Deines zu mir Kommens, daß Du zu begreifen lernst.«

*

Die Unterrichtsmethode Erich Billrods oder vielmehr besonders seine Anschauung in Bezug auf Umfang und Inhalt des historischen Gebiets war eine eigentümliche. Es kam wohl vor, daß er mir eine Frage stellte, etwas erzählte, das meiner bisherigen Meinung nach in die Rubrik der Geschichte hineingehörte, allein im Allgemeinen zählte dies durchaus zu den Ausnahmen, und die Nachmittagsstunde verlief zumeist unter Fragen, Mitteilungen, Erklärungen und Belehrungen jeder denkbaren Art, ohne daß eine Jahreszahl oder sich bekriegende Könige irgend welche Rolle darin spielten. Eigentlich bildete Erich Billrod ein lebendes Lexikon, das mir auf Alles Antwort gab, was ich nicht wußte, und das war wiederum ungefähr Alles, wohin das Auge sah und der Gedanke ging; aber zugleich mußte er eine merkwürdige Fähigkeit besitzen, mir im Gesicht zu lesen, was ich gern wissen möchte, denn mir schien, jegliche Erläuterung, die er mir erteilte, betreffe grade das, was ich in diesem Moment vorzugsweise zu erfahren gewünscht habe. Es geriet mir im Grunde nie in den Sinn, daß ich etwas bei ihm lerne, ich behielt nur jedes Wort, das er mir gesagt, und war nach einiger Zeit oftmals verwundert, wenn Imhof oder Fritz Hornung Dinge nicht wußten, von denen mir durchaus selbstverständlich vorkam, daß man darüber unterrichtet sein müsse. So erstreckte sich unsere Unterhaltung – denn als solche erschien mir die Nachmittagsstunde nur – auf Himmel und Erde, Meer und Land, Gestein, Pflanzen, Tiere und Menschen mit Allem, was um Alles herlag, sichtbar und unsichtbar, was Andere vor Jahrtausenden darüber gedacht, heut' dachten und vielleicht in Zukunft denken würden. Eines Tages aber entfuhr's mir beinahe unbewußt, in Verwunderung: »Gehört das auch zur Geschichte?«

Erich Billrod sah mich lächelnd an und versetzte: »Du bist ein kleiner sciolus, Reinold Keßler. Weißt Du, was das besagt?«

Ich dachte nach und entgegnete mit ziemlichem Latinitätsstolz: »Es kommt von scire und heißt vermutlich ein Vielwisser.«

»Ungefähr, man übersetzt es gewöhnlich mit ›Klügling,‹ kann aber statt dessen auch ›Naseweischen‹ sagen und es ganz ohne Worte durch einen Nasenstüber ausdrücken.« Erich Billrod begleitete die letzte Erklärung mit einem kommentierenden Fingerschnippen gegen meine Nasenspitze und fügte hinzu:

»Wenn Du so auf Deinem Recht bestehst, fände ich es nicht unbillig, daß Du mir erst einmal den von Dir geforderten Begriff etwas näher klar machtest. Was ist Weltgeschichte, Reinold Keßler? Du wirst mir antworten, Zahlen und Namen, die Du nach dem Diktat in der Klasse zu Hause sauber in's Reine schreibst, memorierst, und die Dir dann bei der nächsten Repitition ein gutes oder schlechtes Zeugnis eintragen. Wenn Du höher aufrückst, wirst Du immer klüger und tiefsinniger werden und statt jener Erklärung die Definition außerordentlich schön finden, die Weltgeschichte sei eine Geschichte des Fortschritts der Menschheit. Du kannst Dich sodann noch um einen Grad höher aufschwingen und Dich von der religiös-philosophischen Erkenntnis durchdringen lassen, es manifestiere sich in ihr die Existenz eines planmäßig ordnenden höchsten Wesens. Auf dieser Einsichtsstufe bist Du zu jedem Lehrkatheder und dem mit ihm verbundenen Jahrgehalt herangreift und brauchst Deinen Kopf zu keiner noch erhebenderen Definition abzumühen. Nur zuletzt, in der Stunde, wo jeder Mensch sich einmal gegen die Wand dreht, um sich nicht wieder umzukehren, kommt Dir vielleicht auch noch ein letzter, ganz kurzer Gedanke über die Sache, der sich in die wenigen Worte oder die dunkle Empfindung zusammenfaßt: Jetzt ist die Weltgeschichte aus. Jeder hat so seine Vorliebe, und meinem Kopfe erscheint einmal die letztere Definition als die klarste und verständlichste. Wenn aber die Weltgeschichte wirklich mit den Augen, die sich zuschließen, aus ist, so wirst Du meiner Ansicht eine gewisse logische Berechtigung nicht absprechen, daß sie mit den Augen, die sich zum erstenmal auftun, anfängt. Das ist wahrscheinlich eine sehr unpädagogische Aufstellung, aber da ich nicht Dein Erzieher, sondern nur Dein Geschichtslehrer bin, muß ich Dich bitten. Dich hier in meinem Hause wenigstens auf meinen Standpunkt zu stellen, d. h. Dich selbst als den Mittelpunkt der Weltgeschichte zu betrachten, um den sich Sonne, Planeten und sogenannte Fixsterne, Könige, Staatsmänner, Völker, Weisen und Narren herumdrehen, die sämtlich mindestens für Dich nicht vorhanden wären, wenn Deine Eltern es Dir nicht ermöglicht hätten, alle welterschütternden Taten, Gedanken und Dummheiten derselben zu bestaunen. Du bist es mithin, auf den Alles ankommt, und eine Geschichte, die für Dich ab ovo beginnen soll, kann nur mit Dir selbst anfangen. Glaube im Uebrigen nicht, daß Du in dieser Beziehung eine Ausnahme bildest, sondern Du unterscheidest Dich von allen Deinen Mitteilhabern an der Weltgeschichte lediglich dadurch, daß Du aussprichst, was sie mit mehr oder minder Geschicklichkeit verschweigen. Sag' mir also, was Du als erste Erinnerung über den Dir interessantesten und wichtigsten historischen Gegenstand, der sich Reinold Keßler benennt, weißt. D. h. um in Form und Inhalt gleich gründlich anzufangen: Quo patre et matre natus es

Es war die mir schon vertraut gewordene, wunderlich aus Ernst und ironischem Lächeln gemischte, hastig wechselnde Art Erich Billrod's, die von einem Eingehen auf die seltsamsten Anforderungen nicht abließ, und ich erwiderte, daß ich von meinem Vater durchaus keinerlei Erinnerung bewahrt habe, von meiner Mutter mir dagegen ein Bild vor Augen stehe, das mir Zweifel einflöße, ob es mir nur ein Traum so vorgestellt, oder ob es aus der Wirklichkeit in meinem Gedächtnis hafte. »Nehmen wir das letztere einmal an und beginnen mit seiner Beschreibung,« versetzte Erich Billrod, nach einem Buch greifend und darin blätternd. »Es wird sich aus etwaigen Widersprüchen ergeben, ob es Traumesphantasie oder wirkliche Erinnerung ist, und da Du, wie Dir klar geworden, der Held Deiner Geschichte bist, wird Deine Auffassungsgabe leicht begreifen, wie wesentlich es für jene sein kann, zu ersehen, ob Du vielleicht von Deiner Mutter etwas bereits als Erbschaft überkommen, und daraus weitere Schlüsse auf eine Aehnlichkeit und Uebereinstimmung zwischen euch zu ziehen.«

Ich schloß die Lider und suchte mir die Gestalt, die vor meiner Erinnerung stand, deutlich heraufzurufen. Da war sie auch, und ich schilderte sie, wie sie allmählich heller und lieblicher aus einem Nebel hervorkam, gleichsam als zöge ihre eigne feine, weiße Hand einen Schleier um den andern von ihrem Gesicht. Blaß, das blondhelle Haar schlicht von der Stirn herabgescheitelt, sah sie mich mit grauen, schwermütigen Augen an. Vielleicht hätte der Blick allein das letztere nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, denn die jugendliche Frische des Antlitzes widersprach dem Trübsinn, aber um den liebreichen, mädchenhaft zartlinigen Mund lag auch ein leiser Zug des Kummers, als hätten die Lippen oftmals mit sich selber gekämpft, gesiegt und doch im Sieg sich selbst verwundet. Die Gestalt darunter umfloß der Nebel dichter, doch sie schimmerte so duftig und leicht, als bedürfe sie keiner Flügel, sondern werde von ihrem weißen Kleide in der Luft getragen, und so schwebte sie langsam, in einen goldenen Kreis gefaßt, vor meinen Augen hin.

Ich schwieg und sah ihr noch mit den geschlossenen Lidern nach. Eine Weile mochte es gedauert haben, da sagte Erich Billrod:

»Siehst Du auch die Hände? Hände sind immer eigenartig und haben Bedeutung.«

Vorhin hatte ich sie deutlicher gesehen, jetzt verschwammen sie mir farbloser mit dem weißen Kleide. Nur daß sie sehr schmal waren, erkannte ich, und von einem durchsichtigen Schimmer der feingeschnittenen Finger. Trug einer einen schmalen Goldreif mit grünlichem Stein darin? Ich konnte es nicht mehr unterscheiden, denn leise rann jetzt Alles bleich und wesenlos aus dem gelben Ringe meines Auges fort.

Im Zimmer war es ganz still, als ob ich Alles nur mir selbst erzählt und niemand darauf gehört habe. Nach einiger Zeit schlug ich die Wimpern auf, und da schien's, als hätte meine unwillkürliche Empfindung mich auch nicht getäuscht. Erich Billrod war allerdings zugegen, doch offenbar nicht bei meinen Worten. Er hielt das aufgeschlagene Buch halb auf seine Brust gestützt und sah gedankenabwesend, wie ich ihn noch nie gewahrt, über den Oberrand der Blätter in die auf- und niedertanzenden Goldstäubchen, welche die Nachmittagssonne mit ihrem sonderbar-einsamsten Licht voll überflutete.

Es verging wohl fast eine Minute, dann wandte sich Erich Billiod's Kopf plötzlich herum und blickte mich an. »Weiter!« sagte er; »ja so,« er besann sich, und es mußte ihm doch ein Klang im Ohre hängen geblieben sein, denn er fügte hinterdrein: »Also ein schmaler Goldreif mit einem blauen Stein in der Mitte?«

»Nein, ich sagte, mit einem grünen,« entgegnete ich mechanisch.

Erich Billrod stand auf. »Du bist ein kleiner sciolus, Reinold Keßler, der Alles besser weiß. Es ist spät geworden, und Du wirst zu Hause erwartet. Ich bin mit Deiner geschichtlichen Darstellung für heute zufrieden; morgen Nachmittag wollen wir die Prüfung fortsetzen. Geh' und lache über die Weltgeschichte, so lange sie Dir noch Namen und Zahlen bedeutet.«

Ob ich grade an diesem Nachmittag nicht auf dem nächsten Weg nach Hause ging, ich weiß, daß es bereits zu dämmern anhub, wie ich am Rest eines ehemaligen altstädtischen Tores, einem turmartig runden Gebäude vorüber in's Freie hinauskam. Ueber Allem lag eine weiche, träumerische Frühlingsabendluft, die Sperlinge zeterten vergnügt rundum, und aus dem obersten Gezweig der Ulmen, Linden, Eschen, die in Gruppen und vereinzelt die ersten Häuser des vorstädtischen Dorfes von den letzten der Stadt trennten, schlugen Amsel und Graudrossel und warfen sich ihre hochaufjauchzenden Tonstrophen gleich den Barcaruolen Venedigs herüber und hinüber. Gesang, Zwielicht und warme Luftwogen mischten sich wie zu einem süß berauschenden Trunk, sie schlossen mir wieder die Augen, daß ich den gewohnten Weg blindlings entlang wanderte, und vor mir lag das Zimmer meines sonderbaren Geschichtslehrers, wie ich es allnachmittäglich und auch heute verlassen. Warum erschien es, auch wenn Erich Billrod sich darin befand, so einsam und so doppelt einsam, wenn die Sonne auf die tanzenden Goldstäubchen hereinfiel?

Da schlug mir plötzlich von ungefähr ein Geschrei an's Ohr: »Da ist sie! Hussa! Die gelbe Ratze! Die Judendirne! Wir wollen sie mit ihrem Pechhaar an die Weide binden, wie man's früher mit ihnen gemacht!«

Es waren zwei Buben ungefähr in meinem Alter, die es riefen und an mir vorüberstürzten, weiter hinauf flog etwas, das ich nicht unterscheiden konnte, dem Weidenrand einer Wiese zu. Unwillkürlich folgte ich hinterdrein, doch ich lief anfänglich nicht, sondern ging nur; dann hatten offenbar die Verfolger ihre Beute erreicht, oder mindestens sicher umstellt, denn durch ihr Geschrei hindurch hörte ich die Stimme eines Mädchens aus dem Weidengebüsch her: »Was wollt ihr? Ich habe Euch nichts getan!«

»Du bist eine Jüdin und hast Kohlen im Kopf, mit denen Du unsere Häuser in Brand stecken möchtest,« antwortete der Eine, und der Andere rief: »Lauf herum auf die andere Seite! Wir haben sie! Ich werfe mit Steinen nach ihr, daß sie heraus muß!«

Der Sprecher bückte sich, und ich sah noch von weitem, wie sein Arm sich schleudernd durch die Luft bewegte. Aus dem Busch tönte ein instinktiver, schmerzlicher Aufschrei und ein Ruf: »Wollt Ihr mich totwerfen?« Die Stimme klang mir plötzlich bekannt, daß ich rascher hinzulief; der Werfende hatte sich abermals gebückt und einen Stein aufgerafft, zugleich sah ich ein gelbes Kleid in der Weide schimmern, Arme, die sich gelenkig gleich den Beinen einer Katze um das Gezweig geklammert hielten und den Kopf hinter dickerem Stamm zu schützen suchten. Aber die Bedrohte mußte erkennen, daß ihr kein Ausweg blieb, als ein neuer, der Gefahr offen Trotz bietender Fluchtversuch, sie sprang im nächsten Augenblick herab, dem Angreifer grade entgegen und dieser warf sich, dem Kollegen auf der andern Seite zurufend: »Ich hab' sie! Hierher!« über sie hin und packte ihr langes, wild und schwarz um sie her flatterndes Haar. Ich hatte im selben Moment erschreckt ihren Namen ausgestoßen: »Lea!« und traf ihren Feind mit geballter Hand heftig in's Gesicht, daß er seitwärts gegen den Busch taumelte; um diesen herum kam der Andere, doch Lea, kaum befreit, riß einen großen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn dem Herannahenden mit ganzer Vollkraft ihres Arms mitten wider die Stirn. Er schwankte, stieß ein furchtbares Geschrei aus und stürzte, ohne sich um seinen Begleiter zu kümmern, halb besinnungslos davon, Lea aber sprang vorwärts gegen den Ersteren, der sich verdutzt jetzt wieder aufrichtete, und rief: »Halt' ihn, Reinold, ich will ihn töten!«

Ihre Hand zog eine Nadel mit schwarzem Glaskopf von der Brust, und ihre Stimme hatte etwas Zischendes, das mich unwillkürlich wieder an eine Natter gemahnte. Der vorherige Verfolger starrte sie jetzt seinerseits einen Augenblick mit stummem Ausdruck instinktiven Entsetzens an, dann verdoppelte die Furcht seine Kraft und er flog, eilig im Dämmerlicht verschwindend, wie ein vom Tode verfolgtes Tier seinen Kameraden nach.

Lea stand noch und sah auf die Nadel herunter, die sie krampfhaft zwischen den Fingern hielt. »Dem hast Du tüchtige Angst eingejagt« lachte ich.

»Wenn Du ihn gehalten, hätt' ich es getan,« antwortete sie heftig.

Was getan, Lea?«

»Ihn getötet. Ich weiß eine Stelle, an der kann man's mit einer Nadel.«

Ich blickte sie betroffen an. »Aber dann hätte man Dich wieder getötet – hingerichtet.« »Was läg daran, ich hätte ihm doch erst so weh getan, wie er mir.« Sie besann sich kurz. »Und dann wollte er mich totwerfen und hat's beinah getan, da war's mein Recht, denn es heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Sieh hier!«

Sie zerrte den Oberrand ihres gelben Kleides von der linken Brustseite, wo der Steinwurf sie dicht über dem Herzen getroffen und ihr durch das Gewand die Haut blutig gerissen hatte. Ich erschrak, zog hastig mein Taschentuch hervor und drücke es auf die sickernden Blutstropfen. »Tut es sehr weh?« fragte ich ängstlich.

»Nein, wohl tut's!« sie lachte fröhlich dazu, doch ihr Gesicht ward plötzlich wieder ernst und sie fügte schnell hinterdrein:

»So lang' ich lebe, vergeh' ich's Dir nicht, Reinold, und will's Dir vergelten, wann Du's verlangst. Und wenn ich eine Königin würde, solltest Du bei mir immer der Erste sein, und ich würde Dir Alles schenken, um was Du mich bätest.«

Wir gingen einen Wiesenweg entlang, der, parallel mit der Dorfgasse laufend, sich in einiger Entfernung längs der Rückseite der Häuser hinzog. Eine Weile nur schweigend, dann fragte ich:

»Weshalb kamen die beiden denn eigentlich über Dich?«

»Weshalb?« Lea wiederholte es und blieb stehen, und es verging eine geraume Zeit, ehe sie scharf hinterdrein ausstieß: »Ich meine, Du hättest es hören können, sie haben's deutlich genug geschrien.«

»Weil Du –?«

»Nun, sprich's nur aus,« fiel sie heftig ein, »weil ich eine Jüdin bin.« Sie schleuderte mit einem wilden Ruck ihr schwarzes Haar aus der Stirn, sah mich mit Augen, die im Zwielicht fast zu glühen schienen, an und fuhr fort: »Jetzt weißt Du's und kannst mich auch mit Steinen werfen. Ich hab's verdient, es war keine Lüge, daß ich's Dir nicht gesagt, aber schimpflich und feige war's. Hab' Dank für bisher und für heut', Reinold Keßler – das Nest drüben kann jetzt wohl lange warten, bis es Dich wiedersieht.«

»Warum?« fragte ich, über ihren Ton und ihre Worte verwundert. »Willst Du mich nicht mehr darin haben oder bist Du denn etwas Anderes geworden, weil Du eine Jüdin bist?«

Lea antwortete nichts, ich hörte nur im Halbdunkel, daß ihre Brust von der Schleunigkeit des Atmens einen leisen, pfeifenden Ton ausstieß. Dann sprang sie plötzlich ungestüm, wie eine Katze, gegen mich an, mit vorgestreckten Händen, als wolle sie mir Krallen in's Fleisch schlagen, doch ihre Arme schlangen sich leidenschaftlich um meinen Hals, preßten mich an sie, daß mir der Atem stockte und daß ich fast den Halt verlor, als sie mich ebenso plötzlich wieder losgelassen. Mit einem Sprung war sie lautlos hinter dem Wall eines der Gärten, welche die Wiese begrenzten, verschwunden, und kein Ruf brachte sie zurück, noch erhielt eine Antwort.


 << zurück weiter >>