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Achtes Kapitel

Ungefähr zwei Jahre später muß es gewesen sein, als ich mich noch einmal umwandte und über rotblühendem Haidegrund den alten Kirchturm gleichsam in die Erde heruntersinken sah, so fern und nebelhaft, wie ich ihn bis zu diesem Tage noch niemals gewahrt. Dann sagte Philipp Imhof: »Du wirst Dich wundern, die Türme bei mir zu Haus sind doppelt so hoch, und man sie sieht sie meilenweit, ehe man in die Stadt kommt.« – »Sind sie auch so grün?« fragte ich. Er zuckte verächtlich die Schulter: »Das fehlte, bei uns ist man reich genug, den Grünspan abkratzen zu lassen, wenn er darauf kommt,« und wir wanderten auf dem heißen, tiefsandigen Weg, von braunen Grashüpfern umschwirrt, vorwärts.

In die fremde Welt hinaus, ich wenigstens zum erstenmal. Es war ein köstliches Glück, und trotz der Julihitze hatte ich ein Gefühl in den Füßen, als wollten sie mir aufschwirren, wie die zirpenden Braunflügler vor ihnen, und ich sah voll Danks auf meinen Begleiter, den Spender dieses Glücks. Er hatte mich mit Erlaubnis seiner Eltern eingeladen, die Hundstagsferien bei ihm in seiner Vaterstadt zu verbringen, und wir befanden uns auf der Fußwanderung dorthin, die mir unsäglich herrlicher dünkte, als eine Fahrt in der dunklen, geschlossenen Postkutsche, der Tante Dorthe sorglich zusammengewählt unser Gepäck übergeben. Immer weiter ging's, jetzt auf der staubigen Landstraße, dann auf schmalen Fußsteigen über Kornfelder und am schattigen Waldrand hin: durch Dörfer, in denen die Hunde kläfften und die barfüßigen Kinder vom Spiel aufhörten, um uns verwundert nachzugaffen; auf's neue in die stille und doch von tausend unsichtbaren Stimmen belebte Einsamkeit hinaus. Imhof kannte Schritt und Tritt überall aus öfterer Erfahrung genau, ich bewunderte ihn und folgte jeder seiner Vorschriften mit der Sorgfalt eines Neulings in der Fremde. Er wiederholte manchmal, daß er sich nur um meinetwillen an der Fußtour beteiligt, denn es sei im Grunde nicht gentleman-like, einen so weiten Weg zu gehen, und er müsse mich bitten, in seinen Kreisen keine Erwähnung davon zu tun. »Aber Du bist früher doch oft gegangen,« schaltete ich ein. – »Ja, früher,« entgegnete er, »als Knabe kann man so etwas, doch später hat man Verpflichtungen gegen den guten Ton und die Leute. Uebrigens, wenn doch die Rede etwa darauf kommen sollte, werden wir erwidern, daß wir es nach ärztlicher Vorschrift aus Gesundheitsrücksichten getan haben.«

Daß unsere Reiseart in der Tat zur Förderung der Gesundheit mentis sanae in carpore gereiche, empfand ich mit jeder Stunde deutlicher. Wie heiter und wonnig war alles umher, wie rätselhaft schimmernd die Ferne vom Gipfel des Hügels, wie geheimnisvoller noch der dunkle verrankte Waldfleck im Wiesengrund. Das Herz hüpfte in der Brust, hielt die Füße an und trieb sie beflügelt wieder auf. So köstlich hatte ich mir die Welt draußen nicht gedacht, selbst das worüber Imhof geringschätzig-mitleidig die Nase rümpfte, entzückte mich. Doch dann ward er eifrig und sagte, er begreife nicht, wie ein vernünftiger und nachdenkender Mensch diesen mageren Sandboden, die roten Haidestrecken und öden Fichtenstämme darauf schön finden könne, da sich ihm doch gleich der unerfreuliche Gedanke aufdrangen müsse, daß alles Das für den Landbau verloren sei und niemals einen Ertrag einbringe. Eine kleine Straße seiner Vaterstadt, ja ein einziges Haus darin habe mehr Wert, als hier eine halbe Meile Land, so daß es sich kaum verstehen lasse, wie in solcher Gegend sich noch immer Leute ansiedelten und sich Dörfer bauten, wie das, auf welches er grad' hinwies.

Es war, wie ich aufblickte, allerdings ziemlich armselig, ein Dutzend Kathen an lehmigem Bachabhang, aber ich antwortete:

»Und doch ist das Dorf vielleicht schon älter als Deine große Vaterstadt, Imhof. Es kommt einem wunderlich vor, wenn man so ein paar Häuser im Feld ansieht, aber Dörfer sind überhaupt meistens älter als Städte, das Allerälteste, und haben schon beinah' ebenso dagelegen und eine alte Geschichte gehabt, ehe noch Städte vorhanden waren. Da kam der Rauch schon grad' wie jetzt aus der offenen Haustür, und die Tauben flogen über dem Strohdach, und die Bäuerin ging, wie die da drüben, an den Hebelbrunnen –«

Philipp Imhof stand still und sah mich groß an. »Bist Du toll geworden? Was schwatzest Du für Unsinn? Das miserable Dorfnest da sollte älter sein, als meine Vaterstadt?«

»Ich weiß nicht, ob grad' dies, aber die Größe tut's nicht –«

Nun lachte er mir hell ins Gesicht. »Woher kommst Du zu solcher hirnverbrannten Albernheit, Keßler?«

»Dr. Billrod hat es mir einmal gesagt, es sei etwas vom Seltsamsten und Nachdenklichsten, wenn man ein solches verräuchertes Dorf betrachte und sich dabei vorstelle, was alles Großes durch Jahrhunderte gekommen und vergangen, und immer hätten die Leute Tag ein, Tag aus das nämliche gedacht und getan in diesen Häusern – nur daß sie immerfort in derselben Art neu wieder aufgebaut und vermorscht wären – und wenn alle Städte auf der Welt zu Grunde gingen, würden sie immer noch ebenso da bleiben –«

Doch Imhof unterbrach mich mit einem noch lauteren Gelächter. »Das hat Dir der Doktor Billrod erzählt? Dann sag' ihm nur, er müsse wohl noch nie in seinem Leben eine Großstadt gesehen haben, und er möge kommen und nur einen Blick einmal auf meine Vaterstadt werfen, da werd' es ihm klar werden, was für einen Blödsinn er Dir aufgebunden. Alle Häuser in dem Dorf find noch nicht so viel wert, wie eine Etage in der Stadt, nicht den zehnten Teil. Da weiß bei uns jedes Kind, wenn es nur durch die breiten Straßen geht, mehr Geschichte, als Dein Doktor Billrod, Keßler. Und wenn Du erst die Anlagen, Promenaden und Bosquets rundherum siehst, damit ist überhaupt all dieser jämmerliche Kram von Wald und Feld gar nicht zu vergleichen.«

So wanderten wir, manchmal schweigend, öfter redend, erzählend und debattierend vorwärts; wo wir hungrig und durstig einkehrten, bestritt Imhof die Zeche, obwohl ich zum erstenmal im Leben selbst eine Börse mit einigem Taschengeld bei mir führte, allein er behauptete, da er mich eingeladen, die Reise mit ihm zu machen, habe er als gentleman die Pflicht, alle daraus entstehenden Unkosten zu berichtigen, und es verstoße von meiner Seite eigentlich schon gegen den guten Ton, überhaupt merken zu lassen, daß ich etwas vom Bezahlen wahrnähme. Dies letztere konnte ich freilich nicht gut unterlassen, da er meistens, wenn er seine feinmaschig gehäkelte, seidene Börse hervorzog – sie war nicht mehr grün, sondern rot, doch ebenfalls mit kleinen Goldquastchen – eine zeitlang mit ihr tändelte und mich, so nebenbei, fragte, wie mir die Farbe gefalle.

»Es ist ein hübsches Kirschrot,« sagte ich. – »Jawohl, Cérise ist augenblicklich Modefarbe in der großen Welt,« entgegnete er. » Cérise-Sonnenschirm, » Cérise-Bandschleifen, » Cérise-Bänder im Haar, man sieht kaum etwas anderes. Wirklich, es ist höchst komisch, wenn man denkt, daß noch ein halbes Jahr vergehen kann, eh' in unser Gymnasialnest drüben, obwohl es höchstens zwölf Meilen von der Großstadt entfernt liegt, nur eine Ahnung von » Cérise hinkommt.«

Philipp Imhof war ein vortrefflicher Kamerad, gutmütig und dienstgefällig, wie wenige, immer auf alles einzugehen bereit, und wir verbrachten die zwei Tage und zwei Nächte, in denen wir zusammen marschierten und im »Wirtshaus an der Landstraße« übernachteten, in fröhlichster Laune und Eintracht. Doch am dritten Tage, als wir bereits eine gute Strecke gewandert und es weit vor uns im Mittagsduft wie halb ahnungsvolle Schattenbilder hoher, grauer Türme aufzusteigen begann, verlor sich allmählich Imhofs Beredsamkeit, er ging in Gedanken versunken, gab nur einsilbige Antwort und schwieg zuletzt ganz, bis ich fragte: »Denkst Du über etwas nach?« Nun sah er zerstreut auf und versetzte: »Lieber Freund, ich sehe, daß Du Dir nicht recht vorzustellen vermagst, was eine solche Zurückkunft für mich heißt. Da gibt es viele Verhältnisse zu überdenken, aus welchen man sich herausgelebt und in denen man doch au fait sein muß, um nicht zu verstoßen. Auch die Frage, in welcher Kleidung man da oder dort« – er musterte mich, abbrechend, mit dem Blick – »ist Dein schwarzer Anzug, den Du im Koffer hast, nach dem Schnitt, wie die Konfirmanden in unserm Schulnest drüben ihn mindestens schon seit einem Vierteljahrhundert tragen?«

»Er ist nach gar keinem Schnitt,« lachte ich, »denn ich habe keinen schwarzen Anzug und noch nie einen gehabt.«

Philipp Imhof stand still und sah mich fast bestürzt an. »Keinen schwarzen Anzug? Ja, aber mein Gott, wie kann ich Dich denn in die Gesellschaft – wenn Du mir das vorher gesagt hättest, würde ich Dich gar nicht –«

»Kommt's denn auf die Farbe an?« fragte ich, wie er nicht aussprach. »Die Jacke und Hose, die ich anhabe, sind fast neu.«

»Bitte, sprich vom Beinkleid, wenn wir in der Stadt sind, d. h. man redet überhaupt nicht von solchen Gegenständen, wenigstens nicht auf deutsch, sondern sagt, falls eine Erwähnung nicht zu umgehen ist, pantalons oder inexpressibles. Du bist wirklich furchtbar naiv, Keßler; ich kann Dich doch nicht in einer Jacke – wenn es noch wenigstens ein Jaquet wäre – in junge Damenkreise einführen. Doch zum Glück fällt mir ein – wir sind ja ungefähr von gleicher Statur – ich habe noch einen älteren schwarzen Anzug zu Haus, der Dir passen wird –«

Die grauen Türme traten deutlicher aus dem Dunstschleier, und ich sah nach der letzten Unterredung mit einer gewissen Beklemmung ihrem Näherkommen entgegen, denn mich hatte ein dunkles Gefühl beschlichen, daß ich im Begriff stände, in eine fremdartige Welt, nicht nur von Straßen und Häusern, sondern mehr noch von Menschen einzutreten, denen man ohne schwarzen Anzug nicht vor Augen geraten dürfe, und ich hätte gewünscht, die Stadt läge noch meilenweit vor uns, oder besser noch, es gehe immer so weiter, nur durch Feld und Wald, wo sich kein Geschöpf befand, das an dem Namen, noch an der Wirklichkeit von Jacke und Hose Anstoß nahm. Doch unendlich ausgedehnt, den ganzen Halbkreis des Horizonts umspannend, hoben sich nun auch Dächer und Häuser vor uns, Alleen begannen, an denen zur Rechten und Linien in Garten, die so untadelhaft gehalten waren, als dürfe kein Stäubchen auf den Bosquets und Blumenbeeten liegen, vornehm um sich blickende Häuser in immer wechselnden Bauarten aufstiegen – gothische, burgähnliche Gebäude, Schweizerhäuschen, weißblendende, sandsteingraue, buntbemalte Würfel, Rechtecke, Trapeze – um uns rasselten und flogen unter den Bäumen elegante Equipagen, Mietswagen, Fuhrwerke mit riesigen Tonnen, die durch ein Sieb Wasser in den Wegstaub hinuntersprühten, und die Häuser dichter zusammenrückend, fingen allmählich städtische Straßen an, nach allen Richtungen ausstrahlend, sich zu öffnen. Imhof blieb stehen: »Es ist die höchste Zeit, wir könnten hier leicht in unserm Aufzug einen Bekannten begegnen. He, Kutscher!«

Auf seinen Ruf hielt ein leer vorüberfahrender Wagen. »Steig' ein, Keßler, Du bist mein Gast hier,« sagte Philipp Imhof. Er rief dem Kutscher die Wohnungsadresse zu, folgte mir nach und warf sich mit einer nachlässigen Sicherheit in die Ecke der etwas abgenutzten Sammtkissen des Rücksitzes, die mir heimliche Bewunderung einflößte. Dazu ließ er sogleich an seiner Seite ein blaues Rouleau am Wagenfenster herab. »Willst Du denn nicht auf die Straßen hinaussehen?« fragte ich, vom Anblick derselben und dem Getümmel auf ihnen halb wunderlich im Kopf.

»Es ist zwar ein alter, unfashionabler Stadtteil, durch den wir zunächst fahren,« antwortete er, »aber es befinden sich doch manchmal Bekannte in Geschäftsangelegenheiten auch hier, von denen gesehen zu werden ich vermeiden muß, damit sie uns nicht etwa anhalten und unsere staubigen Füße uns verraten.« Er bückte sich bei den Worten, schlug mit seinem Taschentuch sich sorgsam den Staub von den Füßen, und ich tat mechanisch nach seinem Beispiel das nämliche. Dann griff er in die Tasche und zog ein Paar in Seidenpapier gewickelte neue Glacéhandschuhe hervor. »Es ist Zeit,« sagte er, mich anblickend, »wir fahren nicht lange.«

Unwillkürlich steckte ich meine Hand auch in die Tasche und suchte. Ich wußte genau, daß ich nichts darin finden würde, daß ich eine Sekunde vorher auch nicht im Traum an Handschuhe gedacht hatte, und doch kam es mir vor, als müsse ein gütiger Gott mir ein Paar für diesen Moment hineingezaubert haben, um mir den neuen, schrecklichen Anstoß zu ersparen. Es drängte sich mir auf die Lippen zu sagen: »Ich habe meine verloren,« aber halb erfüllte die Versuchung der Lüge, halb verlegene Scheu mein Gesicht mit Schamröte, und ich schloß den Beginn: »Ich habe meine,« mit: »keine, meine ich.«

»Um Gotteswillen, mit Deinen braun verbrannten Händen willst Du meiner Mama vor die Augen kommen?« fragte Imhof erschreckt.

Bestürzt sah ich auf meine Hände. »Ja, habt Ihr denn Tag und Nacht immer Handschuhe an, sonst bekommt Deine Mama sie ja doch zu sehen.«

»Du bist wirklich gottvoll, Keßler, man wird Dir wegen Deiner Naivetät flattieren. Da ist zum Glück ein Handschuhladen – Kutscher halt!«

Ich mußte hinaus mit Imhof, der für mich auswählte, und kam mit einem Paar hellbläulicher Handschuhe zurück, die, wie er mir erklärte, für die Promenade und für die Gesellschaft zugleich geeignet seien, und ich suchte meine von der Hitze und Feuchtigkeit verbreiterten Hände hineinzuzwängen. Darüber sah ich nichts mehr von den Straßen, durch die wir fortrasselten, und als der Wagen plötzlich hielt und mein Begleiter mit dem Ausruf: »Da sind wir!« den Schlag öffnet, eh' meine rechte Hand noch völlig in das enge Leder hineingekommen, wurde es mir fast schwarz vor den Augen. Ich zog und zog, während wir durch ein vergoldetes Gittertor traten und über einen Kiesweg, auf dem mir ein Steinchen ganz genau dem andern zu gleichen schien, durch einen Vorgarten gingen, von dem ich nichts sah, als lauter sich in der Luft kreuzende blaue, rote und grüne Streifen. Dann standen wir in einem großen, kühlen, mit grauen und weißen Marmorplatten belegten Hausflur, ich riß hastig meinen Filzhut vom Kopf, denn aus einer Tür im Erdgeschoß trat eine elegant gekleidete Dame hervor, die Imhof, halb abgedreht, nicht zu bemerken schien, so daß ich ihn leise anstieß und ihm zuflüsterte: »Deine Mutter ist da.« Nun wandte er den Kopf und lachte danach, der Dame kurz mit der Stirn nickend, lustig auf. »Ist meine Mama zu Hause und zu sprechen, Demoiselle?« Die Angeredete machte eine leichte Verbeugung und rief: »Lisette!« Ein Mädchen mit schneeweißer Schürze, schneeweißem, eigenartig über das Haar zurückgebogenem Häubchen und auch fast weißem Gesicht erschien; die ›Demoiselle‹ erteilte ihr gemessen den Auftrag: »Melden Sie Madame, der junge Herr sei gekommen und ein Knabe mit ihm!« und das Mädchen flog breite, mit Teppich bedeckte Treppenstufen hinauf. Wir folgten, denn Imhof sagte, nachdem er noch einen Blick über meine Stiefel geworfen und mit einer raschen Handbewegung etwas an meiner Halsbinde zurechtgerückt: »Komm, wir wollen gleich mitgehen.« Oben durchschritten wir einige saalartige Räume, die mir alle völlig gleich erschienen, denn ich mußte die Füße mit der größten Vorsicht auf den glatten Boden setzen, um nicht auszugleiten, und gewahrte infolgedessen nichts als ein Flimmern von Marmorfiguren, breiten Goldrahmen, Kronleuchtern, Kandelabern und buntseidenen Möbelüberzügen um mich her. Eine Tür ging wieder auf, ward von der heraustretenden Lisette geöffnet gelassen, und diese sagte: »Madame ist bereit, den jungen Herrn zu empfangen.«

Ich blieb instinktiv auf der Schwelle zurück, während Imhof auf eine sehr hochgewachsene und blaßgesichtige Dame zuging, die neben einem Kamin aus glänzend schwarz poliertem Marmor nachlässig in einen Sessel zurückgelehnt saß. Sie war ganz in Grau gekleidet, doch die Seide des Kleides, der Gürtel, der reiche Spitzenbesatz boten sämtlich verschiedene Nüancen derselben Grundfarbe, so daß alles bald in perlendem Licht, bald wie überschattet durcheinanderfloß. Auch in das schlicht, aber mit tadelloser Genauigkeit an den Schläfen herabgescheitelte Haar mischten sich graue Fäden, und zwei unbewegliche graue Augensterne sahen, von langen Wimpern umrandet, an dem schmalen, scharf, doch schön geschnittenen Nasenrücken hervor.

Philipp Imhof faßte, sich niederbückend, mit den Worten: » Chère mama,« ihre Hand und küßte diese. Sie richtete die Stirn ein wenig vor und versetzte: » O, mon cher fils, ich habe mich sehr gesehnt, Dich wieder zu sehen, und Auftrag gegeben, daß man Dich gleich, noch eh' Du Toilette gemacht, zu mir bringe. Mein Gott, wie braun Du bist, tragt ihr denn keine Sonnenschirme bei euch in dieser Sommerhitze? Das ist unverantwortlich von dem Doktor – wie ist sein Name doch, er entfällt mir immer – aber ich hoffe, daß Du in Deinen études Fortschritte gemacht hast. Ist das Dein Freund, von dem Du geschrieben?«

»Reinold Keßler, mein Zimmergefährte bei'm Doktor Pomarius,« antwortete Philipp Imhof, mich mit der Hand heranwinkend.

Ich trat ein paar Schritte vor und versuchte, eine mutmaßlich ziemlich unglücklich ausfallende Verbeugung zu machen, denn um die Mundwinkel der Mutter Imhofs hob sich ein leichter, ironischer Schatten. Sie nickte mir zu und sagte:

»Recht, Pomarius ist der Name; ein vortrefflicher Mann von günstigster Reputation in seinen Kreisen. Ich sprach noch vor einigen Tagen unsern Hauptpastoren an der Marienkirche, und er rühmte ihn ausnehmend, wir hätten keine sorgfältigere Wahl für Dich treffen können, als Dich seiner Obhut anzuvertrauen. Sie heißen Keßler? Der Name ist mir bis jetzt nicht bekannt gewesen. Was war Ihr Herr Vater?«

Ob es mich verwirrt machte, daß ich zum erstenmal in meinem Leben mit ›Sie‹ angeredet wurde, oder ob die ganze Atmosphäre des Zimmers das ihrige dazu beitrug, ich stotterte als Antwort:

»Ich habe ihn nicht – ich glaube – man hat mir gesagt – ein Beamter.«

»Vermutlich, in einer kleinen Beamtenstadt, wie die Ihrige.« Frau Imhof hielt sich die schmale, feinfingerige Hand leicht vor die Lippen. »Du wirst wohl am besten tun, Philipp, zum Arrangement eurer Kleidung Deinen Gast jetzt auf euer Zimmer zu führen. Dein Vater wird gleich kommen, und wir werden in einer halben Stunde zum Diner gehen. Ich täuschte mich nicht, da ist er bereits.«

Eine Tür öffnete sich, und ein Herr von mittlerer Größe trat ein, ganz in Schwarz gekleidet, nur mit blendend weißer Wäsche, einer schweren goldenen Uhrkette, die halb zwischen dem offenen Rock hervorschimmerte, und mit einem goldenen Doppellorgnon, das, an feiner, schwarzer Schnur hängend, leicht vor seiner Brust hin und her tanzte. Sein Gesicht war glatt rasiert bis auf die Wangenseiten, an denen das bloße Kinn zwei kurzgehaltene Bartgeländer von einander trennte, die Augen machten den Eindruck der Kurzsichtigkeit, oder vielleicht mehr einer Uebersichtigkeit über das Umgebende, ohne daß es sich ihnen einprägte, und wenn um die Linien des Mundes eine Schrift eingezeichnet war, so bestand sie aus Chiffrezeichen, die sich in Zahlen ausdrückte. Herr Imhof trat rasch einige Schritte ins Zimmer herein und sagte: »Wir werden übermorgen beim amerikanischen Konsul speisen, meine Liebe, ich habe angenommen – wer ist da?« – er warf das Augenglas mit einer methodischen Bewegung in die Höh' und fing es mit dem Nasenrücken auf – »ah so, Philipp – eingetroffen –?«

Seine Hand machte eine Regung, sich auszustrecken, doch Frau Imhof erwiderte gleichzeitig: »So wirst Du die Güte haben, für mich wieder abzusagen, lieber Freund –«

Herrn Imhofs Hand drehte sich durch die Luft nach seiner Uhrkette zurück, und er wandte seiner Frau halb den Kopf zu: »Aber Dein Fortbleiben wird Aufsehen erregen, meine Liebe.«

»Ich habe meine Migräne,« versetzte Frau Imhof, den Kopf gelangweilt in den Sessel zurücklehnend, »und ich denke, Du weißt, das besagt so viel, daß ich auch meine Gründe –«

Den Schluß des Satzes hörte ich nicht, denn Philipp Imhof zog mich am Aermel mit sich zur Tür und auf den Korridor hinaus. »Wir müssen Toilette machen,« sagte er, »und es war schon nicht schicklich, daß wir nach der ersten Begrüßung so lange blieben, da meine Eltern wichtige Gegenstände zu bereden hatten und sich in unserer Gegenwart zusammen nehmen mußten.«

»Nach der ersten Begrüßung?« wiederholte ich unwillkürlich. Ich hatte Philipp Imhof auf unserer ganzen Fußwanderung beneidet, daß er in die Heimat zurückkommen, in die Arme seiner Eltern fliegen und ich als ein Fremder, der nichts von dem allem auf der Welt besaß, dabei stehen werde. Aber leise zusammenfröstelnd setzte ich schnell hinzu:

»Haben wir nicht noch Zeit, einen Augenblick in den Garten zu gehen?«

»Weshalb?«

»Es ist so kühl im Hause, ich möchte mich eine Minute lang in der Sonne wärmen.«

»Du bist ein toller Mensch,« lachte Philipp Imhof, »und frierst in den Hundstagen, statt daß Du Dich freuen solltest, daß der Marmor hier im Hause die Hitze etwas dämpft. Nimm Dich in acht, daß Du nicht gleitest, beim Doktor Pomarius bist Du an solchen Fußboden nicht gewöhnt, und komm, mein schwarzer Anzug vom letzten Winter, denke ich, wird Dir schon passen.«

*

Sonntagmorgen war's, und die Dächer der Großstadt, die bis jetzt fast unausgesetzt ein nebelhaftes Gemisch aus trübem Dunst und Schornsteinrauch spinnwebartig überdämmert hatte, lagen zum erstenmal deutlich auch in der Ferne sichtbar unter blauem Himmel; von den vielen Türmen der Stadt wogte ein Glockenläuten durcheinander, sonst ruhte die Luft in schier befremdlicher Stille, nur dann und wann klang das schnelle Rollen eines Wagens aus entfernteren Straßen herüber. Ich stand in Philipp Imhofs älterem schwarzen Anzug mit dem Einknöpfen von goldenen Manschettenknöpfen, die er für mich hervorgesucht, beschäftigt, er blickte aus dem Fenster und trieb: »Eil' Dich, der Kutscher hat schon angespannt! Im Theater oder zu Konzerten kann man später erscheinen, aber in der Kirche gehört es zum feinen Ton, daß man bereits etwas vor dem Beginn eintrifft. Nur ordinäre Leute stören durch ihr Kommen die Andacht.«

Verwundert sah ich ihn an. »Wenn wir bei uns zur Kirche gehen müssen, bist Du doch immer so ziemlich der letzte, Imhof.« »Ja, bei euch,« lachte er. »Wie oft soll ich es Dir denn sagen, Keßler, daß Du schlechterdings keine Unterschiede begreifen kannst. Bei euch handelt es sich doch nicht um Schicklichkeit – da gehen meine Eltern schon durch den Garten –«

Er drückte mir ein Gesangbuch mit feinstem goldenem Schnitt in die Hand, nahm ein gleichartiges, setzte vor dem Pfeilerspiegel einen schwarzen Zylinderhut auf, und wir flogen die Treppe hinunter. Vor der vergoldeten Gittertür hielt die offene Equipage, der Kutscher in reich betreßtem Rock bändigte nur mit Mühe das Ungestüm der unter dem glänzenden silbernen Geschirr stampfenden und schnaubenden Rappen; Imhofs Eltern hatten den Vordersitz eingenommen, wir setzten uns ihnen eilig gegenüber, und der Wagen rollte mit fast atemraubender Schnelligkeit davon. Die sonst dicht von Menschengedränge erfüllten Straßen waren leer, beinahe verödet, alle Haustüren stumm, die Schauläden verhängt oder mit Vorsetzen geschlossen. Der Anblick machte auf mich einen wunderlich tristlangweiligen Eindruck, den ich Philipp Imhof gegenüber äußern wollte, als seine Mutter mir zuvorkam und, ihrem Mann zugewandt, bemerkte: »Es ist erfreulich zu sehen, wie wir uns immer mehr dem complaisanten Brauch der englischen Sonntagsfeier nähern, und gewiß für das Volk das Wünschenswerteste, um in ihm das Gefühl der christlichen Ordnung in der menschlichen Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Die Leute, die an diesem Tage arbeiten und auf Gewinn bedacht sind, offenbaren damit, daß sie keinen Respekt vor dem göttlichen Willen und infolgedessen auch nicht vor den ihnen als Vorbild aufgestellten Gesellschaftsklassen besitzen.«

»Gewiß, meine Liebe,« bestätigte Herr Imhof. »Die Börse sollte das einzige in dieser Hinsicht Verstattete sein, aber es ist der besten Polizei leider nicht möglich, überall dem gewinnsüchtigen Treiben des niedrigen Volkes nachzuspüren und es zu inhibieren.«

Der Wagen hielt in beträchtlicher Reihe anderer, ähnlicher Equipagen vor dem Hauptportal einer mächtigen Kirchenwand an, wir stiegen aus, und Frau Imhof schritt uns voran auf die Tür zu, deren Hüter mit tiefer Verneigung ihre beiden beweglichen Flügel weit aufriß. Ihr Kleid rauschte, daß es vor den geschlossenen Augen den Ton einer in wechselndem Fall niederstürzenden Springquellkaskade erregte, denn es bestand aus schwerster schwarzer Seide, rundum mit schwarzem Schmelz und schwarzen Spitzen garniert. Auch der Hut, der Schleier, die Straußfedern, die Sammettaille und der Schmuck waren schwarz, inbezug auf den letzteren machte einzig der fast zollbreite à jour gefaßte Brillant einer aus mattem Silber ciselierten Agraffe eine Ausnahme.

Meine Mama ist doch die Fashionabelste von allen Damen hier,« flüsterte Philipp Imhof sich umblickend mir zu, während wir auf den altertümlich geschnitzten Chorstuhl des Imhof'schen Hauses zuschritten; »man kann wahrhaftig stolz sein, neben ihr in der Kirche zu sitzen.«

Wir nahmen unsere Plätze ein, Philipp Imhof trat mit seinem Vater etwas zur Seite und hielt sich den Zylinderhut vor's Gesicht, während Frau Imhof die Stirn vorüberbeugte und die Handschuhe auf dem Schoß ineinanderfaltete. Ihr Blick nahm indeß gleichzeitig etwas an ihrem Sohne wahr, das ihr, als Anstoß im Gotteshause erregend, auffallen mußte, denn sie unterbrach ihr Gebet und flüsterte ihm einige Worte zu, auf die hin Philipp Imhof hastig mit der Hand den rechten Zipfel seiner Krawatte unter den Kragen zurückbog. Dann begann das Orgelpräludium und der Gesang eines mir unbekannten Kirchenliedes:

»Vor Dir, Herr, sind wir alle gleich
An Not und Sündenbürde,
Am ärmsten aber der, der reich
Sich glaubt an Stand und Würde –«

Das Lied enthielt gewissermaßen die Textdisposition der nachfolgenden Predigt, in welcher der berühmteste Kanzelredner der Stadt

  1. Die Hoffart der Menschen betrachtete und zwar
          + a) nach ihrer irdischen Torheit, und
          + b) nach ihrer Torheit im Himmel, wie auch
          + c) nach ihrer Sündhaftigkeit, dahingegen
  2. die Demut den Menschen als Zierde, Kleinod und Bürgschaft der Ewigkeit verliehen sei, nämlich
          + a) die Erkenntnis der Wertlosigkeit aller vergänglichen Güter und Unterschiede auf der Erde,
          + b) die Demut des Geistes, welches alles irdische Wissen, geistiges Vermögen, Vorzüge und Formen als nichtig zu achten lehre,
          + c) die Demut vor Gott, vor dessen Geboten keiner mit einem einzigen Schlage seines Herzens, einem Gedanken seines Hauptes, einer Regung seiner eitlen Verblendung bestehe:

Daraus aber leuchte:

  1. die Gleichheit aller menschlichen Kreaturen dem Richtertrone und der barmherzigen Gnade des Ewigen gegenüber hervor, und es müsse das vornehmste Ziel unseres Trachtens sein, uns jederzeit durchdrungen und zerknirscht zu fühlen
          + a) von der Gleichheit unserer Sündhaftigkeit und unseres Mangels an Ruhm vor dem Höchsten,
          + b) von der Gleichheit des Erbarmens, die über uns allen walte und unser gnadenbedürftiges Geschlecht zu einem großen Hause von Brüdern und Schwestern gestalte, bei deren Geringsten wir allmal gedenk sein müßten, daß sie
          + c) in der Gleichheit vor dem Tage des Gerichts vielleicht berufen werden möchten, Zeugnis für oder wider uns abzulegen und erhöht als die Ersten zu sitzen neben dem Stuhl des Urteilverkünders über Königen und Mächtigen, Gerechten und Klugen von Ewigkeit zu Ewigkeit. – Amen.

Ungefähr beim Beginn des zweiten Drittels der Predigt ward die Andacht in unserm Chorstuhl durch den Ton eines Glöckchens unterbrochen, denn während der ehrwürdige Pastor mit begeistert aufleuchtendem Blick unser Gemüt voll mit der Erkenntnis absoluter Wertlosigkeit aller vergänglichen Güter erfüllte, streckte sich an einer langen Stange der Klingelbeutel zu uns herein und ließ Frau Imhof aus der Tiefe ihrer Betrachtung in die Höh' fahren. Ihre Hand streckte sich nach einem Geldstück, das sie vor sich auf den Klapptisch gelegt, doch ihre gemütlich-erbauliche Erregung dehnte sich offenbar auch auf ihre Fingerspitzen aus, so daß diesen die Münze entglitt und mit einem unverkennbaren hellen Goldklang, der unwillkürlich alle Köpfe in den Nachbarstühlen herumzog, auf den Steinboden niederfiel. Beschämt, solche Störung veranlaßt zu haben, hob sie den Dukaten auf und steckte ihn mit schleunigster Hast in den Spalt des Klingelbeutels, der Kirchendiener verneigte sich tief, auch Philipp Imhof trat einen Schritt vor und ließ einen schwer klingenden Beitrag in den Beutel fallen, dann tauchte der letztere vor meiner Brust auf, ich sah verdutzt drauf nieder und griff in die Tasche. Aber es befand sich keine kleinere Münze in ihr, der Träger des Klingelbeutels rüttelte ungeduldig die Glöckchen, und ich zog erschreckt einen Taler hervor, hörte ihn mit einer gewissen Wehmut durch den Spalt gleiten und faßte darüber die Predigt des Redners erst völlig in dem Moment wieder auf, als er im Abschnitt 2, Abteilung c. betonte, daß jede unserer Regungen aus eitler Verblendung bestehe. Dann tönte wieder Gesang und Orgelklang, die Herren hoben ihre Zylinder vor die Stirn und die Damen blickten mit gefalteten Händen in den Schoß – es schien nicht zum feinen Ton zu gehören, das Ende des Liedes und des Orgelspiels abzuwarten, denn in beides hinein klappten die Bänke, knarrten die Tische und scharrten die Füße – Frau Imhof durchrauschte, uns voranschreitend, den Kreuzgang des Schiffes, der Türhüter verbeugte sich wiederum halb bis zur Erde, draußen vor dem Portal harrte die Equipage, Herr Imhof rief einsteigend dem Kutscher zu: »Wir statten Besuche ab,« und fügte die Adresse der nächsten Wohnung hinzu, während Frau Imhof, ihren schwarzen Sonnenschirm entfaltend, äußerte: »Eine wahrhaft künstlerisch vollendete Predigt des ausgezeichneten Mannes, ich hoffe, daß sie ihren Eindruck auf das Volk nicht verfehlt haben –«

Die klatschende Peitsche, die aufknirschenden Räder entzogen mir die Fortsetzung ihrer Worte. Philipp Imhof und ich waren zurückgeblieben; er sagte: »Wie kamst Du zu dem Unsinn, Keßler, einen Taler in den Klingelbeutel zu stecken?«

Ich erwiderte ihm, daß ich nichts anderes gehabt und fügte hinzu, nach der Schwere des Falls seiner Gabe müsse er ebenfalls das nämliche getan haben, doch er fiel mir lachend ins Wort:

»Gott bewahre, mein's war ein Kupferstück, das tut dieselbe Wirkung, und alle Vernünftigen versehen sich immer vorher damit. Aber Du mußt überall hereinfallen und bist Deinen Taler wieder einmal umsonst losgeworden, denn außer mir, glaub' ich, hat es kein Mensch gesehn. Schreib' Dir's zum übrigen ins Merkbuch und komm, wir wollen auch einen offiziellen Besuch nach der Kirche machen.«

*

In den Zügen meines Begleiters oder vielmehr Führers lag heut vormittag auf dem Wege eine Mischung von Feierlichkeit und Unruhe, die ihn kaum auf die Begegnenden und noch weniger auf meine ab und zu an ihn gerichteten Fragen Acht geben ließ. Wir durchschritten eine ziemliche Anzahl von Straßen, ohne daß ich mich über die von uns eingehaltene Richtung zu orientieren vermochte, dann sagte Imhof: »Dies ist das Brandstetter'sche Haus,« und aufblickend gewahrte ich ein goldenes Eisengitter, einen mit tadelloser Symmetrie angelegten Garten und im Hintergrunde desselben ein vornehm-elegant aufsteigendes Wohngebäude, alles ganz genau in der nämlichen Art, wie Haus, Garten und Gittertor der Eltern Imhofs, so daß ich ohne die Erläuterung des letzteren mich vor meiner temporären Heimat zu befinden geglaubt haben würde. Doch wie ich mich weiter umschaute, erregten alle übrigen Besitzungen zur Rechten hinauf und zur Linken hinab ebenfalls genau denselben Eindruck; sie standen sämtlich wie ein aus Stein gehauenes Garderegiment mit dem Piedestal auf grünem, sammetartig geschorenem Rasen, von eleganten Anlagen mit seltenen Sträuchern, blühenden Oleandern, Rhododendren, Orangen flankiert und einzig individualisiert oder mehr und minder ausgezeichnet durch den Reichtum an sonderbar geformten, fremdländischen schwärzlichen, grünlichen und bläulichen Coniferen, die sich gegenseitig mit dem herausfordernden Bewußtsein, weniger ihres botanischen, als ihres Geldwertes anzublicken schienen.

Philipp Imhof hielt einen Moment, durch das Gitter in den Garten vorausschauend, inne und flüsterte: »Ich befürchtete es wohl, daß große Cour heut mittag sein würde. Nun, vielleicht desto besser; man ist nie weniger geniert, als in einer umfassenden Assemblee.« Er öffnete die Tür, wir traten ein und schritten auf ungefähr ein Dutzend uns gleichaltriger Knaben und Mädchen zu, die teils in kleinen Gruppen redend zusammen standen, teils in den tadellosen Kieswegen auf- und abgingen. Die Knaben waren sämtlich schwarz gekleidet mit Zylinderhüten modernster Fasson, die Mädchen trugen Kleider, lang genug, um sie in kleineren Städten als erwachsene Damen erscheinen zu lassen, doch nicht so lang noch, daß sie beim Ausschreiten die zierlichen Stiefelletten verdeckten, reizende Blumenhütchen auf dem Haar und bunte Sonnenschirmchen in der zartbehandschuhten Hand. Nur eine unterschied sich darin von den übrigen und kennzeichnete sich durch ihre Kostümierung sogleich als hierher gehörig, gewissermaßen als Haus- und Gartenherrin, die den Anlaß und Mittelpunkt der gegenwärtigen Versammlung bildete. Sie mochte elf oder zwölf Jahre zählen und trug ihr aus glänzend braunen Löckchen gekräuseltes Haar unbedeckt unter einem Sonnenschirm aus Rohseide, dessen rote Unterseite ein rosiges Licht über ihr etwas blasses, doch zierlich gebildetes, schmales Gesicht ausstrahlte. Halbhandschuhe, für die Benutzung im eigenen Garten bräuchlich, ließen niedliche Fingerspitzen hervortreten und mit dem elfenbeinernen Griff des Sonnenschirms spielen; den kleinen Fuß, der keine Unebenheit und Feuchtigkeit des Bodens zu befürchten hatte, umschlossen weiße Atlasschuhe, die in anmutigem Einklang zu dem mit Falbelreihen garnierten hellrötlichen Kleide fanden. Auf die Trägerin desselben führte Imhof, ohne noch von der übrigen Umgebung Notiz zu nehmen, mich zu und begleitete seine vollendete Verbeugung mit den Worten:

»Erlauben Sie mir, Miß Lydia, Ihnen meinen Kollegen vom Gymnasium, Herrn Reinold Keßler, vorzustellen.«

»Ah, auch ein Gelehrter, wie Sie; es freut mich, Sie bei mir zu sehen,« versetzte Fräulein Lydia Brandstetter mit einem hübschen Knix. Sie schien im Begriff gestanden zu haben, ihre Hand gegen meinen Gefährten auszustrecken, zog diese jedoch, etwas an ihrer Halskrause glättend, zurück und fügte nachlässig hinzu: »Sie befinden sich, wie ich gehört habe, schon mehrere Tage in unserer Stadt, Imhof; es hat mich bei Ihrer bekannten Galanterie gegen Damen Wunder genommen, daß sie erst heute –«

»Ich wußte nicht, schönste Lydia,« fiel der halb Getadelte ein, »ob es an einem anderen Tage angemessen –«

Doch sie unterbrach ihn ebenfalls: »Ah, ein alter Freund – bei Fräulein zur Hellen werden Sie sicherlich Ihre Aufwartung schon gemacht haben.«

»Ich schwöre Ihnen, Lydia, bei niemandem –«

» Fi donc, es ist kleinstädtisch, zu schwören,« erwiderte Fräulein Lydia, ihm leicht, doch offenbar befriedigt, mit dem gelben Sonnenschirm auf den Arm schlagend. »Die Herren werden sich bekannt sein, von den Damen wohl nicht Fräulein Fleming und ihre Cousine Fräulein Wende aus Magdeburg. Herr Philipp Imhof: Firma Imhof und Berger aus der Lindenstraße.«

Der Vorgestellte verbeugte sich artig und nannte dann jedem der übrigen meinen Namen und mir die ihrigen, so daß ich keinen einzigen im Gedächtniß behielt. Um mich her vernahm ich bruchstückweise Unterhaltungen verschiedenster Art, über mir unbekannte, doch offenbar in der Gesellschaft höchst bedeutungsvolle Persönlichkeiten, über Börsenoperationen und Fehlgriffe, Theatervorstellungen, Konzerte, Schauspieler und Sängerinnen. Aus jedem Gespräch schlugen einzelne, fast in jedem Satz mit der nämlichen Betonung wiederkehrende Wörter mir an's Ohr, in welchen sichtlich ein Gradmesser der Bildung des Redenden enthalten lag. Eines vor allem schien augenblicklich als erforderliche Wendung des feinen Tones unumgänglich zu sein. »Es ist erstaunbar,« erwiderte ein unfern von mir Stehender auf eine Bemerkung seiner Nachbarin, »aber ich halte es objektiv nicht für unmöglich.« – »Man kann sich auch positiv auf die Richtigkeit verlassen,« ergänzte ein anderer. – »Das Erstaunbarste ist, daß niemand subjektiv der Sache Glauben beimessen würde.« – »Du verhältst Dich eben von vornherein immer negativ zu allem, was einen erstaunbaren Eindruck macht.«

»Ich engagiere Sie zu einer Promenade, Imhof, und erlaube Ihnen, meinen Shawl zu tragen,« hörte ich Fräulein Lydia Brandstetter dazwischen sagen, indem sie ein flockartiges Gewebe vom Nacken zog, und die beiden schritten den Kiesweg an der Rasenbiegung entlang. Die Mittagssonne zeichnete ihren kurzen Schatten mit dem hin und her tänzelnden Schirm allerliebst auf den Boden, und sie verschwanden allmählich hinter der bläulich-rötlichen Blüten eines Rhododendron-Bosquets. Ich stand ziemlich verloren unter den fremden Gesichtern, von denen sich, nachdem alle einen kurzen musternden Blick auf meinen unfashionablen Filzhut geworfen, keines weiter um mich bekümmerte, und verlegen umherblickend, wandte ich mich der Cousine des Fräulein Fleming zu, die ebenfalls eine etwas isolierte Stellung einzunehmen schien. Auch war sie weit weniger elegant gekleidet als die andern und hatte ein frisches, rotbäckiges Gesicht mit großen blau-vergnügten Augen, die mir weniger Scheu einflößten, als die der übrigen. So trat ich, vermutlich ziemlich linkisch, auf sie zu und redete sie an: »Verzeihen Sie, Fräulein, Ihr Name ist mir nicht –«

»Ich bin kein Fräulein, sondern heiße Anna Wende,« lachte sie, »aber ich dachte, Du wärest vernünftiger und verständest Dich nicht auf die albernen Faxen hier. Wenn meine Brüder das sähen, glaube ich, schlügen sie ihnen allen die schwarzen Schornsteinröhren vom Kopf.«

Es gab niemand auf uns Acht, aber mir war's, als hätte mich plötzlich ein frischer Ostwind von der See angeweht. Einen Augenblick sammelte ich mich überrascht, dann lachte ich gleichfalls: »Da kannst Du wahrscheinlich auch nicht so schön knixen« – sie schüttelte lustig ihr goldblondes Haar – »und wir beiden Unglücklichen kommen hier gut zusammen, denn mit meinen Verbeugungen, hast Du wohl gesehen, ist es auch nicht weit her.«

»Gottlob,« antwortete sie, »mir ist's schon ganz übel hier geworden, und ich wollt', ich wäre zu Haus in Magdeburg oder Gott weiß wo, nur nicht unter diesem langweiligen Geschnatter, zu dem meine Cousine mich nicht mit zehn Pferden wieder mitkriegt. Komm, laß uns auch mal durch den Garten laufen – promenieren, mein' ich. O Himmel, was für alberne Jungen und Mädchen gibt's!«

Wir gingen zusammen durch den Garten; auf dem Hauptweg stand eine kleine Gruppe in eifrigem Gespräch, aus der wir im Vorübergehen eine Mädchenstimme fragen hörten: »Wo mag Lydia denn geblieben sein?«

Eine andere versetzte: »Es ist eigentlich unschicklich, sie ist noch immer mit Herrn Imhof verschwunden.« Doch nun mischte sich einer der Zylinder erläuternd ein:

»Ich weiß positiv, daß es keinen Anstoß zu erregen braucht. Imhof besitzt ein erstaunbares Glück und sein Verhältnis mit Miß Lydia ist nur nicht deklarirt, doch objektiv vollständig unzweifelhaft. Sie nehmen sich indeß in der Gesellschaft mit großer Feinheit zusammen, wie man es bei ihrer Stellung auch zu erwarten berechtigt sein darf, denn ich schätze beide künftig mindestens auf eine Viertelmillion.«

Die Stimmen versummten in der Mittagshitze. »Hast Du das Kauderwelsch wieder verstanden?« fragte Anna Wende mich. »Ich glaube beinah', sie sprachen von Heiraten.« Und sie lachte so laut, daß sich die jungen Blumenhüte drüben mißbilligend suchenden Blickes umwandten.

»Das haben sie Dir noch übler aufgenommen, als mir meinen Filzhut,« flüsterte ich.

»Was kümmere ich mich d'rum!«

»Kommt das Heiraten Dir denn so lächerlich vor, Anna?«

»Das weiß ich nicht, aber ich tu's gewiß nie! Ich will immer so bleiben, wie ich bin, daß mir keiner etwas zu sagen hat, denn meine Brüder lache ich aus, wenn sie mir befehlen wollen, und dann tu ich's grade nicht!«

Ihr Atem wehte mir bei den Worten ins Gesicht, und es war immer noch wie der Ostwind, frisch wie Winterschneehauch, der aus einem Tannenwald herüberkommt. Unter dem einfachen, gelben Strohhut glänzte ihr Haar goldig in der Sonne und ihre Augen leuchteten über den gesunden roten Wangen wie ein blaues Stück Himmel; ich fand plötzlich, daß sie weit schöner und anmutiger als all die geputzten kleinen Dämchen sei, ja eigentlich das hübscheste Mädchen, das ich noch je in meinem Leben gesehen. Ihr Lachen klang wie eine silberhelle Glocke, und ich suchte absichtlich es hervorzulocken und fragte:

»Weißt Du, warum sie die Tochter vom Hause hier immer ›Miß‹ Lydia heißen?«

»Ja, das ist auch gottvoll,« lachte sie auf. »Weil ihre Mutter eine Engländerin ist, oder einmal eine Zeitlang in England gewesen ist; aber es wäre furchtbar unfein, wenn man nicht ›Miß‹ zu ihr sagte oder von ihrer Mutter anders spräche als von ›Mistreß‹ Brandstetter. Ich rate Dir, daß Du nicht aus Mißverständnis das Mißgeschick hast, solchen mißlichen Mißgriff zu machen, er würde allgemeine Mißvergnügtheit und Mißbilligung hervorrufen. Siehst Du, ich kann auch gut englisch reden, wenn's auch Magdeburger Gewächs – ich hätte beinah' gesagt, Sauerkohl – ist. Aber so gut wie dieser hier ist er auch noch. Wie heiß ist's, komm, wir wollen in die Laube da hineingehen und uns etwas auf die Bank setzen, bis die Sonntagscour vorbei ist.«

Wir taten's, und auf der dichten grünen Wand der schattigen Hängeesche hob sich Anna Wendes Bild fast noch sonnengoldiger als draußen im Mittagsglanz ab. Einige Augenblicke saßen wir ohne zu sprechen, dann hörten wir plötzlich durch die Blätterwand aus einer der benachbarten Lauben deutlich die gedämpfte Stimme Philipp Imhofs:

»Ich versichere Dir, Lydi, Du bist wie eine Königin unter ihnen allen. In allem, was Du tust und sagst, ist Noblesse und Chic, und Du hast doch dabei, immer etwas Apartes; allein wie Du den Sonnenschirm hältst, das kann keine andre so.«

»Hast Du Sophie zur Hellen nicht vielleicht grade das nämliche gesagt?« fragte die Stimme Miß Lydia Brandstetters.

»Aber Lydi –«

»Oh, man kann euch Herren nicht glauben, ihr seid so flatterhaft –«

»Ich wollte Dich bitten, Lydi,« unterbrach Philipp Imhof ihren Vorwurf, und es raschelte leise wie auseinandergerolltes Seidenpapier – »dieses Kreuz –« »O, das ist hübsch, Du hast immer den besten Geschmack, Philipp. Was sind das für Steine?«

»Amethyste. Es gibt keinen Edelstein, der dem Cérise ähnlicher wäre. Gefällt es Dir?«

»Ausnehmend. Ach, wir passen wirklich vortrefflich zusammen, Philipp; es ist nur Schade, daß ich das Kreuz nicht tragen kann, ohne mich zu kompromittieren, und wirklich unerträglich, wie lange das noch dauern soll. Emma Fleming wird heiraten, sobald sie konfirmiert ist, ihr Schwiegervater läßt ihnen ein Haus am Steindamm bauen. Es ist ja recht hübsch, daß Du ein Gelehrter bist, und man beneidet die Frauen bei uns darum, aber wenn wir deshalb künftig länger als andere verlobt sein müssen –«

Meine Eltern wollen einmal, daß ich das Gymnasium erst durchmache,« fiel Imhof ein, »doch beruhige Dich, Lydi, in sechs Jahren spätestens haben wir uns auch ein Haus gebaut, nobler als das von Emma Fleming –«

Miß Lydia Brandstetter stieß einen unterdrückten Schreckenston aus. »Mein Gott, ich höre ihre Stimme in der Nähe; wenn sie uns hier zusammen in der Laube entdeckt, bin ich auf's entsetzlichste kompromittiert, Du glaubst nicht, welche Medisance unter ihnen herrscht. Ich erwarte Dich morgen abend, wenn der Mond aufgeht, hier im Garten und nehme meine Schwester als dame d'honneur mit; Du promenierest vorüber und wir treffen uns dann zufällig an der Pforte, Mathilde ist noch ein Kind, und wir können alles in ihrer Gegenwart besprechen. Jetzt gehe ich auf dieser Seite hinaus und Du dort, dann treffen wir oben wieder in der Gesellschaft zusammen.«

Die Zweige in der Nebenlaube raschelten leise und die Fußtritte verklangen. Wir sahen noch eine Minute lang stumm, bis Anna Wende sagte:

»Du, ich bin zu dumm, was heißt das kompromittieren, und warum soll sie denn niemand bei einander in der Laube sehn? Mir ist's ganz wirbelig im Kopf von all dem Gerede. Uns können sie doch gern hier sehen; müssen sie von den beiden denn glauben, daß sie irgend einen Unfug machen wollen?«

»Ich weiß es auch nicht, Anna,« versetzte ich. »Aber findest Du es nicht hübsch, Lydi zu sagen?«

»Was soll das heißen? Ich versteh's nicht.«

»Ich meine, jemanden anders zu nennen, als die andern es tun, vertraulicher. Ich wollte, daß ich für Dich auch solchen anderen Namen hätte, doch von Anna laßt sich nichts abkürzen.«

»Das ist doch leicht; meine Brüder nennen mich immer Aennchen.«

»Aennchen, das gefällt mir. Darf ich Dich auch so heißen?«

Sie lachte vergnügt. »Warum nicht, wenn's Dir Spaß macht? Aber Du wirst's nicht oft im Leben mehr tun, denn übermorgen reise ich gottlob wieder nach Magdeburg zurück.«

Ich wußte nicht warum, aber es tat mir weh, daß sie sobald fortreiste, und noch mehr, daß sie so fröhlich dazu lachte. Wir gesellten uns wieder zu den andern, und nach einer Viertelstunde etwa verabschiedete sich Philipp Imhof förmlich von der Haus- und Gartenherrin Miß Lydia Brandstetter und von der übrigen Gesellschaft. Ich sagte allen zusammen ein unbeachtetes und unerwidertes »Adieu« und gab nur Anna Wende mit den Worten die Hand: »Leb' wohl, Aennchen, vielleicht sehen wir uns doch noch einmal im Leben wieder.«

Ihre blauen Augen nickten: »Wer weiß,« doch ihre roten, frischen Lippen antworteten: »Ich glaub's nicht, hierher komme ich nicht zum zweitenmal.« Ihr Glockenlachen klang mir noch im Ohr, als wir draußen auf der Straße fortwanderten; dann sagte Philipp Imhof:

»Nimm's mir nicht übel, Keßler, aber Du hast Dich entsetzlich kleinstädtisch benommen – zuletzt noch vor der Gesellschaft dieser simplen Magdeburger Gans die Hand zu geben –«

»Pah, Aennchen hat's nicht übel genommen,« fiel ich lustig ein.

»Aennchen?« Imhof blieb stehen und sah mich an. »Du hast am Ende gar eine amourette mit der vierschrötigen Person angeknüpft? Aber haben die Menschen denn anderswo als hier gar keine Augen im Kopf? Diese gemeine Röte auf den Backen, diese Frisur, oder vielmehr diese gar nicht vorhandene Frisur, und diese Taille ohne Korsett, von der Toilette ganz abgesehen. Ich will Dich nicht beleidigen, wenn es Dein Geschmack ist, aber es ist dann wahrhaftig ein Glück für Dich, und ich muß es als Freund wünschen, daß Du sie im Leben nicht mehr wieder sehen wirst.«


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