Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Das Haus, in welchem Doktor Pomarius wohnte, der seit meiner frühesten Erinnerung Vater- und Mutterstelle an mir vertrat, lag nicht in der eigentlichen Stadt selbst, sondern in einem eng mit dieser verbundenen dorfartigen Vorort, dessen Bevölkerung auf gleiche Weise im Zuge täglicher Gewohnheit den umliegenden physischen Acker anbaute, wie Doktor Pomarius den psychischen der ihm anvertrauten Zöglinge. Es war somit eine ländliche Welt, in der wir lebten, und im Frühjahr zog der Pflug rundum seine Furchen bis an den Wall unseres großen Garten heran. Dieser besaß in Wirklichkeit seltenen Umfang; der Bodenwert der Gegend war in damaliger Zeit noch äußerst gering, und ein Freund der Einsamkeit und Naturstille, sonniger Abhänge und schattiger Baumpflanzung, der Nachtigallen und des Lerchengesangs mochte sich den Garten zu einer Zeit angelegt haben, als Mauern und Tore noch überall mit mittelalterlicher Tracht die Stadt umschlossen. Das Alter der Bäume sprach dafür; wenn man aufmerksam prüfte, auch der Bau des Hauses. Es ließ sich noch der Grundstock eines ehemaligen einfachen Gartengebäudes darin erkennen, nur als schützender Aufenthaltsort für schlechte Witterung errichtet; dann hatte ein Nachfolger diesen zu ständigem Wohnort erweitert, der Eine dies, der Andere jenes hinzugefügt. So bildete das Haus allmählich einen weitläufig-geräumigen, in Zimmereinteilung und allen Bequemlichkeitsrücksichten merkwürdig ungeschickten, zusammengeflickten Kasten, der eine Menge von dunklen Winkeln, Flurplätzen, Stufen und Abseiten enthielt, jedem Fremden lange Zeit als Labyrinth erschien und innerlich grad' so viele halsbrecherische Eigenschaften aufwies, als er von außen vermuten ließ. Im Winter versperrte oftmals der Schnee manchen Fuß hoch den Weg zur Stadt, aber im Sommer schlugen die Enkelkinder der Nachtigallen, die den ersten Ansiedler hierher gelockt, noch immer ebenso unermüdlich in der dicht verwachsenen Gartentiefe, und an ihrem Rande trillerten die Lerchen über den Pflügern. Methodisch zogen die Pferde vor der ab und zu aufblitzenden breiten Eisenschaufel und der umfallenden Scholle dahin, sie wendeten drüben am fernen, noch vom vorjährigen Laub braunen Zaun, der Zuruf, der sie zur Schwenkung antrieb, verklang halb in der Luft, und langsam kamen sie wieder mit nickenden Ohren heran, von Krähen und Dohlen umflattert, die der unferne Waldrand in immer neuen krächzenden Geschwadern herübersegeln ließ. Die schwarzen Gesellen stürzten sich flügelschlagend in die aufgerissenen Furchen, oft dicht hinter dem Fuß des Pflugführers, der gleichgültig keine Miene verzog und nie den Kopf nach ihnen umwandte; scheuer mischte sich dann und wann das silberglänzende Gefieder einer Möwe hinein, die in hoher Luft vorüberschweifend plötzlich den Mut faßte oder der lockenden Anziehung nicht zu widerstehen vermochte, mit auf den köstlichen Beuteinhalt der zerwühlten Erde herabzuschießen. Sie flimmerte auf dem dunklen Feld wie ein weißgekleidetes Mädchen unter einem Trauergeleit und trippelte auch ebenso vorsichtig umblickend, ihrer Angehörigkeit in andres Element bewußt, abseits von dem düsteren Schwarm umher, daß Doktor Pomarius, wenn er es sah, sich zu äußern pflegte: »Seht, das ist das Bild des bösen Gewissens, das sich nicht unter die Augen seiner Mitgeschöpfe wagt!«

Wie Doktor Pomarius – jedenfalls schon geraume Weile vor meiner Zeit – in den Besitz des Hauses und Gartens gekommen, habe ich nicht erfahren. Gelegentlichen Aeußerungen anderer entnahm ich – oder hatte vielmehr kaum Interesse dafür, es zu hören – daß er das Ganze einmal für einen Spottpreis gekauft und hauptsächlich dadurch auf den Gedanken gebracht worden, seine segensreiche Tätigkeit in unserer Stadt zu beginnen. Praktisch war dieselbe mir lange bekannt, ehe ich einen Namen dafür wußte und eines Tages zufällig in den Anzeigen des zweimal wöchentlich erscheinenden städtischen »Wochenblattes« durch die fettgedruckte Unterschrift »Dr. Pomarius« zur Lektüre der betreffenden Annonce veranlaßt wurde. In dieser wurde auswärtigen Eltern und Vormündern von Söhnen und Pfleglingen, welche die gelehrte Schule besuchen sollten, die Knabenpensions-Anstalt des Unterzeichneten in gesundester Lage mit großem Garten und ausnehmenden Hausräumlichkeiten empfohlen. Der Vorsteher, ein Mann in den besten Jahren und gesichertster wie angesehenster Stellung, habe aus unbezwinglicher Neigung für das körperliche und geistige Gedeihen der Jugend diesen mühevollen Beruf erwählt und biete schon dadurch die vollendetste Bürgschaft, daß sich in seinem Hause alles für das wahre Wohl der ihm Anvertrauten Erforderliche vereinige. Väterlich liebevollste Behandlung herrsche als oberster Grundsatz; ihm koordiniert ziehe sich als roter Faden tägliche Pflege christlichen Sinnes im Gemüt und in Werktätigkeit hindurch. Aber wo heilsame Strenge von göttlichem Geheiß, Vaterpflicht und Verstocktheit eines jugendlich trotzigen Herzens erheischt werde, stehe auch ihre schmerzliche Nötigung dem Leiter der Anstalt in vollstem Umfange zu Gebot, und er halte für seine besondere Verpflichtung, aufzufordern, ihm etwa durch übergroße Nachsicht mißratene und in Zuchtlosigkeit verwilderte Söhne zur moralischen Besserung in die Hände zu geben. Welche Erfolge er bei solchen bereits erzielt, bezeuge das hohe Interesse, das viele – mit Namen aufgezählte – hervorragende Persönlichkeiten in verschiedenen Städten an seiner Wirksamkeit nähmen, bei denen allen jeder Ortskundige nicht in Zweifel sei, daß er in ihnen die Auslese gottesfürchtigster und lebenserfahrenster Nächstenliebe zu verehren habe. Diese sämtlich würden übereinstimmendes Zeugnis für den Unterzeichneten ablegen, der sich nur noch besonders auf die Anerkennung der ebenfalls zu weiteren Auskünften bereiten Damen für die sittliche Strenge aufmerksam zu machen erlaube, mit welcher er von früh auf jeden seiner Zöglinge von irgend einem Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht fernhalte und in seinem Hause keine Dienstmagd aufnehme, die nicht das fünfzigste Lebensjahr überschritten. Schulgeld, Wäsche, ärztliche Bemühungen und körperliche Heilmittel seien einzig nicht mit in den – vierteljährlich pränumerande zu entrichtenden – Pensionspreis eingeschlossen, der nur von einem Manne so niedrig gestellt werden könne, welcher keinerlei irdischen Vorteil durch seine opferfreudige Tätigkeit zu erzielen, sondern ausschließlich nach der ethischen Vervollkommnung der Jugend und der ihm selbst daraus erwachsenden seelischen Befriedigung trachte.

So viel besagte der Inhalt der Anzeige, von der jedoch ein Anmerkungsstern auf einen in derselben Nummer des Blattes voraufgehenden Redaktionsartikel hindeutete. In diesem ward auf die im Inseratenteil befindliche Annonce ausdrücklich unter der Beifügung aufmerksam gemacht, daß Herr Doktor Pomarius einer der moralisch hochgestellten, verdienstvollsten und in jeder Richtung tadellosesten Männer der durch so zahlreiche ausgezeichnete Persönlichkeiten weit bekannten Stadt und deshalb für die betreffenden Eltern und Vormünder gleichsam als eine irdische Vorsehung zu betrachten sei, die nicht dringend genug dem allgemeinen Selbstinteresse wie dem der Menschheit im ganzen empfohlen werden könne. Ich erinnere mich, daß ich sowohl die Anzeige als den Artikel der Redaktion dreimal durchlas und mit einer geheimen Scheu zum erstenmal das ganze Wesen des Doktor Pomarius vor meinen Augen in ein höheres, fast blendendes Licht gerückt sah, als mein kindischer Unverstand bisher aus eigenem Vermögen wahrzunehmen imstande gewesen. Doch zugleich fiel mir etwas anderes mit drückender Last beschämend und quälend auf die Seele. Ich empfand auch zum erstenmal, daß nicht nur die Mehrzahl meiner Hauskameraden, sondern ich selbst am meisten mit zu den völlig mißratenen und verwilderten Knaben gehören müsse, deren Herzensverstocktheit Doktor Pomarius die schmerzliche Nötigung auferlege, unausgesetzt die äußerste Strenge für unsere moralische Besserung anzuwenden. Es war das um so qualvoller und überzeugender für mich, als ich mich vergeblich abmarterte, mir die Gründe und Beweise meiner Schlechtigkeit klar zu machen, und immer deutlicher dabei fühlte, wie die oft wiederholten Worte des Doktor Pomarius sich an mir selbst bewahrheiteten, daß es das Zeichen der tiefsten Verworfenheit sei, nicht einmal zur Erkenntnis des Bösen und daher auch nicht zur sündenvergebenden Reue gelangen zu können. Ich konnte nur im allgemeinen meine Existenz bereuen, und das, glaube ich, tat ich an jenem schlimmen Nachmittag und oftmals später auch, freilich, wertlos, wie diese Reue war, ebenfalls nur mit wertlosen Tränen.

Der Doktor Pomarius befand sich um jene Zeit ungefähr im Anfang der vierziger Jahre und zeichnete sich vor den meisten anderen Bewohnern der Stadt dadurch aus, daß er immer eine weiße breite Halsbinde von der Art, die man Kravatte nannte, trug. Das gab ihm ein solennes, mit seinem Wesen in Einklang stehendes Aussehen und ließ ihn schon in beträchtlicher Entfernung auf der Straße unterscheiden. Fremde hielten ihn übereinstimmend für einen Prediger des Orts, denn auch die Bewegungen seiner ziemlich langen und schmächtigen Gestalt besaßen etwas Pastorales; er sprach mit gemessener Betonung, sehr deutlich die Worte ausrundend, und wenn ihren klaren Ausdruck etwas beeinträchtigte, lag die Verschuldung nicht an ihm, sondern an einer wahrscheinlich angeborenen heiseren Verstimmung seines Organs. Ich erfuhr auch, daß diese den Grund gebildet, weshalb man ihm in früherer Zeit geraten, seine anfängliche Berufslaufbahn zu verlassen und sich derjenigen zuzuwenden, auf welcher er in unserer Stadt zu so außerordentlichen Erfolgen gelangte. Er war Kandidat der Theologie gewesen, hatte sich dann nochmals auf eine auswärtige Universität zurückbegeben, dort philologischen Studien obgelegen, die Promotion zum Doktor erlangt und einige Zeit darauf käuflich das Haus erworben, in welchem ich mich von frühester Erinnerung seit der Zeit befand, wo das Gericht ihn nach dem Tode meiner plötzlich und kurz hintereinander verstorbenen Eltern zu meinem Vormunde und Erzieher bestellt.

Der Doktor Pomarius besaß eine Eigentümlichkeit, die ich selten an Menschen wieder gefunden. Er hatte zwei verschiedene Gesichter oder vielmehr eigentlich Profile, so daß, wer ihn zufällig nur von der einen Seite gesehen, ihn danach von der andern nicht wieder erkannte. Das Gesicht rechts konnte einen lächelnden Ausdruck haben, ohne daß man es links bemerkte, ihm von hier aus im Gegenteil eine strenge Gemütsstimmung beimaß. Vielleicht hätte ein Bart diese Unterschiede aufgehoben oder mindestens verdeckt, doch er ging immer völlig glatt rasiert und achtete sorglich darauf, daß sich niemals ein dunkler Schatten am Kinn, noch auf der Oberlippe bemerkbar machte. Dadurch ward die Farbe seines Gesichtes zunächst von der weißen Kravatte begrenzt und mit ihr in nicht eben vorteilhaften Gegensatz gebracht, da sie auf solche Weise stärker ins Graue, Ungewisse spielte, als eine anders gefärbte Halsbinde es verursacht haben würde. Seine Nase war scharfknochig und wenig, doch nicht übermäßig gebogen; den Hauptanlaß zu der erwähnten Profilverschiedenheit gaben der Mund und die Augen, von denen der erstere etwas mehr auf die linke Seite hinüberlag, so daß man nur von ihr aus beim Oeffnen der Lippen die an Zahl wohlerhaltenen, doch vom Pfeifenrauch dunkel gebräunten Zähne gewahren konnte. Bei den Augen war dagegen keine eigentliche Unregelmäßigkeit vorhanden, sondern nur ihre ungewöhnlich entfernte Stellung vom Nasenwinkel lieh ihnen etwas eigen Berührendes, gleichsam Auseinander-Blickendes, so daß man von vornherein, doch mit Unrecht, in die Schärfe ihres Sehvermögens Zweifel setzte, während ihnen umgekehrt die Fähigkeit innewohnte, in weiterem Halbrund als andere alles um sie her Befindliche, gleichsam jedes einzelne auf seiner Seite aufzunehmen. Eine hohe, schräg zurückweichende, beinahe völlig kahle Stirn schloß das Gesicht nach oben ab; die Farbe der übrig gebliebenen dünnen Haarfäden ließ sich nicht deutlich mehr bestimmen, nur die Augenbrauen weckten die Vermutung, daß es gleich diesen hellblond gewesen. Im Freien trug Doktor Pomarius jederzeit einen schwarzen breitrandig-niedrigen, doch steifen Hut, der seine Figur mehr als bei entblößtem Kopf abplattete und ihr einen äußerst würdigen Anstrich gab, unter dem die an und für sich, wie ich glaube, nicht einnehmende Bildung der Einzelzüge verschwand. Aber ich entsinne mich, wenigstens aus früherer Zeit, niemals, zu einem ästhetischen Urteil darüber in mir gelangt zu sein.

Doktor Pomarius nahm am Gymnasium keine Stellung als Lehrer ein, er stand nur mit dem Rektor wie mit allen Kollegen desselben auf vertrautestem Fuß und wachte darüber, daß der Geist der Schule und der häuslichen Erziehung sich ergänzten und in unausgesetzter fördersamer Wechselerziehung verblieben. Eine Strafe, die uns in der Klasse zuerkannt worden, fand deshalb ihre regelmäßige Wiederholung im Hause, nur in der gemilderten Form, daß sie dort in Schlägen und Karzerarrest, hier in Entziehung des Mittags- oder Abendessens bestand und umgekehrt die letztere, vermittelst des bestehenden Rapports, in der Schule die ersteren zur Folge hatte, denn Doktor Pomarius stellte es als oberstes pädagogisches Axiom auf, daß man den rebellischen Geist durch Einwirkung auf den Körper züchtigen müsse. Er selbst enthielt sich jedoch mit Ausnahme allerbesonderster Vorfälle positiver leiblicher Bestrafungen und brachte persönlich nur die genannte negative Methode in Anwendung, allerdings auch in Bezug auf das Gegenteil von Strafen, denn da das Gymnasium gutes Verhalten selbstverständlich nur als unsere ›Pflicht und Schuldigkeit‹ ansah und keine Belohnung dafür spendete, konnte logischer Weise nach dieser Richtung zu Hause von keiner Wiederholung die Rede sein.

So erstreckte sich die pädagogische Tätigkeit des Doktor Pomarius nur auf uns, die dem Hause Angehörigen, und darauf, daß er in den höheren Töchterschulen der Stadt den Religionsunterricht erteilte. Er bildete für jede Vorsteherin jener Institute naturgemäß einen Gegenstand der Verehrung und nahm bei ihnen gleichsam die Stellung eines weltlichen Beichtvaters ein, dessen Mahnungen und Ratschläge jedoch aus dem Tenor ( tenor) seiner geistlichen Grundstimmung hervorgingen. Dagegen war das Verhältnis der Schülerinnen zu ihm ein geteiltes, und man konnte im Allgemeinen sagen daß diejenigen, welche ihm ihre vollste Zuneigung widmeten, sich dadurch das Zeugnis mehr innerlicher, schon in jugendlichem Alter für die Gnadenwirkung der Frömmigkeit empfänglicherer Naturen ausstellten. Er betonte häufig, daß man den weiblichen Sinn durch zarte, spielende Weise zu dem Ernsten, Höheren hinanzuziehen streben müsse, wie unser Heiland auch zärtlich gesagt: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Allein trotzdem er nach diesem Vorbild mit Liebkosungen, manchmal sogar mit Zuckerplätzchen Eingang in die Seelen seiner töchterlichen Pflegebefohlenen zu gewinnen trachtete, befand sich doch eine ziemliche Anzahl von gemütlosen Weltkindern darunter, bei denen seine liebreich ausgesonnene Art ohne nachhaltige Wirkung blieb. Die Meisten verzehrten allerdings mit Wohlgeschmack die ausgeteilten Bonbons; einige indes, die sich dem ungezogenen, in sich selbst unklaren und widerspenstigen Alter des Backfischtums näherten, lachten verstohlener oder lauter und wollten in alberner Manier überhaupt von seinen Süßigkeiten nichts wissen. Ja, zuweilen war die ganze Strenge der Lehrerinnen erforderlich, um sie zu einem respektvollen Verhalten gegen den Doktor Pomarius zu nötigen; ernste Zwangsmaßregeln, welche der letztere jedoch stets durch seine Milde und die unerschütterliche Hoffnung begütigte, die kleinen, lieben, närrischen Christenseelchen würden schon noch zur Erkenntnis gelangen, wie teuer sie seinem Herzen seien, das – gleich dem Heiland – keine scheinbar vergebliche Anstrengung scheue, sie von dem Heil, welches seine Lippen ihnen zu künden berufen worden, zu überzeugen.

Im Hause des Doktor Pomarius befand sich noch eine bejahrte Dienstmagd, Johanna, und eine ungefähr gleichaltrige Haushälterin, deren offizielle Anrede »Mamsell Dorthe« lautete, die indeß von uns, wenn wir etwas von ihr zu erlangen wünschten, »Tante Dorthe« genannt wurde. Sie war äußerst gutherziger Natur, sobald es auf sie allein ankam, und hintertrieb durch diese Schwäche nicht selten die Fortschritte unserer Besserung, da sie uns manchmal, wo uns Nahrungsentziehung zudiktiert worden, heimlich eine Butterschnitte, Obst und dergleichen zusteckte. Die Aengstlichkeit, mit der sie uns anhielt, das Ausgeteilte hastig in irgend einer Ecke oder unbesuchten Stelle des Gartens zu verzehren, zeigte deutlich, wie strafend ihr selbst das böse Gewissen dabei schlug; aber unser fast immer begieriger und vernunftloser Appetit ließ uns das Geringfügige, schnell Vorübergehende dem Gewichtigen, Bleibenden vorziehen und vergaß über der augenblicklichen roh körperlichen Befriedigung die Schädlichkeit ihrer moralischen Wirkung. Im Uebrigen fürchtete Tante Dorthe den Doktor Pomarius nicht minder als wir, nächst dem lieben Gott am meisten, und ich habe aus ihrem, etwas zahnlosen Munde nie eine Widerrede gegen seine Anordnungen gehört. Ihr Gesicht war ältlich-freundlich mit einem vorwiegenden, aus Wehmut und Demut gemischtem Zuge; äußerlich hielt sie genau auf tadellose Sauberkeit und Ordnung an sich selbst und Allem, was zu ihrem Aufsichtskreise gehörte, und ihre kleinen Händchen, die in Tante Dorthe's Jugend sehr niedlich gewesen sein mußten, legten eine rührig geschickte Beweglichkeit an den Tag, von der wir jedes kleine Anliegen aufs Eiligste und Beste erfüllt zu sehen, überzeugt sein konnten.

*

»Wir« nannten uns – um mich abermals in den Vordergrund zu stellen – Reinold Keßler, Philipp Imhof und Fritz Hornung. Später kam noch Eugen Bruma hinzu, doch wir rechneten ihn nicht im engeren Sinn mit, weil er sowohl, als das Verhalten des Doktor Pomarius gegen ihn vom ersten Tage an zeigten, daß er nicht zu den mißratenen Knaben gehörte, sondern gleiches Wohlgefallen bei jenem, wie bei den Lehrern in der Schule erregte. Er war von schmächtiger Gestalt, und seine Augen lagen ungewöhnlich tief in einem ziemlich schmalen, feingeschnittenen Gesicht, das im Sommer und Winter, sogar bei starker körperlicher Anstrengung immer dieselbe Blässe behielt. Wir andern waren kindisch und boshaft genug, uns manchmal halbwegs darüber und über sein Wesen überhaupt lustig zu machen, ihn aufzufordern, sich einmal durch Wettlaufen und Ringen mit uns die Backen rot zu färben, während jeder fähige Beurteiler gerade in der blassen Farbe das Verdienst hätte erkennen müssen und erkannte, daß Eugen Bruma sich von allem solchem unnützen Zeitvertreib fernhielt und ausschließlich aufs Gewissenhafteste der Erfüllung seiner ihm von der Schule und im Hause auferlegten Pflichten nachkam. Er sprach wenig und stieß dabei leise mit der Zunge an; um seine Meinung in einer Sache befragt, zögerte er gemeiniglich und erteilte oft eine Antwort, welche Zweifel an seinem Verständnis und besonderer Geistesschärfe verursachen konnte. Doch er legte dann ebenso häufig Zeugnis für die Gründlichkeit seines Nachdenkens dadurch ab, daß er später in seinem Urteil zu einem völlig entgegengesetzten Ergebnis gelangt war. Er prunkte indeß nie mit einer derartig nachträglich gewonnenen Einsicht, sondern wenn diese sich zufällig einmal ergab, suchte er bescheiden jede weitere Erwähnung zu vermeiden und schnitt in der Regel mit der Annahme eines Irrtums und daß er sich nicht erinnere, eine andere Aeußerung getan zu haben, ab. Sein Vater nahm eine hohe Würdenstellung als Generalsuperintendent ein, und wir bezeichneten im Scherz unter uns andern den Sohn ebenfalls mit diesem Titel. Daß er sich, selbst auf dem gemeinsamen Schulwege, durchaus von uns abgesondert hielt, gereichte uns zugleich zur Schuld und zum Nachteil, da wir uns auf solche Weise einer heilsamen Beeinflussung durch die Musterhaftigkeit seines Betragens entzogen und jenen Neid in uns weckten, den natürlich in Wahrheit nur seine eignen Vorzüge rege machten, unsere Verblendung aber darauf übertrug, daß ihm von Doktor Pomarius und den Lehrern des Gymnasiums bei jedem Anlaß aufs Unverkennbarste der Vorzug gegeben wurde.

Den denkbarsten Gegensatz zu Eugen Bruma stellte Fritz Hornung dar. Er war immer rotbackig, immer vergnügt und immer in Bewegung. Wenn ein Streich irgend welcher Art ausgeübt wurde, beteiligte er sich daran, nicht allein aus Liebhaberei, sondern aus einer inneren Verpflichtung, der Sache nicht seine Unterstützung zu entziehen, und in seinem Charakter lag ein gewisses sich vordrängendes Wesen, das besonders dadurch als renommistisch zu Tage trat, daß er in nicht seltenen Fällen, wo der eigentliche Ausüber eines Frevels sich vor der Strafe fürchtete, die Täterschaft mit lautem Geständnis auf sich nahm. Doktor Pomarius bemerkte, als dies einmal entdeckt ward, in tiefer, schmerzlicher Gemütsergriffenheit, daß eigentlich etwas Ruchloseres gar nicht erdenkbar sei, da das erste, ursprüngliche Vergehen auf solche Weise verdreifacht, zu ihm eine Straflosigkeit des wirklich Schuldigen, eine Irreführung des Richters und eine schamlose Lüge hinzugefügt werde, und Fritz Hornung ward mit schwerster Schulzüchtigung und achttägigem Mittagsfasten im Hause bestraft. Doch so wenig seine roten Backen darunter litten, so wenig auch enthielt er sich bei nächster Gelegenheit eines Rückfalls in die dreifache Versündigung, die mit der Erbsünde zugleich in seinem Blut zu liegen schien und offenbar ihrer Schwere nach von ihm nicht richtig empfunden wurde. Wenn dies und überhaupt die stoisch-unbekümmerte Manier, mit welcher er solche Strafe trug, eine Schwerfälligkeit des Gemütes und Geistes andeutete, zeigte er sich dagegen körperlich desto behender und ruhelos regsamer. Es war ihm eine physische Unmöglichkeit, an einer gefrorenen Gosse vorüber zu kommen, ohne ein Dutzend mal darüber hinzuschleifen, durch einen Quell mußte er hindurchlaufen, und befand sich ein erkletterbarer Baum am Wege, so war er plötzlich verschwunden und lachte, wenn wir am Stamm vorüberkamen, mit seinem semmelblond über die indigoblauen Augen verwühlten Haar vom obersten Ast auf uns herunter. »Wenn Du nicht ein solches Unkraut wärest, hättest Du schon längst den Hals gebrochen,« sagte Doktor Pomarius einmal bei derartigem Anlaß in besonders guter Laune; »ich werde Deinem Vater nächstens wieder eine Rechnung für neue Kleider schicken müssen, ihr seht es selbst, wie der kostspielige Bursche sein Zeug ruiniert«. Eugen Bruma nickte zustimmend mit der Stirn, dachte einige Augenblicke nach und fragte dann: »Wacht der Herr mehr über dem Unkraut, daß es nicht verdirbt, als über dem Waizen?« – »Das Unkraut, mein junger Freund,« antwortete Doktor Pomarius, »läßt Er nach seinem Ratschluß wachsen und bestehen, daß sich das gute Korn ein Beispiel daran nehme, wie jenes mit der Peitsche aus dem Erntesegen des Ackers herausgeklatscht wird. Du hast manchmal den tüchtigen Landmann gesehen, mein lieber Eugen, daß er so ausrodend über die Felder dahingeht, und ihm gleicht der gewissenhafte Lehrer und Förderer der Jugend, dessen Blick sich nicht der fruchtverheißende Waizen zu entziehen braucht, sondern das schuldbewußte Unkraut, das den köstlichen Gottesacker schändet. Wenn Du ein solches erkennen willst, brauchst Du nur zu fordern, daß es die Augen auf Dich richte, und Du wirst das Schuldbewußtsein an dem Merkmal scheiden, daß es Deinen Blick nicht ohne Erröten zu ertragen vermag. Sieh mich einmal an, Reinold Keßler! Kannst Du es, ohne rot zu werden? Seht mich alle an! Der Spiegel Deines Antlitzes allein, mein junger Freund, ist von keinem Widerschein des bösen Gewissens gefärbt – ihr andern werdet euch heut abend ohne Imbiß zu Bett legen, und ich werde zu Gott bitten, Er möge eure Herzen wenigstens zur Umkehr noch vor dem Tage wenden, an welchem Er auf Seiner Tenne die Spreu von dem Waizen schüttelt.«

»Ich bin immer rot wie ein gekochter Taschenkrebs, und Du warst's keine Spur, wie Du ihn ansahst,« murmelte Fritz Hornung mit dem Mund an meinem Ohr vorüberstreifend. Ich ging einige Schritte neben Eugen Bruma weiter, der gesenkten Kopfes hinwanderte, dann die Stirn hob und abermals fragte:

»Gibt es auch Menschen, die sich ihrer Schlechtigkeit bewußt sind und doch nicht rot werden, wenn man sie ansieht?«

Doktor Pomarius stand still. »Gewiß, mein Lieber, aber gottlob selten; so selten, wie die eigentlichen Giftpflanzen unter dem Unkraut. Es ist das der Auswurf der Menschheit, die verhärtetsten, wider alle Scham abgestumpften Sünder, die eher durch Blässe an den Tag legen, daß sie den Keim zu jeder Schändlichkeit in sich tragen. Von solchen Leuten heißt es im Gebet: Laß mich nicht, o Herr, in Blindheit an ihrer Seite hinwandeln, sondern öffne meine Augen, sie zu erkennen!« Eugen Bruma wandte sich mit einer bei ihm ungewöhnlich raschen und entschiedenen Bewegung von meiner Seite fort, daß Doktor Pomarius fragte: »Was hast Du?«

»Ich erschrak,« versetzte er, »Reinold ist außerordentlich blaß, scheint mir, er wird doch nicht krank sein?«

Ich wußte nichts zu erwidern, doch Fritz Hornung fiel ein: »Dann müßten wir wirklich um Dich immer in Angst sein, Eugen, aber wir sind nicht gleich so furchtsam wie Du, sonst könnte man einen Schreck kriegen, Du wärst mit dem Gesicht in die Kalkgrube gefallen.«

»In meiner Gegenwart verbitte ich mir so alberne Späße,« sagte Doktor Pomarius streng. »Sieh die Herrlichkeit der Natur, mein junger Freund, sie atmet den Frieden, die Vaterliebe Gottes für alle seine Kreaturen, und nur der Ungeratene, den man mit flammendem Schwert aus diesem Paradiese vertreiben sollte, doch in Nachahmung der göttlichen Langmut von Tag zu Tag noch fortduldet – nur er vermag das Gift der Verführerin von Anbeginn, der Schlange, in seinem unreinen Busen zu hegen und es mit dem Geifer des Erzfeindes über seine Zähne heraufträufeln zu lassen. Hast Du einmal nachgedacht, mein lieber Eugen, wie Du Dir die Verführung Evas durch die Schlange vorstellst? Etwa durch die Verheißung eines neuen – haha, das kann man nicht einmal sagen – eines Kleides überhaupt, wie es in Lustspielen auf dem Theater der Brauch ist?« Doktor Pomarius lächelte jovial mit dem linksseitigen Profil und schritt, Eugen Brumas Arm in den seinigen ziehend, mit ihm vorauf. Fritz Hornung raunte uns zu: »Im Paradies gab es wenigstens Aepfel zum Abendessen, aber seid ruhig, ich will Tante Dorthe schon herumkriegen, daß sie die Eva spielt. Und habt keine Angst, daß der Engel uns aus dem Paradiese hinausjagt, denn dann müßte er das Kostgeld, das für uns bezahlt wird, mit wegjagen und – hudibrum, eher –«

Fritz Hornung steckte den kleinen Finger seiner rechten Hand zwischen die spatweißen Zahnreihen, biß so kräftig darauf, daß er aufschrie, lachend und hüpfend mit der Hand schlenkerte und sie dann hinter dem Rücken Eugen Brumas mit halb grimmiger, halb komischer Begleitmiene zusammenballend, flüsterte: »Hab' ich dem Generalsuperintendenten seine Kläfferei nicht gut bezahlt? Du bist immer auf den Mund gefallen, Reinold; mach' ihn nur heut abend auf, wenn ich von Tante Dorthe komme!« Und wir folgten mit Imhof langsamer hinter den Voraufschreitenden drein.

Philipp Imhof bildete in anderer Art einen fast ebenso starken Gegensatz zu Fritz Hornung als Eugen Bruma. Sein Vater zählte zu den bedeutendsten Großhändlern der ein Dutzend Meilen von uns entlegenen volkreichen Handelsstadt Hamburg und hatte seinen Sohn, um ihn dem Treiben der letzteren zu entziehen, zum Besuch des Gymnasiums eines kleineren Ortes in die Pension des Doktor Pomarius gesandt. So unterschied Imhof sich, und zwar unverkennbar durch seinen Ursprung, wesentlich nicht allein von uns, sondern von allen Schülern überhaupt. Er hatte etwas Frühreifes, war uns, nicht in den Lehrgegenständen, doch in allen Lebensansichten, weit voraus und petit-maitre vom Hut bis zum Schuh. Besonders wenn er die Ferien im Elternhause verbracht hatte, überraschte er uns bei der Rückkehr jedesmal durch sprachliche Wendungen, neue Bezeichnungsweisen, die wir ohne Erläuterung oft zuerst nicht verstanden, dagegen als etwas Höheres, einen Anhauch aus der großen Welt empfanden. Als Beispiel dafür wandte er einmal nach seiner Heimkunft auf jeglichen Gegenstand das adjektivische und adverbiale Epitheton »fabelbar« an. Es war ein fabelbares Wetter, daß es bei Sonnenschein regnete, und fabelbar, zu sehen, wie ein Sperling einen Maikäfer verzehrte. Fritz Hornung und mich hätte beides vielleicht an und für sich nicht Wunder genommen, oder wir hätten es höchstens mit dem Ausdruck ›fabelhaft‹ belegt. Aber wir fühlten bald ebenfalls, daß in dem Worte ›fabelbar‹ ein durchaus anderer Geist liege, der sich mehr ahnen als definieren ließ, zu dessen eigentlichem Verständnis wir erst heranreifen mußten, und wir betrachteten Philipp Imhof deshalb in diesen Dingen als unbestrittene Autorität und Lehrmeister. Er versah die Stellung des letzteren mit dem eigenen Bewußtsein der Ueberlegenheit, wie er trotz seiner Gleichaltrigkeit auch an körperlicher Größe um einen halben Kopf über uns aufragte. Sein Bau erschien durch die feinste Tuchkleidung, in der er sich stets bewegte, vielleicht ein wenig schmalschultriger, als er in Wirklichkeit sein mochte, und sein von dunklem gewellten Haar eingerahmtes, leicht vorübergeneigtes Gesicht bot immer einen halb zerstreuten oder doch mit uns unbekannten wichtigen Fragen beschäftigten Ausdruck. Er sollte sich nach dem Wunsche seines Vaters auf dem Gymnasium und später auf der Universität allgemeine humanistische Bildung aneignen und zeichnete sich vor allen Mitschülern durch die spielende Leichtigkeit, mit der er fremde moderne Sprachen erlernte, und durch seine Rechenkunst aus. Vermöge der letzteren bildete er für die sämtliche Klasse in schwierigen Zahlkünsten Zuflucht und Orakel und erwies sich stets ausnahmslos gegen jeden zur erbetenen Hilfeleistung bereit. Darum erfreute er sich auch allgemeinster Beliebtheit, ward niemals in einen Streit mit verwickelt, sondern konnte bei einem solchen gewöhnlich mit ernst entscheidender Miene als Vermittler und Friedensstifter auftreten. Er war bei allem ein guter Kamerad, der eigentlich (d. h. in unsern Augen und von unserm kurzsichtigen Standpunkt) keine Fehler befaß, und wenn ich mich ab und zu dabei betraf, daß ich mich im letzten Gefühl zu Fritz Hornung mehr hingezogen empfand, so vermochte ich mir keine Gründe, sondern eben nur ein grundloses Gefühl dafür anzugeben.

Ich selbst? Wer war ich selbst? »Wir können hin und wieder nicht nur aus der Grammatik, Syntax und Metrik des heidnischen Altertums, sondern auch aus moralischen Anforderungen desselben Nutzen ziehen,« sagte Doktor Pomarius, »und zu den letzteren gehört die Vorschrift des Weltweisen: ›Erkenne Dich selbst!‹«

Ob ich den Sinn dieses Gebotes, wie ich es zum erstenmal vernahm, völlig mißverstand – ich weiß, daß ich mich vor einen Spiegel stellte und etwas zuvor noch nie von mir Ausgeführtes vollbrachte, mein Bild aufmerksam und sorglich vom Kopf bis zu den Füßen betrachtete. Weil ich so lange dabei verweilte, steht es mir noch deutlichst vor der Erinnerung: Ich war hoch aufgeschossen und ziemlich aus meinen Kleidern, vorzüglich an den Handgelenken, herausgewachsen; mein Haar, das in frühester Kindheit hellblond gewesen, ging in Braun über, das Gesicht darunter war weder rund, noch von kränklicher Magerkeit und schien mir ungefähr ebenso wie das meiner meisten Altersgenossen mit einer Nase in der Mitte, zwei Augen, zwei Ohren und einem Mund, alles ohne besondere Abweichung, nur daß die Augen nicht gleich denen der Mehrzahl blau, sondern hellgrau aus dem Kopf heraussahen.

Also das war ich, der meine Lehrer und vor allem meinen Wohltäter und Vormund, den Doktor Pomarius, täglich betrübte und ihn dadurch vom Morgen bis zum Abend mit blutendem Herzen zur ernstesten Strenge gegen mich zwang? Das also war ich, der Ungeratene, in Zuchtlosigkeit Verwilderte, an dessen moralischer Besserung selbst die Hoffnung einer an Vater- und Mutterstelle getretenen Liebe verzweifelte? Der den forschenden Blick eines Richters zu keiner Zeit ertragen konnte, ohne rot zu werden, oder sogar noch schlimmer durch Nichterröten meine Sündenverhärtung, Schamabstumpfung und den Keim jeder Schändlichkeit an den Tag zu legen? Das Unkraut, das nicht unter den Waizen, die Schlange, die nicht ins Paradies gehörte und nur durch die göttliche Langmut des Doktor Pomarius noch von Tag zu Tag fortgeduldet wurde?

Ich errötete diesmal vor dem Blick meines eigenen Bildes, denn mich überkam ein Gefühl, daß ich durch mein Aeußeres schon die Leute betrüge, und daß niemand, der mich ohne genaue Kenntnis meines Innern ins Auge faßte, mir die ganze Fülle meiner Schlechtigkeit ansähe. Ja – so leichtfertig ist der Wunsch, die Vorschrift des griechischen Weltweisen zu befolgen geneigt – wenn die Glaubwürdigkeit des Doktor Pomarius mir nicht über jede Anzweiflung erhaben gewesen wäre, so hätte ich mit dem neuen Frevel eines Selbstbetruges selbst nicht an die unheilbare Verworfenheit meines Spiegelbildes geglaubt.


 << zurück weiter >>