Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Jean Paul

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Um 4 Uhr abends. Obgleich in zwei Stunden der Frühling den Vorhang seines Operntheaters vor mir aufzieht: so will doch der beklommne Herzschlag, den mir die Ruinen meines Weges gaben und den die sanften Kirchengesänge in allen Dörfern am heutigen Aposteltage nur schwerer machen, in kein freudiges Pochen übergehen. Auf der äußern Welt liegt allemal der Widerschein unsrer innern, wie auf dem Meer der Widerschein des Himmels liegt, entweder als düsteres Grau, oder als helles Grün. Dieser schöne Abend müßte einem lichtern Tage zugehören als dem heutigen, wenn mich das Flüstern und Duften der Säulenreihe von Obstbäumen nicht beklemmen sollte, die sich jetzt über meinen Wagen ihre mit Blüten-Girlanden umwundnen Arme reichen und die auf jedem Arm eine neugeborne Welt voll singender, voll honigtrunkner Kinder tragen und sie bebend auf- und niederwiegen. – – Ja, in zwei Stunden springen am Frühling alle Tore seines griechischen Tempels vor mir auf – und seine Mauern fallen um – und ich schaue hell zwischen seine Waldung von Säulen hinein, aus denen überall Blütengehänge und Laubwerk bricht – und dränge die Augen durch das Gewimmel von Sonnenaltären und Altarlichtern und Rauchwolken und Chören hindurch – und dann lass' ich sie ruhen an den aufstrebenden Alpenpfeilern, die das blaue Tempelgewölbe tragen, bis sie sich erheben und sich oben am Portal des hereinbrennenden Glanzes gesättigt und geblendet schließen. – –

Aber heute nicht! – Heute ist der Spiegel meiner Seele mit einem Dunste angelaufen, den ja wohl die Blicke auf ein Schlachtfeld im Auge wie in der Seele zurücklassen durften. Sondern morgen, wenn der Schlaf diesen Dunst weggewischt hat, wird die grünende Natur ihren zitternden Widerschein in meiner hellern Seele beschauen, und wenn sie ihr Lächeln und ihre Glieder vor mir regt, so wird sich mein Herz bewegen, und es wird allemal zittern und lächeln wie sie. – – Nein, heute will ich nichts sehen! Ach! mein Herz schwillt auch ohne das von Minute zu Minute mehr von den Bienenstichen auf, die ihm der Gedanke gibt, weswegen und wohin ich komme – welche Geschichte ich hier im singenden Lustlager des Frühlings niederschreiben muß – und welche himmlische unvergängliche Gestalten das wunde Auge meiner Phantasie unter dem Abzeichnen anzublicken hat, vor denen es sich wohl hundertmal voll und dunkel wird abkehren müssen, ohne die Züge gesehen zu haben, die ich malen will. – – O! wie könnt' ich heute abends fröhlich sein und den Frühling ansehen? –

Abends um 5½ Uhr. Das Schicksal zieht unser dünnes Gewebe als einen einzigen Faden in seines und kettet unsre kleinen Herzen und unsre nassen Augen als bloße Farbenpunkte in die großen Figuren des Vorhangs, der nicht vor uns herniederhängt, sondern der aus uns gemacht ist. Jetzt spielt es neben mir und mit mir und will es, daß ich weiß, es spiele. Warum soll es ihm wichtiger sein, die Facetten eines Käferauges zu schleifen und die Flughaut eines Schmetterlings zu befiedern, als den Gedanken eines Menschen zu wenden und zu kolorieren? – Schmelzende Körper zerfließen, wenn man sie erschüttert – – und mich erschüttert die unbekannte Hand in dieser weichen Stunde mit zwei widersprechenden Tönen, gleichsam mit dem Zusammenläuten der Sturm- und Harmonikaglocken auf einmal.

Ich höre nämlich eine Singstimme und eine Sterbeglocke....

Jetzt schwankt mein Wagen, sich zurücklehnend und wiegend, zwischen den Koloraturen der Abendstimmen den Berg hinauf, wo ich wohnen will – der Tag stirbt sanft im Blütennebel an seinem Schwanengesang – die Alleen und die Gärten reden wie gerührte Menschen nur leise, und um die Blätter fliegen die Lüftchen und um die Blüten die Bienen mit zärtlichem Gelispel – nur die Lerchen steigen wie der Mensch schmetternd in die Höhe, um dann wie er schweigend in die Furche zurückzufallen, anstatt daß die große Seele und das Meer sich ungehört und ungesehn in den Himmel erheben und rauschend und erhaben und befruchtend, in Wasserfällen und Gewittergüssen, in die Täler niederstürzen. – –

Ein unaussprechlich-süßer Ton steigt aus einer weiblichen Brust wie eine zitternde Lerche auf, in einem Landhause am Abhange der Bergstraße. Sie tönt, als wenn der Frühling singend aus dem Himmel flöge und in einem entzückten Tone aushaltend mit aufgeschlagnen Flügeln so lange über der Erde hinge, bis Blumen zu seinem wallenden Lager unter ihm aufgesproßt wären. – – Aber deine Zunge, grausame Tonkunst, zieht sich, wie die Löwenzunge, so lange kitzelnd und wärmend auf dem nackten Herzen hin und her, bis alle seine Adern bluten.

Und hart greift in diese Singstimme das Geläute ein, das aus einem Kloster hinter Neuengleichen dringt. Es ist das sogenannte Zügenglöckchen, das die Mönche immer ziehen, wenn ein Mensch im Sterben ist, damit eine sympathetische Seele für den Liegenden bete, um den der letzte Engel eine Nacht gezogen, um ihm darin das Herz abzulösen, wie man uns beim Ablösen der Glieder die Augen zubindet. – Wenns auf mich ankäme, scheidender Unbekannter, ich würde die Totenglocke halten und sprachlos machen, damit jetzt in deinen verfinsterten Totenkampfplatz kein Nachhall der entfallnen Erde hineintönte, der dir (weil das Ohr alle Sinne überlebt) so grausam die Minute ansagt, wo du für uns verloren bist, wie sich aufsteigende Luftschiffer durch einen Kanonenschuß den Augenblick melden lassen, wo sie vor den Zuschauern verschwinden. – – Aber ich tät' es heute auch um meinetwillen, weil die zwei Töne wie die Parzenschere auseinandergehn und dann zusammenfallen und dann tief im wunden Herzen aufeinanderschneiden....

Ach, führet keinen Menschen, dessen Wunden nicht alle recht fest verbunden sind, in den Tempel des Frühlings! Die süßen Wallungen drücken sonst das Blut durch seinen Verband. – Aber wie Ärzte die Verbluteten in eine horizontale Lage bringen lassen: so legt ja der Schlaf (oder der Tod) jeden Verbluteten in die waagrechte Lage, die alles stillt....

– Ich komme jetzt an – aber ich trage mit geschloßnen Augen eine Brust, die jetzt zu sehr zittert und schlägt, bloß unter den warmen dunkeln Flügel des Schlafs – – – und kniee erst morgen vor dem Frühling nieder....

Nachts um 12 Uhr. Ach! ich konnt' es nicht – ich hab' alles gesehen, und nicht längst ist die nachglühende und überwölkte Seele gleich der Nacht wieder heiter und kühl. Was ich jetzt male, ist das Bild eines kränklichen fieberhaften Herzens; aber der Gesunde höre vergebend die schmerzlichen Fieberträume seines liegenden dürstenden Freundes an und sage sich immer: »Der Kranke wird sich auch wieder aufrichten, und du wirst dich auch niederlegen, und dann wird er ebenso nachsichtig an deinem Bette stehen.« –

Als der Wagen oben auf der breiten abgerundeten Platteforme des Berges, die lauter blühende konzentrische Zirkel von Lusthecken und Lusthainen bedeckten, stille stand und seine Türe wie eine Jubelpforte des Frühlings aufging: so glitt mein Auge unwillkürlich auf etwas nahes Glänzendes hinaus: es war ein um den Berg laufender Zauberkreis von Buschwerk aus der weißen Nessel (urtica nivea), deren Blätter mit ihrer schwarz angelaufnen obern Seite und einer blendend-weiß geschminkten untern einen blutroten Blattstiel und drei rote Adern prächtig grundieren. Der Wind wühlte dieses Blut und diesen Schnee und diesen Ruß untereinander und griff den schwermütigen Dreiklang auf diesem bewegten Farbenklavier. Und als ich in dieses blutige Ineinanderflattern sah, zog der erste gelbe Schmetterling dieses Jahrs darüber hinweg und den Berg hinab; und herauf flogen unbehülflich drei Pfauen mit ihren niederhängenden Farben-Schleppen und schauten, einsinkend, sich auf der Lusthecke um nach den nächsten Ästen des Kastanien-Zirkus, um darauf zu übernachten. – –

Nun übermannte der Frühling meine Seele, und ich vergaß alles und stürzte mich hinein ins Meer der Natur. –

Ach! ich wurde nicht glücklich....

Der große Frühling hing über der Welt wie ein breites, mit Licht und Glut und Naß gefülltes Gewitter und goß seine leuchtenden Lebenstropfen in einer unübersehlichen Katarakte nieder – und aus allen Pulsadern und Saftröhren sprang der Gewitterguß wieder in Fontänen auf – und aus dem schwellenden ausgebreiteten Lebensstrome ragten die Menschen nur wie Wasserpflanzen hervor und die Erden wie Klippen – und unter dem schöpferischen Brausen gingen die kleinen Stimmen der erquickten Lebendigen nur wie Gewitterstürmer und Glockengeläute umher....

Aber über das wie eine Konchylie geschloßne liegende Herz zog das große Meer vergeblich: nur der aufgerichtete Schiffer, nicht der hinabgezogne Täucher kann den Ozean fassen. In solchen Stunden ist der Mensch nur für Menschen, nicht für Götter gemacht, und die von einem zu schweren Tropfen gebückte Sonnenblume kann der Sonne nicht mehr folgen.

Ich schämte mich der Erweichung, als ich vor der blühenden Natur stand, die vor dem brennenden Abend wie vor einem roten sphärischen Spiegel purpurrot anlief – als die Berge aufstanden und die blaue Waldung und den Frühling mit ewigem Schnee durchschnitten, wie hohe weiße Hagelwolken das Himmelsblau – als die Sonne schon auf dem weißen Gebürge lag, in das Goldgefäß der letzten Wolken als ein vergangnes Herz der Himmelskönigin gelegt, wie oben auf Trajans Säule die Asche seiner Hülle in einer goldnen Urne steht. – – Aber alle Zweige der zu weichen Sensitive in mir fielen unter der Berührung der schöpferischen Hand zuckend zurück und konnten nichts ertragen als eine zweite Sensitive; in der erhabnen Einsamkeit sagt dann der verlaßne Mensch: »Allgütiger, erscheine mir heute nicht so groß, erscheine mir lieber in einem geliebten Bruderangesicht, an diesem will ich mich verhüllen und es unaussprechlich lieben.«

Mich drückte eine Stockung der Empfindung, ein banges Zwielicht zwischen heller Freude und dunkler Trauer, wogegen es nur zwei Mittel gibt: entweder jene oder diese zu verdoppeln. – – Ach! das letztere war leichter... Wenn dumpfe namenlose Schmerzen sich ans Herz anlegen: so gib ihnen größere Stacheln, damit sie es tiefer ritzen; und das wegfließende Blut macht den Busen leichter, so wie ein kleiner Riß einer Glocke einen dumpfen Klang nachläßt, bis ihr ein weiter den hellen wieder schafft.

Ich ging zu meinem Wagen und opferte den Wein, der den Musen zugehörte, dem Genius der Trauer. Und als ich trank vor der hinabglühenden Sonne – und als es um die Brandstätte der niedergebrannten Sonne weit umher rauchte wie Blut – als die Rauchsäulen des Dorfs unter mir den Goldrand des Abends, der an der grauen Masse glimmte, ablegten und sie wie aufgerichtete Regenwolken emporstanden – als auf den Wassern eine düstre Leichendecke über die hüpfenden Brennpunkte und schillernden Farbenpulver gebreitet war – und als alle Schlösser und Wälder und Berge solche vom Abendglanze in die Luft gezogne Gebilde waren, wie sie die Feuerwerke der Menschen schaffen: so stellte meine tränentrunkne Phantasie auf die rote Begräbnisstätte der Sonne alle Gestalten und Zeiten, die mich je betrübt oder verlassen hatten – ich hob alle mürbe Leichenschleier auf, die in Särgen lagen – ich entfernte den erhabnen Trost der Ergebung, bloß um mir immerfort zu sagen: »Ach! so war es ja sonst nicht – tausend Freuden sind auf ewig nachgeworfen in Grüfte, und du stehst allein hier und überrechnest sie.«...

Jetzt war es leichter, traurig zu werden; aber ich wollte die ganze dünne Brücke, die die Vergessenheit über den Höllen- oder Fegfeuerfluß des Kummers schlägt, abbrechen. – Und da ich mir ferner vormalte, wie viel mir jeder Frühling genommen und wie wenig dieser gebe – wie langsam unsre Weisheit, wie langsamer unsre Tugend zunehme und wie so schnell unser Alter und die Scheiterhaufen unserer Freuden und Freunde – und da ich daran dachte, daß im Tode nur wenige Schuhe Erde, aber im Leben die ganze Erde mit der Schwere ihrer Foderungen über unsre schwache Brust gewälzt sei, wie über jenen Riesen der Ätna: so fragte mich unaufhörlich etwas in mir: »Bist du denn noch nicht traurig genug? Siehe! wie bist du allein! wie siehest du mit so nassen Augen in den aufblühenden Frühling! Und bist du nicht tausendmal so mit dieser zusammengedrückten schmachtenden Brust vor der unermeßlichen Fülle des Himmels gestanden? O, wie bist du arm und allein! – Kannst du deine Hand ausstrecken in den Nachthimmel und die zu dir herunterziehen, die hinübergeflogen sind? Kannst du die vergessen, die dich vergessen haben? – Dürftiger! Dürftiger! schlage nicht das ganze zerrißne Buch der Vergangenheit auf – zähl es nicht wieder, wie manches Glück, wie manches Jahr, wie mancher Freund darin durchstrichen ist. – – Bist du noch nicht traurig genug?«

Ich konnte nicht Nein sagen; und als ich dachte: »das ist der erste Mai«, so war es genug....

Aber nach einer erschöpften verdunkelten Stunde sah ich gen Himmel, und der Mond schwamm in seiner blauen Mitte – ein Nachtwind wühlte sich durch den ganzen betauten Frühling und warf einen Wasserstrahl von der Kaskade, an der ich lag, erquickend in mein brennendes Angesicht. – Und als noch dazu drei Windmühlen anfingen durch die Nacht zu schlagen und als unten im Grün des tiefen Dorfes aus dem Hause eines Töpfers eine gebogne Flamme sich zwischen den grünen Gipfeln auseinanderrollte und aufbäumte: da war mir, als höbe das Wehen den beladnen Busen vom Herzen ab und in der aufgedeckten abgekühlten Brusthöhle wieg' es sich jetzt ohne Last und stet und in einem kühlern Dunstkreis als in der Seufzer ihrem. – – Es war mir, als wenn die gegen Morgen rückende Abendröte heller blühte, weil ein Engel in sie geflogen sei, der meiner Seele vorher zugelispelt habe: das Buch eurer Vergangenheit, Menschen, ist nur ein Traumbuch, das das Widerspiel der Zukunft bedeutet. – Der Abendschmetterling der Zeit, der in der Dämmerung und nahe auf den Gräbern mit Totenköpfen auf den Flügeln und mit ängstlichen Lauten im Saugerüssel mich umkreiset hatte, war, je weiter er gen Himmel stieg, unterweges eine unsterbliche Psyche mit glänzenden Schwingen geworden.

Ich stand auf und ging sanft überweht in den dämmernden Lustgängen – und die Maikäfer rauschten um mich, und der Nachtschmetterling deckte seine offnen Flügel auf die Schlehenblüte, und die flüssige Schnecke wallte unzerritzt die Dornen hinauf. – Denn die Nächte des Frühlings gehen über die Erde nicht einsam wie die unfruchtbaren Wintertage, sondern wie glückliche Mütter, und tausend spielende Kinder hüpfen ihnen leise nach. – Aber ich war ein Kind, das nicht längst geweint hatte. – Und als ich das alles gedacht hatte: sah ich, gleichsam um Verzeihung flehend, auf die Erde, und der dunkle blutige Gürtel von der schneeweißen NesselDieses am Tage dunkelgrüne Gewächs hebt zu nacht die Blätter empor und sieht mit den aufgerichteten untern Blattseiten ganz weiß aus. faßte mich und seine Gärten mit einem blühend-weißen Zauberkreis und Mondhof ein. –

Ich schauete zum hellen, in Abendröte gefaßten Nachtblau hinan, und mein Blick fiel auf die Goldzinne eines unter dem Monde schillernden Gewitterableiters. –

Ich blickte endlich auf zum Sternenfeld, und die ewig-blühenden Lilienbeete zitterten droben und schläferten mit sanften Betäubungen unsre brausende Seele ein, wie Kinder durch Lilien im Schlafzimmer einschlummern....

Nun lag ich ganz in den Armen des Frühlings und spielte mit den großen Blumen seiner Brust. – – O! du Allgütiger, ich bin ja noch in seinen Armen – und in deinen!


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