Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Jean Paul

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Ich und Eva zogen vor dem umzingelten Maienbaum vorbei nach einem stillern Orte, wo tiefere Fahnen knarrten; wir fanden im bunten Kirchhofe niemand, nicht einmal den Kantor. Der Hof war wie ein englischer Garten voll weißer Obelisken, liegender Götterstatuen im Grünen, aber die Ruinen waren unter der Erde – die palmyrischen Rudera der zerschlagnen Seelen-Tempel deckte der blühende Boden mit großblätterigen Blumen zu. Die Hintertüre des Hofs war wie Zausens Höhle darneben schon offen; und aus der auf einem Hügel zerfließenden Sonne rann ein breiter Scharlachstrom von Abendlicht durch die aufgezogne Schleuse des Tors herein, und man sah – wenn man sich ins Gras hinein bückte – die grünstämmige Blumenwaldung vergrößert und auseinandergerückt in den dunkelroten Gängen des tiefen Schimmers mit den Blumengipfeln aneinanderschlagen. Ich und Eva setzten uns auf eine bunte Anhöhe, die gleichsam einen neuen Blumenbusch an den unter ihr wohnenden Busen steckte, auf dem der mitgegebne kleine längst zerfallen war.

Endlich sah ich drüben den Kantor vorauskommen: er konnte mich besser erkennen als ich ihn im blendenden Abendglanze. Indem ich jetzt noch einmal Evas Ausschlagen seiner Hand bedachte und zufällig mit meiner in die Tasche kam: geriet ich auf einen Gedanken, von dem mehrere es mit mir bewundern werden, daß ich so spät darauf verfiel. »Schönste Tochter,« – sagt' ich – »hierum müssen wohl die Gräber Ihrer sel. Eltern liegen – wenn wir nicht schon auf einem davon sitzen –, die es auch haben wollten wie ich, daß Sie den Herrn Aktuarius juratus nimmt. Und Sie hats ihnen so heilig gelobt. – Bricht Sie Ihr Wort: so ists soviel, als schlägt Sie nach Ihren sel. Eltern im Grabe. Und wie es solchen Kindern, wenn sie selber hineinkommen, ergeht, davon sah' ich heute ein betrübtes Exempel im Gerichtsschrank: sie stecken nämlich ihre verruchte Hand daraus hervor. Hier trag' ich eine in der Tasche bei mir.« – Ich brachte sie hervor und hielt ihr sie hin. Sie sprang bestürzt vom Grabe auf und sagte weinend: »Wenns Gottes Wille so sein soll: so hab' ich auch nichts dagegen – in Gottes Namen!« Jetzt rief ich und winkt' ich wie besessen dem Kantor: er sprengte heran. Ich ergriff schleunig Evas Hand und drückte sie in Schnäzlers seine und sagte: »Gebet einander die rechte Hand und saget Ja – und der Herr segne euch und behüte euch – und kommt recht spät in den Kirchhof, ausgenommen bei Lebzeiten, er zum Läuten und sie zum Grasen.« –

So schwärzte ich sie also aus einer profanen Frau zu einer geistlichen um durch die Pille, unter der ich oben den Kantor vorbildete und die jenen Pillen glich, die aus einem in acido vitrioli aufgelösten Silber bestanden und einen Patienten von Fuß bis auf den Kopf schwarz färbten (Neueste Mannigf. 2. Quart. 2. Jahrg. p. 414).

Das Leichenkondukt kam jetzt zum Tore herein und verbauete nur den glimmenden Hügel, der schon die Sonne verdeckte. Der Bergmann wurde hingesetzt und Herr Adjunkt allgemein ersucht, uns alle zu erbauen aus dem Stegreif. Er stellte sich hin, schneuzte sich, um doch etwas statt des Hauptliedes vorauszuschicken, und hob an: »Wirft der erprobende Christ und Nichtchrist teils auf die Bestrebungen menschlicher Tätigkeit Blicke, spürt er teils der menschlichen Vervollkommung schon in dem Begriffe eines vollkommensten Wesens nach: so« – – So und nicht schlechter fährt der Sermon fort, den ich kein Recht habe, hier nachzudrucken und das Honorar dafür zu ziehen.

Die Reihe kam an mich, der ich erst von einer Hochzeitpredigt herkam. Der Blasse wurde aufgedeckt – das Abendrot legte sich um die lebendigen Wangen und das Mondlicht um die erblichnen – die Gebetglocke summte aus – eine Lerche stieg noch über uns – und der Abendwind lief drüben in grünen Wogen über die Kornfelder, als ich anfing:

»Herr Amtsrichter Weyermann,
Herr Adjunktus Graukern,
andächtige Zuhörer und
guter alter Saus!

So wird dich in vielen Jahren kein Mensch geheißen haben, sondern Landstreicher oder so was – außer heute. In vielen Jahren sind nicht so viele freundliche Gesichter um deines gestanden – außer heute, wiewohl in deinen gefrornen Augen der schwarze Star des Todes ist. In vielen Jahren bist du nicht so bald zu Bette gegangen und so wenig durch Schenkwirte gestört worden außer heute, an deinem längsten Rasttage. Und dieses einzigemal, Alter, legst du dich nicht hungrig nieder und stehst nicht hungrig auf.... Oberseeser! ist einer unter euch zähe und mühsam zu rühren: so folg' er mir jetzt nach, wie ich neben dem alten Zaus nur einen Tag hergebe, weil ich seine Leiden, seine Mücken- und Sonnenstiche zählen will.

Wir wundern uns schon über das matte, gedehnte Erwachen des armen Mannes im Hirtenhause: es ist ihm nicht recht, daß die ruhige Nacht so hurtig abgelaufen ist, in der er nicht marschieren und nicht singen durfte; und müder als der Gemeinbote, hilft er sich aus dem Hirtenhause heraus, und draußen steht ein breiter, langer Tag vor ihm, der ihm nichts gibt und verspricht als das alte schmale Botenlohn von einem Heller vor jeder Haustüre. Auf etwas Neues, Sonderliches kann er sich nicht spitzen: ein Bettler, ihr Leute, hat weder Ostern noch Pfingsten, noch Sonntage, noch Marientage, noch Markttage in der Stadt – 365 Werkel- und Jammertage hat er in seinem bittern Leben und wahrlich nicht eine Stunde mehr... Ihnen, Herr Amtsrichter, Herr Adjunktus, brauchts als Gelehrten nie gesagt zu werden, daß nichts fataler ist beim Aufwachen, als wenn ein Alltags-Tag, ein ausgeleerter, prosaischer, tausendmal gefolgter oder gestürzter Treberntag vor der Bettlade steht und uns empfangen will. –

Wir wollen wieder hinter Zausen hersein: außerordentlich muß er laufen, zumal wenn ihn hungert, um nur ein Dorf zu erlaufen. Auf jedem Berge verspricht er sich, in eines hinabzuschauen; aber wie müde knickt er den Berg herunter, wenn er nichts gesehen als einen neuen, ebenso hohen! Er watet durch Kornfelder und nasse Wiesen hindurch, worin man ihn kaum sehen kann; aber der Segen Gottes gibt ihm schlechte Freude – er hat nichts davon, er darf daran nicht einmal helfen mähen, er geht in seinem Leben nicht wieder durch. Endlich lauft er in einem ritterschaftlichen Dorfe ein, wo Kirmes ist: überall riecht und raucht das beste Essen. Was hilft es ihm, wenn er unter lauter Tischgebeten herumgehen muß und an keinem mitbeten darf? Er faltet den Brandbrief, der wie sein Herz schon tausendmal zusammengebrochen worden, wieder auf und weiset ihn vor; aber das lustigste Kirmesgesicht setzt er durch seinen Brief plötzlich in ein verdrießliches um, und wie will er anders? Aber darnach fragt er auch nichts mehr, er fragt, seitdem er den Bettelstab statt des Fäustels ergriffen, nach der ganzen Welt nichts mehr – denn die ganze Welt fragt nach ihm nichts mehr, wiewohl sein braunes Hündchen christlicher denkt und auszunehmen ist. – Die ganze Welt soll ihn schimpfen und lästern, es tut ihm gar nicht wehe, er wird nichts mehr auf der Erde, so wenig wie euer Vieh kann er etwan ein Zweispänner oder gar ein Vierspänner, geschweige ein Schultheiß werden, eines Schulmeisters gar nicht zu gedenken. Ihr wollt alle haben, daß man eurer gedenke; er aber verlangt nichts, als daß man seiner vergesse. O du guter, jammervoller Mann! Seht, wir stehen jetzt alle um ihn; aber wenn dieser Tote in dieser Minute sich vor uns aufrichtete, so würde er nichts tun, als die welke braune Hand ausstrecken und sagen: ›Teilt einem armen Abgebrannten auch was mit!‹ und er würde uns drei Herren zuerst anbetteln. Ich würd' ihm von ganzem Herzen etwas geben: leerer Toter! wer könnte das metallne, eiserne Herz haben und einen eisernen Brief aufschlagen und ihn doch leer zurückgeben und dir die kleinste Freude versalzen, die auf der ganzen Erde nur möglich ist, die über eine Gabe? – Wer unter uns? Ach Gott! was hat denn der Bettler auf unsrer reichen, vollen Erde? Viel tausend Wunden und tausend Zähren und nur einen Heller. O wenn du aufwachtest, Alter, würdest du nicht in der Menschengestalt vor uns stehen, mit dem Magen, mit dem Herzen, mit dem Jammer eines Menschen? – Und verdienen wir etwas Bessers als du, mehr unsre großen Gaben als du die kleinste? O! was könntest du getan haben, daß du keinen Bergknappen hast, der mit dir einen Krug Bier trinkt, keine Frau, die dich pflegt und dich fragt, was dir fehlt, keine Kinder, die deine Finger spielend anfassen und dich sanft an ihren kleinen Busen hinunterziehen, sondern nur andre Kinder, die eher nach dem alten Manne boshaft werfen! – Wenn ich jetzt diesem geplagten Vieselbacher, dessen Herz doch schläft, so recht hineingehe ins zusammengeknitterte Gesicht voll Erde des Alters, mit dem fest an die obere Kinnlade heraufgestülpten Unterkinnbacken – in seine paar Haare, in die nicht Abendlüftchen geblasen haben, sondern reißende Stürme – in seine grauen Augenbraunen – in seinen leeren rechten Ärmel, wiewohl im linken auch nichts ist als ein Knochenpaar – in seine roten Augen, die er gewiß erst nach dem Tode und von keinen größern Stacheln holte als von Insektenstacheln – wenn ich das tue: so kann mich das wenig oder nicht trösten, daß der Tod schon alles gestillt hat, seine Augen und seine Wunden, sondern nur das, daß du, o großer guter Vater über uns, die schöne Einrichtung getroffen, daß uns angefallnen Menschen der zweite traurige Tag niemals so wehe tut als der erste traurige.

Ich sehe jetzt in eure Seele, Oberseeser: ihr wollt ihm gerne etwas geben; aber schauet auf zu den Sternen, er reicht seine Hand nicht droben herunter zu eurem Almosen und bedarf nichts mehr, keine Träne, keinen Leib nicht, diesen Sarg nicht. Aber er schickt seine Geschwister unter uns herum: o! wenn ihr in eurem Leben nur einen Bettler gesehen hättet: ihr würdet ihm alle geben und euch um ihn schlagen; anstatt daß ihr ihn jetzt selber schlagen lasset durch den Bettelvogt, weil es euch etwas Gewohntes ist.

Sinke aber endlich hinab in das breite Lager der Ruhe, auf dem so viele Tausende neben dir mit ganzen und mit abgefallnen, zerstäubten Rücken liegen! Unter diesen kleinen, grünen Häusern um uns wohnen nur Ruhige. – Du brauchtest keinen Abendsegen im Leben, weil dich die Nacht viel weniger anfiel als der Tag – und jetzt, da der schwere Tod sich über deine Augen und Ohren gelegt, hast du ihn noch weniger vonnöten. Gehe sanft auseinander, altes, gedrücktes, oft zerbrochnes Menschengerippe! Kein Kettenhund, kein Bettelvogt, kein wütiger Hunger erschrecken dich mehr und treiben dich auf. – Aber wenn du dich einst aufrichtest, so wird ein andrer Mond am Himmel stehen als jetzt, und deine freie, ewige Seele wird groß und reich unter alle Menschen treten und sie alle um nichts mehr bitten! – Ihr Lieben, wenn wir fortgehen, so legt sich der Tod stumm zu ihm hinein und nimmt ihm sanfter als den rechten Arm die übrigen Glieder ab, in denen noch alle unsre Schmerzen fortreißen. Aber wenn wir uns aus dieser stillen, ungezählten, unter dem Grün schlummernden Gesellschaft absondern und wieder näher in die frohen Töne treten, die wir jetzt schwächer in den Gottesacker herauf vernehmen und nach denen eure Söhne und Töchter um den kurzen Abend flattern; wenn wir von hier weg sind: so wollen wir doch an alles das denken, was wir hier entweder zurückgelassen – oder zugedeckt – oder angehört – oder bejammert – oder beschlossen haben. Amen! Und gute Nacht, alter Mann!« –

*

In wenig Minuten deckte ihn auf immer die Erde mit ihrem dunkeln, von Blumen durchwirkten Kleide zu. – Ich will den kleinen, leichten Rest der Geschichte den traurig-schönen Gefühlen guter Leser durch Verstummen opfern und schweigend mit meinem Buche von ihnen weggehen, damit ihr feuchtes Auge voll Träume noch einige Minuten auf dem letzten und tiefsten Schachte, worein unser armer Bergmann verschwand und dessen Auszimmerung und Grubenlichter und schimmernde Adern wir alle nicht kennen, suchend und sinnend ruhen bleibe, besonders da sie, wenn sie an dem, der jetzt fortgeht, oder an sich selber heruntersehen, an jenem und an sich den ganzen Berghabit zur Einfahrt schon erblicken....

Ende des ersten Teils


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