Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wir gingen inzwischen nach Hause; der Stadtrichter dachte und philosophierte unterweges und merkte an: »Die armen Leute bilden sich Königreiche auf ihre abgeschälte Stange ein: jetzt möcht' ich wissen, wie sie sich erst gebärdeten, wenn sie einen beträchtlichen Posten im Staate bekleiden sollten, oder nur meinen.« – »Oder vollends, Herr Stadtrichter, wenn solche Kleinstädter lange Ordensbänder und drei Kammerherrn-Knöpfe tragen dürften. Ich denk' aber, sie blieben dann nicht lange bei Verstand: ach! es ist so leicht, ein Narr zu werden! – Ich habe in großen Städten die bescheidensten Dragoner gekannt, welche wie Frösche aufliefen, wenn sie auf dem Theater bei den Ritterschauspielen stumme Feimer machen mußten oder andre Justizpersonen von Belang.« – Wir arme Teufel allzumal dürfen entweder alle prahlen oder keiner. Bei Gott! ich tat im vorigen Herbst unrecht, daß ich über die vielen Kunstgärtner aus mehrern Städten den Stab brach, die sämtlich in die fetten Stachelblätter einer Aloe ihren Namen als in ein Buch des wachsenden Lebens eingesägt hatten. Der Name eines Menschen muß irgendwo haften wie in einem Belobungspatent; und ich beteure, verewigte ich nicht den meinigen auf Schriften, ich würde ihn auf der Höfer gefrornen Saale einkratzen und einfahren mit dem Schrittschuh – oder (wär' ich ein andrer Professionist) auf Messer- und Degenklingen – auf Fensterscheiben – innen auf Gefängnisgittern – auf einen neuen Darm oder Wurm darin, den ich zuerst entdeckte und den die Gelehrten nach dem Namen des Erfinders nennen müßten – oder (wär' auf der Erde nichts Neues mehr) auf einen neuen Klecks im Mond, oder Funken am Himmel – als Edelmann auf das Halsband meines Hundsstalles – als Huter ins Hutfutter – als Tischler buntfarbig an Särge – und als Leiche an meinen eignen, damit der Sterbliche und seine Unsterblichkeit nebeneinander hinuntergingen und zusammen verstäubten....

Ich kann den schweren Gedanken nicht ertragen, daß irgendein Mensch und Mitbruder, und wär' er noch so wenig, so ganz vergessen sein soll, durch so viele Jahrhunderte hindurch, daß die Heere der Jahre und Menschen so unachtsam über seinen unbedeckten anonymen Staub wegschreiten sollen. Es gibt aber einen Trost für uns alle, und das ist der, daß, wenn unser Gedächtnis und unser Namenszug auf der Erde ausgewischt und ausgetreten ist bis auf den letzten Endbuchstaben, daß es dann gleichwohl, so wie des edlen Friedrichs II. Name als astronomisches Sternbild in ewigen Sonnen brennt, noch ein unendliches Herz gibt, in dem die Namen seiner kleinen Unsterblichen in lichten Zügen glänzen und nie verlöschen. Und der kleinste Mensch empfängt von ihm zwei Unsterblichkeiten auf einmal. Gleichwohl oder eben darum sollten wir den niedrigsten Menschen-Namen nicht zerfallen lassen. – –

Abends trug uns die wandelnde Pygmalions-Statue das Nachtmahl und Herrenbrot auf eine lange Herrschaftstafel im luftigen, mit Abendröte und Abendkühle verschönerten Refektorium. Ich und der Stadtrichter konnten uns über die Tafel nicht mit Gabeln erreichen. Evas Reize drehten sich um uns blendend wie Spiegel in der Sonne und wie umlaufende, gleichsam Juwelen auswerfende Kronenleuchter: sie war, ob ich gleich ein Seraphinen-Ritter war, doch gegen den Gerichtshalter ehrerbietiger und stummer, weil sie unter seinem Zepter stand und weil er weniger mit ihr sprach als der Ritter. – Aber den Salat schleppte der Sequester herauf: »Die Kanaille« – sagte der Bauer – »versteckt sich drunten und will nicht eher 'was bringen, bis der Schulmeister wieder 'naus ist.«

Dieser kam vorher herein. »Es ist mein Aktuarius juratus,« (sagte Weyermann) »namens Schnäzler.« – Aus einem Räderwerk von Rädertieren und aus einem Teig von vibrierenden, krabbelnden Infusions-Tierchen war er zubereitet: er schnellte sich wie ein Käfer weiter und schien ein auf die zwei letzten Füße gestellter Vielfuß zu sein, an dem im Gehen hundert müßige, waagrechte Füße oszillierten; er hatte auf der Stubendiele den Gang des Springers im Schach, und jeder Sessel war sein Reitstuhl und Schaukelpferd. Er war zu allem, was sein Prinzipal wollte, schon fertig – gab jede Antwort schnell dreimal hintereinander – wollte alles machen, hatte schon alles gemacht – sein häufiges Selah und seine clausula salutaris war: »Ei herrlich und gut!« – er erhielt sich dabei auf nichts als auf den schaukelnden Fußspitzen. – Als Weyermann mit ihm fertig war, fragt' ich ihn: »Wie ich höre, Herr Kantor Schnäzler, hatte Er eine recht hübsche Braut?« – »Ei«, sagt' er, »ich habe sie noch – sie ist gegenwärtig sequestriert, und ich bin ihrer gewärtig nolens volens. Das Fieber hat zwar mein Haupthaar mitgenommen; aber ich seh' sonst gut aus. Gnädige Herren, es hat mir weiter niemand die Suppe eingebrockt als der Ranzenadvokat drüben, der setzt auch an sie.« – Mit einem Eulerschen Rösselsprung war er über das Stubenschachbrett hinüber und sagte am Fenster: »Ja! ja! sie schlagen dem bösen Menschen die Pflaster noch über: sie haben ihn erst gestern braun und blau geprügelt.« –

»Das muß morgen scharf untersucht werden«, sagte der Stadtrichter freudig.

»Ei herrlich und gut! Es ist nur ein schlimmer Vogel. – Er möchte aber immer einen Zopf haben, so lang wie mein rechtes Bein, er hätte mir nichts anhaben sollen: aber der Teufel red't aus ihm, und er machte der Eva weis, er zög' in die Stadt und machte Advokaten-Schriften, und dann, wenn er unser Herr Gerichtshalter wäre, so käm' er wieder heraus, und dann, sagt' er, sei Gott dem Oberseeser gnädig, der nicht sechs Reverenzen macht, wenn ich oder meine Frau zum Fenster 'naus niesen. Aber aus dem Schulmeister, sagt der Lügner, kann nichts mehr werden: gnädige Herren, Sie sollten einen oder den andern geistlichen Vers sehen, den ich Gott zu Ehren dichte.« – »Ich will ein ganzes Lied davon sehen, Herr Schnäzler«, sagt' ich und zog mit dem erstaunten Dichter zum Schlosse hinaus. Er kam nicht eher als vor dem Fenster des Ranzenadvokaten zur Besinnung, wovor er mich dicht vorüberführte.

In seiner Stube, die kein andres französisches Schloß hatte als ein otaheitisches, nämlich fremde Ehrlichkeit, war, wie sie, alles offen, nämlich alle Gesangbücher, das Berliner alte und neue, das Baireuther alte und neue, das Scheerauer alte und neue. Bekanntlich haben poetische Steiß- und Fuß-GeburtenWeil der Reim und die pedes zuerst zur Welt kommen. wegen ihres frühen Ablebens das schöne Recht, in die Kirche begraben zu werden – d. h. Verse, die nicht zum Lesen taugen, können doch wie die alten gesungen werden unter der Orgel. Gleichwohl war man in neuern Zeiten auf eine Blutreinigung der geistlich-poetischen Ader aus, und aus den Gesangbüchern wurden Zeilen, Strophen und Lieder ausgejagt, die, obwohl keinen guten Sinn, doch auch keinen schlimmen hatten. Der Kantor Schnäzler fing inzwischen diese durch den Gesangbuchs-Ventilator entwischende fixe LuftFixe Luft gibt bekanntlich den Bieren und Gesundbrunnen den Geist. zusammen, die stets alten Liedern und schalen Bieren den Geist gibt; ich meine, er verglich das alte und neue Gesangbuch und kehrte die schönen Stellen des alten, die die ästhetische Tempelreinigung aus dem neuen weggefegt hatte, wieder auf einen Haufen und schlichtete wirklich dieses Raff- und Leseholz zu guten besondern Liedern zusammen. Er konnte mir zwei schöne zeigen, die ein vollständiger index expurgandorum des baireuthschen waren. Es würde gefruchtet haben, wenn man bei den Lieder-Unruhen in Berlin den singenden Insurgenten eine solche in Reime mit unendlicher Mühe zusammengeschobne Kolonie aller Stellen, die aus dem neuen Gesangbuch emigrieren mußten, hätte anbieten können: Schnäzler zeigt uns in seinen Korrekturbögen, daß man ebensogut aus altdeutschen Versen wie aus den Archaismen und Phrasen altrömischer Verse – wie Gymnasiasten tun – versus memoriales zusammenwerfen könne. –

Ich weiß, in ganz Deutschland hatte kein Dichter einen so herrlichen Abend vor Johannis als der Liederdichter Schnäzler: er war so glücklich wie Gellert, zu erleben, daß einmal der Rang zur Dichtkunst ging, nicht diese zu jenem. – Ich versicherte ihm beim Abschied: »und wenn er mehr hitzige Fieber bekäme als Haare und so kahl bliebe wie ein Enten-Ei, und wenn der Ranzenadvokat ein Winterfell von lauter Weichselzöpfen umbekäme: ich wüßte recht gut, wer morgen abends die schöne Eva hätte.«

Ich bekenn' aber der Welt, ich hatte nur die erste Hälfte eines Plans ausgebauet: die Risse und Baumaterialien der zweiten foderte ich dem Handlanger Zufall als Baufronen ab. Es ist gleich einfältig, alles und nichts dem Zufalle oder der Zukunft zu überlassen.

Ich ging spät ins Schloß zurück mit einem der auffallendsten Entschlüsse; dem nämlich, an einen Reichs-Kanzlei-Verwandten in Wien zu schreiben.

Mit einem Wort, ich tats am Morgen, eh' der Stadtrichter aufstand. Ich nenne den Namen nicht; aber da er weiß, was ich ihm unter dem Vize-Kanzelariat für Dienste erwiesen, so wär' es eine kleine Erwiderung gewesen, wenn er nur mit dem WappeninspektorSo oder Wappenkönig heißt der Mann bei der Reichshofkanzlei, der bei der Erteilung der Wappen darüber wacht, daß keine Donatschnitzer gegen die Heraldik unterlaufen. drei Worte darüber gesprochen hätte, ich meine nämlich über meine Anfrage, ob nicht der Kantor Schnäzler zum Reichs-Poeten (poeta laureatus) zu kreieren sei. Ich kopiere hier aus guten Gründen das ganze Schreiben.

»Hochedelgeborner,
Insonders etc.                    

Ich sollte wohl hoffen, daß Ew. etc. sich noch der fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen erinnerten, wovon eine von den erstem ein gewisser Richter aus Hof (der hier die Ehre hat, an Sie zu schreiben), und eine von den letztern Sie repräsentierten auf der Kölner Redoute. Denenselben hing damals noch ein zweiter, aus Weinreben gesponnener Flor vor den Augen; und über die gegenwärtige Jungfrau ließ seitdem das Schicksal viel schwärzere Nonnenflöre niederfallen. Diese schöne Zeit, Freund, ist mit allen ihren 10 000 Auen und Millionen Blumen nun wie ein Schatz unter die Erde versunken.

Um auf die Absicht meines Briefs zu kommen: so hoff' ich, Sie sind noch mit unserm alten Wappeninspektor in Konnexion und er am Leben, dessen Rat Sie in einer Angelegenheit einziehen sollen, die einen noch wenig bekannten Liedermacher, den trefflichen Schnäzler, Schuldiener in Obersees, betrifft. Dieser geistreiche Mann hat nicht nur aus alten Gesangbüchern alles, was aus den neuen weggelassen worden, vollständig ausgehoben und zusammengehäuft, sowohl einzelne Wörter als ganze Zeilen, sondern er hat auch – was wir wohl bei einer kastrierten Ausgabe lateinischer erotischen Dichter finden, in der hinten zwar alle anstößige Stellen stehen, aber isoliert, ohne in den geringsten Nexus gefugt zu sein – aus diesen weggeworfnen Stummeln, hölzernen Beinen und Krücken schöne Figuren musivisch zusammengelegt, von denen wohl jeder Deutsche sagen muß: »Das sind geistliche Lieder!«

Insofern wird es Sie weniger wundern, daß ich wirklich gesonnen bin, bei der Reichs-Hof-Kanzlei um die Reichs-Laureatur oder um die Würde eines gekrönten Poeten für Schnäzlern nachzusuchen – besonders da er eine eitle Braut hat, die ihn nicht will, wenn er nichts wird. Ich wende mich aber jetzt mit der großen Bitte an Sie, sich unter der Hand beim Wappeninspektor oder bei einem Reichs-Hofkanzelisten gütigst zu erkundigen, wie ich meine Supplik eigentlich zu machen habe. Ich kann mir die verschiedensten Formularien gedenken. Die Hauptsache ist: ich weiß nicht, was die Reichsgesetze zu einem guten Poeten fodern, da es zwei ganz entgegengesetzte Arten oder Wege gibt, einer zu sein oder seinen Ideen die Vergoldung zu geben, nämlich die im Feuer und die kalte. Zieht die Reichskanzlei die kühlende Methode vor? Das wäre gerade die von Adelung, der nicht ohne Vernunft die Pegasus-Reiter gleichsam zur Degradierung unter das prosaische Fußvolk steckt. Von einem großen Dichter dieser Gattung wird, glaub' ich, verlangt, daß er den Definitionen, die er versifiziert, die sich aber durch den Reim und durch das Metrum von prosaischen unterscheiden, eine solche Deutlichkeit erteilt, daß seine poetische Welt, fast wie die physische nach dem Diogenes von Apollonien, bloß aus frischem Wasser besteht – ein Bestandteil, bei dessen Schöpfung der Schweiß des Musensohns, so wie bei andern kalten Fiebern, nicht nur unschädlich ist, sondern auch gut und sogar kritisch, anstatt daß das Schwitzen des MusenvatersDes Apollo zu Cumä. Cic. de divin. I. 43. sonst nichts anzeigte als Niederlagen. Solche Gedichte können nie klar, hell und deutlich genug sein, wenn sie jener Kälte, die auch draußen an heitersten Tagen am größten ist, nicht Eintrag tun sollen, welche auf eine unschädlichere Art als der physische Frost die Neigung zum Schlafe belebt. Adelung sieht recht gut, wie nachteilig der erschlaffenden Schreib- und Kurart starke Bilder und Flügel sind – wenigstens bringt der Leser die lebhaften Ideen in den erbeuteten Schlaf mit hinüber und gewinnt nur einen mit Träumen durchbrochnen, auffahrenden. – Daher dringt er so sehr auf Klar- und Planheit, gleichsam auf eine heitre Luft, die zu dünn ist zum Fluge. Kommt es vielleicht daher, daß in der Mythologie den Wagen des Tages flügellose Rosse ziehen und den der Nacht geflügelte? – Es tut überhaupt schon Schaden – denn es weckt –, daß man ein kühlendes Gedicht nicht ganz und gar aus reinen Reimen und Füßen machen kann, ohne Einmischung der geringsten Idee, wiewohl doch die bouts rimés und die über Verse gestellte leere Metra die Möglichkeit eines solchen Ideals zeigen. Silbenmaß und Reim aber ist in dieser edlern Prosa nicht nur kein Fehler, wie in der gemeinen Küchenprosa, sondern sogar eine wesentliche Schönheit und die größte. – Versichert mich nun der Wappeninspektor, daß die Reichs-Hof-Kanzlei hierin dem Herrn Adelung nach- und beitritt: so darf ich Schnälzlern als einen solchen kühlenden Poeten aufführen, als einen Vergolder mit ästhetischem Mattgold. Herr Rat Adelung behauptet zwar, dieses schöne kühle Zeitalter der deutschen Dichtkunst habe bloß von 40 bis 60 gedauert; er ist aber leicht mit meinem Schnäzler zurückzuschlagen, der noch lebt und das Muster der schlaffen Gattung nicht bloß darum ist, weil er unter solche geistliche Liederdichter gehört, die als figürliche zwitschernde Heuschrecken um die lutherischen Altäre in Gesangbuchs-Käfigen wie physische um die spanischen gehangen werden, sondern vorzüglich, weil er – anstatt daß jene kühlen Dichter ihr Frostwetter mit lauen Strophen unterbrechen und verderben, wie in die Winter schädliche warme Tage fallen, die die Bienen aus dem Winterschlaf reißen – sich niemals ungleich wird, wobei ihn freilich das meistens sinnlose Zusammenlegen des zerstreuten Auskehrigs sichtbar unterstützt. Einige solche Lieder dürft' ich dem Gesuche anbiegen.


 << zurück weiter >>