Maria Janitschek
Der rote Teufel
Maria Janitschek

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In den Gärten fings zu blühen an und die Wälder klangen von neuem. Doch niemand achtete dessen.

Ein anderer Frühling war in der Welt angebrochen und hatte ein Leben entzündet, schöner als jenes, das alljährlich sproß.

Ein hagerer, nicht mehr junger, unscheinbarer Mönch wars, der die Bewegung hervorrief, gewaltiger an Tragweite als je eine andere gewesen war. Nicht nur das Volk, auch seine Fürsten, harte, hochmütige Leute, die sich höher als andere dünkten, folgten dem Ruf des Mönches.

167 Clermont ist zum Mittelpunkt der Erde geworden. Von hier aus ertönt Papst Urbans Ruf: »Holt euch das Grab eueres Erlösers zurück, ihr Lauen, erfüllt euere Christenpflicht.«

Er weiht die klingenden Schwerter. Auf zum Kreuzzug!

Hinter den gottbegeisterten Helden, wie Gottfried von Bouillon, Boemund und der Schar ihrer wetterharten Krieger, tauchen die zernarbten verwegenen Gesichter von Europa's wüstesten Abenteuerern, Wegestrolchen, Vagabunden, Dieben und Räubern auf. Jeder fühlt Hoffnungen in sich erwachen beim Ruf, sich diesem Zug anzuschließen, der das edelste Ziel verfolgte, aber auch aller Verkommenheit Vorwand gab, sich Schätze zu erbeuten, Reichtümer zu stehlen.

Rufus rannte fluchend in seiner Burg in London umher. Wenn er da mitgekonnt hätte! Er, für den Wandern Leben war! Aber er konnte ja nicht fort aus diesem verdammten Lande, wo es täglich stärker zu gähren begann, wo man darauf lauerte, seiner los zu werden.

Mit glänzenden Augen ließ er sich berichten, wer alles an dem Zuge teilnahm, welchen Weg die Heere einschlagen würden, wie lange sie auszubleiben gedächten und so weiter. Und dann schüttelte er die Fäuste in ohnmächtiger Wut. War dieses heimtückische, verschlossne Volk wirklich wert, daß er seine letzten Jugendjahre ihm opferte?

Da traf ihn wie ein Schwertstreich die Nachricht, daß 168 Robert, sein Bruder, mit tun wollte. Der! Freilich, der brachte alles zustande in seinem grenzenlosen Leichtsinn, der ihn nie die Folgen seiner Handlungen erwägen ließ. Der auf die See, unter freien Himmel, Luft um den Schädel! Hölle und Tod! Doch halt! Nach Syrien marschieren, ging denn das so mir nichts, dir nichts? Gehörte nicht – Geld dazu? Geld, das war in dieser edlen Erobererfamilie schon feststehend, Geld hatte keiner ihrer Söhne, so viel sie auch zwickten und zwackten und preßten.

Robertchen, du hast kein Geld, alter Junge, du kannst wie ich, hinterm Ofen sitzen, und regieren. Aus ist's mit deinem Plan!

Rufus glich in diesen Stunden seinem getreuen Wasserspeier, er grinste vor Vergnügen, er gedachte des Waisenknaben über der Meerenge.

Da kam ein Bote, mehrere, eine ganze Schar Boten.

»Geld, König von England, Geld! Die Ehre deines Hauses steht auf dem Spiel. Versagst du dem Bruder das Darlehen, so kann er nicht an dem Zuge teilnehmen, an dem aus fast jedem Fürstenhause Europa's wenigstens ein Sprößling teilnimmt.«

Von Londons Straßen klang's in seine Burg hinein:

»Sir, unterstützt Euern Bruder, damit er die große Sache, die heute alle Welt bewegt, mitunterstützen helfe!«

Rufus brach nach Rockingham, nach Winchester, auf.

169 Aber überall hatten die Häuser, die Plätze, die Wälder Stimmen bekommen, die ihm zuraunten:

»Wilhelm, unterstütze deinen Bruder Robert und sichere dir damit dein ewiges Heil.«

Herzog Robert, was geht's mich an, daß du so schlechte Wirtschaft führst und deine Schatzkammer leer ist?

Was tut indes der mittellose Mensch, wenn er zu Geld kommen möchte? Er versetzt etwas. Oh, das liebe Mittel, das zu allen Zeiten so bekannt war!

Herzog Robert schickte neuerdings eine Anzahl Boten.

»Sir, Euer Bruder versetzt die Normandie, leiht ihm zehntausend Pfund Silber darauf. Tut es doch, soviel ist sie für alle Fälle wert.«

Da hörte Rufus boshaftes Grinsen auf.

»Versetzt sie um zehntausend Pfund Silber? Kann ich dabei ein Geschäft machen? Vielleicht! Aber wo, zum Teufel, nehme ich zehntausend Pfund Silber her?«

Flambard wurde gerufen.

Die Aufforderung, sofort Geld herbeizuschaffen, hatte die Form eines königlichen Befehls.

»Sir,« des Justiarius feistes Gesicht erhielt einen Schein wirklicher Ehrlichkeit, »ich kann nichts mehr auftreiben. Zahllose Klöster stehen leer, von den Abteien aber, die noch bestehen, erhebe ich bereits die höchsten Steuern. Sollen wir Hand an die heiligen Gefäße legen?«

»Schweig mir davon, wie du das Geld herbeischaffst, das kümmert mich nicht. Sorge nur, daß es herbeigeschafft wird.«

170 Die »Fackel« schwälte vor übergroßer Bemühung zu brennen, aber – es war kein Brennstoff da.

Noch ein letztes Mittel! Flambard wird es von den Kanzeln verkünden lassen, daß die Bürger ihren König bei dem großen Himmelswerk unterstützen sollen, das Volk muß heran. Das Volk! Es öffnete willig seine arbeitsschwieligen Hände. Aber nur arme Heller fielen daraus in die Opferstöcke.

Und wieviele Heller sind nötig, um zehntausend Pfund Silber zu geben! Ächzten sie nicht ohnehin unter dem schweren Druck unmenschlicher Lasten, die ihnen auferlegt waren, diese Kleinpächter und Bürger?

Indessen in der Burg König, Kanzler und Justiarius sich den Kopf zerbrachen, traten die Frauen der Großen, glücklich, für ihren Heiland ein Opfer bringen zu dürfen, an ihre Schatztruhen.

Albereta hatte kaum die Nachricht vernommen, Herzog Robert hätte seinen Bruder um ein Darlehen ersucht, damit er sich dem Kreuzzug anschließen könne, dieser aber wisse es nicht aufzubringen, als sie auch schon alle ihr vom König zugefügten Kränkungen vergessend, zu ihrem Gemahl eilte, ihn aufzufordern, Wilhelm beizustehen.

Troarn war wohlhabend. Er besaß mehrere Grafschaften mit vielen Dörfern, ausgedehnten Forsten und Ackerland, aber – Geld hatte er wenig.

Da ging Albereta kurz entschlossen zu ihrer Schmucktruhe, legte ihre Geschmeide und Kleinodien auf einen 171 Haufen zusammen, riß die kostbaren Edelsteinborden ihrer Kleider herab und gab Befehl, ihr einen Juwelenhändler zu schicken, der ihr all den Schmuck abkaufen würde. Ohne daß ihr Gemahl es wußte, veräußerte sie seine Geschenke und erhielt eine ansehnliche Summe Geldes.

Dann ritt sie zu Tyrells hinüber und fragte Adgife, wie viel sie gespendet hätte. Adgife geriet in leichte Verlegenheit. Sie hatte so viel Anderes im Kopf. Und offen gestanden, sie sähe nicht ein, weshalb sie den König unterstützen solle, der sich so unfreundlich gegen ihren Gatten benähme.

Albereta sagte flüchtig: »Ach, laßt den König außer Spiel. Herzog Robert unterstützen wir in seinem edlen Vorhaben, der König geht uns weiter nichts an.«

Innerlich dachte sie freilich: Wenn Robert zur Ehre des Erlösers streitet, vielleicht vergilt es der Herr auch dem Andern und rettet ihn.

»Gebt Adgife, gebt, Ihr seid wohlhabend, bleibt nicht hinter mir zurück, die ihre schönsten Kleinodien hingegeben hat, um sie zu Geld zu verwerten.«

»Euern Schmuck gabt ihr hin?« Adgife sah verblüfft Albereta an. »Doch zehntausend Pfund Silber, bedenkt, es ist eine hohe Summe, meine geringe Unterstützung wird sie nicht voll machen.«

»Wir wollen aber mit gutem Beispiel vorangehen. Gebt acht, die andern Damen werden sich von uns nicht beschämen lassen. Wir wollen tun, was wir können.«

Adgife gab so viel, als sie ohne Gautiers Wissen, der 172 heimlich dem König grollte, geben konnte. Es war keine kleine Summe.

Der edle Erzbischof Anselmus verpachtete sein Landgut Beckham, um Rufus zweihundert Pfund Silber überreichen zu können. Haimon zeichnete eine hohe Summe. Desgleichen blieben die Bischöfe und Äbte nicht zurück. Aquis gab tausend Pfund Silber.

Bevor Rufus noch Boten mit einer höhnischen Antwort an den Bruder geschickt hatte, waren zwei Drittel der Summe aufgebracht. Nun begann er zu überlegen.

Robert würde mit sich handeln lassen, vielleicht mit dieser Summe zufrieden sein. Und er, Rufus, er würde ein Geschäft dabei machen. Die Normandie nahm er zum Pfand, das Vexin aber, nach dem's ihn schon immer gelüstet hatte, das ließ er so nebenbei mitgehen.

Er ließ den freigebigen Spendern seinen allergnädigsten Dank ausdrücken und segelte ab, um Robert die Summe zu überbringen, und für drei Jahre von der Normandie Besitz zu ergreifen.

Mit neidvollem Herzen sah er den Bruder die Zurüstungen zur Abreise betreiben und war Zeuge all der brausenden Begeisterung, die aus Frankreich herüber drang. Nur eins tröstete ihn über seine eigne, ihm auferlegte Zuschauerrolle, der gute Fang, den er tun würde.

Als Herzog Robert mit seinen Truppen glücklich die Grenzen überschritten hatte, erwachte der alte Seeräuberinstinkt mächtig in Rufus.

Ohne lange Überlegung ritt er eines Tages mit 173 kleiner Gefolgschaft in Nantes ein, wo sein Vater sich den Tod geholt hatte, und ließ das Löwenbanner aufpflanzen. Wenn Louis Philipp sich dagegen erhob, um so besser! Der verweichlichte Sohn Heinrich I. würde wohl kaum um dieser kleinen Provinz willen rüsten lassen. Vom Papst mit dem Bann belegt, denn er hatte seine ungültige Ehe mit Bertrade noch immer nicht gelöst, von Mißtrauen und Unzufriedenheit umgeben, mußte Louis Philipp daran liegen, nicht neue Streitigkeiten herauf zu beschwören.

Kaum hatte Rufus ausgerechnet, wieviel Steuerzuflüsse ihm aus dem lieben Vexin in die Kasse fließen würden, als Gesandte des Königs erschienen, und schleunige Räumung des zu Frankreich gehörigen Gebietes forderten,. andernfalls es zur Abrechnung kommen würde.

Krieg also!

Der Sohn des Eroberers wollte dem verliebten Weichling keinen einzigen Schwertstreich ersparen.

Die Nachricht flog übers Wasser hinüber und erweckte nicht geringe Bestürzung.

Zur selben Stunde, als die Großen des Reiches, die Rufus nicht begleitet hatten, zu einer Beratung zusammentraten, stieg der erste Funke der Empörung aus Wales auf.

Sie hatten nur darauf gewartet, die ergrimmten Keltensprößlinge, daß der König den Boden Englands verlasse und anderwärts Beschäftigung finde, um sich wie ein Mann zu erheben und sein tyrannisches Joch abzuschütteln.

174 Aber Rufus war schnell wie der Sturm, als die Botschaft des Aufstandes ihn erreichte.

Bevor die Rebellion noch über die Berge von Wales ihre Feuer geschickt hatte, war er in England gelandet. Das hätte er in jedem Fall müssen, um sein Heer zu rüsten.

Mit geringer Truppenzahl ward der Aufstand niedergeschlagen, die Rädelsführer hingerichtet und wieder Ruhe hergestellt.

Trotz dieser schnellen Unterdrückung der Unruhen befand sich Rufus in bösester Stimmung, beleidigte die Minister und schickte Abgesandte zu Anselmus, die ihm die höchste Unzufriedenheit seines königlichen Herrn überbringen sollten.

Was waren das für Truppen, die ihm der Erzbischof gegen die Walliser gestellt hatte! Weder wären sie hinlänglich ausgerüstet, noch auch körperlich tauglich gewesen. Elendes, unbrauchbares Gesindel wars, gut genug um Schneider, nicht aber Krieger abzugeben! Anselmus solle sich bereit halten, vor dem Hofgericht zu erscheinen.

Der Erzbischof erneuerte sein Gesuch um Entlassung beim König. Seine Geduld und Milde war abgrundtief, aber er war Priester – ja, Mönch im Herzen – er war Gelehrter, zum Soldatenabrichten, zum Streiten und Kämpfen hatte er weder Lust noch Talent. Der König möge ihm doch einen Geleitbrief bis zum nächsten 175 Hafen geben, ließ er bitten, sein Wunsch wäre, nach Rom zu gehen.

Wilhelm fuhr zornig auf.

»Nach Rom! Narrheit! Was will er in Rom? Hat er etwa eine so schwere Sünde begangen, um der Absolution des Papstes bedürftig zu sein?« Und, setzte er hinzu, seine Grobheit mildernd: Gälte es nur einem Rat, Rat könne eher er dem Papst, als dieser ihm erteilen.

Doch diesmal gab Anselmus nicht nach. Er reiste schließlich selbst zum König, den er mit Robert von Meulant im Gespräch fand.

Als Anselmus dem König ruhig die Gründe anführte, weshalb er England verlassen wolle, wurde Rufus heftig, stampfte mit dem Fuß auf und rief:

»Oho, das wird eine Predigt, spart Euch das für Euere Schafe auf.«

Meulant wollte hinausgehen, doch Rufus befahl ihm zu bleiben. Er und der Erzbischof hätten nichts Geheimes zu besprechen, es handle sich lediglich um eine Laune des geistlichen Herrn, der gegenüber er aber hart bleiben werde.

Anselmus entfernte sich schließlich, wie immer mit Grobheiten und Vorwürfen überhäuft. Als er schon den königlichen Palast hinter sich hatte, bemächtigte sich seiner ein seltsames Gefühl. Er dauerte ihn, der dort hinter den stolzen Mauern sich im Fieber der Unzufriedenheit verzehrte. Es war Anselmus, als ob er dieses blasse, 176 herrische Gesicht, das einst in seinen Händen geruht hatte, zum letzten Mal sähe.

Gelassen schritt er durch die Wachen hindurch, nach dem Saal zurück, in dem der König noch mit Meulant sich befand.

»Erlaubt, Sir, daß ich als Euer geistlicher Vater Euch meinen Segen erteile.«

Überrascht blickte Rufus ihn an und neigte leicht erbleichend das Haupt vor ihm.

* * *

Anselm war bei den Großen und Reichen nie sehr beliebt gewesen.

Hatte er doch schon bald nach seiner Ankunft in diesem Land, ohne Rücksicht auf seine Zuhörer, die meist vornehmen Kreisen entstammten, zu Anfang der Fasten, gegen die Eitelkeit der Männer geeifert; gegen das gekräuselte, bis tief in die Augen hängende und die Ohren verbergende Haupthaar, den trippelnden Gang, die Schnabelschuhe mit ihrer wahnwitzigen Länge, die Unmasse goldner und silberner Kettchen, die bis ans Knie herab hingen. Ja, er hatte erklärt, daß er keinen, der sich »das Haar nicht beschöre, zum Empfang der Cineres« zulassen würde.

Trotzdem ihm also die vornehme Jugend nicht besonders geneigt war, die Hochachtung, die ein makelloser Charakter sich erzwingt, die besaß er. Liebe fand er hauptsächlich in den Schichten des Volkes, das gewohnt 177 ist, nur das Herz zu beurteilen. Unter diese letztern Anhänger gehörte auch Albereta.

Voll Bestürzung eilte sie, nachdem das Gerücht, daß er nun wirklich England verlasse, auch zu ihr gedrungen war, nach der St. Albansabtei und bat um eine Unterredung mit ihm.

Er erinnerte sich ihres Namens, und obwohl seine Zeit überaus in Anspruch genommen war, willfuhr er ihrem Wunsche und erschien.

Wieder stand sie ihm gegenüber, von dem so viel Frieden und Beruhigung ausging. Sie fragte ihn bedrückt, ob es wahr sei, daß er fortginge und seine Getreuen verließe. Er bejahte die erste Frage, doch die Getreuen verließe er nicht. Was sich lieb hätte, für das gäbe es keine Trennung, denn das Land der Gedanken beherberge es gemeinschaftlich wie früher der gleiche Boden.

»Wißt Ihr noch, Herr Erzbischof, wie ratlos ich damals bei Euch ankam? Ihr sagtet mir nur ein paar Worte, aber sie haben meinem Leben eine andere Wendung gegeben. Ich hatte und habe unwankbares Vertrauen zu Euch. Ich fühle es, daß Ihr Euerem Herrn, nicht den König meine ich, wirklich treu anhängt, ohne sich seiner zu schämen. Ja, mein Vater, schämen! Es ist das richtige Wort. Sie schämen sich, denn sie wähnen Gott zu dienen, vertrüge sich schlecht mit Tapferkeit, Mut, Klugheit. Und doch ist der Tapferste der, der sein Leben gering achtet und der Kühnste der, dem die Erde 178 mit allem, was sie bietet, zu eng ist, der weiter ins Unbekannte dringt, um dort Land und Heim zu finden.«

»Ins Unbekannte?« fragte Anselmus mit leisem Vorwurf.

Albereta hob die schönen Augen treuherzig zu ihm auf.

»O Vater, dunkel und voll großer Rätsel ist alles, was um den Herrn ist, der wie eine Sonne aus den Finsternissen hervorleuchtet.«

»Weshalb dunkel, meine Tochter?« Das milde Gesicht neigte sich gütig zu ihr herab. »Sucht doch die Dunkelheit zu durchdringen.«

»Darf man das?«

»Man soll es sogar. Wähnt nicht, daß unser Glaube dem Geiste die Schwingen beschneidet, womit er nach Beute ausfliegt. Nur ist die Einfalt und Schlichtheit kein Hindernis zur Seligkeit. Jeder wird diese Seligkeit je nach seiner Empfänglichkeit genießen. Der Hochentwickelte höher als der Andere.«

»Wo aber der Geist Unerklärlichem begegnet?«

»Da muß er sich sagen: Siehe, um dies Geheimnis zu fassen, bist du noch zu unreif. Warte, vielleicht wirst du es begreifen lernen. Denn das, was uns Geheimnis dünkt, ist helle Klarheit, zum Geheimnis macht es nur unsere leibliche Kurzsichtigkeit.«

Ihre Augen hingen an seinen Lippen.

»Kurzsichtig, das sind wir. Ich wünschte dem Morgen ins Herz schauen zu können, um zu wissen, welches Schicksal es dem beschert, den ich vor Unheil bewahren möchte 179 und ich vermag die Gefahren des Heute nicht von ihm abzuwenden. Betet für ihn!«

»Wen meint Ihr?«

Sie hielt ihre Augen auf Anselmus gerichtet, ohne ein Wort zu entgegnen.

Da wußte er, wen sie meinte.

»Geht mit Gott! Er ist gnädiger als wir voraussetzen.«

»Wenn eine hellere Sonne auf Euch scheint, gedenkt der armen Gräfin Troarn.«

Er nickte, und der Schimmer eines Lächelns, scheu und flüchtig, glitt über sein ernstes Gesicht. So müssen die Engel lächeln, wenn sie lächeln, dachte Albereta, die Schwelle überschreitend.

* * *

Diesmal konnte der König nicht anders, er mußte ihn ziehen lassen.

Nachdem Anselmus sich vom Hof verabschiedet hatte, es war inzwischen Oktober geworden, versammelte er die Mönche des Kathedralklosters, die sein Kapitel bildeten und gab jedem den Bruderkuß und ein liebes aufmunterndes Wort. Hierauf begab er sich in die Kirche, um von dem herbeigeströmten Volk Abschied zu nehmen. Dann schritt er zum Altar, nahm von da Tasche und Pilgerstab, segnete alle und verließ Canterbury.

Nach seiner Entfernung wurde das Erzstift sofort wieder mit Beschlag belegt.

180 In Dover erwartete Anselmus die erste Überraschung. Wilhelm von Warelwast begrüßte ihn mit vielsagendem Gesicht und machte sich eifrig in seiner Nähe zu tun.

Anselmus wollte das Schiff besteigen, doch die Leute weigerten sich wegen des heftigen Windes, in See zu gehen. Man wartete den nächsten Tag ab, doch das Unwetter ließ nicht nach.

Endlich am vierzehnten Tag konnten die Segel gelichtet werden.

Da trat Warelwast zu Anselmus, wies ihm einen königlichen Befehl vor und ersuchte, sein Gepäck öffnen zu dürfen.

Rufus hatte noch zu guter Letzt Piratengelüste verspürt und gedachte zu kapern, was es zu kapern gab, bevor der Erzbischof die Grenzen verließ. Aber der Kommissarius fand nichts, rein gar nichts, das wert gewesen wäre, in England zu verbleiben. Unter etwas verlegnen Reisewünschen schied er von Anselm.

Die Küste versank im Herbstnebel vor den Blicken der Abreisenden.

Anselmus hatte außer Bruder Eadmer nur ganz wenig Leute bei sich.

Die Schlichtheit seiner Gewohnheiten kam ihm auf Reisen sehr zu statten. Niemand ahnte, wer es war, den dieses bescheidne Mönchsgewand umhüllte. Freilich, geübte Augen blickten schärfer.

Als Anselm durch's Burgundische kam, brach plötzlich 181 aus einem Hinterhalt eine Reiterschar hervor, um den Reisenden seiner vermeintlichen Schätze zu berauben.

Niemand geringeres als der Herzog von Burgund selbst, befehligte die Horde.

Anselmus blieb gelassen im Sattel sitzen und winkte seinen Leuten, ihre Ruhe zu bewahren. Der Herzog hatte kaum einen Blick auf ihn geworfen, als sich seine Mienen veränderten und er den Erzbischof um seinen Segen ersuchte.

»Mir war, als ob ich nicht einem Menschen, sondern einem Engel ins Angesicht schaute,« hat er später erzählt.

Noch manches Fährnis, manche schwierige Probe seiner Geduld war Anselmus vorbehalten, bevor er das langersehnte Ziel seiner Reise: Rom, erblickte. Sie rasteten in Klöstern, durchritten manche Sturmesnacht, entbehrten oftmals des Nötigsten, aber zum Schluß wurde ihre Ausdauer belohnt.

Urban II., der selbst, bevor er Papst geworden war, dem Benediktinerorden angehört hatte, empfing den Gast mit aller Liebe und räumte ihm einen Teil des Lateranpalastes zur Wohnung ein.

* * *

Die Sonne brannte in Rom noch mit versengender Glut und Anselmus, obzwar kein Wort der Klage über seine Lippen kam, litt nicht wenig unter der Hitze. Da lud ihn Johannes, der Abt des Salvatorklosters (ein früherer Beccenser-Mönch) ein, auf einem Gute des 182 Klosters Wohnung zu nehmen. Es lag in tiefster Einsamkeit, neun Meilen von Capua entfernt, auf einem steilen Berg. Ein einziger Klosterbruder, außer den Bewirtschaftern, bewohnte es. Anselmus nahm dankbar das Anerbieten an und zog hinauf.

Voll Seligkeit lebte er hier wieder sein stilles, nach innen gerichtetes Mönchsleben und vollendete die Schrift Cur deus homo, die ihm so am Herzen lag.

Hier spielte sich auch die liebliche Geschichte ab, die bewies, daß Anselmus nicht nur über geistliches, sondern auch über praktisches Wissen verfügte und die Natur tüchtig studiert hatte.

Der kleine Ort besaß nur einen Brunnen, unten am Fuß des Berges, ein Übelstand, der das Beschaffen des Wassers sehr erschwerte.

Der Verwalter bat Anselm, der Not doch abzuhelfen und eine Stelle hier oben ausfindig zu machen, wo es Wasser geben könnte. Anselmus, ohne viel Worte zu verlieren, willfuhr der Bitte. Er durchschritt das Gebiet. Seine sanften Augen glitten über die Gräser, über die Felsstücke, die zwischen ihnen lagen und schienen Zwiesprache mit dem Rasen und seinen tausend geheimen Wundern zu halten.

Dann ließ er sich einen Spaten geben, blieb ein Weilchen im stillen Gebet versunken und tat die ersten drei Spatenstiche. Nach kurzem Weitergraben sprudelte ein frischer Quell hervor, der ebenso reichliches als wohlschmeckendes Wasser gab.

183 Noch heute führt die Quelle den Namen: Brunnen des Erzbischofs von Canterbury.

Um Capua herum lagerten damals drei normannische Heere. Herzog Roger von Apulien, einer der Zwölfe aus der Löwenbrut Tankreds, der Geist und Schönheit gleich feurig verehrte, hatte kaum von Anselmus gehört, als er den brennenden Wunsch empfand, ihn kennen zu lernen. Er lud ihn ins Lager ein. Feierlich holte er ihn mit einer erlesenen Reiterschar ab und gab ihm zur Wohnung eine alte zerfallene Kirche, die unweit seines Lagers sich befand. Dort besuchte er ihn und verbrachte manche schöne Stunde in seiner Gesellschaft.

Robert Guiscards Bruder, der die arabischen Sarazenenhorden gebändigt und sich untertan gemacht hatte, voll verwegener Kühnheit, wurde – befand er sich Anselmus gegenüber, zum schlichten Kinde. Er fühlte es, hier war ein Stärkerer als er. Das Schwert erobert wohl den Erdkreis, aber die Sanftmut erhält ihn. Nicht die gewöhnliche temperamentloser Leute, jene andere, die das Ergebnis hellsehender Klugheit und mitleidiger Liebe ist.

Später fand sich auch der Oberlehnsherr der Normannen in Unteritalien: der Papst, ein. Man machte ihm ein herrliches Zelt auf, und zwar in der Nähe der Kirche. Von nun an standen die beiden, er und Anselmus, in beständigem Verkehr.

Die Sarazenen, die in Rogers Diensten waren, liefen 184 wie die Kinder Anselmus nach, um seinen Segen, ein Stückchen Brot oder irgend ein kleines Andenken zu erbitten.

Seine edle Haltung und Ruhe bewegte sie.

Kam ihm beim Anblick so manchen schmalen, gebräunten Gesichtes hier, nie ein anderes Gesichtchen in Erinnerung, das dieselben dunklen träumenden Augen besaß?

Sie, die Sprößlingin dieser Söhne des Morgenlandes, freute sich, als sie vernahm, der Erzbischof wäre drüben in ihrer sonnigen Heimat. Der Kluge! Wohl ihm, daß er dieser Küste entronnen war! Nur Verwirrung und Unruhe hatte er zurückgelassen.


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