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16

Dem Doktor Splittericht war die Zeit ein bißchen lang geworden. Er hatte erst unten im Schalterraum auf einer Bank gesessen, heimlich beobachtet und angestaunt von den Angestellten. Dann war ihm das zu fad geworden. Er stieg die läuferbelegte Treppe hinauf in den ersten Stock und ging in den kleinen Konferenzsaal rechts neben dem großen Büroraum des Generaldirektors. Die Tür aus dem Konferenzzimmer zum Büro war halb offen.

Das weiße Licht des Wintertages fiel durch die Stores hell herein. Splittericht schob die Gardine halb zurück und blickte aus dem breiten Doppelfenster hinab auf die Straße, die jetzt, wo es schon auf die Mittagsstunde zuging, Scharen von Passanten belebten. Besonders Frauen, elegante und solche, die es gern sein wollten, flanierten hier und blieben vor den Schaufenstern des Warenpalastes stehen, der der Bank gegenüberlag. Der Detektiv bemerkte eine Frau in hellem Pelzmantel mit lichter Kappe auf den schwarzen Locken, die sich auffallend leicht und graziös bewegte. Er sah dieser Passantin interessiert nach, die sich jetzt eben von einem der Riesenfenster des Warenpalastes abwandte und – unzweifelhaft! – zu den Fenstern der Bank herüberblickte.

Splittericht stand hinter doppeltem Glas, und unwillkürlich rückte er ein wenig zur Seite, so daß die Gardine ihn noch mehr verdeckte. Die Frau da drüben hätte ihn gewiß nicht erkennen können. Aber sein durch immerwährende Schulung geschärfter Instinkt trieb ihn zu doppelter Vorsicht.

Wer war die Frau?

Er zog ein bequem in der Westentasche zu bergendes, lichtstarkes Glas hervor, brachte Figur und Gesicht der Frau in die Linse und erkannte nun bei schärfster Betrachtung, wer da drüben ging. Das war zweifellos die schwarze Alma, die auch er auf seinen stillen Wegen in der Boyenstraße schon aufgesucht hatte.

Jetzt schritt sie weiter und entschwand aus seinem Gesichtsfeld. Der Detektiv zweifelte nicht einen Augenblick, daß es kein bloßer Zufall war, der die schwarze Alma am heutigen Vormittag hier vorüberführte. Er trug eine kurze Bemerkung in sein Taschenbuch ein.

Während er aber schrieb, hörte er Stimmen, die ihn aufmerken ließen. Der Ton kam aus der Richtung des Büros des Konsuls her, aber nicht aus dem Büro selbst.

Und ohne es noch zu wollen, rein instinktiv, war Splittericht schon in dem leeren Büro. Jetzt hörte er deutlicher zwei Menschen miteinander reden. Er schlich auf den Zehen um den mächtigen Schreibtisch des Konsuls herum zu der Tür hin, die in Gertrud Reeses Arbeitsraum führte. Auch diese Tür war nicht ganz geschlossen. So konnte Splittericht der Unterhaltung folgen:

»Ach verlaß mich doch nicht! ... Du bist ja der einzige, an den ich mich halten kann!«

Die Antwort war nicht zu verstehen. Die Männerstimme sprach zu leise. Das Mädchen aber redete deutlich und klar:

»Wenn du mich jetzt im Stich läßt, dann bin ich verloren, dann gehe ich ins Wasser. Ich kann nicht mehr leben ohne dich ... Sieh mal, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt geworden und kein Mann hat mich geküßt ... und dann bist du gekommen ... ich wollte dich nicht liebhaben, denn ich habe mir von vornherein gesagt: es hat keinen Zweck, und es führt zu keinem guten Ende. Aber konnte ich dir denn widerstehen? Du hast mich angesehen, da wußte ich schon: das ist mein Schicksal. Immer habe ich ›nein‹ gesagt, wenn mich einer gebeten hat. Und wie du kamst, da war es aus mit meinem Widerstand, mit meiner Kraft, ich mußte dir gehorchen ... und wenn du heute noch mal kämst und mich bitten würdest, ich könnte auch nicht anders handeln! Mit dir fängt mein Leben an ... wenn du fortgehst, dann ist es zu Ende ...«

Die männliche Stimme flüsterte wieder, und wieder konnte Splittericht weder Wort noch Ton verstehen. Er überlegte ernstlich, ob er nicht schnell die Tür öffnen und eintreten solle. Aber durfte er das? Hatte das Geheimnis dieses armen Mädchenherzens irgend etwas mit seiner Arbeit zu tun? Er strengte sein Gehör noch mehr an, um von der Gegenrede des Mannes wenigstens einen Bruchteil zu erhaschen. Umsonst. Der hielt seine Stimme klug im Zaum. Diese Vorsicht schien dem Detektiv wenig Gutes für Gertrud Reese zu bedeuten.

Jetzt sagte sie etwas, das Splittericht auch nicht verstand. Dann rang sich ein tiefer Seufzer aus der Brust des Mädchens. Sie sprach wieder lauter:

»Und nun kommt das große Unglück mit Willi. Papa hat doch die Schlüssel gestern morgen in der Kassette nicht gefunden ... die beiden Entreeschlüssel ... der zum Tresor lag nachher offen in seinem Pult. Ich begreife es nicht ... ich kann es gar nicht begreifen! ... Ich bin die einzige, die Willi wirklich kennt. Ich weiß, wie leichtsinnig er ist und wie gern er spielt ... wenn der erst mal bei den Karten sitzt, dann gibt es kein Halten mehr! ... Dann vergißt er alles um sich her, selbst mich, die er am liebsten hat. Und trotzdem, schlecht ist Willi nicht! ...

Jemand ermorden, nein, dazu ist er nicht imstande, Paul! ...«

Das Mädchen sprach weiter, aber Splittericht hörte sie nicht mehr. In dem Augenblick, wo sein Ohr den Namen »Paul« gefangen hatte, wußte er, wer nebenan bei Gertrud Reese war, wer so klug seine Stimme verhielt. Sicherlich, weil er nicht wollte, daß irgend jemand, am wenigsten der Konsul, von seinem Verhältnis mit Gertrud Kenntnis bekam.

»Paul« war der erste Disponent Paul Ostermann. Der Detektiv vergegenwärtigte sich das intelligente und energische Gesicht des Prokuristen. Er sah das Auge des Mannes aufleuchten voll Sicherheit und Tatkraft, sah den fest geschlossenen, kräftigen und doch vollippigen Mund, der vielleicht von einem starken Drang der Sinne, aber keineswegs von Weichheit und tiefem Gefühl sprach. Die arme Gertrud tat ihm leid. Aber ob sie ihren Bruder richtig beurteilte? – Verwandte glauben niemals etwas wirklich Böses voneinander.

Lautlos verließ Splittericht das Büro des Konsuls durch den Konferenzsaal, ging langsam nach der Tür von Gertruds Zimmer, als wollte er dort nur vorbeigehen.

Indem öffnete sich diese Tür. Ostermann trat heraus:

»Sie sind immer noch hier, Herr Doktor?«

»Ja, ich warte auf den Herrn Oberregierungsrat.«

Der Prokurist nickte:

»Der ist bei Reese ... eine unangenehme Auseinandersetzung. Ich bin bloß froh, daß ich daran nicht teilzunehmen brauche. Nichts ist scheußlicher als solche Inquisition eines alten lieben Kollegen.«

Er sah an Splittericht vorbei den Gang hinunter, an dessen Biegung eben der Konsul und der Oberregierungsrat auftauchten.

»Da ist ja unser Chef! Ich habe noch mit ihm zu reden, ehe ich wegfahre.«

»Sie wollen weiter Ihren Urlaub nehmen?«

»Nein, Herr Doktor, dazu werde ich vorläufig nicht kommen. Ich vermute, Herr Reese wird fürs erste noch nicht arbeitsfähig sein. Und dann, wenn auch unser Herr Lange einspringt ... ich muß wohl doch hier sein. Heute will ich für ein paar Tage nach Paris, wo eine sehr umfassende Transaktion unserer Bank meine Anwesenheit erfordert. Vielleicht darf ich mich gleich von Ihnen verabschieden!«

Splittericht nahm des Prokuristen dargebotene Hand und empfand auch in deren pressendem Druck den starken Willen und die bewußte Aktivität des Mannes.

»Wenn Sie jetzt mit mir gehen wollen«, meinte Henderson herantretend, »nun bin ich so weit, Herr Doktor.«

»Gleich, Herr Oberregierungsrat.«

Splittericht ging mit Konsul Lindström den Gang hinunter.

»Ich habe noch etwas im Präsidium zu tun, Herr Konsul, aber dann nehme ich sofort« – er dämpfte seine Stimme zum Flüstern – »die Suche nach dem gnädigen Fräulein auf!«

Herr Lindström reichte ihm die Hand und hielt sie fest bei seinen leisen, beschwörenden Worten:

»Lieber Herr Doktor! Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich leide! Es ist schrecklich, wenn man schreien möchte und man darf kein Wort sagen! Ich bitte Sie nochmals, wenden Sie alles auf! Alles! Sparen Sie nichts! Ich will nur mein Kind! Bringen Sie mir meine Marion wieder!«

Dann ging Konsul Lindström mit Ostermann in sein Büro. Splittericht und der Oberregierungsrat verließen die Bank.

Als sie auf die Straße traten, stand gerade vor der messinggeschmiedeten Eingangstür zur Bank ein funkelnagelneuer Cadillac-Wagen, ein wundervolles Gefährt im blendenden Schwarz seiner Lackierung.

Splittericht, ein begeisterter Autler, trat voll Interesse heran, prüfte die langgestreckte Maschine und bemerkte dabei das Monogramm am Wagenschlag: P.O. Er lächelte Herrn Henderson zu:

»Es muß sich doch auch heute noch rentieren, für eine große Bank zu arbeiten.«

»Ja«, nickte der Oberregierungsrat, »so was können wir uns nicht leisten. Übrigens, es ist so, wie ich es mir vorgestellt habe« – im Grunde genommen hatte er sich gar nichts vorgestellt, aber er liebte es, gelegentlich den mit genialer Kombination begabten Kriminalisten zu spielen.

Splittericht fiel ihm ins Wort:

»Ganz recht, Herr Oberregierungsrat, ich hab's mir auch so gedacht.«

Herr Henderson, der etwas kleiner war als der Doktor-Kommissar, blickte überrascht zu diesem auf:

»Wieso meinen Sie? Was haben Sie sich gedacht?«

Splittericht zuckte die Achseln:

»Mein Gott, es ist ja eigentlich die einzige Lösung.«

»Ja, aber woher wissen Sie denn ...?«

»Ich weiß nicht, ich sage mir nur, es kann eigentlich nicht anders gewesen sein!«

»Als daß der junge Reese der Täter ist«, platzte Henderson heraus.

Splittericht nickte:

»Wahrscheinlich ... jedenfalls wird uns nichts übrigbleiben, als diesen Willi Reese so bald wie möglich zur Stelle zu schaffen.«

Herr Henderson nickte energisch:

»Ganz meine Ansicht! Wollen Sie sich denn auch auf die Suche nach ihm machen, Herr Doktor?«

Splittericht schüttelte den Kopf:

»Vorläufig überlasse ich das der berufenen Behörde. Ich selbst habe mit einer anderen Sache zu tun.«

Der Oberregierungsrat sah den Detektiv forschend an:

»Und darüber wollen Sie sich nicht äußern, auch zu mir nicht?«

»Verzeihen Sie, Herr Oberregierungsrat, aber das hier waltende Geheimnis –«

»Schon wieder ein Geheimnis ...?«

Splittericht nickte ernst:

»Ja, und zwar eins, das mich noch weit tiefer ...«, er besann sich, »das mich noch weit mehr interessiert.«

»Sie sind ein merkwürdiger Mensch, lieber Doktor. Ich wollte, ich könnte auch leben wie Sie, so frei, und bloß meinen Neigungen folgen. Früher habe ich manchmal gedacht, es war ein Fehler, daß Sie von uns fortgegangen sind. Heute scheint es mir aber, daß Sie jetzt erst Ihr großes Talent voll entfalten können.«

Der Doktor-Kommissar lächelte:

»Mein Beruf macht mir Freude ... und wenn ich dazu noch die Anerkennung von so schätzbaren Männern wie Sie, Herr Oberregierungsrat, gewinne, so kann ich eigentlich sagen, ich bin zufrieden mit mir und meiner Arbeit.«

»Das können Sie auch, lieber Doktor!«

Die Herren waren an der Ecke der Flinsberger Straße stehengeblieben und gingen nun hinüber nach der anderen Seite vom Harlemer Platz, wo Splitterichts Wagen stand.

Der Oberregierungsrat sah nach der Uhr:

»Es ist eins ... meine Herren werden auf mich warten.«

Splittericht fragte:

»Sie haben nichts dagegen, Herr Oberregierungsrat, wenn ich Husaren-Albert nachher mal aufsuche? Außerdem möcht' ich meinen Freund Barker im Erkennungsdienst begrüßen.«

»Aber bitte, Herr Doktor!«

Die Herren stiegen ein, und der kleine graublaue Amerikaner durchschnitt mit einer fabelhaften Sicherheit die lärm- und verkehrserfüllte Straße.


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