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12

In Konsul Lindströms Büro hatten sich am Dienstag vormittag die leitenden Männer des Bankhauses Lindström, der Oberregierungsrat Henderson und Doktor Splittericht versammelt. Konsul Lindström, bleich, mit einem nervösen Flackern in den sonst so klaren Augen, saß an der Schmalseite des Eichentisches. Der Diener stellte Zigarren und Zigaretten und ein paar silberne Leuchter mit brennenden roten Kerzen den Herren zur Benutzung hin.

Die silberne Weltkugel auf dem Kamin, an der der Tod mit der Hippe auf leuchtende Stundenziffern zeigte, schlug zehnmal. An des Konsuls rechter Seite saß der Senior der Angestellten, Hauptkassierer Reese. Zu seiner Linken der erste Aufsichtsratsvorsitzende Doktor Hempelmeier, neben diesem Doktor Splittericht.

»Einer fehlt noch«, sagte der Konsul, »unser Herr Ostermann. Ich erwarte ihn jede Minute ... Das ist der Leiter des Getreidegeschäftes«, wandte er sich an den Doktor-Kommissar. »Herr Ostermann ist vor einer Woche in Urlaub gegangen, als unser Hauptkassierer zurückkam ... Wir drei kommen ja im Sommer gar nicht fort und nehmen deshalb erst nach Neujahr unseren Urlaub, da ist das Geld- ebenso wie das Getreidegeschäft etwas ruhiger ... Ich habe Ostermann gestern sofort telegrafiert.«

Der Generaldirektor stand auf, ging hinüber an seinen Schreibtisch, wo er in Papieren kramte, dann kam er wieder, nahm eine Zigarre und vergaß sie anzuzünden.

Splittericht bemerkte Herrn Lindströms Unruhe wohl. Er sprach aber absichtlich mit dem ersten Aufsichtsratsvorsitzenden, der hinter der goldenen Brille zwinkernde Augen in die Runde gehen ließ.

»Wen haben Sie nun eigentlich in Verdacht, Herr Konsul?« sagte Doktor Hempelmeier, sah dabei aber nicht den Konsul, sondern den Detektiv an.

Der Generaldirektor blickte wie abwesend und winkte leicht zu Splittericht hinüber.

»Ich selber habe gar keinen Verdacht! Ihr Nachbar, Herr Doktor Splittericht, lieber Hempelmeier, ist mit der Aufklärung dieses schrecklichen Vorfalles von mir betraut worden. Und er ist gleichzeitig«, er verbeugte sich gegen Henderson, »im Interesse der Kriminalpolizei tätig. Doktor Splittericht hat denn auch in dieser unglaublich kurzen Zeit schon mit bestem Erfolge gearbeitet. Er hat persönlich in der letzten Nacht den zweiten Täter verhaftet und selbst nach dem Alexanderplatz gebracht.

Daß die Verbrechersuche ein zweites, wertvolles Menschenleben gekostet hat, ist nicht die Schuld unseres Freundes dort. Der Kommissar Starkmann, ebenfalls mit der Verhaftung des Bankräubers beauftragt, ist mit seinen Beamten in einem Lokal der Unterwelt, in den ›Diana-Sälen‹, von einer Rotte solcher Gesellen überfallen worden, und dabei hat der Wachtmeister Vogel sein Leben eingebüßt. Ich habe mich sofort mit der Witwe des Gefallenen in Verbindung gesetzt, und es bedarf keiner Erwähnung, daß von uns aus alles geschehen wird, was ihr diesen schweren Verlust tragen helfen kann.

Dem für seine Pflicht Gestorbenen können wir hier nur danken. Ehre seinem Andenken.«

Der Konsul stand auf, und die anderen Herren erhoben sich ebenfalls von ihren Plätzen. Aber Herr Lindström vergaß es, sich wieder zu setzen. Er ging zum Fenster, sah durch die schweren Schweizergardinen und kam dann wieder an den großen Konferenztisch zurück.

Herr Henderson sagte:

»Ich danke Ihnen, lieber Herr Konsul, für Ihre warmen Worte, die Sie meinem im Kampf gebliebenen Beamten, dem Wachtmeister Vogel, gewidmet haben. Und noch mehr danke ich Ihnen für Ihre gute Absicht, seiner Witwe zu helfen.«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, und Konsul Lindström sprach seltsam gleichgültig weiter:

»Es ist nun durch die Feststellungen des Herrn Doktor Splittericht erwiesen, daß es sich bei der Beraubung unserer Bank, bei der anderthalb Millionen gestohlen worden sind – bis heute wohl der Rekord bei solchen Gewalttaten –, daß es sich nicht um zwei, sondern um drei Täter handelt. Die beiden Einbrecher, der tote Zalewski und der lebende Husaren-Albert, sind nur Ausführende gewesen. Die Idee und den eigentlichen Plan zu dem mit einem seltenen Raffinement ausgeführten Einbruch hat ein anderer gegeben. Und wer das gewesen ist«, der Konsul hob beide Arme mit offenen Händen, »darüber herrscht bis jetzt absolute Unklarheit ... Nicht wahr, verehrter Herr Doktor, darüber haben auch Sie bis jetzt keine Vermutung?« Doktor Splittericht schüttelte den Kopf.

»Ich habe bis zu dieser Stunde auch nicht den leisesten Anhalt für die Täterschaft irgendeines ... nein. Ich kann nur bestätigen, daß hier ein ganz ungemein gerissener und gewiegter Verbrecher am Werke war ... ein Mensch, der vor nichts zurückschreckt und dem jedes Mittel, aber auch jedes, recht ist, seine schlimmen Pläne auszuführen.«

»Und meinen Sie, daß Sie ihn trotzdem ... daß Sie dies Rätsel trotz alledem lösen werden, Herr Doktor?« fragte jetzt der Kassierer Reese, den schlohweißen Kopf zu Splittericht vorbeugend.

Der Doktor-Kommissar nickte:

»Ja. Ich habe bisher noch so ziemlich jede Aufgabe gelöst ... wenn sich nicht elementare Unmöglichkeit meinem Forschen entgegenstellte. Ich denke, daß ich auch hier zum Ziel komme.«

Splittericht blickte dabei den Hauptkassierer an, sah dessen lange und schmale, im Rücken ein wenig gebeugte Figur, mit der sich ein gut gebildeter Schädel mit hellen Augen zu einer sympathischen Erscheinung einte. Und trotzdem stieg dem Doktor-Kommissar ein vorläufig ihm selbst noch rätselhafter Verdacht auf, als sei mit diesem Mann, der seit vierzig Jahren im Hause tätig war und nie einen Grund zum Zweifel, am wenigsten an seiner Rechtlichkeit, gegeben hatte – als sei mit diesem braven und pflichttreuen Beamten irgend etwas nicht in Ordnung.

»Ehe wir uns nun weiter mit unserer Sache beschäftigen«, fing der Konsul wieder an, »möchte ich eine Angelegenheit erledigen, die gerade jetzt doppelt peinlich und unbequem an mich herantritt.« Er wandte sich dem ersten Aufsichtsratsvorsitzenden zu:

»Das geht insonderheit Sie an Herr Doktor Hempelmeier. Sie sind es gewesen, der uns seinerzeit den Conrad Canist ins Haus brachte. Und es ist gar nicht zu leugnen, daß Sie, was die Arbeit anlangt, der Firma damit einen Dienst erwiesen haben. Gegen den Mann ist vom Standpunkt seiner Tätigkeit auch nicht das geringste einzuwenden. Ich habe ihn auch bisher für einen durchaus ehrlichen Menschen gehalten. Was wir ihm vorzuwerfen hatten, das ist die leidige Gepflogenheit dieses Menschen, sich alle acht Wochen so die Nase zu begießen, daß man ihn buchstäblich aus dem Rinnstein auflesen muß. Daß das unserer Handlung abträglich und sozusagen ein Skandal ist, ja, lieber Herr Doktor, darüber haben wir uns ja schon oft genug unterhalten. Und wenn ich Ihnen Vorschläge über Vorschläge nach dieser Richtung hin gemacht und versucht habe, den Canist in irgendeiner anderen Weise unterzubringen, dann sind Sie, lieber Doktor Hempelmeier, immer dagegen gewesen. Allen meinen noch so ernsten Bedenken haben Sie Ihre« – ein Lächeln flog um des Konsuls Lippen – »Ihre Lebensrettung entgegengehalten. Er hat die Kugel aufgefangen, die Ihnen da oben in den Karpathen zugedacht war. Gewiß, und ich weiß es zu würdigen, wenn ein Soldat sich so für seinen Hauptmann opfert, daß er einfach vor ihn hinspringt, wenn er sieht, auf der anderen Seite macht ein Soldat scharf auf den Vorgesetzten ... das ist schön, das ist herrlich! Dagegen läßt sich nichts sagen ... Aber, lieber Herr Doktor, fortwährend besaufen braucht er sich deshalb doch nicht! Und wenn er schon trinkt, dann soll er's wenigstens für sich allein tun, zu Hause, meinetwegen in der Kneipe, aber er soll nicht Krach machen auf der Straße und uns, seine Chefs, blamieren. Und ich sage Ihnen ganz offen, Herr Doktor, das geht so nicht weiter! Der Kerl kommt hier rein ins Büro und sieht aus wie ... na, ich will gar nicht sagen, wie er aussieht. Drei-, viermal hintereinander ist er derartig voll, daß wir ihn durch zwei Hausdiener wieder nach Hause schleppen lassen müssen. Das geht doch nicht ...! Jetzt sind's wieder vier Tage, daß er seine Tour hat.«

Der Konsul sprach sich immer mehr in seine Erregung hinein.

Doktor Hempelmeier waren diese Erörterungen sichtlich peinlich:

»Ich verstehe nur nicht, Herr Konsul, was diese Angelegenheit mit der Diebstahlsgeschichte zu tun hat?«

»Mehr, viel mehr, als Sie denken, Herr Doktor ...

Wenn so ein Mensch sich betrunken in jeder Kneipe herumtreibt, ist es da nicht beinahe selbstverständlich, daß er mit Spitzbuben und Verbrechern zusammengerät?! Daß er ihnen die Gelegenheit verschafft, ja sogar die Pläne bekanntgibt, nach denen sie arbeiten sollen?«

Doktor Hempelmeier wand sich in seinem Mißvergnügen:

»Dafür haben Sie doch nicht die geringsten Beweise, Herr Konsul ... aber ich verspreche Ihnen, daß ich heute noch ... oder warten Sie mal, vielleicht könnte Herr Doktor Splittericht die große Freundlichkeit haben und mir diesen Besuch abnehmen. Das wird auch bei Canist einen viel stärkeren Eindruck machen, als wenn ich mit ihm rede. Herr Doktor Splittericht hat die Autorität seines früheren Amtes bei der Polizeibehörde und ...«

Es klopfte. Herr Paul Ostermann, der erste Prokurist des »Bankhauses Lindström«, trat ein. Konsul Lindström stellte ihn als »Generalvertreter unserer Bank« vor.

Splittericht sah ihm mit großer Aufmerksamkeit entgegen. Der Konsul hatte ihm allerlei von diesem außerordentlichen Menschen erzählt. Vor vier Jahren hatte er ihn als einfachen Korrespondenten mit einem Gehalt von zweihundert Mark engagiert. Die ganz ungewöhnliche Arbeitsenergie des Mannes, die der Generaldirektor sofort erkannte, verhalf ihm in einer kaum dagewesenen Weise zum Aufstieg in der Bank. Das in seinem Umfang internationale Getreidegeschäft der Firma nahm durch Ostermann einen nicht für möglich gehaltenen Aufschwung. Er reiste in der ganzen Welt umher, war bald in Frankreich, dann wieder in England, in den britischen Kolonien, in Indien, in Kanada und in den Staaten. So kannte er die großen Getreideplätze der Welt aus eigener Anschauung und operierte verblüffend erfolgreich bei den Spekulationen, die er für die Bank tätigte.

Beim ersten Ansehen erschien dies Gesicht konventionell und unbedeutend. Glattrasiert, mit dunkelblondem, in den Schläfenecken schon etwas dünnem Haupthaar, fiel dieses Antlitz nur durch seine stark entwickelte, fast viereckige Kinnpartie auf. Eine ganz außergewöhnliche Arbeitsenergie stand da lesbar geschrieben. Als Splittericht das beobachtete, wurde sein Blick von den hellen, durchdringenden Augen des Prokuristen gefangen. Sie blickten kühl und kritisch auf ihre Umgebung.

Man sprach jetzt wieder über den Bankeinbruch, und Herr Ostermann bedauerte sehr, erst heute, am zweiten Tage nach der Tat, zurückgekehrt zu sein.

»Es ging beim besten Willen nicht anders, verehrter Herr Konsul. Ich hatte von Teplitz« –- er wandte sich den übrigen Herren zu – »wohin ich auf ärztlichen Rat wegen meines niederträchtigen Rheumatismus gegangen bin ... ja, natürlich, im Kriege habe ich mir den geholt ... von da hatte ich einen Abstecher nach Prag gemacht ... aus geschäftlichen Gründen. So habe ich Ihr Telegramm erst gestern spät in der Nacht bekommen, Herr Konsul. Jetzt möchte ich gern mal den interessanten Einbruch ansehen.«

Der Konsul nickte zerstreut:

»Das können wir nachher zusammen tun, lieber Ostermann. Hier möchte ich erst mal die Frage geklärt sehen, die ich eben angeschnitten hatte. Wir haben ja schon oft darüber gesprochen: es handelt sich um Canist. Er hat wieder mal seine Tour, und ich will offen gestehen, ich mache das nicht mehr mit! Meinetwegen soll der Mann eine Abfindung kriegen, wir wollen auch sehen, ob wir jemand anders mit ihm beglücken können, wenngleich ich das auch nicht für sehr fair halte. Solche Kräfte, die man selbst nicht verwenden kann, soll man auch nicht anderswohin verpflanzen, wo sie ja doch letztlich auch nicht zu brauchen sind ... aber jedenfalls ... ich will ihn nicht länger haben! ... Was meinen Sie dazu, lieber Ostermann?«

Der machte, verbindlich lächelnd, nur eine Geste mit der Linken, als wolle er sagen: »Mir scheint die Sache nicht so wichtig.«

Doktor Hempelmeier nahm das sofort für sich in Anspruch und trat abermals für seinen Schützling ein; er bat, man sollte doch abwarten, ob nicht die Ermahnung durch Herrn Doktor Splittericht Besserung schaffen würde.

Aber der Konsul wollte auch davon nichts wissen, Er war so gereizt und aggressiv gegen Doktor Hempelmeier, daß der Prokurist für den immer ängstlicher zwinkernden Aufsichtsratsvorsitzenden sich ins Mittel legte:

»Ich denke, Herr Konsul, daß Ihre Strenge, wenn Ihnen das auch selbst nicht bewußt wird, hier aus einer persönlichen Ursache entspringt ...«

»Wieso?« fragte der Bankier unaufmerksam.

Ostermann zögerte einen Augenblick:

»Sie sind ein sehr nüchterner Mann, Herr Konsul, und recht eigentlich ein Feind des Alkohols. Sie haben mir selbst erzählt, daß Sie oft bemerkt haben, wie nach dem Genuß von Alkohol in irgendwelcher Form sich Ihre Fähigkeiten vermindern. Daß Ihre Beobachtungsgabe, Ihr Scharfsinn, Ihr feines Kalkulationsgefühl, mit einem Wort, daß die besten von Ihren Eigenschaften durch den Trunk lädiert werden. Das ist Ihnen peinlich, und Sie vermeiden das Trinken. Und Ihre Abneigung gegen den Alkohol übertragen Sie auf Menschen, die ihm besonders huldigen, darum ihre starke Antipathie gegen Canist ...«

Der Konsul, so sehr er auch abgelenkt und bei anderen Dingen war, schüttelte doch verwundert den Kopf:

»Sollte ich in meinem Urteil so wenig objektiv sein ...? Das kann ich mir aber wirklich nicht denken!«

Doch der Prokurist blieb bei seiner Ansicht:

»Ja, ich glaube, Herr Konsul, Sie lassen sich da zu sehr von persönlichen Stimmungen und Antipathien leiten.«

Rudolf Lindström war ein ernster, kluger und, wie er selbst meinte, gerechter Mensch. Nichts wollte er weniger, als ungerecht sein oder scheinen. Aber nie war er so unfähig gewesen wie heute, eine Verhandlung objektiv zu führen. Was scherte ihn in diesem Augenblick Canist?! Er dachte an sein Kind, an seine Marion, die fort war, aus dem Hause, ohne daß er wußte, wann und ob sie wiederkam! ...

Rudolf Lindström besann sich, er holte tief Atem und zündete seine Zigarre wieder an:

»Meinetwegen, ich will es noch einmal mit ihm versuchen. Aber wenn Canist trotz der Ermahnung durch Doktor Splittericht wieder in seinen alten Fehler verfällt, dann müssen wir eine Änderung treffen ...«


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