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Das weiße Schloß

Es war Sommer, und ich fuhr nach Kurland auf ein Gut: drei Töchter dieses Hauses waren meine Gesangschülerinnen gewesen, und schon längst hatte ich versprochen, einige Ferienwochen dort zuzubringen. Nun hielt der Zug an der Station, ich war die einzige Reisende, die ausstieg.

Wie ich den Wagen verlasse, sehe ich eine seltsame Gestalt auf mich zueilen, es ist ein Mohr in kurzen Kniehosen, rotem Frack und einem Dreispitz auf dem Kopf. Er legt seine Finger grüßend an den Hut und bittet mich um den Gepäckschein. Nachdem ich mich von der ersten Verwirrung erholt hatte, begriff ich lachend die Situation: der Mohr war die verkleidete Jungfer der Damen des Hauses. Das war ein vielversprechender Anfang! Der Mohr geleitete mich zu einem Landauer, der wartend hinter dem Bahnhofsgebäude stand, besorgte meine Sachen, kam dann eilig herbeigelaufen, schwang sich lachend neben den Kutscher, und in schnellem Trabe brachten mich die Pferde zum Schloß, das nur ein paar Minuten entfernt war.

Die ganze Familie erwartete mich auf der Schloßrampe, mit Lachen und Jubeln wurde ich begrüßt, der Mohr verschwand, und an seiner Stelle half mir ein stattlicher, sehr ernsthafter Diener aus dem Wagen.

Nachdem ich mich vom Reisestaub befreit hatte, holten mich die jungen Mädchen aus meinem Zimmer ab, und ich mußte das ganze Schloß mit dem Park und Garten besehen.

Es war ein wundervoller Besitz; dicht am weißen Schlößchen lag ein gepflegter Park mit uralten Bäumen, dunkle Lindenlauben, Treibhäuser, Blumen- und Gemüsegärten schlossen sich daran. Eine Lindenallee, über eine Werst Werst = russisches Längenmaß, etwa 1 Kilometer. lang, führte zu einem weitläufigen Wildpark, der mit einem hohen Zaun umschlossen war. Alles war großstilig und sprach von sorglosestem Reichtum: das Haus war schön und voller Behagen, die Töchter besaßen viel Sinn für wertvolle alte Sachen und hatten sich in leidenschaftlicher Sammlerwut alles Mögliche an alten Möbeln, Kristall und Porzellan zusammengekauft. Auf allen Tischen standen große Schalen, mit Blumen gefüllt, kostbare Teppiche deckten die Fußböden, schöne Bilder moderner Maler hingen an den Wänden. Der liebste Raum aber im ganzen Hause war für mich das Zimmer der Hausfrau, das ihren Stempel trug. Es war voller Licht und voller Blumen.

Sie war eine helle, gütige Persönlichkeit, die wohl nie im Leben jemand ein böses oder auch nur unfreundliches Wort gesagt hatte. Ich saß so gern am Erkerfenster ihr gegenüber, blickte in ihr klares, schönes Gesicht und sah ihren fleißigen Händen zu, die immer eine feine Handarbeit machten. Sie tat jedem, der in ihre Nähe kam, etwas Liebes in zarter, mütterlicher Weise. Nie sprach sie von sich, und wenn wir auch stundenlang beisammen waren und miteinander plauderten, so habe ich doch von ihr und ihrem persönlichen Leben wenig erfahren. Sie verwöhnte jeden, am meisten aber wohl ihre Töchter; diese waren ausgesprochene Persönlichkeiten voll Leben und geistiger Regsamkeit. Die Älteste, klug und zielbewußt, war künstlerisch sehr begabt, sie hatte sich für Malerei ausgebildet und zog täglich auf mehrere Stunden zum Arbeiten in die schöne Sommerwelt hinaus, wohin ich sie oft begleitete. Die zweite Tochter war verheiratet und lebte auf ihrem Gut in der Nachbarschaft, und die dritte bildete sich bei mir zur Sängerin aus. Auch sie war künstlerisch sehr gut veranlagt, hatte ein reiches Vortragstalent und eine ausdrucksfähige Stimme.

Den Hausherrn sah man nicht viel, er hatte eine gutmütig polternde Art, die Seinen so leben zu lassen, wie sie es wollten. Er liebte nur, daß es um ihn fröhlich herging. Eine Französin, noch aus der Kinderzeit der Töchter herstammend, war der gute, allezeit fröhliche Geist des Hauses; ich habe nie erfahren, wie sie in Wirklichkeit hieß, man nannte sie nur »Selli«. Ihr Französisch hatte sie, glaube ich, ganz vergessen, jedenfalls habe ich nie einen französischen Laut von ihren Lippen vernommen; doch war sie vollständig unentbehrlich: sie half den reichen, vornehmen Haushalt führen, war immer fröhlich und hatte für jeden Zeit. Nie hörte man das Rasseln des Räderwerks, alles ging wie von selbst, und alles war auf das Schönste und Selbstverständlichste da.

Der Diener Friedrich war wohl das Vollkommenste, was ich an Dienern je erlebt habe. In geräuschloser, abgeschlossener Art hielt er alles in Gang, tauchte da auf, wo man ihn gerade brauchte, verschwand, wenn man ihn nicht brauchte, vergaß nie etwas, und wie durch einen Zauber war alles gemacht.

Jeder lebte, wie er wollte, denn es herrschte völlige Freiheit. Der Vormittag vereinigte uns oft in der Lindenlaube, wo gemeinsame Lektüre getrieben wurde. Meist waren es Bücher über Kunst und künstlerische Fragen, die wir lasen. Den Nachmittagskaffee nahm man auf der Schloßrampe ein; Pfauen stolzierten auf dem Kies der Gartenwege, ihre mißtönenden Schreie ausstoßend. Ihr herrliches Gefieder leuchtete in der Sonne. Auf dem Hof standen wartend zwei Landauer, zum Ausfahren bereit; hatte man keine Lust zu fahren, so schickte man sie wieder fort, doch wer wollte, fuhr spazieren, stundenlang ins schöne, blühende Land hinein.

Das Haus war immer voller Gäste, die sorglos und fröhlich mit unendlicher Selbstverständlichkeit sich in dieses Leben hineinfügten.

Eines Abends macht jemand folgenden Vorschlag: »Wollen wir nicht morgen im Wildpark bald nach Sonnenaufgang Kaffee trinken, aber nicht später als sechs Uhr müssen wir alle bereit sein.«

Um sechs Uhr früh sind wir wirklich alle versammelt, die Wagen warten vor dem Hause, und wir fahren ab.

Wie wundervoll ist es im Wildpark: Rehe und Hirsche springen einzeln oder in Rudeln über den Weg und verschwinden im Waldesdickicht, alles ist frisch und voller Tau, es duftet nach Moos und nach Tannen. Da halten wir vor einer Lichtung: wie durch einen Zauber steht unter den riesigen Bäumen ein gedeckter Tisch. Der Kaffee kocht in einer silbernen Kanne, köstliches Gebäck und alle Herrlichkeiten, die man sich zum Frühstück denken kann, erwarten uns. Ernsthaft empfängt uns der Diener Friedrich und hilft uns aus dem Wagen.

»Wie war das nur möglich,« frage ich die Hausfrau staunend, »dies alles von gestern abend an herzustellen?«

Sie lächelt ihr gütiges Lächeln:

»Die Leute haben eben in der Nacht gebacken und alles zurechtgemacht, das ist doch nicht so eine große Sache, und der Friedrich hat es besorgt.«

Die Wagen werden heimgeschickt; wie köstlich schmeckt der Kaffee unter den hohen Waldbäumen, dazwischen erscheint ein Reh, steckt seinen Kopf durch das Dickicht der Bäume und verschwindet eilig. Die Schloßfrau zeigt mir einen Baum, in dessen Geäst ein kleines Treppchen führt, dort hat sie sich einen luftigen Sitz bauen lassen mit einem Tischchen davor; ein Kasten, der in den Zweigen angebracht ist, birgt Tinte, Feder und Papier. Wenn sie mit ihren Gedanken ganz allein sein will, zieht sie sich hierher zurück, dann darf ihr niemand folgen.

Eines Tages erkläre ich, ich wolle einmal einen einsamen Spaziergang in den Wildpark machen, es solle mich keiner begleiten. Ich nehme meinen Spazierstock zur Hand und wandere fort. Mir wird noch die Mahnung zugerufen, ich solle mich nur ja nicht verirren, ich müsse mich immer auf dem Hauptwege halten, dann käme ich sicher wieder ans Eingangstor. Das verspreche ich und gehe davon; bald stehe ich vor dem hohen Gittertor, der Wächter öffnet, und der kühle Schatten des Parkes umgibt mich. Wie genieße ich die Einsamkeit, das große Schweigen um mich!

Ich denke an die Menschen, mit denen ich jetzt seit Wochen zusammenlebe; ich habe sie sehr liebgewonnen, obschon sie nicht von meiner Art sind. Es ist eine andere Welt als die, in der ich immer gelebt habe: dieser sorglose Reichtum, dieses Genußleben, wenn auch in verfeinerter, geistiger Form, sind mir fremd. Aber es ist so viel Freundlichkeit, so viel Wärme, die mich umgibt, uns verbinden so viele gemeinsame Interessen, daß ich mich sehr wohl in diesem Leben fühle. Und ich denke: wird das immer so bleiben, wird das Leben sie immer so auf blauer Flut dahintragen?

Da höre ich ein Geräusch wie von rollenden Rädern, ich sehe ein seltsames Gefährt langsam auf dem Wege daherkommen: es ist ein großer, altmodischer Wagen, vor den vier Pferde lang gespannt sind. Auf dem Bock sitzt ein Diener im roten Frack und einem kleinen Dreispitz auf dem Kopf, und eine wunderliche Gesellschaft, wie aus uralter Zeit, sitzt im Wagen, steif, gerade, stumm, mit gebauschten Seidenkleidern, in die verschollene Pracht alter Samtmantillen gehüllt. Auf den Lockenköpfen nicken mächtige Hüte mit wallenden Federn und künstlichen Blumen, die Hände halten kleine, buntfarbige Sonnenschirme mit breiten Fransen, gewaltige Pompadours vollenden die Toilette.

So fährt der Wagen an mir vorüber, langsam und lautlos, keiner lacht, keiner spricht, es macht einen geradezu gespenstischen Eindruck, und ein Gruseln überkommt mich, obschon ich sie alle erkenne. In einiger Entfernung hält der Wagen, die Damen steigen aus und lustwandeln auf den schmalen Waldwegen in ihren riesigen Reifröcken. Als ich mich ihnen nähere, steigen sie wieder ein, die Pferde ziehen an, und in raschem Trabe verschwindet die ganze Gesellschaft. Es ist mir aber unheimlich geworden, so lächerlich es ist, ich kann mich nicht mehr an der Stille und Einsamkeit freuen und mache mich eilig auf den Heimweg.

Als ich zu Hause ankomme, sitzt die ganze junge Gesellschaft friedlich beisammen und liest; keiner weiß was, keiner begreift mich.

»Sie haben wohl einen Spuk im Walde gesehen,« sagen sie, und ich muß mich lachend zufrieden geben, aber ich bin nie mehr allein in den Wildpark gegangen.

 

»Heute machen wir eine Krebspartie,« schlägt die Schloßfrau vor, »das Wetter ist günstig, es ist ganz windstill; und die Bauern sagen, daß es in einem Fluß, einige Werst von hier, viele Krebse gibt.«

Wir sind alle mit Begeisterung dabei; nach dem Kaffee halten zwei Landauer vor der Schloßrampe, Friedrich ist bereits fort, um alles vorzubereiten, wir steigen in die Wagen und fahren fröhlich ab.

Nach einer Stunde ist das Ziel, ein Bauerngesinde, erreicht; wir finden Friedrich schon in voller Tätigkeit mit einem ganzen Stabe von Jungen, die die Käscher in Ordnung bringen.

»Bis sie fertig sind, können wir einen kleinen Spaziergang machen,« sagten die jungen Mädchen.

Die Sonne steht schon tief, als wir zurückkommen; Friedrich hat seinen Stab von Gehilfen am Flüßchen verteilt, die Käscher sind ins Wasser gesenkt, an jedem hält ein Bauernjunge Wacht, um ihn herauszuziehen, sobald sich ein Krebs da hineingefangen hat. Lustig springt das kleine Flüßchen über Steingeröll, das die Krebse lieben, denn sie halten sich gern unter den Steinen verborgen. Man sieht sie durchs klare Wasser, wie sie ihre Schlupfwinkel verlassen und langsam und gravitätisch den Käschern zusteuern.

Mitten auf der Wiese steht wie hingezaubert eine lange weißgedeckte Tafel, ein köstliches Abendessen erwartet uns, mich überrascht eine hochgetürmte Schüssel roter Krebse.

»Haben wir die schon gefangen?« frage ich erstaunt.

Die Hausfrau lächelt ihr stilles Lächeln:

»O nein, die sind heute früh beim Bauern bestellt worden.«

Bänke und Stühle sind aus dem Hause getragen und um die Tafel gestellt. Während wir beim Abendessen sitzen, legt sich langsam die Dämmerung übers stille Land, an den Stellen, wo die Käscher im Wasser liegen, werden kleine Feuer angezündet, welche die Krebse heranlocken.

»Wir haben schon einen guten Fang gemacht,« meldet Friedrich respektvoll beim Bedienen, »der Abend ist so still, die Krebse ziehen wie toll!«

»Müssen wir uns nicht auch ein wenig um die Käscher kümmern?« frage ich.

Die jungen Mädchen lachen: »O nein, wozu sind denn die Leute da?«

Eine derartige Krebspartie hatte ich noch nie mitgemacht, ich kannte nur solche, bei denen man barfüßig im flachen Flüßchen umherwatete, sein Netz ins Wasser tauchte und höchst primitiv die Krebse damit fing, oder ihnen auflauerte und sie mit der Hand unterm Stein hervorzog, mit Todesangst im Herzen, daß man gekniffen wurde.

»Nun wollen wir uns den Fang anschauen,« schlagen die jungen Mädchen vor.

Wir gehen von einem Käscher zum anderen, stolz zeigen die Bauernjungen in geflochtenen Weidenkörben ihre Beute. Neugierig blicke ich in die Körbe, wo es von riesengroßen Krebsen wimmelt, sie rühren sich beständig, greifen mit den Zangen in die Luft, versuchen übereinanderzuklettern und fallen wieder in den Korb zurück.

Ihre Qual macht mich traurig, ich wende mich ab und gehe einen schmalen Wiesenpfad am Flüßchen hinauf, wo es einsam und still ist. Es duftet nach Gras und Wiesenblumen, vom Walde weht ein kräftiger Harzgeruch herüber, neben mir murmelt und gurgelt das Flüßchen eilig dahin. Ich stehe am Rande der Wiese und wende mich, um zu den anderen zurückzukehren; wie gebannt bleibe ich stehen vor dem stimmungsvollen Bild, das sich vor mir ausbreitet: ich sehe die weite, bunte Wiese mit dem weißgedeckten Tisch, die hellen Kleider der jungen Mädchen, die lustigen Feuer längs dem Ufer, im Hintergrunde das stattliche Bauernhaus mit seinem Gärtchen voll grellbunter Blumen, alles das im zarten Licht des Mondes. Dazu die tiefe Stille, das ruhevolle Schweigen in der Natur, darüber hin klingen fröhliches Mädchenlachen, die aufgeregten Zurufe der Bauernjungen und das beständige Murmeln des Wassers.

Meine Schülerin Irma kommt mir entgegen, langsam geht sie über den schmalen Pfad durch das hohe Gras der Wiese auf mich zu.

»Sie konnten gewiß die Qual der Krebse nicht mehr ansehen?« sagte sie lächelnd, »Sie sind eine Städterin, wer denkt daran auf dem Lande!«

»Dies Bild hier ist jedenfalls schöner,« ist meine Antwort, »sehen Sie sich doch um.«

Sie wendet sich und umfaßt mit dem Blick das ganze Bild, an dem ich mich eben gefreut. Sie hat ein warmes, für Schönheit tief empfängliches Herz, sie steht ganz still, und ich fühle, wie ihre lebendige Seele alles in sich aufnimmt, was ihr Auge schaut, und wie die große Stille und der lichte Friede des Abends sie erfüllen. Sie faßt meine Hand, und wir gehen schweigend durch den Duft der Wiese und durch die Abendstille zu den anderen.

 

Damals wußte ich noch nicht, daß das mein letzter Besuch auf dem Schloß war; Irma hatte geheiratet, zwischen der ältesten Tochter und mir hatte es Konflikte gegeben, in denen ihre Stellung zu mir mich tief verletzte.

Krieg und Revolution brachen über unser Land herein. Die Bewohner mußten ihr schönes Gut verlassen, sie flohen in die große Stadt, wo der Vater schwer erkrankte und starb. Die übriggebliebenen Familienglieder wurden auseinandergerissen, einige von ihnen flohen ins Ausland. Als sie in der Eisenbahn an ihrem Schloß vorüberfuhren, stand es in hellen Flammen.

Ich hatte jede Verbindung mit ihnen verloren. Die Bolschewikenherrschaft war über unser Land gekommen, die älteste Tochter, die Malerin, war nicht geflohen, sie war in Mitau ins Gefängnis gekommen, und als die Deutschen herannahten, war sie mit vielen Leidensgenossen den weiten Weg von Mitau nach Riga zu Fuß getrieben worden. Noch jahrelang nachher wurde diese Strecke der Todesweg genannt, denn wer nicht weiter konnte, wer am Wege liegen blieb, wurde von den begleitenden Soldaten erbarmungslos niedergemacht. Ich hatte erfahren, daß dieses verwöhnte Mädchen zu den wenigen Überlebenden gehörte, die in Riga angekommen waren, wo man sie mit ihren Leidensgefährten ins Frauengefängnis geschleppt hatte. Ich versuchte immer wieder, ihr das Gefängnisleben etwas zu erleichtern, aber was man tun konnte, war wenig genug, und ich erfuhr nie, ob dieses Wenige wirklich in ihre Hände gelangt war.

Dann kam der Tag der Befreiung von unerträglicher Qual: deutsche Kanonen donnerten über unserer alten Stadt, und unsere junge Landeswehr befreite uns, die Bolschewiken flohen, wer von ihnen nicht floh, wurde erschossen. Um die Gefängnisse hatte der Kampf am furchtbarsten getobt, nun war es auch dort still geworden. Ich machte mich auf, um die Befreiung der Gefangenen zu erleben, denn viele, die mir lieb waren, hatten lange dort geschmachtet.

Ich eilte über den Gefängnishof, an Blutlachen und Toten vorüber ging es. Nun stand ich vor dem Gefängnistor, es war weit geöffnet. Am Türpfosten lehnt eine schmale Gestalt im schwarzen Kleide, das Gesicht grau und farblos: sie war's, die ich zuletzt in Glanz und Reichtum gesehen. Sie hatte die Hände ineinandergelegt und sah still in den Frühlingsabend, in das Licht und die Freiheit hinaus. Mich erschütterte der Anblick bis ins Herz hinein, ich streckte ihr beide Hände entgegen, sie faßte die meinen mit langsamer, müder Bewegung.

»Können Sie mir vergeben,« sagte sie, und ihre Lippen zitterten, »ich habe Ihnen weh getan, ich habe oft im Gefängnis an Sie gedacht und gewünscht, Ihnen das sagen zu können; können Sie vergessen?«

Ich konnte nichts sprechen, ich nahm sie in meine Arme und küßte sie.

»Wie weich bist du nun geworden?« dachte ich erschüttert.

»Daß Sie die erste sind, die ich wiedersehe nach der langen Gefängnishaft, das ist schön. Ist nun alles gut?«

»Alles,« sagte ich, »alles.«

Sie nickte nur, trat zur Seite und verschwand im Gedränge der übrigen Gefangenen, die mich jubelnd begrüßten. Als ich später heimging, sah ich sie vor mir mit einem kleinen Bündel unter dem Arm, sie ging mit tiefgesenktem Haupt. Wohin ging sie, hatte sie ein Heim, das sie aufnahm? Ich wäre ihr gern nachgeeilt, hätte sie an der Hand genommen und sie zu mir geführt, aber ich hatte selbst kein Heim und war bei Verwandten aufgenommen. Ich folgte ihr noch eine Weile aus der Ferne, dann entschwand sie meinen Blicken; das Leben hat uns nicht mehr zusammengeführt.


Ich hörte lange Zeit nichts von der Familie, dann kamen Nachrichten aus Deutschland. Die einst so Begüterten führten ein mühseliges Leben voller Kampf um die tägliche Existenz. Auch die Schloßfrau mußte in den armseligsten Verhältnissen in der Fremde leben. Sie, die Verwöhnte, Kränkliche litt schwer unter dem Wechsel ihres Lebens, aber nie hat jemand eine Klage von ihr vernommen, und ihr gütiges Lächeln, vielleicht ein wenig schmerzlicher und weniger hell als sonst, leuchtete noch jedem, mit dem sie in Berührung kam. Ihr sehnlichster Wunsch, die Heimat wiederzusehen, wurde ihr endlich erfüllt. Es kam ein Sommer, der sie ins Haus ihrer jüngsten Tochter brachte, der einzigen, die heimgekehrt war und mit Mann und Kindern in den bescheidensten Verhältnissen auf dem Lande lebte. Nach kurzen Wochen durfte sie dort ihre lichten Augen für immer schließen; treueste Kindesliebe umgab ihr Sterbelager. Sie hat nicht geklagt und nur daran gedacht, wie sie ihren Kindern ihr Sterben erleichtern könnte.

Es war ein bescheidenes Geleit, das ihrem Sarge durchs herbstliche Land folgte, aber wer sie gekannt hat, wird sie nicht vergessen, sie war die Verkörperung der Liebe und Demut.

Das weiße Schlößchen ist nicht wieder aufgebaut, ein Trümmerhaufen bezeichnet die Stelle, wo es einst gestanden. Die alten Linden im Park sind zum Teil niedergehauen, zum Teil verbrannt, die Treibhäuser sind zerstört, die Blumengärten liegen wüst. Das früher blühende Land ist den Besitzern genommen und unter Bauern und Arbeitern verteilt, ihnen aber blieb nichts als die Erinnerung und die Sehnsucht.



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