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Die Itferschen

Wir saßen im grünen Planwagen, der langsam durch den Staub der Landstraße fuhr. Das kleine Städtchen Weißenstein in Estland lag hinter uns, mein Herz war voll Trennungsweh. Es hatte wieder einmal gegolten, Abschied zu nehmen von unserem Sommerparadies, von fröhlichen Festen, lustigen Waldausflügen, vor allem von Onkel Hermann, dem heißgeliebten. So fuhren wir auf der einsamen Landstraße hin, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich, und keiner von uns sprach ein Wort.

Die Trennung von Weißenstein war immer voll Tränen und Schmerzen für uns; aber diesmal kam noch etwas anderes hinzu, etwas, was mein wildes, kaum sechzehnjähriges Herz empörte. Wir waren mehrere Tage früher fortgefahren, als es ursprünglich bestimmt war, und jeder Tag, der von Weißenstein verloren ging, war ein Opfer, das mein Herz nicht in klagelosem Gehorsam zu bringen imstande war.

Wir mußten diesesmal früher fortfahren, weil meine Mutter einer neugewonnenen Freundin einen Besuch mit uns Kindern versprochen hatte. Sie freute sich aufs Wiedersehen, und der Abschiedsschmerz trat in den Hintergrund, was mich empörte.

Ach, diese Freundinnen meiner Mutter, sie bereiteten mir manche schwere Stunde!

Damals wurde in unserer Heimat noch viel in Freundschaftsbündnissen geschwelgt, ein Kultus, der in Deutschland schon vorüber war, bei uns aber noch in höchster Blüte stand.

Meine Mutter hatte einen ausgesprochenen Sinn für Freundschaft und einen großen Kreis, der sie umgab. Ich kann nicht sagen, daß ich alle ihre Freundinnen liebte, sie waren mir manchesmal sogar recht im Wege; vor allem aber mochte ich in meinem konservativen Sinn nicht begreifen, wie ihrer so viele sein konnten. Ich hatte nur eine einzige, die in einsamer Herrlichkeit in meinem Herzen regierte und die ich noch dazu mit meiner Schwester teilte.

Meine Mutter aber fand das eng.

»Soll ich mein Leben arm machen,« sagte sie in ihrer starken, lebensvollen Art, »jede Liebe, jede Freundschaft, die einem auf dem Lebenswege begegnet, ist ein Reichtum für die Seele. Warum soll ich diesen Reichtum an mir vorüber gehen lassen?«

»Aber man hat doch eine liebste Freundin,« sagte ich.

»Die liebste ist mir immer die, mit der ich gerade zusammen bin,« war meiner Mutter fröhliche Antwort.

Die Eröffnung meiner Mutter, daß wir früher abreisen würden, hatte bei den Verwandten in Weißenstein einen Sturm hervorgerufen. Am empörtesten waren die Vettern, denn es war ein großer Ausflug in den Wald geplant worden, zu dem meine Anwesenheit unumgänglich notwendig schien. Auch Onkel Hermann war verdrießlich.

»Was das nur wieder für ein Unsinn ist,« sagte er und verschwand auf Stunden in seinem Garten. Nur die gute Cousine Jenny sprach vom Vierten Gebot und dem großen Segen, der auf der Erfüllung dieses Gebotes läge; sprach davon, wie schön es sei, ein Opfer zu bringen, worin ich gar nicht mit ihr übereinstimmte, und verlangte kurzweg, ich solle mich an dieser Freundschaft meiner Mutter freuen. Das schien mir aber viel zu viel verlangt! Ich hatte es nur mit äußerster Anspannung meiner Seelenkräfte soweit gebracht, daß ich nicht laut murrte. Und so saß ich denn im Wagen, eine Niobe, stumm und schmerzerfüllt.

Meine Mutter hatte wenig Geduld mit uns Kindern, namentlich mit mir nicht; das Stück Unbeugsamkeit in meiner Natur – ich ließ mich nie überreden – war ihr völlig unverständlich. Meine Schwester, die weicher und lenksamer war als ich, hatte sich freundlichen Herzens gefunden, und meinen Bruder lockte das Neue. So war ich denn das einzige schwarze Schaf in unserer kleinen Familie und fühlte mich einsam und unverstanden.

Es erbitterte mich auch so sehr, daß meine Mutter diesmal beim Abschied von Weißenstein nicht einmal geweint hatte, sondern hellen Auges aus den kleinen Fenstern unseres Planwagens schaute und froh dem ersehnten Ziel entgegenfuhr. Unsere Fahrt hatte schon einige Stunden gedauert, da hob der alte Estenfuhrmann seine Peitsche, wies mit ihr über die endlosen Wiesen und Felder hin auf einen Kirchturm, der einsam in den klaren Sommerhimmel hineinragte, und murmelte auf estnisch:

»Neben der Kirche liegt das Gutshaus!«

Bald bogen wir in eine Allee und hielten vor der breiten Treppe der Veranda, die ins Haus führte. Dieses Haus lag ganz im Garten, es war so dicht von Fliederbüschen umgeben, daß man seine Mauern kaum sah, die Veranda war mit Wein umrankt. Es war so recht ein alt-estländischer Landsitz: langgestreckt und schlicht, friedlich und voller Behagen.

Die drei Töchter, die mit ihrer alten Mutter das Gut bewohnten, empfingen uns an der Tür, alle drei hochgewachsen, stattlich, blond, mit klugen Gesichtern, echte Estländertypen. Sie waren so warmherzig, so froh, so sprudelnd lebendig, daß sie einen gleich mit sich fortrissen. Als Cilly, die Älteste, meiner Mutter Freundin, mich in mein Stübchen führte, das eine Treppe hoch gelegen war, legte sie den Arm um mich und sagte aus tiefstem Herzen heraus:

»Es war wohl ein großes Opfer, das ihr, Kinder, mir zuliebe gebracht habt, daß ihr Weißenstein so früh verließet, ich danke dir ganz besonders dafür, denn ich weiß, daß es dir am schwersten fiel!«

Da schmolz die Eisrinde um mein Herz, befreiende Tränen kamen mir, und aus dem schwarzen Schaf wurde ein weißes Lamm.

Als ich mich beruhigt hatte und meine Tränen getrocknet waren, führte mich Cilly zu ihrer Mutter, in deren Zimmer ich die Meinigen schon alle vorfand. Die alte Baronin saß in einem weichen Lehnstuhl auf einem breiten Fenstertritt. Ihr Zimmer war unendlich behaglich und voller Traditionen; ein großer, dunkler Teppich bedeckte fast den ganzen Fußboden, wertvolle alte Möbel, kostbare Bilder an den Wänden, Blumen und Bücher, das alles bildete die rechte Umgebung für die aristokratische alte Dame. Durch das offene Fenster strömte Rosen- und Heuduft, der Blick ging auf eine Kirche mit schlankem, spitzem Turm, dicht daneben lag der Friedhof, und bis weit in die Ferne hin schaute man nur auf grüne Wiesen und reife Kornfelder. Es war so viel Stille und Frieden in diesem Zimmer, solch eine Atmosphäre von Heimat und Geborgensein, daß es mir ganz warm ums Herz wurde und ich mit raschem Schritt zur Herrin des Hauses trat. Sie streckte mir eine zarte, gepflegte Hand entgegen, die ich ehrfurchtsvoll küßte.

»Sind Sie auch gern zu uns gekommen?« fragte sie freundlich. Ich konnte ihr hell in die etwas schelmischen Augen blicken und sagen: »Ich bin froh, daß ich hier bin.«

Ich habe immer gefunden, daß in unseren gastfreien Provinzen die Gastfreundschaft in Estland einen ganz besonderen Ton von Wärme und Herzlichkeit hatte. Es war dort so ganz besonders »gemütlich«, um einen echt baltischen Ausdruck zu gebrauchen, und mir ist's, als wäre er speziell für die Häuser in Estland geprägt worden. Einen Gast umgab stets etwas Festliches, und jeder suchte ihn zu feiern oder ihm etwas Schönes zu bieten, dabei herrschte überall eine so ganz selbstverständliche Freiheit, getragen von warmer Fröhlichkeit.

Dieses Haus hier, dessen Leben wir für kurze Zeit mitlebten, trug noch sein besonderes Gepräge durch die ausgesprochen künstlerischen und literarischen Interessen, von denen das Leben dort erfüllt war. Mit Staunen sah ich mehrere große Zimmer, deren Wände von oben bis unten mit Stichen bedeckt waren, und die fast die ganze Dresdener Galerie wiedergaben. Es war eine Welt, in die ich hineinschaute, die mir bis jetzt ganz fremd gewesen war, und die mich mit Scheu und Ehrfurcht erfüllte. Stumm bin ich viele Stunden von Bild zu Bild gegangen, und zum erstenmal stieg eine Ahnung in meiner jungen Seele auf, daß es noch eine andere Schönheit gab, als die in Schumanns und Schuberts Liedern verborgen lag. Das geistige Leben, das dieses Haus erfüllte und das so ungezwungen in seiner Stärke war, ging hauptsächlich von den beiden ältesten Schwestern aus. Cilly war die geistvollste von ihnen, sie hatte eine Art, zu erzählen, die einen zwang, ihr atemlos zuzuhören. Ihre Vergleiche waren schlagend, ihre Bilder farbenprächtig und einleuchtend, ihre Gedanken voll Tiefe und eigenartiger Schönheit. Sie hatte so viel gelesen und in der Stille ihres Landlebens das Gelesene so verarbeitet und mit ihrer starken Persönlichkeit durchflutet, daß es wie eine Quelle aus ihr strömte, wenn sie sprach.

Die zweite, Madeleine, war klug, witzig, unendlich originell und voller Humor. Sie erlebte alles, was ihr begegnete, sei's groß oder klein, mit einer leidenschaftlichen Intensität. Es war ganz gleich, was sie gerade beschäftigte: ein Zeitungsroman oder eine große Zeit der Weltgeschichte, die Verlobung einer Dienstmagd oder das tragische Geschick eines nahen Freundes, oder auch nur ein neuer Kleiderschnitt; alles erlebte sie immer bis auf den Grund ihrer Seele, und es nahm sie momentan vollständig ein.

»Ach, ihr Lieben, ich bin vollständig besessen,« sagte sie dann von sich, halb seufzend, halb humoristisch. Sie dichtete, schriftstellerte und brachte uns alle zum Lachen durch ihre hinreißend amüsante Art.

Berta, die dritte Schwester, war wohl die am wenigsten Bedeutende im Hause. Sie wurde von den starken Schwestern leicht in den Hintergrund gedrängt. Ihre Seele war fein, poetisch und voller Güte. Sie war sehr kränklich und zart und lebte nur für die Pflege der alten Mutter, die im Mittelpunkt all ihrer Liebe und all ihrer Sorge stand. Die Seele des Hauses war diese über alles geliebte Mutter, vor deren zartem, heiterem Wesen sich die starken Persönlichkeiten ihrer Töchter unbedingt beugten. Sie war eine Aristokratin aus alter Zeit, fein, vornehm, sehr klug, von einer ruhigen Heiterkeit und lieblichen Schelmerei. Mit sicherer Ruhe schaute sie auf das stürmische Leben ihrer Töchter, und immer hielt sie die Zügel des Hauses in zarten und festen Händen.

Das Leben war unendlich behaglich, auf breitester Basis aufgebaut, und alles war in Hülle und Fülle da. Alte bewährte Dienstboten unter Führung einer »Mamsell« hielten das Haus tadellos in Gang. Eine »Mamsell« durfte auf keinem Gute oder Pastorate fehlen. Es war meist ein altes Inventar, von Kindheit an mit dem Hause verwachsen. Sie kochte großartig, erzog die Dienstboten, kannte alle Geheimnisse des Hauses und hatte vor allen Dingen Lieblinge unter den Kindern und Gästen, denen immer etwas Gutes aus der Speisekammer zugesteckt wurde.

Es wimmelte von Dienstboten in der Küche und im Leutezimmer. Es gab solche, die arbeiteten, und solche, die nichts taten und völlig unbegreiflicherweise das »Gnadenbrot« aßen. Wo gab es noch solche Hühnerbraten mit so dicken Schmantsaucen, wo hatte man solche Erdbeermassen, dick mit Zucker bestreut, gegessen, und wo hatte man solche Berge von Kuchen und frischem Weißbrot vertilgt wie hier? War man ganz satt, so bekam man immer noch einen allerschönsten Bissen auf seinen Teller gelegt, und die bedienende Magd flüsterte besonders den jungen Gästen überredend zu, sie sollten sich doch nicht genieren und ruhig noch einmal nehmen.

Für meine kranke Schwester fand sich bald ein Rollstuhl, und jederzeit war ein dienendes Wesen bereit, das sie spazieren fuhr. So konnte sie an unseren weiten Spaziergängen mit teilnehmen. Auf schmalen Feldwegen zwischen wogenden Kornfeldern ging es zu den einzigen Sehenswürdigkeiten des Ortes, zur Kirche und zum Kirchhof. Die Gegend war ganz flach, weit und breit war kein Wald zu sehen, nur goldene Kornfelder und grüne Wiesen dehnten sich bis zum fernen Horizont, und die Welt war voll Sonne und Lerchengesang. Abends versammelte man sich im Zimmer der alten Baronin, die an ihrem Fensterplatz saß und zu meinem Staunen Zigaretten rauchte. Man schaute aus dem Fenster, sah das Abendrot am fernen Horizont verglimmen, horchte aufs Abendläuten, und meine Mutter las aus dem »Hyperion« von Hölderlin vor. Oder wir horchten auf die Erzählungen der Schwestern, die von ihrem unendlich einsamen Leben im Winter sprachen. Ich konnte mir unter ihren Schilderungen wohl vorstellen, wie es sein mußte, wenn diese weiten Flächen von Schnee zugedeckt dalagen, kein Vogelruf, kein menschlicher Laut weit und breit, nur Schnee und darüber eine blasse Wintersonne. Die Schwestern erzählten, wie die Einsamkeit sich wie eine große Glocke aus Glas atemraubend, beängstigend über das stille verschneite Haus legte, das man oft tagelang nicht verlassen konnte, weil man knietief in den weichen Schnee versank.

»Und wenn es mit der Einsamkeit gar zu schlimm wird,« sagte die alte Mutter lächelnd, »dann wird der ›Wasock‹ aus der Wagenremise hervorgeholt, mehrere Pferde werden vorgespannt, und wie Mumien verpackt fahren meine beiden ältesten Töchter aus, nach Weißenstein zum alten Onkel Hermann. Von dort bringen sie immer wieder Fröhlichkeit, Fülle und Leben heim, so daß man die Einsamkeit für eine ganze Weile wieder ertragen kann.«

Cilly und Madeleine schrieben an einem Roman, aus dem sie uns einige Kapitel vorlasen. Meine Mutter fand, er sei sehr geistvoll geschrieben, »aber,« meinte sie lächelnd, »wenn ihr ihn veröffentlichen würdet, müßtet ihr wohl das Land verlassen.« Die ganze estländische Gesellschaft war darin charakterisiert und mit scharfen Geißelhieben getroffen.

Ich hatte zu Cilly ein großes Zutrauen gefaßt und öffnete ihr vertrauend mein Herz. Auf einem Abendspaziergang, den wir einmal ganz allein machten, fing sie an, mit mir über meine Zukunft zu sprechen. Sie fragte mich, welchen Beruf ich zu ergreifen gedächte, denn ich müßte ans Verdienen denken, da ich doch bald die Schule verlassen würde. Da gestand ich ihr meines Herzens heimliches Sehnen, das ich noch niemandem offenbart hatte, ich wolle so gerne Putzmacherin werden. Ich rechne es ihr noch heute hoch an, daß sie bei dieser Eröffnung ganz ernst blieb. Nach einer inhaltsschweren Pause, in der sie wohl ihr Lachen verbiß, sagte sie, es wäre ein wunderschöner und ehrenhafter Beruf, aber doch vielleicht nicht ganz der richtige für eine Tochter meiner Mutter. »Willst du nicht lieber dein Lehrerinnenexamen machen?« schloß sie.

»Nein, das will ich ganz bestimmt nicht,« war meine entschiedene Antwort, »Lehrerinnen haben immer etwas Verstaubtes. Ich möchte einen Beruf haben, wo ich etwas Schönes tun kann.«

Es war wohl ganz unbewußt die Sehnsucht nach einer künstlerischen Ausgestaltung meines Lebens, die aus mir sprach. An einen künstlerischen Beruf wagte ich nicht zu denken, denn »die Sterne, die begehrt man nicht«.

Ob sie damals nicht tiefer in mir las, als ich es ahnte? Sie sprach fein und klug zu mir, und dieser Spaziergang wob ein festes Band zwischen uns beiden. Ich fühlte mich verstanden in meinem unklaren Sehnen wie kaum je zuvor.

Wie schnell flogen die wenigen Tage in diesem eigenartigen Hause dahin! Die Freunde meiner Mutter waren auch Freunde von uns jungen, unreifen Menschenkindern geworden. Und als der grüne Planwagen wieder vor der Tür stand, gab es eine schmerzliche Trennung, denn wir wußten, daß wir diesen liebgewonnenen Ort nie mehr wiedersehen würden. Die Freunde hatten uns anvertraut, daß sie ihr Gut verkaufen und ins Ausland übersiedeln wollten.

 

Ungefähr nach zwanzig Jahren besuchte ich sie in Rom. Ich war keine Putzmacherin geworden, sondern kam nach Italien, um dort Gesangstudien zu treiben. Die feine alte Baronin und Bertha waren tot. Madeleine hatte einen Italiener geheiratet, und Cilly, die Lehrerin geworden war, lebte bei ihr. Für mich war ihr Haus ein Stück Heimat mitten im fremden Lande. Als ich sie wiedersah, war es, als hätte man sich erst gestern getrennt, so selbstverständlich vertraut war der Verkehr mit ihnen. Es war ganz wunderbar, wie sie echtes Baltentum mit italienischer Art in sich vereinigten. Sie sprachen Italienisch wie geborene Italiener und Deutsch noch immer in ausgesprochen heimatlichem Dialekt. Ihre Originalität war gewachsen. Cilly war, wie wir von ihr sagten, unheimlich gebildet. Ihr lebendiger Geist sprudelte noch immer wie eine Quelle, ihre Ausdrucksweise war durch das Leben in Italien noch kühner, bilderreicher und farbenprächtiger geworden; dabei war sie von einer südlich lodernden Heftigkeit, regte sich auf über Dinge, die es gar nicht wert waren. Madeleine war so originell geworden, daß sie nur noch in Italien leben konnte, einem Lande, wo alles Platz hat und sich in seiner Art ungestört ausleben kann. Sie erlebte immer etwas Romanhaftes, denn ihre unendliche Hilfsbereitschaft wurde oft von ihren Nebenmenschen zu den abenteuerlichsten Dingen mißbraucht. Kaum waren wir eine halbe Stunde beisammen gewesen, so hatte sie mich bereits in einen großen Prozeß eingeweiht, in dem sie als Zeuge auftreten mußte. Dieser Prozeß ging sie eigentlich gar nichts an, sie hatte sich nur durch ihre namenlose Gutmütigkeit in ihn verwickeln lassen und folgte ihm mit der ganzen Glut ihrer lebendigen Seele. Täglich verbrauchte sie viele Stunden zu den Sitzungen, zu denen sie in einem großen Federhut vornehm gekleidet in höchster Aufregung hinging.

Einmal marterte ein Kellner aus einem Kaffee sie seit Wochen mit der Bitte, einem italienischen Grafen eine deutsche Frau zu verschaffen. Der Graf hatte ihm im Falle des Gelingens eine große Geldsumme versprochen. Er sei sein bester Kunde im Kaffee, flehte der Kellner, sie solle ihn nicht verlassen und sein Glück begründen. Sie hatte schlaflose Nächte, so lag ihr die Bitte dieses Mannes am Herzen.

Das Leben in ihrem Hause war amüsant, großstilig und fremdartig, und doch dabei vertraut und heimatlich. Durch die Freunde lernte ich Rom in ganz besonderer Weise kennen, denn alles, was groß, schön und eigenartig in dieser Stadt war, kannten sie und brachten sie mir nah, und alles Schöne, was man erlebte, vertiefte sich durch die Art, wie sie es beleuchteten und besprachen. Wir sind zusammen durch die Campagna gewandert, haben in den Osterien die Leute Saltarello tanzen gesehen und sind dann am Abend heimgewandert, umflogen von Leuchtkäferchen, die wie vom Himmel gefallene kleine Sterne uns umfunkelten. Nach solchen Ausflügen weckte mich manchmal Madeleine in der Nacht, in der einen Hand ein Licht haltend, in der anderen ein Papier, auf das sie ein Gedicht geschrieben hatte. Oft war daran die Tinte noch nicht getrocknet.

»Geliebte,« sagte sie eifrig, »wach auf und höre, was ich eben geschrieben habe, sonst kann ich nicht ruhig einschlafen.« Und dann las sie mir ihre schönen Verse mit tiefbewegter Stimme vor.

»Ich bin wie die Nonne Roswitha,« sagte sie, über sich selbst lächelnd, »die ging auch in der Nacht von Zelle zu Zelle, weckte die Schwestern und las ihnen ihre Werke vor.«

Bei aller Liebe zu Italien, bei aller Zugehörigkeit zum italienischen Volke waren ihre Herzen doch fest und tief mit der Heimat verwachsen geblieben. Wenn wir abends am Kaminfeuer saßen und von alten Zeiten sprachen, dann versank das ewige Rom, und das Rauschen des Tiber, der an unserem Fenster vorüberfloß, verstummte. Die Erinnerungen wurden lebendig, weite stille Wiesen voller Lerchenjubel stiegen vor unserem inneren Auge auf. Die Sonne war untergegangen, und das Abendrot verglühte am fernen Horizont. Durchs offene Fenster strömte Rosen- und süßer Heuduft, und bei uns waren die, die wir einst geliebt und mit denen wir uns daran gefreut hatten. Wie viele von ihnen waren schon längst von uns gegangen! Aber stark und fest umschloß uns, die wir noch übrig geblieben waren, ein Band, unlösbar, unzerreißbar, und das war die Baltentreue.



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