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Herr Braun

Es ist ein eisiger Wintertag. Ich stehe in meiner kleinen, hellen Küche am Herde, da wird von außen mit kurzem, mattem Schlage an die Tür geklopft.

»Herein!« rufe ich, aber niemand tritt herein.

Ich gehe schnell selbst hin, um nachzusehen, und öffne die Tür, an dem Türpfosten lehnt ein junger Mann mit einer Mappe unterm Arm. Er ist dürftig gekleidet und hat nicht einmal einen Mantel an. Zitternd, mit blaugefrorenem Gesicht und Händen versucht er zu sprechen, aber seine Lippen regen sich kaum, sie sind ganz steif vom Frost. Ich nehme ihn an der Hand und führe ihn in die warme Küche, er folgt vollständig willenlos. Mein Mädchen schiebt ihm schnell einen Stuhl an den Herd, auf den er sich niederläßt. Ich nehme ihm die Mappe aus der Hand, die er krampfhaft hält, er wird immer blasser, sein Kopf sinkt auf die Brust, er ist einer Ohnmacht nah. Einige Löffel heißer Suppe bringen ihn zur Besinnung, nach kurzer Zeit kann er wieder sprechen.

»Ich bin hungrig und erfroren,« flüstert er.

Allmählich taut er vollständig auf und wird ganz mitteilsam.

»Wenn Sie mich nicht in Ihre Küche hineingelassen hätten,« sagt er mit bescheidenem Lächeln, »wäre ich wohl auf der Straße gestorben, es ist zu kalt.«

Er erzählt, daß er hauptsächlich vom Verkauf von Postkarten und Postpapier lebe:

»Aber seit den letzten Wochen habe ich kein Glück,« sagte er traurig, »ich verkaufe nichts!«

Alle meine Hausgenossen kommen in die Küche und sind von Mitleid und Interesse für ihn erfüllt. Er nennt seinen Namen, er heißt Braun.

Als er Abschied nimmt, bringt jede von uns ihm etwas Warmes, und mit einem dicken Schal, warmen Handschuhen, mit wollenen Strümpfen bekleidet, geht er voller Dankbarkeit fort. Ich habe ihm gesagt, so lange es ihm so schwer ginge, dürfe er dreimal die Woche zum Essen zu mir kommen, und so stellt er sich denn auch ganz regelmäßig ein. Ich hatte ihm eine kleine Summe geschenkt als »Betriebskapital«, wie er stolz sagte, die ihm Glück brachte. Er arbeitete sich langsam wieder in die Höhe, dabei wurde er immer vergnügter. Eines Tages erschien er sogar in einem Mantel, der allerdings alt und schäbig war, über den er sich aber unendlich freute.

»Nun bin ich aus meinen allerschwersten Sorgen heraus,« sagte er glücklich. Ich schlug ihm vor, daß er nun nicht mehr so regelmäßig zum Mittag zu mir kommen solle, sondern seinen Plätz Ärmeren überlassen müsse, womit er sich fröhlich einverstanden erklärte.

»Aber ich darf doch dazwischen wiederkommen und von mir erzählen?« fragte er. Das wurde ihm bewilligt, und wir trennten uns mit großer Herzlichkeit. Er kam noch hin und wieder bescheiden durch die Küchentür, wie er es gewohnt war, dann verschwand er vollständig. Lange Zeit wußte ich nichts von ihm.

Eines Tages meldete mein Mädchen mir einen Besuch.

»Der Herr muß ein Verwandter sein,« sagte sie, »er ist ganz direkt ins Musikzimmer gegangen, und dort sitzt er auf dem Sofa; er sagte, er sei hier sehr bekannt!«

Ein wenig gespannt gehe ich in mein Musikzimmer und sehe einen fremden Herrn behaglich dasitzen. Er erhebt sich langsam.

»Nun, wer bin ich?« fragt er, indem er seine Augen schelmisch zudrückt und seinen Kopf auf die Seite legt. Er wird mir ein wenig unheimlich, ist er verrückt oder betrunken? Ich kann mich immer noch nicht besinnen, wer er ist.

»Ich bin Herr Braun!« ruft er, als wenn er eine Weihnachtsüberraschung für mich bereit hätte. »Kennen Sie mich jetzt?«

Ja, nun erkannte ich ihn, aber mein Erstaunen über sein Betragen machte mich ganz stumm. Er ergriff meine Hand und schüttelte sie kameradschaftlich.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz,« forderte er mich auf, »ich setze mich wieder ins Sofaeckchen und wir können miteinander plaudern!«

Er setzte sich wirklich und schob sich ein Kissen in den Rücken. Ich war so verblüfft, daß ich mich gehorsam auf einen Stuhl ihm gegenüber niederließ, ihn stumm ansah und wartete auf das, was nun kommen würde.

»Haben Sie nicht eine Zigarette bei der Hand? Es plaudert sich besser beim Rauchen.« – »Nein,« sagte ich kurz. Er schien mir mein »Nein« nicht weiter übel zu nehmen und begann unaufgefordert von seinem Leben zu erzählen. Er hätte nun einen Kompagnon, mit dem er glänzende Geschäfte mache. Ich hatte allmählich meine Sprache wiedergefunden und fragte, welcher Art diese wären. Meine Frage wies er höflich, aber fest zurück, er tat es in einer Art, wie man Neugierige zurechtweist.

»Davon verstehen Damen nichts,« sagte er. Während er sprach, betrachtete ich ihn mir: er war ausgezeichnet gekleidet, trug einen Siegelring am Finger, und sein Schlips war wunderbar geschlungen.

»Ich denke, Sie freuen sich sehr über alles, was ich Ihnen erzähle,« sagte er. Ich sagte wohl ja, konnte aber dabei ein Gefühl der Angst nicht loswerden. Da er gar keine Miene machte aufzubrechen, erhob ich mich und verabschiedete ihn.

»Jetzt kommen Sie mal ins Vorzimmer und sehen Sie sich meinen Paletot an, er hat einen echten Karakulkragen Russischer Astrachanpelz. und ist sehr schön.

Nun war ich doch neugierig und folgte ihm. Er nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken, ich mußte ihn befühlen, er war prachtvoll, vor allem aber der Kragen, der wirklich echt war. Ich war so erleichtert über sein Fortgehen, daß ich den Paletot aus vollem Herzen bewunderte, was seine Lebensfreude derartig erhöhte, daß er verheißungsvoll sagte: »Ich werde Sie bald wieder besuchen.« Als ich meinte, ich hätte nicht viel Zeit, wurde er beleidigt:

»Bitte sehr,« sagte er gekränkt und ging aus der Tür.

Monate waren vergangen, er hatte sich zu meiner großen Beruhigung nicht wieder gezeigt.

Da kommt eines Morgens ganz früh mein Mädchen in mein Schlafzimmer:

»Herr Braun ist wieder da,« sagt sie ängstlich, »er ist gleich ins Speisezimmer gegangen, hat sich dort in einen Lehnstuhl gesetzt und raucht.«

Jetzt stand mir das Herz doch fast still vor Schreck.

»Ich gehe in meine Küche,« sagte das Mädchen, »und mache die Tür zu, ich habe zu sehr Angst.«

Als ich mich angekleidet habe und in das Speisezimmer trete, sitzt Herr Braun wirklich mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem tiefen Lehnstuhl und raucht. Er erhebt sich bei meinem Anblick, grüßt mich wieder kameradschaftlich und mit einem gewissen Humor. Ich bin sehr kühl.

»Wie kommen Sie darauf, mich schon so früh am Morgen zu überfallen? Die Zeit paßt mir nicht,« sage ich.

»Ich habe nur ein kurzes Geschäft mit Ihnen abzumachen, Sie können ruhig dabei frühstücken,« ist seine unentwegt vergnügte Antwort.

»Was ich tue, werde ich wohl selbst bestimmen! Was wünschen Sie von mir?«

»Es ist mir geschäftlich schlecht gegangen, und Sie müssen mir heraushelfen. Ich brauche 150 Rubel, und die müssen Sie mir geben!«

»Ich kann Ihnen das Geld nicht geben,« sage ich sehr entschieden, »die Summe ist für mich groß, und ich kann sie selbst nicht entbehren.«

»Das werden Sie sich doch noch überlegen,« sagte er drohend, »denn ich brauche das Geld und muß es haben!«

Ich erhebe mich, auch er springt auf und verlegt mir den Weg. Dabei stößt er an den Frühstückstisch, ein Ei fällt um und rollt unter den Tisch. Er hebt einen Zipfel des Tischtuches und schaut ihm nach:

»Kaputt,« sagte er kopfschüttelnd, »total kaputt!«

Trotz meiner Angst und meines Zornes muß ich doch lachen, was ihn freundlicher zu stimmen scheint:

»Nun, ich bin auch zufrieden mit 100 Rubeln,« sagt er milde.

Ich bin ganz allein, meine Hausgenossen sind noch in ihren Schlafzimmern und mein Mädchen hat sich wirklich in der ferngelegenen Küche verbarrikadiert; die Angst kommt wieder über mich.

»Ich werde Ihnen das Geld geben,« sage ich kurz entschlossen, »wünsche aber Ihre Besuche nicht mehr in meinem Hause.«

Ich gehe an meinen Schreibtisch, nehme das Geld heraus und übergebe es ihm.

»Nun, ich muß doch meine Schulden wieder abzahlen,« meint er vollständig ungerührt.

Er hat auf einen schmutzigen Zettel, den er aus der Tasche zieht, eine Quittung ausgeschrieben: »Alles in Ehren,« sagt er, während er ihn mir überreicht, und dann geht er mit einer tiefen Verbeugung fort. Ich bemerke noch, daß er den Paletot mit dem Karakulkragen nicht mehr besitzt. Mein Mädchen bekommt die strenge Weisung, ihn unter keinen Umständen mehr vorzulassen. Einige Wochen denke ich noch mit Angst an ihn, da ich aber nichts von ihm höre, entschwindet er meinem Gedächtnis. Doch eines Tages steht er wieder vor mir, zieht sein Taschenbuch und bezahlt mir die Hälfte seiner Schuld. Ich freue mich und sage es ihm mit ein paar herzlichen Worten.

»Ich kann mir denken, wie glücklich Sie sind,« sagt er und sieht dabei aus wie ein Sieger.

Dann kam der Krieg.

Ich hatte meine Wohnung gewechselt, und über den großen Schrecknissen vergaß man die kleinen Sorgen und Ängste. Da wird an meiner Tür heftig geklingelt, ich öffne, und im dämmerigen Vorhause erkenne ich Herrn Braun. Er sah mich mit Augen an, die mich mit Furcht erfüllten.

»Wohnt hier Monika Hunnius?« fragt er. »Ja,« ist meine Antwort, »aber sie ist nicht zu sprechen.«

»Sie sind es ja selbst,« ruft er freudig überrascht und fügt vorwurfsvoll hinzu: »Wie können Sie nur sagen, daß Sie nicht zu sprechen sind, das ist ja eine Lüge!«

»Nein, es ist keine Lüge,« sage ich, »denn für Sie bin ich nicht mehr zu sprechen!«

»Bitte sehr,« bemerkt er höhnisch, »ich habe auch gar nicht das Bedürfnis mehr, mit Ihnen weiter zu verkehren!«

Mit einer schwungvollen Armbewegung setzt er seinen Hut auf, verbeugt sich tief und verschwindet. Ich schloß die Tür. Nie bin ich ihm im Leben wieder begegnet.



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