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Suislep

Ich hatte schon lange meiner Freundin Doris versprochen, sie auf ihrem Familiengut zu besuchen, das im estländischen Teil Livlands lag. Nun waren die Ferien da, und ich hatte mich aufgemacht, um ihren Wunsch zu erfüllen. Doris bildete sich in Riga für Malerei und Gesang aus. Seit einem Jahr lebte sie ganz bei mir, mit meinem Hause verbunden wie eine Schwester. Und nun forderte die Familie dringend, ich solle sie besuchen, denn sie wollten mich kennen lernen.

Ich saß in der Bahn und schaute aus dem Fenster auf die vorüberfliegende Landschaft. Nun mußte der Zug gleich an der Station halten, wo mich der Gutswagen zur weiteren Fahrt erwartete.

Ich war ein wenig erregt und bange, denn ein kritischer Empfang auf dem Gut würde es sein, das war klar. Doris, die sehr geliebte Tochter und Schwester, hatte vielleicht etwas zu begeistert von uns berichtet, und ihr beständiges Hinstreben nach Riga und in unser Haus hatte ein gewisses Mißfallen und eine kleine Eifersucht in der Familie hervorgerufen.

Je näher die Station kam, desto ungemütlicher wurde mir die Lage, und als der Zug hielt, wäre ich am liebsten weitergefahren. Aber da stand Doris schon auf dem Bahnsteig, unruhig nach mir ausspähend, sie wußte von meinen Ängsten und hatte den heimlichen Verdacht, ich würde im letzten Augenblick der Familienschau entrinnen. Ein Strahlen ging über ihre Züge, als sie mich erblickte, und lachend flogen wir uns in die Arme.

Bald saßen wir behaglich in der bequemen Kalesche und fuhren in die friedliche Abendwelt hinein. Ich weiß nicht, ob wohl ein Fremder so stark den Zauber empfinden würde, der in einer solchen Landfahrt durch unsere Heimat, wie sie früher war, lag. Für einen Balten barg sie eine unendliche Fülle von Poesie, für mich war es immer, als empfände ich den Begriff »Heimat« niemals so stark wie auf solchen Fahrten. Die ruhelose Stadt, die heiße Eisenbahnfahrt liegt hinter einem, schnell rollt der Wagen über die ebene Landstraße dahin. Bald führt der Weg durch Wiesen und Felder, dann an einsamen Torfmooren vorüber, bald fährt man durch dichten Tannenwald, auf dessen Baumwipfeln goldene Sonnenlichter spielen, während auf dem Waldboden schon die Abendschatten liegen. Nun tauchen Gesinde am Wege auf, friedliche Bauernhäuser inmitten ihrer Wiesen und Kornfelder. Jedes Haus hat seinen Brunnen, dessen Ziehbalken hoch in den klaren Abendhimmel ragen. An den Haustüren sitzen spielende Kinder mit fast weißen Blondköpfen, leidenschaftlich bellend stürzt ein Hund heraus und begleitet den Wagen ein Stück Weges. Die Leute schauen von ihrer Arbeit auf und grüßen, denn jeder kennt den herrschaftlichen Wagen. Manchmal sieht man in der Ferne einen Kirchturm, man fährt an einem Gutshause vorüber, zu dem meist eine schattige Allee führt. Stattlich ragen die großen, weißen Gebäude aus den sie umgebenden Parkanlagen hervor.

Alles ist vertraut, friedlich und lieb –

O Heimat, alte Heimat,
Wie machst das Herz du schwer –

»Nun sind wir bald da,« sagte Doris lachend, »nun nimm all deinen Mut zusammen!«

Zwischen den Baumwipfeln sieht man in der Ferne ein rotes Dach auftauchen. Wir fahren über eine Brücke, und da liegt es vor uns auf einer Anhöhe, ein schönes Herrenhaus im altlivländischen Stil mit einer großen Veranda, die von einer breitblätterigen Schlingpflanze umrankt ist. Eine Steintreppe führt zu einem Rasenplatz, der sich hinab bis zum Fluß senkt.

Das Haus hatte ein hohes Dach im holländischen Stil mit Mansardenfenstern. Es sah behaglich und vornehm aus. Alles das sah mit schnellem Blick im Vorüberfahren, dann bogen wir in den Hof und hielten vor der weinumrankten Treppe, auf der alle Hausgenossen versammelt waren.

Der Empfang war freundlich, aber doch ein wenig gehalten, und mir schlug das Herz bis in die Kehle: wie werde ich hier bestehen?

Am anderen Morgen wurde mir das ganze Haus gezeigt: es waren schöne Räume voll alter, kostbarer Sachen. Mir fiel es aber auf, wie stillos alles eingerichtet war. Alle Möbel standen durcheinander: ein wunderschönes Empirezimmer mit Medaillons an den Wänden hatte Jacobe-Möbel, während andere Zimmer mit Empire- und Biedermeiermöbeln vermischt eingerichtet waren. Im großen Saal stand eine Hausorgel, zu der Stufen hinaufführten, alles aus massivem Mahagoni. Die großen hohen Räume, die schönen, kostbaren Möbel machten einen vornehmen Eindruck. Die Wände waren mit Gemälden bedeckt, Kopien alter Meister, aber die wundervollen, goldenen Rahmen waren mit grauer Ölfarbe angestrichen – diesen Vandalismus hatte sich ein Ahnherr geleistet.

»Kann man die Zimmer nicht anders einrichten, kann man sie nicht umkramen?« fragte ich Doris leise. »Wie wunderbar könnte euer Haus sein!«

»O nein,« war ihre Antwort, »das ist völlig ausgeschlossen! So hat es immer gestanden, und so wird es wohl auch bleiben, daran darf nicht gerührt werden.«

Der Besitzer von Suislep war der unverheiratete Bruder, kurzweg »der Baron« oder auch nur »der Bruder« genannt. Er war ein ruhiger und feiner Mensch, ein sehr fleißiger, tüchtiger Landwirt, ein wenig zur Schwermut neigend, sehr gebildet und anregend. Sein ganzes Interesse gehörte seinem Gut, und mit stiller, heißer Liebe hing er an seinem Lande.

Die alte Mutter, die mit drei Töchtern bei ihm lebte, war voll unendlicher Herzensgüte und Sanftmut, in aller Stille tat sie viel Gutes.

Doris' Schwestern hatten alle etwas Zartes, auch über ihnen lag eine leise Schwermut, etwas Verhülltes, oft ein wenig Müdes. Elly, die Älteste, war wohl die Gütigste, ihr »Ich« hatte ganz aufgehört zu sein, es gab für sie nur noch Mitmenschen.

Anna war Malerin, eine ausgesprochen künstlerische Natur. Sie hatte etwas Schüchternes, Scheues, sie konnte nichts aus sich selbst machen, und ihr Mangel an Selbstvertrauen lähmte sie oft sehr. Ihre Bilder waren wie sie: fein und zart, voller Poesie, voll durchsichtiger Klarheit und Sehnsucht.

Ida führte den Hausstand; sie war diejenige von den Hausgenossen, die sich mir am längsten fernhielt, denn sie war sehr kritisch, doch wurden wir später die besten Kameraden. Sie hatte einen köstlichen Humor, war schauspielerisch und musikalisch sehr begabt und für jeden Unsinn zu haben, das Schönste aber an ihr war ihre große Opferfähigkeit, um derentwillen ich sie liebte.

Wenn ich jetzt an die ersten Tage in Suislep zurückdenke, muß ich lächeln, aber damals waren sie mir schwer. Die Menschen, die mir später freundschaftlich nahetraten, lehnten mich zuerst ab, denn sie lebten alle schwer und waren kritisch beobachtend und konservativ allem Neuen gegenüber. War der Anfang aber überwunden, so wurde das Leben mit ihnen wunderschön.

Ich wurde dort der stehende Sommergast durch manche Jahre hindurch, und sie behaupteten, es wäre gar kein richtiger Sommer, wenn ich nicht bei ihnen einige Wochen geweilt hätte. Will ich mir den Begriff »Ferien« verkörpern, so denke ich an die Sommertage in Suislep. Es war dort solch ein wundersames Ausruhen, solch friedvolle Stille, dabei immer belebt von geistigen und vor allem künstlerischen Interessen, durchstrahlt von anmutiger Heiterkeit, lustigen Einfällen und Gesang.

Ich komme am Morgen zum Kaffee aus meinem Zimmer an den Frühstückstisch. Aber was ist das? Der Tisch ist leer. Auf meinem Platz liegt ein Zettel, wo mir in Versen verkündigt wird, ich solle mein Frühstück in einer Laube des Gartens suchen, der Platz ist genau bezeichnet. Ich eile in den Garten und finde auch dort nur ein Gedicht vor, das mich wieder weitertreibt. Ich werde von Ort zu Ort gejagt: aus dem Garten ins Haus, aus dem Hause wieder in den Garten; und immer bin ich allein, kein Hausgenosse ist sichtbar. Endlich weist mich ein Gedicht auf den Aussichtsturm. Als ich ihn erstiegen und die letzte Tür geöffnet habe, ertönt Gesang; oben finde ich die ganze Familie um einen gedeckten Kaffeetisch versammelt. Wie mühsam war's gewesen, alles hinaufzutragen, aber keine Unbequemlichkeit scheute man, wenn es galt, einen Scherz auszuführen. Wie köstlich schmeckte nun der Kaffee in der frischen Morgenluft mit dem Blick in die weite Ferne bis zu den Ufern des blauen Würzjärw!


Ich habe Nachricht aus Riga erhalten, daß der berühmte Sänger Raimund von Zur-Mühlen in diesen Tagen dort erwartet würde. Auf seiner Ferienreise nach Fellin mußte sein Weg ihn mit der Post an Suislep vorüberführen. Wir berechneten den Tag, an dem er voraussichtlich aus Riga abreisen würde, denn »wir müssen ihn auf der Landstraße abfangen,« hatte Doris entschieden gesagt. »Aber nur still, daß es keiner im Hause merkt!«

Sie kannte ihre Mutter wohl, die, aus alter Zeit stammend, keine große Begeisterung für den Gedanken aufbringen würde, daß ihre Tochter ein Rendezvous auf offener Landstraße spät abends mit einem Künstler arrangieren wollte.

Nach dem Abendessen verkündigten wir der etwas überraschten Familie, wir hätten beide einen einsamen Spaziergang vor. Ohne viel Fragen abzuwarten, verschwanden wir ein wenig eilig. In einem Gebüsch an der Landstraße fanden wir einen Knecht vor, den wir dort hinbestellt hatten, mit Doris' Reitpferd, es war vor einen zweirädrigen Wagen gespannt, »der Kattarat« genannt. Wir schwangen uns auf den hohen Sitz, Doris nahm die Zügel in die Hand, und in schnellem Trabe ging es in die Abenddämmerung hinein.

»Greife einmal unter den Sitz, dann wirst du eine Überraschung haben,« sagte Doris.

Ich tat es und holte ein Körbchen mit Erdbeeren und einen wunderschönen Blumenstrauß hervor.

»Das überreichen wir ihm,« fuhr Doris fort, »und du sprichst die passenden Worte dazu. Ach, wenn er doch käme!«

Aber er kam nicht!

»Wir lassen nicht nach, bis wir ihm begegnet sind, einmal muß er doch kommen!«

Zwei Abende sind wir ihm vergebens entgegengefahren, am dritten gab es ein starkes Gewitter mit strömendem Regen.

»Heute kommt er bestimmt nicht, bei dem Wetter,« sagten wir uns beruhigend.

Aber gerade an dem Abend war es geschehen, daß bei Donner und Blitz in dunkler Nacht der berühmte Mann bei uns vorübergefahren war.


Jeden Vormittag ging man baden, gar primitiv war das Bad. An den Ufern eines rauschenden Flüßchens unter grünen Bäumen kleideten wir uns aus, und dann geht's kopfüber hinein ins kalte Wasser. Oft muß da Ida ihre Künste zeigen, denn sie schwimmt wie ein Fisch, und das Wasser ist ihr Element. Sie schwimmt unter und über dem Wasser, auf dem Rücken und auf der Seite. Da wird ihr Beifall geklatscht, und ein Kranz von Seerosen wird geflochten und ihr zugeworfen, den sie sich aufs Haupt setzt, ins Wasser taucht und so lange unsichtbar bleibt, daß wir in Angst und Sorge sind, sie könne ertrinken.

Ein andermal inszenieren wir Böcklinsche Bilder. Ich muß mein Haar lösen und werde mit einem Kranz von Wasserrosen geschmückt, Ida bekommt einen großen Schilfkranz aufs Haupt gedrückt. Ich bin die Nymphe, die flieht und vom Meergott verfolgt wird, der, Wasser speiend und um sich schlagend, daß die Wellen hoch aufspritzen, hinter mir dreinschwimmt. Doris und Anna photographieren vom Ufer aus diese Szene.

Oft ziehen wir mit Anna und ihrem Malgerät in die Sommerwelt hinein und suchen nach Motiven. Während Anna eifrig malt, legen wir uns ins Gras, schweigen oder besprechen künstlerische Fragen. Anna und Doris lehren mich Farben sehen, und eine neue Welt erschließt sich meinen Blicken. Wenn wir mit einer fertigen Skizze heimkommen, muß die ganze Familie ihr Urteil abgeben. Annas Bilder haben eine ganz ausgesprochene Eigenart, ich würde sie unter vielen erkennen. Sie hat unsere Heimat in ihrer stillen Schönheit ganz in sich aufgenommen.

Nachmittags ruht das ganze Haus, es herrscht überall Totenstille, alles schläft.

Nach dem Kaffee versammelt man sich zur gemeinsamen Lektüre auf der Veranda. In meinem ersten Sommer dort lasen wir den »Grünen Heinrich«, wobei viel diskutiert wurde.

Nach dem Abendessen wurde immer ein gemeinsamer Spaziergang gemacht, an dem sich die ganze Familie beteiligte; meist sangen wir dabei. Kamen wir heim, so wurde oft noch ein Raubzug in Idas Handkammer gemacht, und ich bewunderte immer ihre Freundlichkeit, mit der sie als Hausfrau der Vertilgung sorgsam behüteter Vorräte zusah.

Ich hatte finnländische Volkslieder mitgebracht, die wir uns mehrstimmig einstudierten. Unsere Proben fanden meist beim Abendspaziergang auf der Landstraße statt, und wir brachten es zu einer ziemlichen Vollkommenheit im Ensemble, denn jede Stimme hatte Fühlung mit der anderen. Wir hatten uns so miteinander eingesungen, daß wir mitten im Singen die Stimmen plötzlich wechseln konnten, auf ein Zeichen, das die eine oder die andere gab. Wir machten diesen Scherz sogar beim Vorsingen, so daß unsre Zuhörer uns manchmal erstaunt fragten: »Wer hat hier eigentlich den Sopran gesungen?«

Kam Besuch in dieses köstliche Einerlei, so hielten wir uns fast nie an die Forderung des Jesus Sirach: »Seid gastfrei ohne Murmeln«. Wir murmelten nicht nur, sondern wir jammerten laut, wenn ein Wagen vorfuhr, und wie vom Sturm zerstoben, waren wir alle sofort verschwunden. Nur die gütige Mutter, der Baron und die gute Elly hielten stand und wahrten die Ehre des Hauses, bis wir uns so weit gefaßt hatten, daß wir erscheinen konnten.

Einen seltsamen Hausgenossen gab es noch, einen nahen Verwandten, der ein Sonderlingsleben meist in seinem Zimmer führte. Wir nannten ihn nur den »Unzufriedenen«, denn er kritisierte alles und jedes im öffentlichen und im Privatleben, alles fand er falsch und unpraktisch gemacht. Er wartete immer auf Stimmung zu jeder Tat, und war die Stimmung da, so wurden solche Vorbereitungen gemacht – galt es nun ein Bad oder einen Jagdausflug –, daß alle Stimmung verflogen war, ehe es zur Ausführung kam.

Eben erfüllte ihn der Anspann der livländischen Pferde, den er von Grund aus umzugestalten wünschte. Er schrieb lange Abhandlungen und wollte nur darüber sprechen. Mitten in unser fröhliches Beisammensein bei Tisch kam er dann mit seinen, uns fernliegenden, Theorien, in denen er sich ganz eingesponnen hatte, und ärgerte sich, wenn niemand hinhören wollte. Dazwischen hatte er plötzlich Lust, eine Ausfahrt zu machen, doch ließ er so oft das Pferd anspannen und wieder ausspannen und konnte sich nicht entschließen, bis ihn ein Mahnwort des Hausherrn so reizte, daß er plötzlich einen Entschluß faßte und ihn dann zornig ausführte.

Der Baron war ein sehr eifriger Landwirt, überall war er persönlich dabei und tat alles zur Hebung seines Gutes, mit dem er fest verwachsen war. Oft nahm er Doris und mich mit auf seine Landfahrten, wo es manchmal recht unbarmherzig zuging, denn wir mußten mit ihm durch dick und dünn. Auf einer schmalen Reitdroschke, auf der wir uns fest aneinanderklammern mußten, um nicht abzufliegen, jagte er mit uns auf holprigen Wegen durch Pfützen und Gräben dahin. Doris kannte keine Furcht, und mir war es, je toller es herging, desto lieber. Der Bruder erzählte gern von seinen Plänen und fand in uns bereitwillige Hörer, und wir freuten uns von Herzen an jedem Fortschritt und an jeder Besserung des Bodens, die er uns zeigte.

Manchmal wurden Pferd und Wagen bei einem Bauern abgestellt, und wir folgten unserem Führer tief in den Wald hinein, oder es ging über weite Morastgebiete, die er zu entwässern gedachte. Er zog tapfer mit seinen großen Wasserstiefeln voran, wir aber mußten uns oft der Schuhe und Strümpfe entledigen, um ihm nachfolgen zu können.

So lernte ich das Gut auch nach allen Richtungen hin kennen, gewann es lieb und verwuchs mit ihm wie mit etwas Lebendigem.


Wir stehen auf der breiten Treppe des Gutshauses und warten auf das Vorführen unserer Reitpferde. Zwei Wagen für die nicht Reitenden halten bereits vor der Tür: es soll ein Ausflug an den Würzjärw gemacht werden, einen großen See, der ziemlich weit entfernt vom Gutshof liegt. Der Hausherr hat erfahren, daß eine Russenkolonie sich dort niedergelassen hat und an dem Ufer, das ihm gehört, verbotenerweise fischt. Er muß ein wenig nach dem Rechten sehen, wir wollen ihn alle begleiten und das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden. Diesmal beteiligt sich die ganze Familie an dem Ausflug, sogar der »Unzufriedene« hat sich nicht ausgeschlossen. Nach langen Entscheidungsqualen, nach vergeblichem Warten auf Stimmung, nach endlosem Überreden der sanften Elly hat er sich endlich bereit erklärt, mitzufahren; mit verdrießlichem Gesicht sitzt er jetzt da, denn ihm ist im letzten Augenblick eingefallen, daß er lieber lesen wolle. Aber nun kann er nicht mehr zurück und ergibt sich in sein Schicksal.

Nun kommen die Reitpferde vor: Ida, Doris, der Bruder und ich reiten. Wir werden schnell in den Sattel gehoben und erleben noch grade den Anfang eines Kampfes, denn der »Unzufriedene« ist ärgerlich, daß er allein auf der Reitdroschke fahren soll. Wir warten das Ende des Kampfes nicht ab, sondern reiten lachend davon.

Ich habe mein eigenes Reitpferd, das von den andern ein wenig verachtet wird, denn es ist ein Arbeitsgaul, dem Mähne und Schwanz vornehm gestutzt sind, der aber trotzdem seine gemeine Herkunft nicht ganz verleugnen kann. Neben den stattlichen Reitpferden verfällt es wohl ein wenig, doch es hat Temperament und Ehrgeiz, hält mutig Schritt mit den großen Pferden und steht im übrigen seinen Mann. Nur von einer lästigen Angewohnheit will es nicht lassen: es bleibt vor jedem Brunnen stehen und versucht, aus dem Brunnentrog zu trinken, und kehrt bei jedem Kruge unerbittlich ein, wo es mit hängendem Kopfe stehen bleibt; aus meinen Peitschenhieben macht es sich nichts.

»Es hilft nichts anderes,« sagt Doris, »du mußt einige estnische Flüche lernen, das ist das Tier gewohnt.«

Auf jedem Spazierritt muß ich nun einige Flüche lernen, doch fürchte ich wohl, daß ich nicht den richtigen Schwung dabei gehabt habe, oder es waren vielleicht nicht die richtigen Worte. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, daß sie auf mein Roß auch nur den geringsten Eindruck machten.

Es war ein köstlicher Sommertag: von den Wiesen kam süßer Heuduft, die Welt war voller Sonne, Freude und Lerchenjubel. Ich richtete mich hoch im Sattel auf, am liebsten hätte ich laut hinausgejubelt.

»Galopp!« kommandierte da der Bruder, und atemlos jagten wir über die Landstraße hin, allen voran flog Doris. Sie war wie verwachsen mit ihrem braunen Pferde »Iskra«; ihre schlanke Gestalt war voller Anmut, ihr Gesicht strahlte, ihre blauen Augen leuchteten, Jugendlust und Übermut sprudelten aus ihr. Sie war wohl die am reichsten Begabte unter den Geschwistern, besonders auf künstlerischem Gebiet, denn was sie anfaßte, bekam eine künstlerische Ausdrucksform. Sie hatte ein großes schauspielerisches Talent, sang, malte, bildhauerte, zeichnete, besonders reizende kleine Karikaturen, denn sie hatte eine entzückende Art von Humor. Oft aber lag eine unendliche Schwermut über ihr. Sie war zart und feinfühlig, kritisch und ein wenig spöttisch, dabei von einer großen Aufopferungsfähigkeit und Liebeskraft. Über ihrem ganzen Wesen lag eine unbeschreibliche körperliche und geistige Anmut, sie war eine bezaubernde Persönlichkeit, ein köstlicher Kamerad.

Nun sind wir am Würzjärw angelangt und halten vor einem Bauernhause, der estnische Bauer empfängt uns vor seiner Tür. Wir steigen von unseren Pferden und übergeben sie ihm. Der Bruder spricht mit ihm, während wir die Schleppen unserer Reitkleider über den Arm nehmen und an das Ufer des Sees gehen. Regungslos und silbern, in der Sonne leuchtend, liegt er vor uns. Wir wandern langsam über den weißen Sand hin, der mit kleinen Muscheln bedeckt ist. Bald folgt uns der Bruder.

»Es ist schon richtig,« sagt er ein wenig erregt. »Am anderen Ufer ist eine große Kolonie von russischen Fischern. Sie haben einen Dörrofen gebaut, wo sie die kleinen Fischchen trocknen, um sie leichter zu transportieren. Sie fischen auch auf meinem Gebiet, das werde ich ihnen nicht gestatten. Ich habe ein Segelboot bestellt; wenn wir uns ausgeruht haben, fahren wir hinüber, da muß ich doch ein wenig eingreifen.«

Da kommen auch die Wagen mit den übrigen Familiengliedern an. Der Bauer will Tische und Stühle an den Strand hinaustragen, wir aber finden es schöner, uns auf dem Boden niederzulassen. Decken und Kissen werden aus dem Wagen geholt und am Strande ausgebreitet, ein Korb mit Eßvorräten wird ausgepackt, die Bauernfrau bringt einen großen Krug mit Milch und Gläser, und wir lagern uns und essen von den mitgebrachten Vorräten. Nur der »Unzufriedene« konnte wieder keinen Platz finden, bald ist ihm der Boden zu hart, bald das Kissen zu niedrig, aber sein unzufriedenes Murmeln wird von unserem Lachen erstickt.

Doris und Ida sind große Schauspielerinnen und unübertrefflich im Improvisieren, so sind sie plötzlich zwei halbdeutsche Frauen, die in überwältigend komischem Estnisch-Deutsch sich über den Ausflug unterhalten. Die eine ist die düstere Frau, die andere die fröhliche, die eine nimmt das Leben tragisch und ist voll schwerer Ahnungen, die andere ist voll Leichtsinn und Dummheit. Die ganze Gesellschaft beteiligt sich schließlich am Zwiegespräch, und wer sich nicht beteiligt, lacht wenigstens dazu.

Da kommt der Bauer und meldet respektvoll, das Boot sei bereit. Die alte Baronin mit dem »Unzufriedenen« bleiben am Ufer zurück, die anderen besteigen das große Segelboot, das von mehreren Fischern bedient wird.

Zuerst müssen die Leute rudern, denn am Ufer ist es ganz still. Dann faßt ein frischer Wind das Segel, die Ruder werden eingezogen, das Boot legt sich auf die Seite und fliegt wie ein Vogel durchs klare Wasser dahin. Eine von uns fängt an zu singen, die anderen fallen mehrstimmig ein. Es ist das alte Schifferlied, das über das Wasser klingt:

»Wie mit grimmem Unverstand
Wellen sich bewegen.
Nirgends Rettung, nirgends Land
Vor des Sturmes Wehen.«

Die am Ufer Zurückgebliebenen winken, sie hören unser Singen übers Wasser klingen.

»Wie herrlich ist es!« rufe ich aus.

»Als wir ritten,« sagt Doris lachend, »meintest du, reiten sei das Schönste. Jetzt wirst du gewiß gleich sagen: segeln ist das Schönste.«

»Nein,« sage ich, »leben ist das Schönste.«

Nun haben wir uns dem anderen Ufer genähert und sehen ganz deutlich die Russenkolonie. Eine große Aufregung scheint sich der Leutchen bemächtigt zu haben, sie versammeln sich am Ufer und schauen nach uns aus.

Das Boot läuft knirschend auf den Sand. Es ist eine ganze Gesellschaft, die dort auf uns wartet und aufgeregt hin und her läuft. Aber sie machen mehr den Eindruck als wären sie freudig erregt, nicht als hätten sie Angst oder ein schlechtes Gewissen. Eine ganze Schar Männer, Frauen, Kinder umgeben lebhaft sprechend unser Boot, sie ziehen es weiter ans Land, laufen dabei ins Wasser und erbieten sich, uns ans Land zu tragen.

Der »Älteste« begrüßt ehrfurchtsvoll den Baron und heißt ihn willkommen, als wäre er hier der Herr. Alles hat seine Arbeit verlassen; die Mädchen, die am Waschtrog gestanden hatten, laufen ins Haus und kehren mit reinen Schürzen zurück. Stühle und Tische werden herausgetragen und mit dem Schürzenzipfel reingewischt. Der »Älteste« setzt sich auf unsere Aufforderung zu uns und erzählt unbefangen von seiner Arbeit, alle übrigen stehen voller Interesse herum, die Mädchen in ihren bunten Röcken und grell bunten Kopftüchern; auch ein Lustigmacher ist unter ihnen im roten russischen Hemd, der seine Bemerkungen macht, über die alles lacht.

Bald bringt eine Frau eine große Schüssel mit dampfender Fischsuppe, wir müssen sie durchaus schmecken.

»Habt Ihr denn die Erlaubnis,« fragte im Laufe des Gesprächs der Baron, »hier zu fischen?«

»Ja,« ist die unbekümmerte Antwort. »Dieses Ufer haben wir gepachtet. Und,« setzt er mit einem lustigen Schmunzeln hinzu, »wenn man ein Stückchen weiter fährt und ein paar fremde Fischchen fängt, ist es auch kein Unglück, die Herrschaften sind ja reich und gönnen einem armen Kerl auch etwas. Wovon sollten wir sonst leben?«

Unser Baron ist entwaffnet. Als Richter kam er her, aber er hat sein Richtschwert nicht aus der Scheide gezogen.

Er hat recht, denkt sein gütiges Herz, wovon sollte wohl so ein armer Kerl leben, wollte man so streng richten?

Wir erheben uns zum Abschied, müssen aber noch das ganze Häuschen sehen, besonders den Ofen, der voll kleiner Fischchen ist.

Ein Jubel bricht aus, als wir erklären, wir wollen die ganze kleine Kolonie zeichnen. Sie sind voll freudiger Aufregung und bitten uns, einen Augenblick zu warten, sie wollen sich in ihren schönsten Sonntagsstaat werfen, um diese Stunde würdig zu erleben.

Wir haben unsere Skizzenbücher mitgebracht, suchen uns einen günstigen Platz aus, und bald kommen die Leute auch in ihren Festgewändern aus dem Hause. Was für ein liebenswürdiges und bewegliches Volk sind doch die Russen, ganz wie große Kinder! Die Situation ist von ihnen sofort erfaßt, und jeder übernimmt seine Rolle. Saschinka und Maschinka stellen sich wieder an ihr Waschfaß mit in die Seiten gestemmten Armen. Der Älteste hat eine Pelzmütze aufgesetzt und steht breitbeinig in der Tür, Kinder werden auf die Zäune gehoben, und die Kleinsten nehmen die Mütter auf den Arm. Den schönsten Witz aber hat sich der Lustigmacher ausgedacht: er kommt mit einem Birkenbäumchen angezogen, hat sich eine runde Mütze auf den Kopf gesetzt und das Haar ins Gesicht gekämmt. So erklettert er mit dem Birkenbäumchen im Arm das Dach der Waschküche. Dort stellt er sich auf, bückt sich wie zum Sprung und hält das Bäumchen in der Hand.

»Er sieht aus wie ein Hund,« kreischen die jungen Mädchen.

Als unsere Zeichnungen fertig sind, werden wir fast umgerissen von den Neugierigen. Mit Begeisterung wird alles erkannt und mit ausgestrecktem Finger bezeichnet. Eine kleine Enttäuschung gibt es nur: daß die Bilder nicht farbig sind! Saschinkas und Maschinkas Kopftücher hatten so schön in der Sonne geleuchtet!

Alles begleitet uns zu unserem Segelboot, und wieder finden sich hilfreiche Hände, die uns hineintragen und das Boot ins freie Wasser schieben. Der Wind greift ins Segel, und rauschend durchschneidet der Kiel die klare Flut.

Nun sind wir am anderen Ufer angelangt und erzählen den Zurückgebliebenen unser Abenteuer. Die alte Baronin lächelt ein wenig über ihren gutherzigen Sohn, der als Kämpfer ausgezogen war und als Überwundener heimkehrte.

»Ach, die paar Fischchen,« sagte er achselzuckend, »auf die kommt es ja nicht so sehr an. Die armen Leutchen wollen doch auch leben!«

Wagen und Pferde werden vorgeführt, die Wagen fahren voraus, und wir reiten langsam nach.

Sachte zieht die Dämmerung des Sommerabends herauf. Die Welt wird still, ein frischer Windzug weht dazwischen vom See her und bringt den Duft von Wiesen und Wasser auf seinen Flügeln. Am Himmel steht die Mondsichel silbern und durchsichtig leuchtend. Man hört nur den Schritt unserer Pferde auf der weißen Landstraße und dazwischen den verschlafenen Ruf einer Lerche. Aus der Ferne schlägt ein Hund an, und die Grillen zirpen am Wege. Wir fangen an zu singen:

»Weißt du, wieviel Sterne stehen
An dem blauen Himmelszelt?«

Aber wir singen leise und gedämpft, als fürchteten wir etwas aufzuwecken, was verborgen in den träumenden Wiesen und den stillen Feldern ruht.

Es ist fast dunkel geworden, als wir zu Hause ankommen. Das Abendessen erwartet uns, wir setzen uns an den runden Speisetisch, der mit schönem Familiensilber gedeckt ist. Alte Familienbilder schauen von den Wänden, alles spricht von einer vornehmen, vergangenen Zeit und ist voll pietätvoll gehüteter Erinnerungen.

Ich lasse meine Blicke darüber hingleiten und denke: so war es schon seit Generationen, und so wird es bleiben und sich vererben von Kind auf Kindeskind!

Wie wenig ahnt ein Mensch von dem, was ihm bevorsteht. –

Nur wenige Jahre sollten dahingehen, und nichts von der alten Welt war mehr da. Verwüstet das schöne Haus, tot, auseinandergesprengt, in die Fremde getrieben, die hier so fröhlich um den runden Speisetisch saßen, arm und voller Sehnsucht nach der geliebten Heimat, die für immer versunken war. –

 

Und wieder kam ein Sommer, der mich, wie immer, an den lieben Ort geführt hat. Das Glück war unterdessen dort eingezogen in Gestalt einer jungen, blonden Frau, die mit klarem Gesicht und ruhiger, gütiger Hand in den mir liebgewordenen Räumen schaltete und das Herz des ernsten Hausherrn mit Helligkeit und Freude erfüllte. Die alte Baronin mit ihren Töchtern hatte sich eine Wohnung in den oberen Räumen des Hauses eingerichtet, und das große Wunder ist geschehen: gegen die alte Tradition sind die Zimmer anders eingerichtet worden. Mein Wunsch ist erfüllt, die richtigen Möbel stehen alle beisammen, und das Haus macht einen wundervollen Eindruck. Das Leben ist wie immer: schön und friedvoll.

Wir sind auf einem Spaziergang: das junge Paar, Ida und ich. Es ist ein heißer Sommertag gewesen; die Sonne steht tief, ein frischer Luftzug streicht über die Felder, und mit ihm zieht ein Duft von Wiesen und fernen Wäldern darüber hin. Der Bruder und seine junge Frau gehen voraus, und wir folgen langsam. Sie hat sich auf den Arm des Mannes gestützt, ein lichtblaues Gewand fließt an ihrer hohen Gestalt herab, die herrlichen Flechten sind gelöst, und wie ein lichter Mantel hüllt ihr Blondhaar sie ganz ein. Wir gehen einen schmalen Feldweg zwischen hohen Kornfeldern, die untergehende Sonne liegt hell auf ihrem Scheitel. Sie streckt leise die schlanke Hand aus und läßt im Vorübergehen die goldenen Ähren durch ihre Finger gleiten. Ida weist nach der rührenden Gestalt hin und sagt leise: »Maria!«

Mir aber geht ein kleines Gedicht von Storm durch den Sinn:

Klingt im Wind ein Wiegenlied,
Sonne warm herniedersieht.
Seine Ähren senkt das Korn,
Rote Beere schwillt am Dorn.
Schwer von Segen ist die Flur. –
Junge Frau, was sinnst du nur?


Doris war nach München gezogen, um sich weiter in ihrer Kunst zu vervollkommnen. Bei ihren vielen Talenten hatte es sich nun herausgestellt, daß ihre größte Begabung die für Bildhauerei war. Sie war in die richtigen Hände gekommen, ihr Lehrer hatte großes Verständnis für ihre feine Eigenart, er versprach sich viel von ihr für die Zukunft. Aber die Frau in ihr war doch stärker als die Künstlerin, und sie verlobte sich mit einem jungen Architekten, mit dem sie sich bald in München verheiratete.

Den Sommer darauf war sie mit ihrem Mann in Suislep; er war ein feiner Mensch, künstlerisch und ungewöhnlich tüchtig in seinem Fach; aber doch von anderer Art als wir. Er konnte sich in unsere Lebensweise nicht hineinfinden und hatte wenig Sinn für das livländische Idyll.

»Bei euch ist ja immerfort Feiertag,« sagte er einmal mißbilligend zu mir. »Wer kann das aushalten? Dazu muß man ein geborener Balte sein.«

Dann kamen Jahre, wo mein Beruf mich jeden Sommer nach Deutschland führte, und das livländische Sommeridyll versank, ich kam nicht mehr nach Suislep.

Kurz vor dem Ausbruch des großen Weltkrieges besuchte ich Doris am Starnberger See, wo sie mit ihrem Manne und ihrer kleinen Tochter den Sommer verbrachte. Sie war zufrieden und glücklich in ihrem neuen Leben, anmutig und lieblich wie früher und voll warmer Treue. Aber es lag doch eine tiefe Wehmut über ihrem ganzen Wesen, trotz Mann und Kind kam sie mir heimat- und wurzellos vor.

Nicht lange danach starb sie, plötzlich und schmerzlos.

Ich besitze eine Büste von ihrer Hand, eine Kopie des heiligen Laurentius von Donatello aus Florenz. Sie steht immer auf meinem Schreibtisch und schaut lächelnd zu mir herab, wenn ich arbeite. In dem zarten, vergeistigten Gesicht, der stillen Wehmut, der Anmut und unendlichen Güte und in dem leisen, spöttischen Lächeln liegt etwas von ihrer Seele, die sie dort für immer festgebannt hat.


Jahre waren vergangen. Der Krieg 1914 brach aus; was er für uns Balten bedeutete, ist oft genug gesagt worden. Und dann kam die Revolution, die Herrschaft der Bolschewisten in unserer Heimat begann, die Landbewohner mußten ihre Güter verlassen und flohen in die großen Städte. Manch sorgender Gedanke ging zu den Freunden: was mag aus ihnen geworden sein?

Da stand eines Tages Doris' Bruder vor mir, er war mit den Seinen geflohen und eben glücklich in Riga angelangt; sie hatten eine Wohnung in einem dunklen Hinterhof gefunden, die sie auf einen fremden Namen genommen hatten. Die Mutter und Elly waren gestorben, Ida und Anna aber blieben auf dem Lande zurück in der Hoffnung, noch etwas von ihrem Besitz zu retten. Es war eine vielköpfige Kinderschar, für die er hier zu sorgen hatte, aber kein Wort der Klage, kein Laut der Angst kam über seine Lippen; still und vornehm trug er sein großes Leid. Ich bin oft bei ihnen gewesen in diesen Monaten der gemeinsamen Not. Die Zeiten wurden immer furchtbarer: die zarten Töchter gingen auf Arbeit in eine Gärtnerei, sie machten den Weg auf nackten Füßen, um Schuhe zu sparen, und waren glücklich über ein verdientes Mittagessen und drei Rubel Tagelohn, die ihnen diese Arbeit eintrug. Wie glücklich war ich, wenn ich nur ein wenig helfen konnte, aber uns allen waren ja die Hände gebunden. Ich habe von ihnen oft Mut und Tapferkeit gelernt, man kam von jedem Besuch bei ihnen bereichert heim, denn in den dunklen Hinterzimmern, in denen sie lebten, war so viel Liebe, so viel Selbstlosigkeit und so viel klaglose Tapferkeit, daß sie einem das Herz reich machten und mit neuer Kraft fürs eigene Tragen füllten. Es gab Zeiten, wo der Baron keine Nacht in seinem Hause zubringen konnte, sondern bald hier, bald dort schlief, weil er von den Bolschewiken gesucht wurde. Die Gefahr wurde immer größer, man war aufs Schwerste gefaßt. Das Gesicht der Frau wurde schmal und blaß, und in seinen Zügen lebte der Gram – aber dann kam die Erlösung. Unsere junge Landeswehr befreite Riga vom furchtbaren Joch der Roten.

Wieder vergingen Jahre. In unserer Heimat hatten sich die Verhältnisse einigermaßen geordnet. Die Freunde hatten sich in Deutschland angekauft, wo sie ein mühseliges und bescheidenes Arbeitsleben führten. Doch ließ ihnen das Heimweh keine Ruhe.

Da – es war Frühling – stand der »Baron« wieder unerwartet vor mir, er war auf dem Wege zu seinem alten Besitz, der ihm enteignet worden war, in der Hoffnung, noch etwas retten zu können, denn die ganze Familie hatte nur einen Gedanken – heimkehren! –

Es war die alte, mir so wohlbekannte Art des stillen, vornehmen Tragens, die aus ihm sprach. Aber sein Gesicht redete, worüber der Mund schwieg. Es erzählte von viel Entbehrungen, mancherlei Not, harter Arbeit und Sehnsucht, aber er war mutig und wollte kämpfen um ein Stück Heimaterde, denn sie wollten alle zurück, keins der Kinder kannte einen höheren Wunsch als den einen: wieder in der Heimat leben. Er erzählte auch, daß Ida und Anna noch immer in einem Hinterzimmer ihres einst so schönen Hauses lebten, sie kämpften hartnäckig um jeden Fußbreit ihres geliebten Heimes!

»Und wenn es nur ein Gesinde ist, das uns bleibt,« sagte er tapfer beim Abschiede, »wenn wir nur heimkehren dürfen!«

Seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen! Nach Monaten erbitterten Kampfes verließ er das Land, ihm war nichts geblieben, nicht ein Fußbreit seiner geliebten Heimaterde. So saß er bei mir, wohl zum letztenmal in meinem Leben, wir sprachen von alten Zeiten, und er erzählte von seinen Kindern und ihrem Leben. Er hatte Gedichte einer Tochter mit, die er mir vorlas. In ihnen lebte nur die Erinnerung und die Sehnsucht. Sie sprachen vom schönen, alten Hause, vom Frühling, von Sommerfreuden, von Wald und Heimat. In der Stimme, die diese Gedichte las, lag tief innen ein Beben wie von verhaltenem Schluchzen, das mich erschütterte.

Als sich die Tür hinter ihm schloß, fühlte ich, daß es ein Abschied für immer war. Mit ihm ging die Erinnerung an lichtvolle Zeiten meines Lebens. –

Wenn ich des Morgens erwache, fällt mein erster Blick auf ein Bild, das meinem Bett gegenüber hängt. Es ist von Annas Hand gemalt, eine Gegend aus Suislep: eine schlanke Birke im ersten Frühlingslicht steht auf einer Wiese voll Frühlingsblumen. Der Blick geht in weite Fernen, am Horizont sieht man einen Streifen Wald in bläulichem Duft. Das Bild ist voll Sonne und zarter, lichtvoller Stille, charakteristisch nicht nur für Suislep, sondern auch für Annas Künstlerart.

Für mich aber liegt noch mehr darin als nur eine Erinnerung an schöne Zeiten, es spricht eine Hoffnung daraus, die weit hinüberweist über irdische Not, Trennung und Heimweh.



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