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XV

Dr. Zeunemann eröffnete die nächste Sitzung durch eine überraschende Mitteilung: Dr. Bernburger, der von der Baronin Truschkowitz mit Nachforschungen über den Tod ihrer Kusine betraut gewesen sei, habe einige Tatsachen gesammelt, die geeignet wären, dem Prozeß eine andere Wendung zu geben. Nachdem er die Genehmigung der Baronin erhalten habe, bitte er, dieselben dem Gericht vorlegen zu dürfen.

Das unvorhergesehene Ereignis schreckte selbst Deruga aus seiner bisher beobachteten schläfrigen Haltung. Unwillkürlich spannten seine Muskeln sich wie zu einem Kampfe, als Dr. Bernburger vortrat, von dem er sich eines tückischen Angriffs aus dem Hinterhalt versah.

»Meine Herren Richter und Geschworene«, begann Dr. Bernburger, »ich habe einen wichtigen Fund gemacht, den ich Ihnen keine Stunde vorenthalten zu sollen glaube, da er den dunklen Fall, der Sie beschäftigt, mit einem Schlage ins klare Licht setzt. Meine Herren, ich ging von der Überzeugung aus, daß Deruga den Mord an Frau Swieter begangen haben müsse, weil er erstens der einzige war, der ein Interesse an ihrem Tode hatte, und zweitens der einzige, dessen Schicksal mit dem ihrigen eng und in tragischster Weise verflochten gewesen war; sodann, weil es mir schien, daß ohne den Willen der Frau Swieter oder ihres Dienstmädchens oder beider niemand ihre Wohnung hätte betreten können. Diese meine Ansicht wurde durch die Zeugenaussagen bestärkt und darin verändert, daß ich von Frau Swieters Dienstmädchen absah und sie allein für diejenige ansah, die den Mörder eingelassen hatte.

Ich stellte mir den Vorgang so vor, daß entweder Frau Swieter ihren geschiedenen Gatten zu sich gerufen habe, um von ihm Abschied zu nehmen, oder aber, was ich für wahrscheinlicher hielt, daß er sie aufgesucht habe, um Geld von ihr zu erbitten, und daß irgendeine unvorhergesehene Wendung des Gesprächs ihn zum Mörder gemacht habe. In beiden Fällen ließ sich das durch die besonderen Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden hatten, sowie durch Derugas unbezähmbares Temperament erklären. Ich nahm an, daß er sich angemeldet oder sich durch irgendein ihnen aus früherer Zeit bekanntes Zeichen bemerkbar gemacht habe. Er brauchte ja nur unter ihrem Fenster ihren Namen zu rufen, eine Melodie zu singen oder zu pfeifen, um von ihr erkannt zu werden.

Als die wackere Ursula von dem Slowaken erzählte, der um die Mittagszeit angeläutet hatte und nachher verschwunden war, stand es bei mir fest, daß dies Deruga gewesen sei. Ich stellte mir vor, daß er irgendwo im Hause, vermutlich im Keller, die Zeit erwartet hatte, wo Ursula ausging, dann von Frau Swieter eingelassen wurde und das Haus verließ, kurz bevor Ursula zurückzuerwarten war. Auf dem Wege zum Gartentor begegnete er dem Hausmeister, der ihn neugierig betrachtete und dadurch, oder nur durch seine Anwesenheit, das Bewußtsein des begangenen Frevels und die Gefahr der Entdeckung in ihm rege machte. Er wollte sich unbefangen stellen, und es fiel ihm nichts Besseres ein, als eine Zigarette aus der Tasche zu ziehen und zu fragen: ›Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?‹ Da er aber nicht in der Stimmung war, zu rauchen, und zu aufgeregt, um folgerichtig zu handeln, beging er eine Unvorsichtigkeit und warf die eben angezündete Zigarette in das Gebüsch am Gartentor.«

Die Zuhörer folgten der Erzählung mit einer Spannung, als ob sie die angeführten Ereignisse zum ersten Male hörten. Die Aufmerksamkeit war zwischen Dr. Bernburger und Deruga geteilt, der nicht daran dachte, sein Gesicht wie sonst den Blicken zu entziehen, indem er es in der Hand verbarg.

»Meine Überzeugung, daß der Slowak Deruga gewesen sein müsse«, fuhr Dr. Bernburger fort, »war so stark, daß ich sagen kann, ich wußte es. Ich verfolgte nun alle seine Schritte von dem Augenblick an, wo er am Bahnhof in Prag die Fahrkarte, wie ja festgestellt war, löste. Er trug damals einen gewöhnlichen Anzug, vermutlich einen Gehrock, denn wenn er im Kittel seine Wohnung verlassen hätte, wäre es aufgefallen und gemerkt worden; den Kittel hatte er im Paket bei sich. Die Frage war nun, wo er sich umgekleidet hatte. Geschah es im Eisenbahnzuge? Irgendwo in den Bahnhofsräumen? Oder etwa des Nachts im Freien? Er mußte einen solchen Ort wählen, wo er sich nicht nur umkleiden, sondern auch den gewöhnlichen Anzug zurücklassen, später wiederfinden und gegen den Kittel vertauschen konnte. Den Kittel hatte er entweder im Paket mit nach Hause genommen oder, wahrscheinlicher, unterwegs weggeworfen oder versteckt. War das letztere der Fall, so konnte er gefunden und an einen Trödler verkauft worden sein, und trotz der schwachen Aussicht auf Erfolg, die eine darauf gerichtete Nachforschung haben konnte, machte ich mir die Mühe, in einer großen Reihe derartiger Geschäfte nachzufragen.

Ich erhielt keine irgendwie brauchbare Auskunft und hatte bereits die Hoffnung, auf diesem Wege eine Spur zu finden, aufgegeben, als sich eine alte Frau bei mir meldete, die zufällig in dem Laden eines Trödlers von meinem Wunsche Kunde erhalten hatte. Diese Frau, eine Wäscherin, war am Morgen des 3. Oktober bald nach fünf Uhr morgens durch die Bahnhofsanlagen gegangen und hatte von der Brücke herunter, die über den Kanal führt, etwas Dunkles im Wasser gesehen, das sie zuerst für etwas Lebendiges hielt. Als sie es näher untersuchte, ergab sich, daß es ein Anzug war, in der Art, wie Arbeiter ihn tragen, der sich an der Wurzel eines Baumes festgehängt hatte, und nachdem sie ihn ausgewrungen hatte, nahm sie ihn als herrenloses Gut mit.«

Bei diesen Worten trat Dr. Bernburger an den Tisch, legte das Paket, das er unter dem Arm gehalten hatte, auf den Tisch, wickelte es auf und breitete den Anzug auseinander, über den die Richter und der Staatsanwalt, von ihren Sitzen aufstehend, sich beugten. »Der Anzug«, fuhr Dr. Bernburger fort, »würde nur eben eine Spur gewesen sein. Den Beweis, daß er dem Angeklagten gehörte, erbrachte mir ein Brief, den ich in einer zugeknöpften Seitentasche des Kittels fand. Er ist trotz der stellenweise verwischten Schrift vollkommen lesbar, und ich bitte um die Erlaubnis, ihn vorlesen zu dürfen.«

Im Laufe seines Berichtes hatte sich die Erregung des Erzählers mehr und mehr verraten. Beim Lesen des Briefes überschlug sich seine Stimme mehrere Male, und als er ihn zum Schlusse auf den Tisch legte, zitterte seine Hand.

»Donnerwetter!«

Mit diesem Ausdruck des Erstaunens unterbrach Justizrat Fein zuerst die eingetretene Stille.

Dr. Zeunemann hatte inzwischen den Brief ergriffen, hielt ihn dicht vor die Augen, prüfte sorgfältig die Schrift, den Poststempel und das Papier und fragte: »Wie mag er denn befördert worden sein?«

»Darüber wird uns wohl Fräulein Schwertfeger Auskunft geben können«, sagte Dr. Bernburger.

Nach einer neuen Pause wendete sich der Vorsitzende langsam zu Deruga mit der Frage, ob er etwas zu der Mitteilung des Dr. Bernburger zu bemerken habe. Deruga schüttelte stumm den Kopf, ohne aufzublicken.

»Wir möchten gern eine Bestätigung von Ihnen hören«, begann Dr. Zeunemann von neuem, »daß die Darstellung des Dr. Bernburger zutreffend ist, oder eine Richtigstellung.«

Bevor er jedoch den Satz vollendet hatte, unterbrach ihn der Staatsanwalt, mit seinen langen Armen gestikulierend und auf Deruga deutend. »Sehen Sie denn nicht, Herr Kollege«, sagte er, »daß der Mann krank geworden ist? Lassen Sie ihm doch jetzt Ruhe, das muß ja den stärksten Magen angreifen! Ein Glas Wasser! Schnell!« winkte er dem nächsten Gerichtsdiener, ihn mit drohenden Blicken zur Eile antreibend.

Justizrat Fein hatte inzwischen seinen Arm um Derugas Schulter gelegt und auf ihn eingeredet. Dann wandte er sich gegen den Richtertisch und sagte: »Mein Klient fühlt sich nicht wohl und bittet um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Er wird morgen alle wünschbaren Erklärungen geben.«

Die beiden verließen zusammen den Saal, und als sie draußen waren, sagte der Justizrat: »Hören Sie, Doktor, ich komme mir zum erstenmal in meinem Leben wie ein gemeiner Kerl vor.«

»Da seien Sie froh«, erwiderte Deruga mit seinem gewinnenden Lächeln. »In Ihrem Alter könnte es leicht das zehnte oder hundertste Mal sein. Übrigens hatten Sie ganz recht, die Menschen sind dumme, schwache Tiere. Warum hätten Sie mir glauben sollen?«

Der Justizrat schüttelte den Kopf. »Ein alter Praktiker wie ich«, sagte er, »müßte unterscheiden können. Aber daß ich Sie von Anfang an gern leiden mochte, Deruga, das haben Sie hoffentlich bemerkt.«

»Ja, obwohl Sie mich nebenbei für einen Hundsfott hielten«, sagte Deruga.

Der Justizrat musterte ihn mit liebevollen Blicken.

»Sie sehen schlecht aus. Trinken wir eine Flasche Wein zusammen!«

Deruga entschuldigte sich mit starken Kopfschmerzen. »Ich weiß nicht, was mich so mitgenommen hat«, sagte er. »Ich glaube, es war das Gefühl, wie dieser Herr mir Schritt für Schritt nachgeschlichen ist.«

»Eigentlich«, sagte der Justizrat, sich besinnend, »habe ich der Kanaille unrecht getan. Er hat sich wie ein anständiger Mensch benommen.«

»Schade, nicht?« sagte Deruga, worauf sie sich trennten.

Im Gerichtsgebäude standen die am Prozeß beteiligten Juristen noch zusammen, um Dr. Bernburger geschart, den sie nach verschiedenen Einzelheiten ausfragten. Der Staatsanwalt schüttelte ihm zum dritten Male seine Hände und lobte seinen Eifer. Seine dünnen Haare waren zersaust, und seine hellen Augen blinkten feucht unter den fuchsschwänzigen Augenbrauen. »Ich gelte für scharf«, sagte er, »und das bin ich auch und will es bleiben. Aber diesem Italiener gegenüber mag man gern einmal Mensch sein. Der ist durch und durch Mensch, ohne gemein zu sein, das gefällt mir an ihm.«

»Sie sind durch und durch Staatsanwalt, ohne gemein zu sein«, sagte Dr. Zeunemann. »Das ist vielleicht noch schwerer.«

»Was ist seltener, Schönheit im Kostüm oder Schönheit bei nacktem Leibe?« sagte der Staatsanwalt gedankenvoll. »Nun, ich will jedenfalls das Kostüm nicht ganz abreißen, sondern juristischmenschlich sein, indem ich alle die von Dr. Bernburger beigebrachten Tatsachen ignoriere und, als wäre nichts geschehen, die Anklage auf Totschlag aufrechterhalte.«

»Vorzüglich, vorzüglich«, sagte Dr. Bernburger. »Sonst hätte ich ihm am Ende einen schlechten Dienst geleistet.«

»Auf die Art ginge Feins Plan durch«, sagte Dr. Zeunemann. »Etwas willkürlich finde ich es aber bei der Lage der Dinge.«

»Wieso, mein Bester?« rief der Staatsanwalt lebhaft aus. »Wie ist denn die Lage der Dinge eigentlich? Allerdings, wir wissen jetzt, daß die gute Frau Swieter ihre Leiden durch den Tod abzukürzen wünschte, daß sie ihren geschiedenen Mann bat, ihr diesen Dienst zu leisten, und daß Deruga sie daraufhin tötete. Aber wissen wir denn, ob er es wirklich aus Mitleid getan hat? Ob er nicht eigennützige Nebenabsichten hatte? Wissen wir, ob er ihren Tod nicht längst herbeiwünschte? Ob er nicht über den Brief frohlockte, der ihm die gewünschte Handhabe bot? Dergleichen wäre nicht zum ersten Male vorgekommen. Vergegenwärtigen Sie sich nur die Geschwindigkeit, mit der er den heiklen Auftrag übernahm! Das Gift hatte er augenscheinlich schon bereit.«

»Hören Sie auf«, unterbrach Dr. Zeunemann lachend. »Wenn das so weitergeht, erheben Sie die Anklage auf Mord.«

»Juristisch wäre es vielleicht richtiger«, meinte der Staatsanwalt nachdenklich, »aber ich habe mir vorgenommen, menschlich zu urteilen, und außerdem liefe ich, glaub ich, Gefahr, von den Mänaden zerrissen zu werden, wenn ich ihren Liebling angreife.«

»Im anderen Falle werden sie Sie aus Dankbarkeit zerreißen«, sagte Dr. Zeunemann. »Ein Opfer der Frauen zu sein, ist nun einmal Ihr Los!«


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