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XII

Die Baronin hatte Peter Hase zum Mittagessen eingeladen, damit er ihre Tochter kennenlerne. Das Diner fand in einem kleinen, behaglichen Salon ihres Hotels statt, dessen in Weiß, Schwarz und Gold gehaltene Wände mit Blumenbüschen von ausschweifender Pracht geflammt waren.

Die Baronin teilte ihrem Gaste lächelnd mit, daß er ihrer Tochter noch in jeder Beziehung unbekannt sei. »Meine Tochter«, sagte sie, »hat von ihrem Vater eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die Literatur geerbt; vielleicht darf ich gleichbedeutend sagen, einen gewissen Mangel an Phantasie.«

»Ich möchte es guten Geschmack nennen«, sagte Peter Hase, »denn Jugend und Bücher gehören nicht zusammen. Auch steht der Herr Baron vielleicht auf dem Standpunkt der Alten, welche die Dichter als Lügner verachteten.«

»Ich bin zu wenig belesen, um darüber urteilen zu können«, sagte der Baron, »aber soviel ist richtig, daß ich Zeitungen gerne lese, weil sie Wahres berichten.«

»Ach, Papa, Zeitungen«, lachte Mingo, »die sollen ja gerade am meisten lügen.«

»Die Zeitungen sind vielleicht das interessanteste moderne Epos«, sagte Peter Hase, »und jedenfalls ist das Leben die schönste Dichtung.«

Die Baronin wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube«, sagte sie, »auch in bezug auf das Leben sind die großen Talente unter den Menschen selten. Wenige leben ein großes, schön geschwungenes Leben. Bei den meisten fällt es zerfahren, kleinlich, alltäglich und sehr langweilig aus.«

»Für flüchtige Leser«, sagte Peter Hase, »man muß sich hineinvertiefen.«

»Ach, es lohnt nicht«, sagte die Baronin, »und wo es vielleicht lohnte, ekelt es einen. Die Erfahrung haben Sie vielleicht auch bei der geheimnisvollen Dame gemacht, die unserem Prozeß plötzlich eine neue Wendung zu geben scheint.«

»Die Dame stellte sich allerdings zunächst mehr alltäglich als geheimnisvoll dar«, sagte Peter Hase. »Ein vegetatives Wesen, gutmütig, schwach, träge, aber mit einer Anlage zum Heroismus, wie primitive Frauen sie manchmal haben.«

Mingo, die bis dahin mit fast unhöflicher Teilnahmslosigkeit dagesessen hatte, blickte errötend auf und sagte hastig: »Wer ist die Dame, warum war sie da?«

»Es ist eine Dame, die aussagte, daß Herr Deruga während der verhängnisvollen Oktobertage bei ihr gewesen sei, also die Tat, der man ihn verdächtigt, nicht begangen haben könnte«, erklärte Peter Hase. Er sprach mit Zurückhaltung, da er den Gegenstand für gesellige Unterhaltung nicht geeignet, ganz besonders aber für eine junge Dame nicht für passend hielt.

»Siehst du, Mama«, rief Mingo triumphierend. »Aber wer ist die Dame, daß er so lange bei ihr war? Ist er mit ihr befreundet?«

»Nun, unverheiratete Männer haben eben Beziehungen zu gewissen Frauen, Frauen der unteren Stände«, erklärte die Baronin. »Das ersetzt ihnen das Familienleben. Und sie bevorzugen ungebildete, anspruchslose Frauen, weil sie sich ihnen gegenüber gehenlassen können. Sich gehenzulassen, ist Männern ein wesentliches Bedürfnis.«

»Ich möchte es eine Schutzvorrichtung der Natur nennen«, sagte Peter Hase, »die gerade dem Kulturmenschen als eine Entspannung seiner stets gespannten Kräfte notwendig ist. Aber es ist eine tragische Verkettung, daß gerade der Kulturmensch es mehr und mehr verlernt, sich gehenzulassen, bis die unterdrückten Triebe sich zuletzt im Wahnsinn Luft machen.«

In Mingos Gesicht war zu lesen, daß sie diese Untersuchung weder verstand noch Interesse dafür hatte. »Wie war die Frau?« fragte sie, angelegentlich zu Peter Hase hingewendet. »War sie ganz ungebildet? War sie eine arme Frau?«

»Nein, das doch nicht«, sagte Peter Hase ernst und schonend. »Sie ist die Tochter eines Hausmeisters an einem Knabengymnasium, und es scheint, daß sie dadurch früh bedenklichen Einflüssen ausgesetzt war. Offenbar sucht sie in rührender Art an dem, was sie für Bildung ansieht, festzuhalten; sie betonte, wenn immer es möglich war, die Liebe zur Natur, zu allem Guten, Schönen und Wahren, wie man zu sagen pflegt, und sie sprach geflissentlich von der Freundschaft, die sie mit Deruga verbände. Das Wort Liebe oder Liebesverhältnis ließ sie nicht gern gelten. Ich hatte den Eindruck, daß sie das Bedürfnis hatte, ihrem Leben einen Hintergrund von Schönheit und Besonderheit zu geben, soweit sie es versteht.«

Die Baronin zuckte ungeduldig die Schultern, und der Baron suchte das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken, indem er sagte, ähnliche Züge fänden sich viel bei den leichtfertigen Frauen der meisten Völker, und allerlei aus Japan, China, Indien und anderen Ländern erzählte, die er bereist hatte. Er sei in seiner Jugend weit herumgekommen, sagte er, aber schließlich habe er gefunden, daß es sich in Paris am besten leben lasse.

»O ja, Paris ist stets das mehr oder weniger Gegebene«, sagte die Baronin mit einem unterdrückten Seufzer und einem verschmitzten Ausdruck, der sie allerliebst kleidete.

Er liebe auch Paris, sagte Peter Hase, und sei im Begriff gewesen, zu einem mehrwöchigen Aufenthalt hinzureisen, als Derugas Prozeß ihn abgehalten hätte.

»Dieser Mensch scheint eine ungemeine Anziehungskraft zu besitzen«, sagte die Baronin.

Peter Hase warf einen unauffälligen Blick zu Mingo herüber, um zu sehen, wie das Besprochene sie berührte. Ihre großen Augen hingen mit Spannung und Anteil an seinem Gesicht. »Man begegnet so selten«, sagte er, »innerhalb der Kultur einem ganz natürlichen Menschen, wie Deruga ist; ein Kind, von der Beschaffenheit und in den Verhältnissen eines Mannes.«

»Sie wollen ihn vielleicht in einem Roman verwerten«, spottete die Baronin.

»Kaum«, erwiderter Peter Hase ernsthaft. »Er ist doch wohl zu zusammenhanglos für den Bau der Dichtung, wo alles Zweck sein muß und nirgends eine Fuge klaffen darf.«

»Unschuldig verurteilt«, fuhr die Baronin fort. »Das wäre doch ein Titel, der ziehen würde.«

»Es wird nicht dahin kommen«, sagte Peter Hase, ruhig feststellend. »Die Sache wird irgendwie im Sande verlaufen. Ich schließe aus Derugas Charakter, daß er bunte Erlebnisse, aber keine großen, tragischen, erschütternden haben wird.«

»Hörst du, Mama«, rief Mingo. »Auch Herr Hase ist von seiner Unschuld überzeugt. Jeder ist es. Du bist es dir selbst schuldig, nichts mehr gegen ihn zu unternehmen.«

»Ich sagte dir schon«, fiel die Baronin ein, »daß ich mit dem Anwalt sprechen werde. Seine Sache ist eigentlich nicht meine. In der Tat bedaure ich jetzt, daß ich so schwach war, mich von ihm in diese Sache hineinziehen zu lassen. Ich kam nicht auf den Gedanken, daß es ihm in erster Linie daran lag, sich durch einen aufsehenerregenden Prozeß bekannt zu machen. Er spiegelte mir vor, daß ich berufen sei, ein Verbrechen ans Licht zu ziehen, und benützte mich als Mittel, um berühmt zu werden.«

Die Baronin hatte kaum ausgesprochen, als der Kellner den Dr. Bernburger anmeldete, den sie zu einer Besprechung ins Hotel gebeten hatte.

»Das ist ungeschickt«, sagte die Baron zögernd, und Peter Hase erhob sich, um nicht zu stören. Nein, sagte sie, er dürfe auf keinen Fall schon gehen, sie hätten ja noch nicht einmal den Kaffee eingenommen. Im Grunde sei es ihr lieb, wenn sie die Unterhaltung nicht allein zu führen brauche, Geschäftliches sei ihr ohnehin zuwider, diese Angelegenheit aber vollends verhaßt.

Den nun eintretenden Anwalt begrüßte sie mit einem hochmütigen Kopfneigen, dem sie nachträglich eine etwas höflichere Wendung gab, als sie bemerkte, daß er sie durchschaute und belächelte. Sie erklärte ihm, daß die Anwesenden von allem unterrichtet wären und daß ihre Gegenwart nicht störe, und sagte dann mit einem kalten Blick:

»Die Sache entwickelt sich anders, Herr Doktor, als Sie mir anfänglich einredeten.«

»Ich schätze den selbständigen Charakter der Frau Baronin zu hoch«, entgegnete Dr. Bernburger, »als daß ich wagen möchte, ihr etwas einzureden.«

»Nun gut«, sagte die Baronin unwillig. »Sie schilderten mir die Vorgänge so überzeugend, wie ...«

»Wie Sie sich nur wünschen konnten«, fiel Dr. Bernburger lächelnd ein. »Ich bin von der Wahrscheinlichkeit der Vorgänge, wie ich sie damals darstellte, heute noch ebenso überzeugt wie damals.«

»Und die neue Zeugin?« fragte die Baronin.

»Eine verliebte Person«, sagte Dr. Bernburger wegwerfend, »die sich ein Verdienst um ihren Angebeteten erwerben möchte. Sie ist durchaus nicht wichtig und wurde nicht vereidigt, weil der Gerichtshof sie wegen ihrer Beziehungen zum Angeklagten von vornherein nicht für glaubwürdig hielt. Übrigens würden sich wohl Zeugen auftreiben lassen, um die Unwahrheit ihrer Aussage darzutun.«

»Nein, Mama«, rief Mingo, in lichter Entrüstung aufspringend, »damit sollst du nichts zu tun haben. Dies Spionieren und Hetzen ist unwürdig. Ich leide es nicht, daß du dich dazu hergibst.«

Dr. Bernburger betrachtete das junge Mädchen lächelnd durch seine Brille. »Ginge der Verbrecher nicht dunkle Wege«, sagte er, »brauchte man ihm nicht auf dunklen Wegen nachzuschleichen. Die Methode des Verbrechers bestimmt die Methode dessen, der ihn entlarven soll. Wenn ein Dieb mit Ihrer Börse davonläuft, und Sie wollen sie wiederhaben, müssen Sie ihm nachspringen; oder einen anderen für sich springen lassen.«

»Ich verlange von niemandem, wozu ich mir selbst zu gut bin«, sagte Mingo feindlich. »Übrigens hat uns niemand unsere Börse genommen.«

»Mische dich nicht in Dinge, Kind«, sagte die Baronin verweisend, »die du zu wenig kennst, um sie beurteilen zu können. Ich habe indessen doch das Gefühl«, wandte sie sich an Dr. Bernburger, »daß wir keine glückliche Rolle in dieser Angelegenheit spielen.«

»Es kommt auf den schließlichen Erfolg an«, sagte Dr. Bernburger, »und wie ich Ihnen schon sagte, hat sich meine Überzeugung bisher nur gefestigt. Mir ist es, als hätte ich den Vorgang miterlebt. Ich könnte ihn in einem Drama vorführen.«

»Und warum tun Sie es nicht?« rief die Baronin gereizt. »Ich glaube, die Stimmung wendet sich allgemein dem Angeklagten zu.«

»Herr Dr. Deruga hat augenscheinlich viel Glück bei Frauen«, sagte Dr. Bernburger, »in deren Augen ein Mann überhaupt durch den Verdacht eines Verbrechens zu gewinnen pflegt. Ferner begehen viele Menschen den Fehler, zu glauben, ein Verbrecher müsse von der Natur mit einem besonderen Stempel gekennzeichnet sein. Müsse roh, brutal, gemein, entstellt aussehen. Man bedenkt nicht, daß der Grund der meisten Verbrechen die Schwäche des Täters ist, indem er einem Antriebe nicht genug Widerstand entgegenzusetzen vermochte, und was für eine große Rolle der Zufall dabei spielt. Es ist nicht ohne Ursache, daß in früheren Zeiten viele Verbrecher selbst glaubten, der Teufel habe es ihnen eingeblasen.«

Der Baron meinte, solche Vorstellungen wären gefährlich, indem sie einem fast den Mut raubten, den Verbrecher zu verfolgen und zu bestrafen.

Der Anwalt zuckte die Schultern. »Hörte man damit auf«, sagte er, »so gäbe es ja nur noch Antriebe zum Bösen beziehungsweise Verbotenen, und alle Hemmungen fielen fort. Es ist wohl das beste, daß jeder schlechtweg das tut, was ihm sein Amt vorschreibt, ohne sich Skrupel über die Folgen und innersten Gründe zu machen. Justizrat Fein bringt unentwegt neue Entlastungszeugen vor; er hat jetzt wieder einen Professor ausgespielt, der eine Zeitlang mit Deruga und seiner Frau dasselbe Haus bewohnte und der, wie es scheint, bestätigen soll, was wir längst wissen, daß Deruga ein sogenannter guter Kerl ist, dem man zwar Übereilungen, aber nicht überlegte Schlechtigkeit zutraut. Ich würde meine Pflicht nicht tun, wenn ich mich nicht bemühte, Beweise für unsere Überzeugung aufzutreiben, und ich hoffe noch immer, daß es mir gelingen wird, etwas Abschließendes zu finden. Ich verfolge eine Spur, von der ich aber schweigen möchte, bis ich selbst vollkommene Klarheit gewonnen habe.«

Mingo betrachtete Dr. Bernburger mit unverhohlener Abscheu. »Das geschieht aber nicht für dich, Mama«, sagte sie in flehend befehlendem Tone, »nicht in deinem Auftrage.«

»Bitte, mische dich nicht ein«, sagte die Baronin gereizt, »verlasse uns lieber, wenn du dich nicht beherrschen kannst! Weder du noch ich haben ein persönliches Interesse an der Angelegenheit, sondern einzig ein sachliches. Es kann uns nur angenehm sein, wenn die Wahrheit festgestellt wird.«

»Ja, ich habe ein persönliches Interesse«, rief Mingo leidenschaftlich aus. »Ich weiß, daß er schuldlos ist. Allen Beweisen zum Trotz, die etwa ausspioniert werden, ist er schuldlos und besser als wir alle.« Ihre Stimme zitterte, die Tränen waren ihr nahe.

Der Baron und Peter Hase waren gleichzeitig aufgestanden, wie um die Kleine zu beschützen. Der Baron stellte sich neben sie und schlug einen Spaziergang vor: man müsse bei den immer noch kurzen Tagen die Helligkeit benützen. Dr. Bernburger hatte das Gefühl, in Ungnade und mit Verachtung beladen entlassen zu sein. Die Bitterkeit, die in seinem Innern kochte, verdichtete sich mehr und mehr zum rachsüchtigen Haß gegen Deruga, während er der Baronin gegenüber nur den inständigen Wunsch hatte, ihr zu beweisen, daß er recht gehabt habe.


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