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VII

Die Baronin hatte kaum am Arme ihres Gatten den Saal verlassen, als ein Gerichtsdiener ihr in den Weg trat und sie im Namen des Oberlandesgerichtsrats Zeunemann bat, ihn zu einer kurzen Unterredung in seinem Zimmer aufzusuchen. Er sei bereit, setzte der Gerichtsdiener hinzu, sie sofort hinzuführen.

»Du begleitest mich doch«, sagte sie, zu ihrem Manne hingewendet, der sich willig anschloß. Er müsse zwar gestehen, sagte er, daß er Hunger habe; aber die Herren vom Gericht wären sicher im gleichen Fall, und so würde es nicht lange dauern.

Der Oberlandesgerichtsrat, sagte sie in französischer Sprache, wäre ein ganz angenehmer Mann, etwas kleinbürgerlich eitel, aber gefällig und im Grunde, glaubte sie, ganz auf ihrer Seite.

Dr. Zeunemann hatte sich bereits umgekleidet und knabberte an einem Stückchen Schokolade zur Stärkung. »Ich würde die Herrschaften nicht in diesem Augenblick zurückgehalten haben«, sagte er, ihnen Stühle anbietend, »wenn es nicht in Ihrem eigenen Interesse wäre; mein Wunsch ist, Ihnen einen Schreck oder eine unangenehme Überraschung, wenn nicht ganz zu ersparen, so doch zu mildern.«

»Einen Schreck, Herr Oberlandesgerichtsrat«, rief die Baronin aus, »jetzt, wo meine Nerven durch den gräßlichen Prozeß ohnehin erregt sind!«

»Ich hoffe, das Unangenehme dadurch abzuschwächen«, sagte Dr. Zeunemann, »daß ich Sie persönlich vorbereite. Ich erhielt heute früh einen Brief Ihrer Tochter, in dem sie schreibt, sie habe aus der Zeitung von dem Prozeß erfahren. Sie sei außer sich, protestiere dagegen und verlange, daß ihr Protest veröffentlicht werde.«

»Aber das werden Sie doch nicht tun, Herr Oberlandesgerichtsrat«, rief die Baronin, der das Blut ins Gesicht stieg. »Sie mag unterderhand protestieren, so viel sie will, aber das geht doch die Öffentlichkeit nichts an. Als ob der Prozeß nicht schon Skandal genug wäre!«

»Vielleicht ist Ihr Fräulein Tochter aus dem Grunde dagegen gewesen«, meinte Dr. Zeunemann, »daß Sie sich damit befassen?«

»Aber lieber Oberlandesgerichtsrat«, sagte die Baronin, »Sie werden nicht erwarten, daß ich auf die törichten Einwände eines jungen Mädchens, eines Kindes, achte, wenn es sich um so wichtige Entschlüsse handelt. Würden Sie das tun?«

»Jedenfalls«, sagte Dr. Zeunemann, »würde ich an Ihrer Stelle jetzt zu verhindern suchen, daß Ihr Fräulein Tochter irgend etwas in Szene setzt. Sie scheint in großer Entrüstung und Erregung zu sein, und zwar zum Teil deshalb, weil Sie, gnädige Frau, den Prozeß in ihrem Sinne angeregt zu haben behaupten.«

»Oh, die Undankbarkeit der Kinder«, seufzte die Baronin. »Hätte ich all dies Entsetzliche und Skandalöse auf mich genommen, wenn ich es nicht für meine Pflicht gehalten hätte, meiner Tochter die materiellen Vorteile zu erkämpfen, die ihr gebühren? Warum sagst du gar nichts, Botho?« wendete sie sich an ihren Mann. »Ich hoffe, du wirst deine Autorität gegen Mingo in Anwendung bringen.«

»Ich werde versuchen, sie von auffallenden Schritten zurückzuhalten«, sagte der Baron. »Übrigens weißt du ja, liebes Kind, daß Mingo nicht leicht zu beeinflussen ist.«

»Sehr leicht sogar«, entgegnete die Baronin, ihre Nasenflügel dehnend, »man muß nur verstehen, ihr zu imponieren.«

»Dazu ist sie wohl zu sehr an uns gewöhnt«, entgegnete der Baron ruhig, »und zu sehr von uns verwöhnt.«

»Von dir!« berichtigte seine Frau. »Gottlob, daß sie zu weit entfernt ist, um uns wesentliche Unannehmlichkeiten zu bereiten.«

»Der Brief, den ich heute erhielt«, sagte Dr. Zeunemann, »trägt den Poststempel Ostende.«

»Ostende!« rief die Baronin, indem sie von ihrem Stuhl aufstand. »Sie ist aus England abgereist, ohne uns um Erlaubnis zu fragen! Das darfst du nicht hingehen lassen, Botho!«

»Sie hat die Absicht hierherzukommen«, fuhr Dr. Zeunemann fort.

»Ich danke Ihnen, Herr Oberlandesgerichtsrat«, sagte der Baron, sich gleichfalls erhebend, »daß Sie uns in so rücksichtsvoller Weise gewarnt haben. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht eine Minute länger in Anspruch nehmen!« Auch die Baronin bedankte sich mit liebenswürdigen Worten und knüpfte die Bitte daran, von den barocken Einfällen ihrer Tochter nichts bekannt werden zu lassen.

In dem großen Vorsaal zu ebener Erde drängte sich das Publikum noch, so daß das Ehepaar nicht so schnell vorwärts kommen konnte, wie es wünschte. Halb ärgerlich auf ihren Mann, der ihr nicht so oder so die Bahn frei machte, halb beleidigt durch die Menschen, die nicht von selbst vor ihr zurückwichen, stand die Baronin still, als plötzlich etwas sie bewog, den Blick zur Seite zu wenden, und sie ganz in ihrer Nähe das Gesicht eines Mannes sah, der sie, wie es ihr schien, mit zudringlichem Spott betrachtete. Indem sie sich zornig abwendete, sah sie eine auffallende Nadel in seiner Krawatte, und es wurde ihr mit einem Male klar, daß der Mann Deruga war.

Ein Gefühl von Schwäche und Übelkeit überkam sie. »Warum gehen wir nicht weiter?« sagte sie heftig zu ihrem Mann. Er bemerkte ihre Gereiztheit, verdoppelte seine Anstrengungen, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, und brachte sie in wenigen Minuten an das wartende Auto. Mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung warf sie sich auf den Rücksitz.

»Hast du Deruga gesehen«, sagte sie zu ihrem Manne, der besorgt nach ihrem Befinden fragte, »und wie frech er mich anstarrte? Es ist unbegreiflich, daß man diesen Menschen frei herumgehen läßt. So schrecklich hatte ich ihn mir nicht vorgestellt.«

»Du hast ihn doch heute nicht zum erstenmal gesehen!« sagte der Baron verwundert.

»Ich erkenne niemand ohne Glas«, sagte sie gereizt, »das weißt du doch. Ich weiß nicht, wie ich mich von diesem Eindruck erholen soll. Ist es nicht unerhört, daß ich schutzlos der Rache dieses Mannes ausgesetzt bin? Ich werde mich keinen Augenblick meines Lebens sicher fühlen.«

Was das anbelangt, meinte der Baron, könne sie ruhig sein; ein Angeklagter oder Verdächtiger sei immer vorsichtig.

»Und gewisse Menschen glauben immer das, was am bequemsten ist«, setzte sie hinzu.

Sie werde selbst ruhiger denken, wenn sie gegessen hätte, prophezeite der Baron gutmütig. Sie sei überhungrig, übermüde und durch die schlechte Luft angegriffen. Dazu sei noch der durch Mingo verursachte Schreck gekommen. Sie solle sich am Nachmittag ausruhen, anstatt sich wieder stundenlang in den dumpfen Gerichtssaal einzusperren und sich widerwärtigen, aufregenden Eindrücken auszusetzen. Er sei bereit, hinzugehen und ihr ausführlich Bericht zu erstatten; ohnehin würden die nächsten Vernehmungen nichts Neues bringen.

Dies verhielt sich in der Tat so. Frau von Liebenburg, die Inhaberin der Pension im zweiten Hause, erklärte vornehm ablehnend, daß sie nur feines Publikum habe, daß noch nie etwas mit ihren Pensionären vorgekommen sei, daß sie nichts den Prozeß Betreffendes aussagen könne. Sie könne natürlich nicht für jeden einstehen, der bei ihr nach Zimmern frage, und Buch führen könne sie auch nicht über jeden, der käme, aber sie weigere sich entschieden, irgend etwas über die bei ihr verkehrenden Herrschaften zu sagen. Sie bäte dringend, daß die bei ihr wohnenden feinen Herrschaften nicht mit Fragen und Nachforschungen inkommodiert würden, die zu keinem Ergebnis führen könnten.

Nach dieser empfindlichen Dame erschien Frau Rübsamen, die Frau des Komponisten und Musikschriftstellers im zweiten Stock des dritten Hauses, und entschuldigte ihren Mann, der leidend sei und überhaupt viel zu nervös, um als Zeuge auftreten zu können, da schon die Vorstellung, in einen solchen Prozeß verflochten zu sein, ihn in krankhafte Erregung versetzt habe. Er habe nun einmal ein künstlerisches Temperament, man könne mit ihm nicht umgehen wie mit gewöhnlichen Menschen. Er hätte doch auch nichts nützen können, denn sein Gedächtnis sei schwach, und wenn er Anstrengungen mache, sich zu besinnen, bekäme er nervöse Zustände.

Sie selbst hingegen besänne sich noch wohl auf den 2. Oktober, weil die Ursula sie am Morgen gebeten habe, wenn möglich, ein wenig Rücksicht zu nehmen; Frau Swieter habe eine schlechte Nacht gehabt und könne vielleicht am Tage ein wenig schlafen. Natürlich nähmen ihr Mann und sie gern Rücksicht. Frau Swieter wäre ja auch eine angenehme Partei gewesen, und ihr Mann habe immer gesagt, er könne sie nicht genug schätzen, weil sie nicht Klavier spielte und auch sonst keine Instrumente ausübte; nur die Krankheit sei ihm peinlich gewesen. Die Vorstellung, einen Sterbenden oder Toten im Hause zu haben, sei nämlich ganz unerträglich für ihren Mann. Jetzt wohne eine Familie über ihnen, die turnten alle miteinander morgens und abends, und ihr Mann sage fast täglich, er würde noch so gern auf die arme Frau Swieter Rücksicht nehmen, wenn er nur die Turner nicht über dem Kopfe hätte. Sie hätte also das Ihrige getan und den Klavierstimmer fortgeschickt. Es sei ohnehin die Zeit gewesen, wo ihr Mann Mittagsruhe zu halten pflegte.

Eine Stunde später sei dann ein Herr dagewesen, sie hätte ihn aber eigentlich nicht für einen feinen Herrn angesehen. Der hätte gebeten, Herr Rübsamen möchte doch seine Stimme prüfen, ob es der Mühe wert sei, sie ausbilden zu lassen. Sie hätte den Herrn in den Salon geführt und es ihrem Manne gesagt, der hätte gefragt, was für ein Mann es wäre, worauf sie gesagt hätte, ihr käme er vor wie ein Kutscher oder höchstens Tapezierer. Solche Leute hörten nämlich oft, daß irgendein armer Teufel durch seine schöne Stimme sein Glück gemacht hätte, und wenn sie dann so recht brüllen könnten, daß die Wände zittern, bildeten sie sich ein, sie wären für die Kunst geboren. Nun, daraufhin hätte ihr Mann gar keine Lust dazu gehabt, das Prüfen von Stimmen wäre ohnehin ein undankbares Geschäft. Wenn man es den Leuten ausreden wollte, würden sie oft recht grob, und für einen nervösen Mann wie Herrn Rübsamen sei das Gift. Ihre Aufgabe wäre es denn in solchen Fällen, so einen Menschen mit guter Manier herauszureden, und das hätte sie auch diesmal getan, indem sie gesagt hätte, ihr Mann sei nicht zu Hause, er möchte ein andermal wiederkommen. Sie müsse aber sagen, er hätte sich nie wieder blicken lassen.

Ob sie den Herrn nach seinem Namen gefragt habe, erkundigte sich Dr. Zeunemann.

»Nein, nein«, sagte Frau Rübsamen, »ich wollte mich möglichst wenig einlassen. Nun, nach ein paar Jahren heißt er vielleicht schon Mirabilio oder Birbanti.«

»Das führt zu nichts«, sagte Dr. Zeunemann leise zu seinem Nachbarn, der hinter der Hand gähnte.

»Schluß, Schluß«, sagte der Beisitzer ebenso.

Ob um die Mittagszeit ein Bettler oder Hausierer bei ihr angeläutet habe, fragte Dr. Zeunemann noch, unterbrach aber die Zeugin, da sie eine Reihe von Möglichkeiten zu erörtern begann, mit der Aufforderung, nur das mitzuteilen, was sie bestimmt wisse. Etwas Bestimmtes in bezug darauf zu wissen, wies jedoch Frau Rübsamen mit Entschiedenheit von der Hand, worauf die Untersuchung über verdächtige Besucher des Hauses an dem verhängnisvollen Tage einstweilen abgeschlossen wurde.


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