Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV

Am andern Morgen fühlte Dr. Bernburger sich so abgespannt, daß es ihm erlaubt schien, sich als krank zu entschuldigen, und nachdem er das telefonisch besorgt hatte, legte er sich wieder zu Bett in der Hoffnung, noch einmal einschlafen zu können. Das Klingeln des Telefons weckte ihn, und mit einem lebhaften Gefühl des Überdrusses beschloß er zu tun, als gehe es ihn nichts an. Aber als es von neuem begann, stand er mit einem Seufzer auf, um zu hören, was es gebe. Er erkannte sofort die Stimme der Baronin, der der Apparat eine schrille Färbung gab.

»Sie sind krank?« sagte sie. Das sei im höchsten Grade ungeschickt. Sie sei im Begriff abzureisen, und es sei darum gerade jetzt notwendig, daß er persönlich am Platze sei.

Er sei nicht zum Vergnügen krank, antwortete Bernburger. Die Krankheit sei wohl nicht so arg, sagte die Baronin, daß er nicht auf eine Viertelstunde ins Hotel kommen könne. Sie müsse ihn durchaus vor der Abreise sprechen. Er bedauere, antwortete Bernburger, er läge zu Bett.

»Aber Herr Doktor, Sie sind ja am Telefon«, sagte die Baronin mit dem Lachen, von dem er wußte, wie verführerisch es klang, wenn es ihr darauf ankam.

»So komme ich in Gottes Namen«, rief er ärgerlich auf sich und sie.

»Das ist recht, Doktor«, antwortete ihre Stimme, »Sie können sich ja einen Wagen nehmen.«

»Sie sehen gar nicht krank aus, Doktor«, so empfing ihn die Baronin. »Mein Mann und ich haben uns plötzlich entschlossen, nach Paris zu reisen«, fuhr sie fort, »da mich der schreckliche Prozeß, wie ich Ihnen schon sagte, so sehr angegriffen hat.«

»Die Stellungnahme Ihres Fräulein Tochter«, sagte Dr. Bernburger mit absichtlicher Dreistigkeit, »muß sehr erschwerend für Sie sein.«

Die Baronin errötete. »Sie wissen«, sagte sie, »daß ich meine Handlungen durch das Urteil der Jugend nicht beinflussen lasse. Meine Tochter wird uns begleiten.«

»Sie sind um den Aufenthaltswechsel sehr zu beneiden«, sagte Dr. Bernburger.

»Ja, der Frühling ist in Deutschland unerträglich«, sagte die Baronin. »Vielleicht wird er gerade deshalb von deutschen Dichtern so besonders viel besungen; man rühmt ja das, was man nicht kennt.«

»Sich niemals kennenzulernen wäre also das Geheimnis der glücklichen Ehe«, erwiderte Dr. Bernburger und setzte, sich selbst verweisend, hinzu: »Aber ich sehe, meine Schwäche macht mich zerstreut und geschwätzig. Was wünschen Frau Baronin mir zu sagen?«

»Ich wollte Ihnen den Prozeß auf Herz und Gewissen legen«, sagte sie. »Als wir uns das letztemal sahen, war ich schwankend geworden; eine Folge meiner Unklugheit, persönlich anwesend zu sein, wie ich jetzt eingesehen habe. Die vielen Einzelheiten, die wechselnden Aussagen, alle die starken Eindrücke machen einen nervös, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Ich will nun, ohne mich persönlich darum zu kümmern, dem Prozeß seinen Lauf lassen und das Ergebnis erwarten. Daß es gerecht ausfällt, dafür sind die Anwälte und Richter da.«

»Jawohl«, sagte Dr. Bernburger.

»Ich kann mich doch auf Sie verlassen?« fragte sie. »Ihre Krankheit wird doch nicht lange dauern? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zuweilen Bericht erstatten wollten. Sie sagten das letztemal, daß Sie eine entscheidende Entdeckung zu machen hofften.«

Dr. Bernburger hatte die Baronin starr angesehen und fuhr bei ihren letzten Worten zusammen. »Leider«, stieß er etwas gewaltsam hervor, »muß ich Ihnen mitteilen, daß ich mich gezwungen sehe, die Vertretung Ihrer Angelegenheit niederzulegen.«

Die erste Regung der Baronin bei diesen unerwarteten Worten war gekränkte Entrüstung, die sie so stark erfüllte, daß sie kaum Fassung gewinnen konnte, sich zu äußern.

»Das ist unerhört, das ist unmöglich«, rief sie endlich aus, während ein kalter, stechender Ausdruck in ihre grauen Augen trat. »Sie wollen sich aus der Verlegenheit zurückziehen, in die Sie mich verwickelt haben. Aber ich entlasse Sie nicht. Und diese Krankheit haben Sie nur vorgeschützt, ich durchschaute es gleich. Es ist der erste Schritt, uns, mich ehrlos im Stiche zu lassen.«

Dr. Bernburger wurde bleich, aber er blieb bei wachsender Entschlossenheit ruhig. »Ich fühle mich in der Tat krank«, sagte er, »und der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Es ist um Ihretwillen, daß ich zurücktreten will.«

»Ich danke für Ihr rücksichtsvolles Opfer«, sagte die Baronin spöttisch. »Aber ich nehme es nicht an. Ich vertraue Ihnen trotz Ihrer Krankheit.«

Inzwischen hatte die aufgeregte und scharfe Stimme ihrer Mutter Mingos Aufmerksamkeit erregt, die sich im Nebenzimmer befand. Sie trat ein und betrachtete die Streitenden mit verwundert fragenden Blicken. Ohne daß er sich dessen bewußt wurde, flößte ihre Anwesenheit dem jungen Rechtsanwalt Mut ein.

»Wenn ich Ihnen den Namen und die Art meiner Krankheit nenne, Frau Baronin«, sagte er, »werden Sie mich besser begreifen. Sie besteht darin, daß ich anderer Überzeugung geworden bin.«

»So plötzlich?« fragte die Baronin. »Noch vor zwei oder drei Tagen sprachen Sie sich ganz anders aus.«

»Es kommt vor, daß einem die Augen ganz plötzlich geöffnet werden«, sagte Dr. Bernburger.

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Mingo seine heiße, feuchte Hand ergriff, deren Berührung sie sonst vermieden hatte, und ausrief: »Oh, Herr Doktor, sagen Sie uns alles! Ich danke Ihnen, Mama freut sich ebenso wie ich, wenn sie es auch nicht gleich zugibt! Wie gut von Ihnen, daß Sie Ihren Irrtum eingestehen!« Sie hielt seine Hand noch immer mit leidenschaftlichem Druck fest, und ihre Augen standen voll Tränen, während ihre Lippen zitterten. Auch in dem Gesicht der Baronin lösten sich die gespannten Mienen, obwohl sie Zurückhaltung und Überlegenheit zu bewahren suchte.

»Seien Sie aufrichtig gegen mich, Herr Doktor«, sagte sie mit gemäßigter Strenge. »Das wenigstens darf ich von Ihnen verlangen. Beruht Ihre Sinnesänderung auf psychischen Eindrücken oder auf neuen Tatsachen, die Sie erfahren haben?«

Erst jetzt forderte sie ihn auf, sich zu setzen, und da er einen Stuhl nehmen wollte, bot sie ihm mit lächelnder Anspielung auf seine Krankheit einen Sessel an.

»Auch ein Glas Wein müssen Sie trinken«, fügte sie hinzu, indem sie Mingo durch einen Blick bedeutete, zu klingeln. »Sie sehen wirklich angegriffen aus. Ich glaube, ich war vorhin zu hart gegen Sie, aber Sie haben es selbst durch Ihre Unaufrichtigkeit und vor allem durch Ihre Zweifel verschuldet. Ich glaube, wenn Sie die schlechte Meinung in Rechnung ziehen, die Sie von mir hatten, bin ich Ihnen nichts mehr schuldig.«

Als Dr. Bernburger seine Erzählung beendet hatte, war Mingos blasses Gesicht von Tränen überströmt, die zu verbergen sie keinen Versuch machte; zu sprechen war sie nicht imstande. Ihrer Mutter war es nicht anzusehen, daß sie bewegt war. »Erklären sie mir nun, Herr Doktor, in welcher Weise sich durch Ihren Fund die Lage verändert hat«, sagte sie. »Was werden die Folgen sein?«

»Die Lage hat sich nur verändert, wenn Sie wollen«, sagte Dr. Bernburger. »Wenn Sie es verlangen, habe ich die Pflicht, meinen Fund zu verschweigen.«

»Das kommt natürlich nicht in Frage«, rief die Baronin schnell aus. »Ich habe nie etwas anderes gewollt, als daß ein Verbrechen gesühnt würde. Was Herr Deruga getan hat, halte ich eher für eine großmütige Tat. Ich weiß aber nicht, wie die Justiz sich dazu stellt.«

»Durch den Brief«, erklärte der Anwalt, »ist einwandfrei festgestellt, daß Dr. Deruga seine geschiedene Frau auf ihre Bitte getötet hat, und seine Tat fällt demnach unter eine Rubrik, die ›Tötung auf Verlangen‹ betitelt ist. Vermutlich wird er zu einigen Jahren Gefängnis verurteilt. Wird er aber auch nicht freigesprochen, so haben Sie, Frau Baronin, mit einem Versuch, ihm die Erbschaft streitig zu machen, doch kaum noch Aussicht auf Erfolg.«

Ein schnelles, tiefes Rot flog über das Gesicht der Baronin. »Davon ist nicht mehr die Rede«, sagte sie mit einer abwehrenden Handbewegung. »Jetzt begreife ich die Verfügung meiner verstorbenen Kusine vollkommen. Alles, was ich getan habe, ging aus vollkommener Verkennung der Verhältnisse hervor. Ihrem Eifer, lieber Herr Doktor, habe ich es zu verdanken, daß ich noch rechtzeitig meinen Irrtum einsehen konnte.« Sie reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen führte.

Mingo vermochte immer noch nicht zu sprechen. Erst als Dr. Bernburger fortgegangen war, rief sie, indem sie ihrer Mutter um den Hals fiel: »Was für ein guter Mensch, dieser unscheinbare Bernburger! Wie unrecht habe ich ihm getan! Und was für schöne traurige Augen hat er hinter der Brille!«

Die Baronin küßte Mingo auf die Stirn und sagte: »Süßliche Augen, gut, daß die Brille davor ist.«


 << zurück weiter >>