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Der Staatsanwalt sprach:

»Um in diesem Falle klarzusehen und den Tatbestand bei der Zumessung der Strafe voll zu würdigen, ist es notwendig, auf die Einzelheiten der Anklage einzugehen, auch damit sich hier die Angeklagte der ganzen Schwere ihrer Handlungsweise bewußt wird.« Er kramte in seinen Akten, richtete seinen Körper vom Tisch weg, über den er sich gebeugt hatte, wieder auf und fuhr fort: »Der Tatbestand eines Vergehens im Sinne des § 218 ist erwiesen, einmal durch die Auffindung der Angeklagten in ihrem Hause und durch das Zeugnis des Seefischers Golpers, der Gesine Fuß und durch das Gutachten des behandelnden Arztes der Klinik, in die die Angeklagte nach ihrer Auffindung gebracht wurde.

Die Angeklagte leugnet auch selbst nicht, sondern gibt an, sich auf nichts mehr besinnen zu können. Dieses Nichtbesinnen ist eine typische Art der Abschwächung einer strafbaren Handlung. Betrachten wir die näheren Umstände: Meines Erachtens ist dieser Fall ein äußerst schwerer, und zwar aus folgenden Gründen. Die Entwicklung des Heimatdorfes der Angeklagten hat unter den äußeren Einflüssen der Naturgewalten außerordentlich stark zu leiden. Das Interesse des Staates für die Wahrung seiner bevölkerungspolitischen Grundsätze muß in bezug auf die Entwicklung gerade dieser Bevölkerungsschicht besonders stark sein. Der Staat hat die Pflicht, die Aufzucht eines starken und gesunden Nachwuchses in jeder Weise, zu fördern, insbesondere durch einen unnachsichtigen Kampf gegen die Abtreibungsseuche. Wenn dieser Krebsschaden aber schon in ein bisher durch Traditionen bewahrtes Dorf eindringt, dann muß energisch eingegriffen werden. Die Angeklagte hat mit ihrem frevelhaften, gewaltsamen Abortus nicht nur sich selbst physisch geschädigt, sondern der Schaden, den sie dem Staat und dem Grundsatz christlicher Moral zugefügt hat, ist ungleich größer. Ich bedaure, daß der § 218, der durch die Novelle am 18. Mai 1926 eine Abänderung erfahren hat, mir nicht die Möglichkeit zur Beantragung einer angemessenen Zuchthausstrafe gibt ...«

Lee horchte erschreckt auf. Hinten im Saal schluchzte Gesine Fuß laut, als sie das Wort Zuchthaus hörte; dadurch wurde der Staatsanwalt in seiner Rede gestört, er suchte nach einem neuen Satz.

»Ich möchte die Anwesenden ersuchen, den Herrn Staatsanwalt nicht in seiner Rede zu unterbrechen, da ich mich bei weiteren Störungen zu Zwangsmaßnahmen genötigt sehe.«

Der Vorsitzende erhob sich bei diesen Worten von seinem Sitz. Gleichzeitig der Gendarm, er ließ sich neben Gesine nieder. Die kroch in sich zusammen.

»Die Abziehung des § 51 kommt auf keinen Fall in Frage, da die freie Willensbestimmung der Angeklagten nicht gehemmt war, sie hat mit voller Überlegung gehandelt, ja, sie hat sogar versucht, die Tatsachen umzufälschen und in verleumderischer Weise einen anderen Menschen in die Affäre hineinzuziehen. Ich kann angesichts der immer noch leugnenden Angeklagten nur bedauern, daß meine Behörde davon Abstand genommen hat, Anklage wegen Vergehens gegen den § 186 des Strafgesetzbuches zu erheben – eine Anklage, die die Beschuldigte mit vollem Recht treffen würde, da sie in Verbindung mit ihrer verdammenswerten Tat verleumderische Beleidigungen gegen einen in unserer Vaterstadt hochangesehenen Mann, den man im ureigensten Sinne des Wortes als Förderer der Hochseefischerei ansprechen kann, vorgebracht hat. Der Staat hätte ein öffentliches Interesse am Schutze dieser Persönlichkeit, die sich große Verdienste um die Ernährung unseres Volkes erworben hat. Die Anklagebehörde hat darauf jedoch Verzicht geleistet, ich ersuche aber, die Handlungsweise der Angeklagten bei der Zumessung der Strafe mit in Betracht zu ziehen. Es kennzeichnet die Skrupellosigkeit der Angeklagten, diesen Mann, von dem sie nur Gutes erfahren hat, und der, wie aus dem Briefe hervorgeht, noch für sie bittet, einer gemeinen Handlungsweise zu bezichtigen, um ihre Tat in milderndem Licht erscheinen zu lassen.«

Der Staatsanwalt richtete sich auf und fuhr mit Überzeugung fort:

»Für mich sind die von mir aufgezeigten Tatsachenbeweise Unterlage genug, eine exemplarische Strafe zu verlangen; daher beantrage ich, unter Berücksichtigung auch der strafmildernden Erscheinung, eine Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren für das Verbrechen gegen den § 218; diese Strafe halte ich als Sühne für angemessen. Drei Monate Untersuchungshaft bitte ich in Anrechnung zu bringen.«

Der Staatsanwalt war von den Argumenten seiner Rede überzeugt, er mußte so sprechen, er vertrat das Gesetz. Mit einem Tuch wischte er sich über die Stirn, hustete, denn die Rede hatte ihn sichtlich angestrengt.

Der Vorsitzende des Gerichts erteilte dem Rechtsanwalt das Wort.

Der erhob sich langsam, drehte sich noch einmal zu Lee hin, besprach etwas mit ihr und verbeugte sich nach dem Richtertisch zu.

»Meine Herren Richter«, es schien, als lächelte er ein wenig, »es ist notwendig, auf einzelne Ausführungen des Herrn Staatsanwalts einzugehen, denn ich habe den Eindruck, daß der Herr Staatsanwalt seine subjektive Auffassung über die Angeklagte in seinem Plädoyer zum Ausdruck brachte, aber bei weitem nicht den Tatbestand des Falles genügend gewürdigt und in ein richtiges Verhältnis zum Gesetz selbst gebracht hat. Der Herr Vertreter der Anklage zeigte durch seine Auslassungen über die Bevölkerungspolitik die ganze Rückständigkeit seiner Gesinnung ...«

»Bitte, Herr Rechtsanwalt, ich will Sie in Ihrer Verteidigung wirklich nicht beschränken, aber das führt zu weit! Sie können hier keine persönliche Polemik gegen den Herrn Staatsanwalt führen.«

»Es ist ein Irrtum, wenn der Herr Vorsitzende meint, daß ich vielleicht irgendeine politische Idee oder die Tendenz einer politischen Partei in meine Ausführungen lege, sondern ich betone, daß ich denselben Kreisen wie der Herr Staatsanwalt angehöre, aber man muß es als eine Rückständigkeit im Sinne der Auslegung der Gesetze bezeichnen, wenn der Herr Staatsanwalt ausführt, daß er bedauere, daß das Gesetz geändert wurde, das heißt, der § 218 eine Milderung erfahren hat. Seine Ausführungen sind eine subjektive Kritik gegenüber dem Gesetzgeber. Hier ist er päpstlicher als der Papst, denn der Gesetzgeber hat die Unhaltbarkeit der scharfen Zuchthausstrafe bei Vergehen gegen den § 218 erkannt, und es ist meine persönliche Auffassung, daß dieser Paragraph überhaupt nicht mehr in die Gesetzgebung des zwanzigsten Jahrhunderts hineinpaßt. Gerade die Praxis des Lebens zeigt die Unhaltbarkeit solcher Gesetze. Der sozialen Lage der Bevölkerung wird überhaupt nicht Rechnung getragen. Wenn wir in der Chronik des Gerichtssaales über diesen Paragraphen nachschlagen, finden wir nur Angehörige der arbeitenden Schichten, nicht aber Frauen der wirtschaftlich starken Vertreter der Bevölkerung vor den Schranken des Gerichts. Es ist unnütz, hier die Gründe des ›Weshalb‹ zu untersuchen. Die kennen Sie so gut wie ich, leider bringen wir nicht den Mut auf, das auch auszusprechen. Der Fall meiner Klientin ist ein sprechender Beweis dafür.

Was wird ihr zum Vorwurf gemacht?

Eine Abtreibung ...! Ich komme auf eine Seite des Falles zu sprechen, die gleichzeitig die Rückständigkeit des Herrn Staatsanwalts in psychologischer Beziehung zeigt ...«

»Herr Rechtsanwalt! Vermeiden Sie bitte solche persönlich zugespitzten Schärfen in Ihrem Plädoyer!«

»Jedem einigermaßen aufgeklärten Menschen dürfte bekannt sein, daß Frauen in diesem Zustand der Schwangerschaft besonderen Stimmungen unterworfen sind, nicht immer über ihre Nerven verfügen und daher oft die Kontrolle über ihre Handlungen verlieren können. Darüber müßte sich ein Psychiater äußern, der zu entscheiden vermag, ob der vorliegende Fall nicht einen Grenzfall darstellt, wo im Augenblick der Tat die freie Willensbestimmung der Handelnden ausgeschaltet war, noch dazu, weil hier ganz besondere Umstände vorlagen. Die Angeklagte hat den Mann verloren, kurz darauf den Sohn, dazu den langjährigen Mitarbeiter, der ein Jugendfreund ihres Mannes war – und ihre gesamte Existenz. Sie sah keine Möglichkeit, sich selbst zu ernähren, wieviel weniger noch ein Kind. Dazu eine andere Tatsache.«

Der Rechtsanwalt holte ein wenig Luft und beugte sich noch einmal zu Lee, dann fuhr er fort: »Und im übrigen – kennen Sie das Dorf, haben Sie schon einmal in einem solchen Milieu gelebt?

Meine Herren, wir entstammen anderen Kreisen, haben eine andere Kinderstube gehabt, und es fällt uns gewiß sehr schwer, uns in das primitive Denken dieser einfachen Menschen zu versetzen. Entbindet uns das der Pflicht, zu versuchen, das Milieu verstehen zu lernen?! Enthebt uns das der Aufgabe, uns in das Denken dieses Dorfes einzufühlen? Unter keinen Umständen, meine Herren. Daß dieses von Traditionen bewahrte Dorf anders aussieht, als es der Herr Staatsanwalt uns vor Augen zu führen versucht hat, ist wohl klar. Wenn er es noch nicht gewußt hat, dann hätten ihn die hier aufgetretenen Zeugen eines Besseren belehren müssen. In diesem Zusammenhang komme ich auf eine Frage, die – obwohl sie diskutiert werden kann – doch nicht als These so falsch gestellt werden darf, wie es seitens des Herrn Staatsanwalts geschehen ist.

Dem Herrn Anklagevertreter scheint es für absolut sicher zu gelten, daß der Bestmann Jan der Schwängerer ist. Meine Klientin bestreitet es mit aller Entschiedenheit, und wer will den Beweis dafür erbringen, daß es der Fall ist? Keiner kann das. Indizienkomplex. Aber nehmen wir einmal an, der Herr Staatsanwalt habe recht. Wie nehmen sich dann seine Argumente für eine ›gesunde Bevölkerungspolitik‹ und für die Wahrung der Grundsätze ›christlicher Moral‹ im Lichte der Tatsachen aus?! Ist Inzucht – ich stelle diese Frage mit aller Deutlichkeit –, ist Inzucht und sind die damit verbundenen Degenerationserscheinungen vielleicht das Ideal der modernen Bevölkerungspolitiker? Ja, kennen Sie überhaupt die Struktur des hier in Frage stehenden Dorfes? Die Tatsachen zeigen, daß dieses Dorf von Anbeginn seiner Existenz fast abgeschlossen von der übrigen Welt gelebt hat; es hat sich über viele Jahrzehnte gegen alles Fremde gewehrt, jeder Eindringling wurde scheel angesehen, ja sogar von den Einheimischen offen boykottiert und zum Dorf hinausgeekelt. Die Folge davon ist gewesen, daß das Dorf nicht nur in kommunalem Sinne eine Gemeinschaft, eine Familie wurde, sondern auch im eigentlichen Sinne des Wortes. Die einzelnen Familien haben so stark untereinander geheiratet, daß es schwerhalten dürfte, noch alteingesessene Einwohner und deren Nachkommen zu finden, die nicht irgendwie miteinander und untereinander verwandt sind. Daß unter solchen Umständen ein großer Prozentsatz der Nachkommenschaft deutlich erkennbar Degenerationserscheinungen aufweist, ist nicht weiter verwunderlich. Es ist wirklich interessant, die Genesis des Dorfes zu studieren ...

Die Hauptursachen der Inzucht sind auf ökonomischem Gebiet zu suchen. Materielle Interessen, wie die Sicherung und Mehrung des überkommenen Erbes im Rahmen der Familie und in den Grenzen des heimatlichen Dorfes, sind ausschlaggebend. Auch heute noch. Und das in einer Zeit, wo schon kein Zweifel mehr darüber besteht, daß das alte Dorf der Vergangenheit angehört, daß der ererbte Besitz zerrinnt und daß der Beruf dem Untergang geweiht ist. In diesem Lichte gesehen, Herr Staatsanwalt, sind Ihre bevölkerungspolitischen Bemerkungen anachronistisch. Was Sie befürworten, ist Inzucht zum Zwecke der aussichtslosen Erhaltung des Besitzes einer zum Untergang verurteilten Bevölkerungsschicht. Ich habe diese Ausführungen gemacht, um zu zeigen, daß die der Angeklagten nachgesagte Tat, wenn sie eine Folge der Schwängerung durch den Bestmann Jan wäre, weit eher zu erklären und zu entschuldigen als zu verwerfen wäre. Denn der Bestmann Jan hat, wenn auch in einem entfernteren verwandtschaftlichen Verhältnis zur Angeklagten gestanden. Unter Berücksichtigung all dessen, was ich bereits über die Degeneration gesagt habe, wäre also die Abtreibung der Frucht, die dem Verhältnis zwischen dem Bestmann und meiner Klientin entsprungen wäre, eine begreifliche Tat immer vorausgesetzt, daß der Tatbestand eindeutig und die Angeklagte sich selbst über die Zustände in ihrem Dorf klar gewesen wäre und sich gegen die Geburt eines Schwachkopfes gewehrt hätte.

Die sonderbaren Argumente, die der Herr Staatsanwalt für die Unantastbarkeit des von meiner Mandantin als Schwängerer bezeichneten Herrn Johannsen angeführt hat, will ich nicht weiter betrachten. Ich bin weit davon entfernt, den Verkehr, den ein Herr Johannsen mit meiner Klientin gehabt hat – nach ihren Angaben –, schon als solchen als eine schlechte Handlung, als etwas Empörendes zu betrachten. Von einer unsittlichen Handlung und von loser Moral spreche ich nur dann, wenn ein Schwängerer sich«, der Rechtsanwalt verbeugte sich zu dem Staatsanwalt hin, »drücken will. Auch in diesem Punkt unterscheide ich mich also von dem Herrn Vertreter der Anklage! Doch die Dinge liegen ja so, daß die briefliche Aussage des eigenartigerweise verreisten Herrn Johannsen der Behauptung der Angeklagten gegenübersteht. Das Gericht wird also zu einer Klärung der Frage nach dem Schwängerer auf dem bisher eingeschlagenen Wege nicht kommen.

Ich komme zum Schluß. Meine Herren Richter, Sie können nach den Buchstaben des Gesetzes verurteilen, aber über das geschriebene geht das moralische Gesetz. Die Auffassung des Herrn Staatsanwalts entspricht nicht einmal der Auffassung der modernen bürgerlichen Gesellschaft, sie ist, wie ich bereits sagte, anachronistisch; sie ist von keiner Erkenntnis der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft getragen. Wir haben einen Krieg hinter uns, der die Umwertung vieler Werte mit sich brachte, leider aber nicht zu einer Änderung der Gesellschaftsordnung und der politischen Machtverhältnisse geführt hat. In diesem Kriege wurden Millionen vollwertiger Menschenleben vernichtet, sie wurden den ökonomischen und politischen Interessen der bestehenden Gesellschaft und politischen Interessen geopfert. Keiner der Urheber der Hekatomben von Menschen hat auf der Anklagebank gesessen, nirgends hat ein Vertreter der herrschenden Gesellschaft die Bestrafung der an der Menschenvernichtung Schuldigen gefordert, denn dafür waren politische Ziele maßgebend, die noch dazu den Segen der Kirche hatten, obwohl sie selbst Gebote erlassen hat, die die Tötung verurteilen.

Vielleicht denkt der Herr Staatsanwalt einmal nach dieser Richtung hin über Bevölkerungspolitik nach und urteilt dann über einen Fall, wie den jetzigen, anders.

Es ist eine Unmöglichkeit, die Angeklagte für schuldig zu erklären. Das Gericht hat meine Auffassung über das Gutachten des Arztes als wahr unterstellt, damit ist anerkannt worden, daß nicht feststeht, ob ein gewaltsamer Eingriff gegen das keimende Leben vorliegt. Aus diesem Grunde bitte ich die subjektiven wie objektiven Faktoren bei der Urteilsfällung zu berücksichtigen – und dann kann nur ein Freispruch erfolgen! Ich ersuche daher um Freisprechung der Angeschuldigten!«

Die Richter saßen noch einen Augenblick still; Gesine schluchzte laut neben dem Gendarm, dann zog sich das Gericht zur Beratung zurück.

Im Saal wurde es lebendig, der Gendarm setzte sich wieder zu Golpers. Gesine hatte zu schluchzen aufgehört, sie sah zu Lee hinüber und näherte sich Schritt für Schritt der Anklagebank. In ihrem Hirn nistete sich nur der eine Gedanke fest: Lee kommt frei!

Von einem Freispruch durch das Gericht war Gesine überzeugt, denn nach den Worten des Rechtsanwalts glaubte sie daran. An der Anklagebank blieb sie stehen und starrte den Advokaten an, der erschien ihr als der Inbegriff eines Heiligen, der Wunder vollbringen kann.

»Dieser Rechtsanwalt ist einer, der aus schwarz weiß zu machen versteht«, meinte der Gendarm zu Golpers, aber der antwortete ein wenig verworren.

»Was hat schon der Krieg mit der Abtreibung der Lee Tews zu tun, das ist doch ganz etwas anderes. Die Feinde haben doch unsere Soldaten erschossen, und angefangen haben wir den Krieg auch nicht, die anderen waren schuld.«

Golpers war von seinen Worten überzeugt, nur die Fischerswitwe schob sich auf ihrem Platz hin und her, dann meinte sie:

»Die Lee Tews war nicht recht bei Besinnung, das hast du doch auch gesehen, Golpers!«

Golpers verwahrte sich dagegen, er hatte andere Absichten.

»Gott sei Dank nicht, die hat mich doch ausgelacht, ins Gesicht gespuckt und beschimpft. Sieh dir das Mensch an, wie sie dasitzt ..., als wenn sie die unschuldvolle Mutter Maria wäre, den Heiligenschein hat ihr der Rechtsanwalt gewoben, nur den Jesus hat sie verloren, der fehlt ihr jetzt auf dem Arm.«

Er drehte sich um, unwillkürlich kam ihm ein Kribbeln über seine Nasenwurzel, mit der Hand versuchte er diese Störung zu beseitigen, dabei fühlte er den Schlag, den ihm der Zimmermann für diesen Ausdruck beigebracht hatte.

»Der Kerl ist nicht hier!« Golpers hatte den Gendarm am Arm gefaßt, der lehnte die Hand ab, nahm sie von seiner Uniform zurück; denn über seine Uniform hatte er zu wachen, die durfte keine fremde Hand berühren.

»Was meinen Sie für einen Kerl?« Der Gendarm sah Golpers an. Dem aber war es unerwünscht, an diese Episode erinnert zu werden, darum rückte er unschlüssig auf seinem Sitz hin und her und suchte nach einem Ausweg aus der Klemme, in die ihn seine unüberlegte, aus Dummheit gemachte Bemerkung gebracht hatte.

»Ich meine den anderen Freund von ihr, der sie neulich im Dorf gesucht hat.«

Gesine hatte sich bis zum Rechtsanwalt vorgetastet und stand bei ihm; ihr Sinn war noch verworren, und sie fragte den Rechtsanwalt zaghaft: »Ob ich Lee Tews gleich mit nach Hause nehmen kann?«

Der Rechtsanwalt beugte sich zu ihr hin, da überkam sie ein eigenes Sicherheitsgefühl, sie tappte nach seiner Hand, der Rechtsanwalt reichte sie ihr.

»Sie haben Lee Tews doch freigesprochen, das war fein!«

Als sie noch mit ihm sprach, öffnete sich die Tür des Beratungszimmers, und die Richter traten in den Saal. Der Vorsitzende ergriff sein Barett, setzte es sich auf den Kopf, drehte ein wenig daran, fühlte mit den Händen, ob es auch gerade säße, und begann zu sprechen:

»Im Namen des Volkes!

Die Angeklagte Lee Hinrichsen wird wegen Vergehens gegen den § 218 des Reichsstrafgesetzbuches zu einer Strafe von eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Drei Monate der erlittenen Untersuchungshaft werden in Anrechnung gebracht.«

Lee starrte unverwandt auf den Richter. Doch ehe sie begriff, was in ebendieser Minute geschehen war, fuhr der Richter fort und gab wie üblich die mündliche Begründung:

»Das Gericht ist in eine eingehende Prüfung des Falles eingetreten und hat sich bei seinem Urteil von den bestehenden Tatsachen leiten lassen. Es erkennt die Ausführungen des Herrn Verteidigers sehr wohl an, aber es liegt unzweifelhaft ein Verstoß gegen den § 218 des Strafgesetzbuches vor. Das Gericht tritt nicht den Ausführungen des Herrn Staatsanwalts bei, daß ein ganz besonders schwerer Fall vorliegt, sondern sieht nur einen an und für sich schweren Fall, bei dem auch mildernde Umstände mitsprechen, darum kam für das Gericht eine mildere Bestrafung in Frage.

Es mußte untersucht werden, ob eine Schädigung der Interessen des Dorfes vorlag. Der Herr Rechtsanwalt hat an sich recht, aber das Gericht mußte erkennen, daß ein sich vielleicht wertvoll entwickelndes Menschenleben im Keim vernichtet wurde. Gewiß ist viel Dorfklatsch dabei, aber Tatsachen kann man nicht hinwegwischen. Alle Zeugen bekunden den gewaltsamen Eingriff, und auch das Gutachten des behandelnden Arztes spricht nicht von einem Gegenteil ...«

Der Vorsitzende blätterte im Strafgesetzbuch, hielt eine Seite fest und las:

»Eine Frau, die ihre Frucht im Mutterleib oder durch Abtreibung tötet oder die Tötung durch einen anderen zuläßt, wird mit Gefängnis bestraft.

Der Versuch ist strafbar ...«

Er klappte das Buch zu. Gesine stand noch immer neben dem Rechtsanwalt, sie hatte ihren Mund geöffnet, der die stumpfen Zähne sehen ließ, die Worte des Richters waren ihr nicht recht verständlich, darum trat sie einen Schritt näher zum Vorsitzenden hin. Golpers hatte den Kopf in seine Hände gestützt und hielt sie dabei so, daß sie hinter seinen Ohrmuscheln lagen, er wollte kein Wort des Richters an seinem Ohr vorübergehen lassen, jeden Laut fing er auf. Sogar der Gendarm hatte sich aufgerichtet, er stand stramm, wie auf dem Exerzierplatz, hatte vorschriftsmäßig das Kinn an der Binde und die Finger an der Hosennaht. Ihm war es sehr ernst, er erwartete hier gewissermaßen den Rapport seiner obersten Behörde.

»Da das Gesetz in solchen Fällen eine Strafe bis zu fünf Jahren vorsieht«, fuhr der Richter fort, »das Gericht aber den Fall milder beurteilt, hat es eine Strafe von eineinhalb Jahr Gefängnis als Sühne für dieses Vergehen für ausreichend erachtet ...«

Gesine schluchzte bei diesen Worten laut auf, für sie war das, was der Richter ausführte, unfaßbar, nur auf Golpers Gesicht lag ein Zug von Zufriedenheit, die Fischerswitwe sah ihn von der Seite an und bemerkte den vergnügten Zug um seinen Mund; sie rückte unmerklich von ihm ab und hob ihren Rock ein wenig, da er die Hose von Golpers streifte. Der Richter rief zu Gesine hinüber: »Stören Sie nicht immer die Verhandlung!« Dann fuhr er fort: »Es ist unbeträchtlich, wer die Angeklagte geschwängert hat, das Gericht hatte das nicht zu untersuchen. In diesem Fall steht auch Aussage gegen Aussage. Der Brief des Herrn Johannsen diente dem Gericht nur zum Teil als Grundlage für die Erörterungen. Es bleibt dem Herrn Johannsen unbelassen, Privatklage zu erheben. Eine Bewährungsfrist kann nicht ausgesprochen werden; die Angeklagte bleibt in Haft. Das Gericht empfiehlt der Angeklagten, ein Gnadengesuch einzureichen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Angeklagte.«

Das Gericht entfernte sich.

 

Regen fiel. Unablässig träufelte er nieder. Es war ein feiner Regen, den man mehr fühlt als sieht. Er hing in der Luft, schwebte nieder, schien vom Boden wieder aufzusteigen und färbte alles grau in grau. Die Luft war undurchsichtig, sie trug nicht wie sonst den Lärm des Tages mit sich, sondern erstickte ihn. Unter dem Druck dieses Wetters gingen die Menschen gebeugt daher, drückten sich fröstelnd in ihre Kleidung hinein. Dieses Wetter war der Vorbote des Winters und der Stürme. Die Fänge der Fischer wurden schwächer, mit dem Schollenfang war es vorbei, die Fischer mußten im Sturm hinaus an die Austernbänke, wenn sie verdienen und nicht aufliegen wollten. Sie unterlagen dem Zwang der Zeit und den drückenden Lasten, denn die Raten für ihre Kutter standen. Wenn sie leben wollten, mußten sie fischen, die Konkurrenz peitschte sie, die Flottillen der Hochseefischereien. Die Fischdampfer durchfurchten unbekümmert um Wind und Wetter die See, schleppten die Netze hinter sich und brachten Fänge, Riesenfänge, die wiederum Dividenden brachten.

Um den Tisch im Krug des Dorfes saßen ein paar Seefischer. Sie waren nicht ausgefahren, das Wetter drückte sie und der Regen, der unaufhaltsam rieselte. Unter ihnen saß auch Golpers. Er hatte ein Zeitungsblatt vor sich liegen. Auf seiner Stirn waren Falten, zwei davon stiegen von der Nasenwurzel ab aufwärts, das gab seinem Gesicht einen düsteren Ausdruck, sein Mund war eingekniffen. Das Glas, das vor ihm stand, berührte er nicht.

»Watt hest dor?« Der Netzmacher Peters neben ihm griff nach dem Blatt, aber Golpers hielt es fest.

»Was ist das für eine Zeitung?« Er drehte sie in der Hand und wußte nicht, was er sagen sollte. »Das ist keine von unseren Zeitungen, merkwürdig, was die schreiben, aber so ganz unrichtig ist das nicht«, er machte eine Pause, sann ein wenig nach und erzählte dann weiter: »Wir sind Seefischer der Nordsee, und was geht uns die Ostsee an!«

Er spuckte vorsichtig aus und zertrat den Fleck auf der Diele, faßte nach seinem Glas, stellte es aber, ohne getrunken zu haben, wieder zurück, hielt das Blatt von sich und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die anderen sahen zu ihm auf, sie kannten Golpers nur als einen, der von hintenherum horchte und eine schleichende Art des Verkehrs hatte, hier wurde er mit einem Male laut und begann zu schimpfen.

»Di geiht datt doch mooi!« meinte Peters, »hest een niegen Ewer, kannst mit no Austern rut ..., verdeenst een Barg Geld ...«

»Nee, hier steiht watt anners, de Lud hebbt recht!« Golpers hieb wieder auf den Tisch.

»Slog mir man den Buddel nich twei«, rief der Gastwirt hinter der Tonbank hervor und ging, um das Grammophon in Bewegung zu setzen, aber Golpers verlangte Stille, dann las er:

»Hohe Dividenden für die Aktionäre der Hochseefischerei.

Die kleinen Fischer müssen verhungern.

Von der Nord- und Ostsee laufen dauernd Klagen ein, daß es den dortigen Kleinfischern furchtbar schlecht geht. Es ist vorgekommen, daß Kleinfischer zwei Tage und zwei Nächte hindurch ihre Netze schleppten und ganze zehn Pfund Schlei gefangen haben. Die Küstenfischer klagen in der Hauptsache über den Raubbau, der von der Hochseefischerei beim Fang getrieben wird. Diese Klagen werden durch einen Bericht bestätigt, den die Norddeutsche Hochseefischerei AG durch die Presse gehen läßt. Dieses Unternehmen rechnet beim Abschluß des Geschäftsjahres 1928/29 mit einem Reingewinn von 197 000 Mark ...«

Die Fischer drängten sich aneinander, auch der Gastwirt setzte sich hinzu, und der Netzmacher murmelte: »Hunnertsöbenunnegentigdusend Mark – watt een Geld!« Golpers las weiter, und die Falten auf seiner Stirn wurden noch stärker.

»Das Gewinnergebnis ist gegenüber dem Vorjahr um 60 Prozent gestiegen, die Gesellschaft ist in der Lage, ihre Rücklagen zu erhöhen und auch die Dividenden von 7 auf 10 Prozent hinaufzuschrauben.«

»Hast du Rücklagen in diesem Jahr gehabt?« fragte Peters den Golpers.

»Holl dien Mul«, meinte der verbissen und las weiter.

»Erreicht wurde dieses bessere Geschäft durch reichlichen Fang, der in diesem einen Jahr von 12,8 Millionen auf 15,7 Millionen Pfund Fische gesteigert wurde. Der Durchschnittspreis hat sich gleichfalls erhöht, und zwar von 11,7 auf 12 Pfennig pro Pfund.«

»Das ist durch den Raubbau, bestimmt durch den Raubbau!«

Peters wurde ganz erregt, er warf seinen Stuhl beim Aufstehen um, alle sahen ihn an.

»Watt hebbt wi?« schrie er und fuchtelte mit seinen Händen in der Luft herum. »Schulden!« Mit diesem Ausruf setzte er sich wieder.

»Bekanntlich fängt die Hochseefischerei auch die kleinen Fische mit ein, setzt sie nicht aus, um für den Nachwuchs zu sorgen«, las Golpers weiter.

»Düsse Swinegels«, rief der alte Harm, »wi mökt datt immer – wir wollen länger fangen; les man weiter, Golpers!«

»Die Hochseefischerei liefert nicht nur für den Markt, sie liefert auch an die großen Fischverwertungsgenossenschaften zur Herstellung von Fischmehl, das die großen Schweinemästereien zur Fettfütterung ihrer Schweine benötigen.«

»Jung, datt is mi nee, Fischmehl für de Swien?« Harm polterte los, er war nicht zu halten: »Watt steiht dor noch?« Ganz dicht war er hinter Golpers' Stuhl getreten, er konnte sich nicht beruhigen, brabbelte noch immer, als Golpers schon wieder las:

»Es gibt aber noch eine andere Sparte Hochseefischer, die es auf den Laichfisch abgesehen haben. Die sogenannten Schwarzfischer fangen den Laichfisch ein, streifen ihm den Rogen ab und verkaufen diese Fischeier als deutschen Kaviar.«

»Das ist verboten!« rief der Gastwirt, er galt im Dorf als ein Kenner der Gesetze; hinter seinen Flaschen hatte er das Buch über die Fischereigesetze stehen, das studierte er mit Eifer, wenn er nicht die Beschäftigung des Grogtrinkens ausübte.

»Der preußische Staat hat ein besonderes Gesetz über die Entwicklung der Fische geschaffen, und die Fischereibehörden sind nach dem Gesetz verpflichtet, Fischbrut auszusetzen.« Der Gastwirt schnurrte diesen Satz wie auswendig gelernt daher.

»Das steht auch hier.« Golpers schlug auf die Zeitung. »Aber nichts wird für uns kleine Fischer getan.«

Peters stand auf, ging zu Golpers, sah ihn an und sagte mit einem eigentümlichen Ton:

»Du bist doch für Gerechtigkeit, Golpers, ist das nun Gerechtigkeit? Da schlucken die Großen alles, übertreten die Gesetze, stehlen, werden reich und werden für diese Böswilligkeiten nicht einmal bestraft. Wir halten alle Gesetze, zahlen Steuern und Pachten und werden immer ärmer. Was ist das denn für eine gerechte Welt?«

»Nee – das ist keine Gerechtigkeit, du hast recht, Peters.«

»Na, nu sorg man dafür, daß die großen Aktionäre auch für ihre Übertretung in den Bunker kommen; bei Lee Tews warst du doch auch für Gerechtigkeit.« Der alte Netzmacher stand vor Golpers, voller Ernst in seinen Augen, er war überzeugt von der Ungerechtigkeit dieser Welt. Er wendete sich schnell ab und ging in den Regen hinaus.

Golpers wußte dem alten Mann nichts zu antworten.

»Für die Gerechtigkeit kann er nicht sorgen, denn er hat das Geld für seinen Ewer ja auch von den Großen in Hamburg genommen, und wer von den Großen abhängig ist, muß gegen die Kleinen sein, oder er geht mit uns unter.«

Diese Worte des Netzmachers hatten die anderen still gemacht, denn auch sie trugen an ihren Verpflichtungen und dachten an den Winter, der ihnen für Monate keinen Verdienst bringen würde, oder sie mußten hinaus, ganz gleich, ob die Stürme sie überraschten und sie dabei Leben und Fahrzeug riskierten. Das eiserne Muß ihres Berufes zwang sie.

 

Lee hatte die Nachricht erhalten, daß sie nicht im Untersuchungsgefängnis bleiben, sondern in eine andere Anstalt überführt würde. Sie wartete in ihrer Zelle. Ein Bogen Packpapier nebst einem Ende Bindfaden lagen auf ihrem Tisch; darin schnürte sie ihre Habseligkeiten ein. Ihr war so sonderbar im Sinn. Es war kein anheimelnder Ort, an dem sie diese letzten Monate verlebt hatte, kahl und öde sah er aus. In diesem Augenblick wurde der Raum noch öder. Das Grau der Farbe sprang trostlos von der Wand, die unbezogenen Matratzen gähnten von der Pritsche her, dunkle schimmlige Flecke, die sich vom Überzug abhoben, erhöhten die Trostlosigkeit dieses Ortes – und doch war Lee nicht froh, diese Zelle verlassen zu müssen, im Gegenteil, sie war ein wenig beklommen. Sie hatte sich während der Zeit der Haft an diesen Ort gewöhnt und wußte nicht, ob der Platz, den sie in einer anderen Anstalt erhalten würde, nicht noch düsterer sein würde als dieser hier. Sie sog noch einmal die Luft dieser Zelle ein, die roch säuerlich; dann ging sie zum Tisch, darüber zeichnete sich an der Wand ein rechteckiger Fleck ab. Es mußte früher ein Bild oder ein Spruch an dieser Stelle gehangen haben. Solange sie hier verweilte, war nichts da, nur ein Gesangbuch lag auf einem Bord an der gegenüberliegenden Wand. Es lag vereinsamt neben einer Emailleschüssel und einem Eßlöffel. Einen sonderbaren Kontrast bot dieses Bild, beim Hinsehen fiel ihr ein Spruch ein: »Bete und arbeite.«

Gebetet hatte sie genug, gearbeitet auch, das zog ihr durch den Sinn; und trotzdem war sie hier gelandet. Unwillkürlich begann sie wieder, über ihr Verhältnis zu Harrald Johannsen und alle seine Folgen nachzudenken. Bei der Erinnerung an diese Zeit öffneten sich die Poren ihrer Haut, sie schlugen wie Blasen hoch, ein feines, stechendes Gefühl überzog ihren Körper; sie biß die Zähne aufeinander, schloß die Augen, und ihre Hand suchte an ihrer Brust entlang, sie schob ihre Bluse beiseite, mit der anderen hob sie ihren Rock, daß die Knie frei lagen ...

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Zelle, und eine Wärterin rief hinein: »Nehmen Sie Ihre Sachen und treten Sie raus, – Sie werden sofort abtransportiert.«

Lee sah sich noch einmal in diesem Raum um, in dem sie gelebt hatte, sie nahm Abschied von den toten Gegenständen dieser Zelle, weil diese Dinge für sie Leben gewonnen hatten. In ihrer Einsamkeit hatte sie sich oft im Selbstgespräch unterhalten und ihre Fragen an diese toten Dinge in der Zelle gerichtet, so daß sie ihr Freunde in der Stille geworden waren.

Sie trat auf den Gang hinaus, in ihrer Hand hielt sie ihr unscheinbares Gut, das Paket. Sie stand nicht lange, dann mußte sie über Treppen und Gänge, dabei folgten ihr sehnsüchtige Blicke anderer weiblicher Häftlinge, die glaubten, daß sich vor dieser Frau die Tore des Gefängnisses öffnen würden, damit sie in die Sonne sehen könnte.

Im Abfertigungszimmer saßen zwei andere Frauen, die im Flüsterton ein Gespräch führten, als Lee hineingeschoben wurde. Sie hörten auf zu flüstern, rückten auf ihrer Bank zusammen und machten einen dritten Platz für Lee frei. Die setzte sich, ihr Paket stellte sie auf ihren Schoß und sah starr vor sich hin.

Immer wieder mußte sie die Wahrnehmung machen, daß in diesem Hause alles gleich war, überall schlossen die Türen, immer waren die Schranken da, die Gitter, die Wände und das gedämpfte Flüstern.

Die zwei Frauen musterten die Eingetretene, sie streiften Lees Körper und tasteten sich mit ihren Sinnen langsam vorwärts. Die eine, die neben Lee saß, rückte näher, stieß sie mit einem Finger langsam in die Seite und neigte den Mund zu Lees Ohr.

»Entlassen?« zischelte sie erregt.

Lee sah in ein zerquältes Gesicht, in diesen Zügen tobten sich böse Leidenschaften aus. Die Lippen der Frau formten sich rund, warfen sich auf und öffneten sich so, daß die Schneidezähne sichtbar wurden; dann stieß sie ein wenig ihre fleischige Zunge vor, daß sie breit zwischen den wulstigen Lippen lag.

Lee erschrak, sie rückte ein wenig von der Frau ab, sah sie an, und dabei fühlte sie einen Drang, sich von dieser Frau abzusondern. Sie gab auf die an sie gerichtete Frage keine Antwort, sondern schüttelte mit dem Kopf. Die Frau drängte ihren Leib wieder gegen Lee, dabei stieß sie mit ihrem Zeigefinger Lee vor die Brust, dann neigte sie sich ganz nahe zu ihrem Ohr und fragte:

»Warum bist du hier?«

Der heiße Atem der Frau erregte einen Ekel in Lee, sie beugte ihren Oberkörper zurück, und wie unter einem Zwang, sagte sie tonlos »Abtreibung« und sah dabei nach der anderen Seite.

»Unheilbar doof«, flüsterte plötzlich die Frau ihrer Nachbarin zu, dann kicherten die beiden, drückten sich aneinander, betasteten sich und ließen Lee unbeachtet auf ihrem Platz sitzen.

Die Tür öffnete sich, und ein Wärter rief drei Namen auf, zuletzt Lee Hinrichsen. Sie wurden hinausgeführt, draußen erwartete sie ein Transportwagen. Drei Schritte mußten sie hinaufhüpfen, um in das Gefährt zu gelangen; Lee kam zuletzt hinein, hinter ihr stieg nur noch der Wärter ein, an seiner Brust baumelte an einer Kette der Schlüssel zur Tür des Wagens. Der Wächter setzte sich in einen engen Verschlag quer vor die Tür, so daß er mit dem Gesicht durch das Gitter nach draußen sehen konnte. Das Gefährt kam in Bewegung. Lee sah sich um, es herrschte Dämmerung, ihre Augen mußten sich erst an das Dunkel hier drinnen im Wagen gewöhnen, dann schoß ihr alles Blut zu Kopf, ihre Augen wurden groß – das war der Blick, den sie hatte, wenn etwas in ihr Leben trat, das Entsetzen oder Scham in ihr hervorrief. Noch einmal strengte sie ihre Augen an, sie glaubte nicht richtig gesehen zu haben, aber dann prägte sich dieses Bild um so fester ein – nie würde sie es wieder vergessen ... »Nie vergessen ...«, sprach sie unhörbar.

Im Wagen stieg unterdrücktes Lachen auf, dumpfe Luft umspülte Lee, sie trat zurück, bis zu dem Fenster am Verschlag des Wärters. Der sah sie an. »Sie müssen sich setzen!« sagte er trocken. Sie suchte hilflos nach einem Platz. Vierzehn Männer und drei Frauen zählte sie in diesem Gefährt.

Flämmchen leuchteten auf, Rauch stieg empor, glimmende Zigaretten wurden herumgereicht, jeder sog daran, gierig schluckten die Münder den Rauch, schluckten ihn und stießen ihn langsam in feinen Strahlen wieder aus. Sie kosteten den Genuß dieser Minuten doppelt aus. Wie Entwöhnte des Glücks benahmen sich diese Menschen, naiv und froh, ein paar Minuten ohne Gewalt, die über ihnen war, zu sein.

Da lachte eine Frau auf, dann wurde es still, ein sonderbares Pfeifen war hörbar, zischend wurde es ausgestoßen, so wie stark arbeitende Menschen, die ein schweres Werk bewältigen müssen, ihren Atem ausstoßen, so klang es in Variationen wieder. Lee sah zu Boden, sie wollte nicht sehen, schloß krampfhaft die Augen, aber immer wieder wurde ihr Blick in das Innere des Wagens gelenkt, der über das Pflaster der Straßen schaukelte. Die Last drückte stark auf die Federn des Wagens, sie preßten sich zur Achse und wurden vom Widerstand der rollenden Räder zurückgebogen, so daß der Wagen wiegend über die Straßen glitt.

Plötzlich fühlte Lee einen Stoß durch ihren Körper, erregt fuhr sie hoch, der Wagen war um die Ecke gebogen, da sah sie, wie eine der Frauen sich vom Schoß eines Mannes erhob, das Kleid war ihr bis über die Hüften zurückgeschlagen, und das Fleisch ihrer derben Schenkel war sichtbar. Ihr gegenüber saß die andere Frau, deren Augen lachten, sie wechselten ihren Partner, eine neue Hand griff nach ihnen, sie hatten nicht die Zeit, sich zu säubern, denn ihre Körper wurden ohne Säumen verlangt. Diese Frauen wurden herumgereicht wie vorher die glimmenden Zigaretten. Jeder trank sich in dieser Minute des Unbeobachtetseins an der Frau satt und stillte den durch die Entbehrungen in seiner geschlossenen Zelle und durch das über ihn verhängte Zölibat quälenden Durst nach dem Weibe. Diese Frauen waren erfreut, Stillung ihrer Natur am laufenden Band zu finden. Mit dem Qualm des Tabaks, der im Wagen schwelte, mischte sich ein säuerliches Aroma, die Ausdünstungen des befriedigten Dranges dieser entfesselten Menschen. Die Zeit rann, und mit der Minute der Erfüllung trat die Erstarrung ein, die Gesichter der Insassen erschlafften. Lee erschienen sie wie Masken, die, grausam verzerrt, Menschen Schrecken einflößen sollten. Neben Lee saß ein Mann, der unbeteiligt an diesem allgemeinen Gebaren war.

»He, du – du, da drüben! Du bist wohl Feinschmecker«, rief ihn einer an, der noch an seiner Hose nestelte, um sie wieder in Ordnung zu bringen, dann lachte er befriedigt auf und rekelte sich gegen die Wagenwand, er rieb sich die Schultern am Holz wie ein Tier sein Fell, wenn es Behagen ausdrücken will.

»Nimm doch das Blümchen neben dir und begieß es ein wenig, sonst vertrocknet es, oder reich es mir herüber«, flüsterte ihm sein Nebenmann ins Ohr. Da sah ihn Lee voller Angst an, denn sie glaubte, daß nun die Hand des Mannes nach ihr greifen würde, sie zog ihr Kleid über die Knie und verschränkte die Arme darüber. Der Mann sprach ganz leise zu ihr: »Lassen Sie, bleiben Sie ruhig – ich will nichts von Ihnen. Bleiben Sie sitzen.« Und sie kamen langsam in ein Gespräch, flüsterten miteinander. Mit keinem Wort berührten sie das, was sie umgab, sondern sie gingen auf ihre eigenen Leiden ein.

»Hochverrat, sagen Sie – was ist das?«

»Eigentlich herzlich wenig, und manchmal doch viel«, antwortete der Mann.

»Sehen Sie – Hochverrat ist das schon, wenn jemand zufällig zwei Pistolen besitzt. Für diesen Besitz kann er nach dem Gesetz bis zu fünf Jahren Gefängnis erhalten.«

Das war Lee unverständlich, sie bat um eine Erklärung des Gesetzes.

Und der Mann neben ihr sprach von einem am 21. Juli 1922 von den gesetzgebenden Körperschaften angenommenen Gesetz zum sogenannten Schutze der Republik, das sofort nach der Veröffentlichung in Kraft trat. Dieses Gesetz wurde nach dem Attentat auf den Reichsminister Rathenau angenommen und sollte angeblich zur Abwehr des Terrors der rechtsgerichteten politischen Parteien und Geheimbünde dienen. Aber es wurde etwas ganz anderes daraus gemacht ...

Lee verstand von alldem sehr wenig. Doch sie folgte angestrengt den Erklärungen des Mannes, sie blickte ihn ernsthaft an.

Der Gefangene sprach weiter. Über das Reichsgericht, das die Urteile auf Grund dieses Gesetzes zu fällen habe, das den Sinn vollkommen verdrehte und zu einem Terrorgesetz gegen politisch Andersdenkende, gegen die revolutionären Arbeiter machte ...« Mit jenen Paragraphen sind Hunderte von meinen Genossen geprügelt worden. Jetzt bin ich an der Reihe.«

»In diesem Gesetz ist der Absatz 6 des § 7 so eine eigene Sache, ich kenne den Absatz auswendig, er ist mir eingehämmert worden: ›Wer ein bis dahin verheimlichtes Waffenlager in Eigentum oder Gewahrsam hat und es unterläßt, der Behörde von dem Aufenthaltsort unverzüglich Kenntnis zu geben ... ‹, lautet dieser Absatz, und sehen Sie, zwei Revolver, das hat das Gericht zum Schutze der Republik in einem Urteil vom 4. Juni 1924 ausgesprochen, ist ein Waffenlager ..., zwei ist Pluralis, also Mehrzahl, so deduziert ein Paragraphenhirn – aber nur gegen linksgerichtete Arbeiter. Mir ging es ähnlich. Vier Jahre Gefängnis – es ist nicht viel, wenn ich bedenke, daß Sie für Ihre Dummheit eine solche Strafe erhielten. Im übrigen gehört dieses Gesetz – ich meine den § 218 – auf den Misthaufen aller Paragraphen der Gesetzgebung, die noch nach dem Mittelalter stinken.«

Im Wagen wurde es lebendig, ein dunkles Tor öffnete sich, in das der Wagen hineinfuhr, eine neue Etappe war erreicht; ein dumpfes Geräusch ließ erkennen, daß sie sich unter einer langen Toreinfahrt befanden. Es wurde im Innern des Wagens ganz dunkel, plötzlich kreischte eine Frauenstimme auf: »Drecksack! Hast du noch nicht genug ..., laß mein Ding los – du Hengst!«

Der Wächter brüllte in den Wagen hinein: »Ruhe! Wer sich unanständig aufführt, wird gemeldet!«

Ein Hohngelächter der Insassen war die Antwort, das Gefährt stand still, und der Begleiter öffnete die Tür. Am Wagen stand wartend eine Reihe von anderen Wärtern, sie grinsten sich gegenseitig an; dann brüllte einer scharf und schneidend: »Die Frauen zuerst aussteigen!«

Lee gab dem Mann neben sich die Hand und sprang hinaus, ihr folgten die beiden anderen Frauen, sie kletterten umständlich die beiden Tritte hinab, dabei ordneten sie ihre Kleider, die von der Arbeit drinnen zerknüllt und zerrissen waren. Die eine der beiden rief noch etwas nicht Mißzuverstehendes in den Wagen hinein, ehe sie weggeführt wurde, die Männer lachten als Antwort im Echo zurück.

Langsam wurden die Männer hinausgelassen, sie mußten sich immer zu zweien nebeneinanderstellen. Dann tönte ein Kommando, und die Kolonne setzte sich in Bewegung.

Lee war wie in einem Rausch, der schwer auf ihr lastete, schwankend folgte sie dem Wärter, es zog sich etwas in ihr zusammen, ein sonderbares Gefühl überwältigte sie. Es war das Gefühl der Heimatlosigkeit, einer wirklich Heimatlosen, die Halt und Unterkommen sucht, die getrieben die Stätte einer Rast zu finden hofft und doch immer wieder vor dem Nichts – einem grenzenlosen Nichts – steht. Das, was um sie war, sah sie mit anderen Augen. Sie wurde in das Gebäude geführt, verfolgt von den Blicken der Wärter, die an ihr haftenblieben.

Steil führten eiserne Treppen über die Gänge empor, diese Treppen kamen ihr vor wie das Gerippe eines Bauwerkes, das nie seiner Vollendung entgegensieht, sondern ewig unfertig stehen wird.

Kälte stieg von den Wänden auf, und die tief gelagerten Türen in dem Gebäude wirkten wie gähnende, müde Mäuler, die zahnlos ihren Schlund öffneten, um ihre Opfer zu empfangen, die sie langsam zermahlen sollten. Auch die Menschen wandelten gleich Schemen durch die hallenden Gänge, körperlos, nur die Gesichter schienen durch den Raum zu schweben, blaß und verzerrt, wie Marionetten an Drähten, die von unsichtbarer Hand geführt wurden. Ängstlich floh der Schall der Tritte der Menschen am Mauerwerk entlang und schien das Klagelied lebendig Vergrabener zu hauchen, die sich zur Oberfläche des Lichtes sehnten.

Die Sonne war von diesem Ort verbannt, nirgends schien sie, das Licht geisterte dämmerig und verbreitete eine Starre, die jeden mit einem Frösteln überschüttete, der den Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen mußte. Ein Hauch lebendiger Verwesung und halbe Mystik eines Ungewissen umwob alles.

So schwankte Lee vorwärts, über die eisernen Stufen der Treppen und die steinernen Fliesen der Gänge dieses Hauses. Die Frau vom Meer, die frei zu atmen gewöhnt war, drückte diese Last von Stein und Eisen, die sie umgab, tief.

»Entfliehen können, entfliehen können diesem Ort!« Das hämmerte in ihrem Hirn. Hinter ihr ging ein Wächter, vor ihr ein Uniformierter, sie sah die Buntheit dieses Anzuges, seitwärts die betonierten Wände; und über und unter ihr war Eisen, Eisen ...! So hielt sie Einzug in ihr neues »Heim«, in dem sie die letzte und längste Etappe dieser Zeit verbringen sollte.

Ob es die letzte Stätte sein wird? Diese Frage schwebte ihr vor, denn sie wußte, daß sie widerspruchslos den Weisungen folgen mußte, die in einer Amtsstube von irgendeiner Hand in ihre Akten geschrieben wurden, willenlos mußte sie jeder Weisung gehorchen, denn ihr Eigenleben war ausgeschaltet, es wurde von einer Ordnung geformt, die in Gesetze und Paragraphen gepreßt war.

»477!« rief eine Stimme. Das war der neue Ort, den Lee betreten sollte.

In ihren Ohren hörte sie das Meer branden, das Rauschen der Wellen durchflutete sie, und sie sah die Wogen, die in der Dünung schwangen. Die graue Farbe des Himmels stand vor ihr und das sich schwarz färbende Wasser. Es kam auf sie zu. Die Düsterheit des Ortes löste eine Vision der Freiheit in ihr aus.

Eine Tür öffnete sich – »477« –, der neue Ort ihres Lebens umfing sie. Zaghaft, Schritt für Schritt ging sie in das Innere des Raumes. Hier überfiel sie die ganze Trostlosigkeit dieser Minute. Wie das gramzerfurchte Gesicht einer Bettlerin, deren Augen Hunger schrien, blickten die Wände. Wieder ging sie einen Schritt vorwärts, da fiel ihr Auge auf eine Tafel über dem Tisch in der Zelle, gerade unter der Lampe. Langsam schob sie ihren Leib über den Tisch, um die Bedeutung der Tafel zu erkennen. In der Dämmerung schien das Blond ihres Haares grau, die Züge des Gesichts alt, nur die Augen brannten, mit denen sie die Schrift auf der überzogenen Pappe an der Wand entzifferte.

Sie las, jeden Buchstaben mußte sie langsam entziffern, mit dem Finger schrieb sie die Buchstaben auf der Pappe nach, dann bog sich ihr Leib vom Tisch zurück, sie stand aufrecht, ihr Mund mahlte Speichel wie ein Wiederkäuer, sie spuckte ihn aus und sprach laut in die Öde des Raumes hinein:

Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter,
hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.

Psalm 104, 8, 9

Über diese Worte dachte sie nach, dann lachte sie auf, hart und laut.

»Sollen sich legen deine stolzen Wellen. Bis hierher und nicht weiter! Wirklich – zu Ende hier – nicht weiter?«

Noch einmal lachte sie kurz auf, bitter, dann ging sie zum Spruch und nahm ihn von der Wand, trat damit zum Fenster, drehte die Pappe herum und fand einen zweiten Vers, der lautete:

Leben und Wohltat hast du mir getan,
und dein Aufsehen bewahret meinen Odem.

Hiob 10,11

In ihr bäumte sich etwas auf. Sie hörte die Sonntagspredigten aus dem Munde des Pfarrers von der Kanzel ihres Dorfes und verglich deren Wortlaut mit ihrem Erleben.

»Alles ist anders gewesen«, lispelte sie vor sich hin.

Sie durchkreuzte ihre Zelle in rasendem Lauf. Atemlos blieb sie nach einer Weile stehen.

Hatte sie geträumt, ein Leben lang geträumt, war es notwendig, daß sie diesen Weg gehen mußte, um zu erkennen? Warum kam die Erkenntnis in der Enge des Gefangenseins und war ihr nicht im Strom des hämmernden Lebens gekommen?

Noch einmal wiederholte sie den Spruch, langsam, Wort für Wort stieß sie ihn über ihre Lippen, es brannte in ihrem Innern, und nun kamen ihr Gedanken, vieltausendfache Gedanken. Abseits vom Leben, mußte sie das Leben erkennen lernen.

Leben und Wohltat hast du mir getan,
und dein Aufsehen bewahret meinen Odem.

Hiob 10,11

Sie spuckte aus, beugte ihren Körper vor, bewegte sich durch den engen Raum und bog sich die Finger an ihren Händen zurück, bis sie einen Schmerz verspürte.

»Lüge!« rief sie aus. »Lüge! Um die Menschen vom Denken abzuhalten, darum lügen sie mit ihren Worten – wo war Wohltat in meinem Leben?«

»Ruhig!« murmelte sie dann wieder zu sich selbst. »Ruhig!« Und sie zählte die Tage, die sie vor sich hatte, die sie von nun ab an diesem Ort verbringen mußte. Eine endlose Reihe immer gleicher Tage sah Lee vor sich und barg den Kopf in ihren Händen. Es war das zweitemal, daß sie weinte, aber diesmal suchte sie Erlösung von den Qualen, die sie litt.

Diese Nacht lag Lee schlaflos, erst gegen Morgen schloß sie die Augen, auf ihrem Gesicht lag ein feiner Schein, und das Antlitz war so zart wie in ihrer Jugend.

 

Schön war die Nacht. Gelb stand der Mond in der Weite des Endlosen, und die Sterne leuchteten daraus hervor, ihr Licht zitterte im Sammet der Nacht. Die See rollte langsam, und der Kutter stieg auf und nieder.

Golpers fischte, er kurrte seine Zeit und brachte das Netz hoch. Schwer zog der Motor seine Last, das volle Netz, es kam über Bord, ging hoch in die Wanten. Wie Silber leuchteten die Tausende Tropfen, die aus Trosse und Kurre über das Deck fielen. Silbern leuchteten auch die springenden Fische im schwärzlichen Netz. Der Fischer ging hin und riß mit einem gewaltigen Ruck seines Armes den Netzschwanz auf, und ein dumpfer Fall schleuderte einen dunklen Körper auf Deck, ihn umsprangen die Fische schlagend und sich krümmend wie leuchtende, tanzende Kobolde.

Golpers sprang zurück, er lehnte sich gegen das Beiboot, die Seestiefel hielten seine Knie, deren Gelenke den schweren Körper nicht mehr halten wollten. Der Fischer stieß einen Schrei aus wie ein Mensch, den das Entsetzen geißelt. Der Schrei rief die Helfer herbei, sie sahen den Fischer mit verstörtem Gesicht am Boot lehnen, er wies mit der Hand auf den Fang an Deck, auf einen dunklen Körper. Einer der Leute riß die Blaufeuerlampe vom Stand und entzündete sie. Damit leuchtete er zum dunklen Körper. Er sah in das Gesicht eines ertrunkenen Fischers, das vom Mond und dem Blaufeuer magisch beleuchtet wurde, in der rechten Hand hielt der Tote einen anderen Südwester – sein eigener war ihm unter das Kinn gebunden – und sie erkannten Jan, den Bestmann von »Lee H. F. 13«!

Untätig standen alle, keiner sprach, nur das Meer rauschte, und der Mond beschien silbern, mit freundlicher Milde den ausgestreckten Toten mit den glasigen Augen und dem weit geöffneten Mund.

»Über Bord«, murmelte Golpers, »über Bord!«

Das war alles, was er sagte, und seine Hand zeigte noch immer auf den Ertrunkenen.

Langsam kam Leben in die Gruppe der anderen, scheu sortierten sie die Fische, nahmen den Körper und rollten ihn dicht an den Setzbord.

»Wi wüllt em inneihn – he schall een ehrlich Seemannsbegräbnis hebben«, sagte einer der Helfer vom Ewer, er stieg in die Achterplicht, holte ein Stück von einem zerrissenen Großsegel und umhüllte damit den Körper. Zu den Füßen des Toten tat er Steine, sie sich beim Kurren im Netz gefangen hatten. Dann hoben die Männer den Toten auf, mit den Steinen an den Füßen ließen sie ihn über das Scherbrett langsam in die See gleiten, dabei beteten ihre Lippen einen Vers.

Dort, wo der Tote in die Tiefe steuerte, quirlte das Wasser blasig auf. Wie ein Taucher versank der belastete Körper gurgelnd im Meer. Über allem lag das geisterhafte Licht des Mondes, es zuckte in einer Bahn bewegt überm Wasser.

Der Fischer befahl Ruhe.

»Jetzt nicht mehr fischen«, schrie er heiser. Der Motor puffte.

Golpers ging nach unten in das Logis, setzte sich an die Back und schrieb etwas in sein Tagebuch; dann versuchte er zu schlafen, aber die Unruhe trieb ihn wieder an Deck.

Zehn Meilen östlich blinkten Lichter, rote, grüne und weiße. Querab fischte eine Flottille. Da gab auch Golpers wieder die Anweisung, die Kurre auszusetzen. Sie lief über das Heck ins Wasser und sank zum Grund. Gegen Morgen, kurz nachdem die Sonne aufgekommen war, ließ der Fischer ausscheiden und fuhr nach der Elbe hoch. Er selbst stand am Ruder, seine Augen suchten den Kurs, die Nadel am Kompaß zitterte fein über das Blatt, sie pendelte immer über zwei Strich hin und zurück; der Fischer hielt mit eisernen Händen das Ruder – aber die Nacht wollte nicht aus seinem Gedächtnis schwinden. Er riß die Tür des Ruderhauses auf, damit ihn der Morgenwind umspielen sollte, aber auch der Wind brachte seinem Hirn keine Kühlung. Er riß sich seine Mütze vom Kopf und öffnete den Rock. Doch das Gesicht des ertrunkenen Jan verließ ihn nicht, es war, als ob das Meer, jede Welle ihm das Bild der Nacht widerspiegelte. Und nicht nur das Bild der Nacht, sondern all die Geschehnisse der letzten Monate. Er hatte das Gefühl, als sprächen Wind und Wellen zu ihm und als wenn die Worte Lees vom Meer heraufklangen: »Du lügst ja, Golpers!«

Da trat neben Jans Gesicht auch das der Lee auf das Wasser; er sah sie deutlich, ihre anklagenden Augen irritierten seine Sinne.

»Sollte sie doch nicht gelogen haben?« fragte er sich; er sprach diesen Satz in immer anderen Variationen vor sich her und stierte auf den Kompaß hin, um das Meer nicht sehen zu müssen. So segelte er, verfolgt von den Visionen, den letzten Törn über die See, da weckte ihn ein Ruf seines Helfers aus diesem stieren Sinnen auf.

»Schiffer! Wir müssen den Kurs ändern, sonst kommen wir zu weit nach Osten auf, drüben ist bereits Land!«

Er zeigte dabei nach voraus über Backbord, wo sich über dem Wasser ein leichter Dunststreifen am Horizont zeigte, der dem Seefahrer die Nähe von Land erkennen läßt.

Erschreckt riß Golpers das Ruder herum. Der Helfer wunderte sich über seinen Schiffer, der so ungelenk überholte, daß er bald aus seinem Stand an Deck geworfen wurde. Die Kompaßnadel vibrierte über dem Blatt, unruhig schwang sie hin und her, zitternd schlug sie aus, bald nach Nord, pendelte zurück nach Ost und dann gegen Süden. Dort fuhr sie unruhig, haltlos über die schwarzen Pfeile und Buchstaben. Sie war haltlos wie der Fischer am Rad.

»Drei Strich zuviel«, brummte der Helfer, »wir haben jetzt Kurs auf das Feuerschiff, das liegt gradeaus vor uns.«

Golpers sah durch das Fenster des Ruderhauses und holte langsam drei Strich nach Ost zu auf.

Jetzt merkte er am Wasser, daß er sich am Einschnitt des Stromes im Meer befand. Er trat das Ruder an seinen Mann ab und kreuzte tief in Gedanken über das Deck hin. Weder die Helfer an Deck sah er noch die Umgebung, die aus dem Wasser aufwuchs. Der Turm der Insel Neuwerk tauchte auf; dieses Wahrzeichen, das jedem Fischer erzählt: »Nun bist du bald zu Haus!«, übersah Golpers, denn in seinen Sinnen tanzten die letzten Monate einen spukhaften Reigen, und an den Fang dachte er, an die Fische in der Bünn, denn es war eine schlechte Reise gewesen. Eine Regenbö zog herauf, feine Nässe umrieselte ihn, er achtete nicht darauf, mit wehenden Haaren kreuzte er unablässig das Deck. Dann sah er auf den sich gelb dahinwälzenden Fluß hinab und stellte fest, daß er mit der Flut den Strom hinauffuhr. Zu beiden Seiten war das Land nur schwer erkennbar, der Regen verwischte die Konturen der Ufer. Der Fischer riß sich mit Gewalt aus seinen Träumen zurück in die Wirklichkeit. Da dachte er an das Dorf.

Was würde das Dorf sagen, wenn es erfuhr, daß er Jan gefischt und wieder dem Meer zurückgegeben hatte? Auf diese Frage fand er schnell die Antwort: Ein christliches Seemannsbegräbnis hätten sie ihm zuteil werden lassen, eingewickelt wurde er und dem Meer wiedergegeben.

Die Regenbö war vorüber, und die Luft klarte auf, die Ufer traten hervor. Der Strom belebte sich. Der Helfer rief vom Ruderhaus: »Golpers, de lange ›Michel‹ is to sehn, dann könnt wi bald an'n Ponton festmoken!«

Der Fischer gab ihm eine unverständliche, Antwort; der Mann, der sonst so herrisch und mit dem Mundwerk voraus war, wurde einsilbig und sprach nicht viel, seine Befehle waren kurz, und seine Stimme klang verlegen.

Das tiefe Brummen einer Sirene schreckte ihn auf. Ein großer Dampfer wurde von vier Schleppern an stählernen Trossen in den Hafen gezerrt. Wie Ameisen, die eine Beute schleppen, so wirkte dieses Bild. Drei der Schlepper rissen vorn an dem Riesen, der seinen eisernen Leib hoch aus dem Wasser reckte, und hinter ihm pendelte ein Schlepper hin und her – wie ein unartiges Kind an der Hand einer energischen Mutter sah das aus. Auch die Signale waren so. Kreischend schrie der Schlepper Seine Signale, ärgerlich brummte der Riese zurück. Die Helfer standen neben Golpers an Deck und riefen mit dem Schwenken ihrer Mützen Grüße zum Deck des Weltenwanderers hinauf.

* * *

 


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