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Schnee lag über dem Dorf, es war die Anmeldung für die kommende Ruhepause der Fischer. Er trieb mit einer östlichen Brise heran und legte sich über die Dächer, färbte sie vorübergehend weiß und tropfte dann ab. Mit dieser Zeit strich eine bestimmte Schwermut über das Dorf, seine Bewohner zogen sich zurück in ihre Häuser wie die Dachse in ihren Bau. Hier trieben sie die Vorarbeit für den ersten Zug, der mit den kommenden Vögeln des neuen Jahres einsetzte. Die Regelung ihrer Zeit ging nicht nach dem Kalender, sondern mit der Sonne, den Stürmen und dem Vogelzug.

Lee saß in Johannsens Zimmer ihm gegenüber. Er sprach mit ihr über den Vertrag und die Regelung desselben. Sie sah den Mann am Schreibtisch starr an, als er auf sie einsprach.

»Wie konnte das Unglück geschehen? Ist es Gegenstand einer Untersuchung gewesen? Wir wissen alle, daß Hinrichsen ein tüchtiger Fischer war, der die See und sein Fahrzeug kannte. Was soll nun geschehen – wünschen Sie einen Verkauf des Fahrzeuges, eine Lösung vom Vertrag oder eine Übernahme des Vertrages auf den Nachfolger – oder was ist Ihr Wille? Wie denken Sie sich das – kann ich Ihnen behilflich sein?«

Die Frau, die vor ihm saß, sagte nichts, er musterte sie hinter einem verkniffenen Auge, strich sich mit der Hand, seiner alten Gewohnheit nach, über die Unterpartie seines Gesichtes und fragte nebenbei: »Wie alt sind Sie? Achtunddreißig? – Das sollte man kaum glauben, ich habe Sie immer noch so im Gedächtnis, wie Sie hier bei uns waren. Verändert haben Sie sich kaum. Was wollen Sie tun?«

Lee erhob sich vor ihrem Stuhl, ging auf ein Diagramm, das an der Wand hing, zu und sah, was die Kurve des Schollenhandels auf dem Markt zeigte. Dann antwortete sie kurz, ohne ihn anzusehen: »Den Vertrag halten und weiterfischen. Der Kutter gehört mir.«

»Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen behilflich sein – bei Ihrem weiteren Fortkommen.«

Er stand von seinem Schreibtisch auf und trat hinter sie. Sie wurde vom einfallenden Licht beleuchtet und stand in ihrem schwarzen Faltenrock, der über ihre schmalen Hüften fiel, wie angenagelt vor dem Diagramm. Über ihre flache Brust spannte sich die Schoßbluse, die das Auf- und Niedergehen der kleinen Brüste, deren spitze Warzen sich in das Tuch bohrten, als wollten sie durch das Gespinst ins Freie treten, genau erkennen ließ.

»Die Zufuhren im letzten Monat haben sich immer noch gesteigert und die Preise angehalten!«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und sah in das erregte Gesicht Harrald Johannsens, der hinter sie getreten war. Er strich ihr über das Haar, wie er es früher tat, als sie noch bei ihm war, aber es war doch eine andere Bewegung. Sie spürte ein leises Zucken seiner Hand dabei.

Plötzlich setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und sprach in seiner ruhigen Art: »Sie wollen also den Kutter selbst führen; es dürfte Ihnen bekannt sein, daß es weibliche Fischer, die ein Fahrzeug führen, noch nicht gibt.«

Wieder stand er auf, machte ein paar Schritte auf sie zu. Der Frau erblühte ein Fleck am Halse und blieb stehen. Sie sah ihm jetzt gerade ins Gesicht, trat einen Schritt zurück, er folgte ihr, drehte sich dann wieder um und schritt erregt durch sein Zimmer.

»Sie sollen mich nicht mißverstehen – kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Den Kutter will ich nicht selber führen. Besitzer bin ich, führen werden ihn der ehemalige Bestmann und mein Junge, der Klaas. Der Vertrag wird weiterbestehen. Die Zahlungen werden pünktlich wie bisher geleistet, der Bürge bin ich.«

Der Mann schritt rastlos im Zimmer auf und ab und hatte die Hände in die Taschen seiner Hosen versenkt. Scheinbar wurde es ihm zu warm, denn er zog sein Jackett aus, warf es über einen Stuhl, trat auf die Frau zu und gab ihr die Hand.

»Es ist Unsinn, Ihnen Glück zu wünschen nach diesem Unglück; wenn Sie mich irgendwie einmal benötigen, kommen Sie ruhig zu mir, mein Haus steht Ihnen immer noch offen, so wie früher.«

Lee schien es, als wenn er sie an der Hand zu sich ziehen wollte, aber ganz förmlich neigte er sich plötzlich über ihre Hand.

»Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihre Offenheit zu mir, aber meine Zeit ist bemessen, ich habe zu arbeiten ...«

Er sah die Frau nicht mehr an, schritt zum Schreibtisch, beugte sich über seine Arbeit und sah nicht hin, als Lee die Tür öffnete. Er überhörte auch ihren Abschied.

Voller Zweifel ging Lee den Hügel hinunter. Was hatte ihr der Mann dort oben gesagt oder getan, was auch nur irgendwie verletzend für sie sein konnte? Sie begriff nichts und war verwirrt. Die Sprache hatte sie überrascht, die er mit ihr geführt, das bewiesene Interesse an Ihrem Erleben der letzten Zeit hatte sie sonderbar berührt. Was konnte ihn treiben, so starken Anteil an ihrem Leben zu haben? Dann besann sie sich, daß es in früheren Jahren fast ebenso war, daß er oft mit ihr gesprochen hatte, ohne etwas Besonderes von ihr zu verlangen. Sie sagte sich, daß ihre Gedanken in der letzten Zeit zu stark auf ihr Eigenleben gerichtet waren und daß sie von nun ab sich ein wenig mit ihrer Umwelt beschäftigen müßte. Sie sah an ihrem schwarzen Witwenkleid nieder und fand es häßlich. Woher ihr das aufstieg, darüber wußte sie sich keine Rechenschaft abzulegen, sie fand es einfach häßlich und betrachtete mit offenem Blick die Frauen, denen sie begegnete: was sie für Kleider trugen, den Schnitt und die Farbe derselben. Ihre ganze Kleidung war der Zuschnitt ihres Dorfes, sie trug sogar den Geruch dieses Dorfes mit sich. Und plötzlich kamen ihr die Gedanken, daß, wenn sie das nächste Mal die Zinsen zahlen ging, sie sich anders als das Dorf kleiden wollte.

 

Die Novemberstürme waren vorüber, und das Eis kam. Das Dorf lag tot. Stürme und Eis hatten es zum Erstarren gebracht. Die Menschen lebten von ihren getrockneten Scharben, der Einfuhr des Sommers, und sahen der Zeit entgegen, wo neue Stürme das Dorf zu neuem Leben erweckten, wo die Kutter neu geteert, gewaschen und gestrichen wieder auf die Reise gehen konnten. In dieser Zeit waren sie sich selbst zuviel. Die Langeweile fraß sie förmlich auf. Die langen Nächte schliefen sie in ihren engen Kammern, und an den kurzen Tagen rissen die Gespräche über den freundlichen Nachbarn nicht ab.

Der alte Seefischer Jan war eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Der gefrorene Boden neben Hinrichsens Grab wurde aufgehackt und Jan neben Hinrichsen gebettet. Hier lag jetzt der alte Fischer neben dem jungen, der Eingesessene neben dem Butenländer, dem er immer mit Mißtrauen begegnet war, einem Mißtrauen, das er nie abgelegt hatte, solange er am Deich unter den anderen seinen Platz auf der Bank einnahm. Auch an diesem Tage wehten die Fahnen an den Masten und Stangen auf Halbmast.

Lee lebte in ihrem Haus mit Klaas fast zurückgezogen, nur der Bestmann kam täglich. Er schlich am Deich entlang, pendelte zwischen dem Haus vom Hinrichsen und den Wirtschaften im Dorf hin und her und verweilte bei den Wirten zur Grogprobe. Studierte die Karten, die Wetterberichte und die Schiffsnachrichten. Dabei träumte er von seinen großen Reisen.

Wenn er zum Gastwirt Mewes ging, mußte er am Kirchhof vorbei. Dann dachte er an Hinrichsen und an den Gewittersturm, sprach mit sich selbst und strich mit der Hand über den Kopf.

Lee verfolgte die Fänge der Dampfer, die spärlich eintrafen. Es waren ausschließlich Kabeljau und Schellfisch, gar keine Schollen darunter. Diese Berichte sammelte sie und legte sie sorgsam übereinandergestapelt in eine Truhe.

Eines Tages ging sie zu Johannsen. Das war, als das Eis am Deich brach und die Sonne höher kam. Vorher sprach sie noch mit Klaas über die neuen Reisen. Sie hatte eine Rechnung aufgemacht, und das Resultat war nicht sehr günstig. Wenn sie alles zusammenrechnete, alle Abgaben und das Leben im Winter, dann blieb nichts, trotz der guten Fänge des letzten Jahres. Denn auch die letzten Reisen ohne Hinrichsen, unter Jan und Klaas, hatte der Kutter nicht weniger eingebracht. Bei den anderen Fischern war das nicht besser. Sie hatten alle nichts. Während des Winters waren zwei Kutter abgewrackt und nur ein neuer auf der Werft aufgelegt, der in einigen Tagen vom Stapel gehen sollte. Der Fischer hatte ihn mit Reichsgeldern gebaut. Achtundsechzigtausend Mark hatte der Bau verschlungen. Die Summe müßte in zehn Jahren samt den Zinsen getilgt sein.

Dieser Bau war der Gesprächsstoff im Dorf. Alle Leute zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie der Besitzer die Abgaben aufbringen würde, über die sich das Dorf sonderbar genau unterrichtet zeigte. In den Dielen der Fischerwohnungen, auf dem Deich, in den Wirtshäusern – überall wurden immer dieselben Zahlen wiederholt. Und zuletzt kamen sie alle immer wieder zu der gleichen Feststellung: Fast siebenhundert Mark sollte der Besitzer in jedem Monat abtragen. Die Fischer schüttelten mit dem Kopf: »Wenn datt man god geiht ...!« Sie wußten, siebenhundert Mark sind keine Kleinigkeit, sind eine drückende Last.

Auch Lee beschäftigte sich mit dem Tagesgespräch. Die jahrelange Beschäftigung mit Zahlen und Berechnungen war ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Sie sah darum die Dinge auch schon schärfer. Lee war dabei, den Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Noch war ihr vieles fremd und unklar. Zusammenhänge sah sie noch nicht. Nur Tatsachen sprangen ihr in die Augen. Ihrem Wirklichkeitssinn blieben sie nicht lange verborgen.

»Ja«, sagte Lee zum Klaas und spann den Faden ihrer Gedanken weiter, »ja, mein Vater hatte seinen Kutter noch ganz aus eigenen Mitteln gebaut. Damals gab es fast dreihundert Fahrzeuge im Dorf, heute sind es nur noch neunundsiebzig. Ein Ewer kostete wohl zwölftausend Mark – und doch waren die Fischer fast alle schuldenfrei. Ihnen gehörten die Kutter. Und heute haben sie Schulden. Die Schulden fressen uns auf. Die Schiffe gehören uns eigentlich gar nicht, sondern dem Staat – oder Harrald Johannsen. Wir sind nur noch die Mieter ...«

Harrald Johannsen! Dieser Name hatte sie plötzlich an ihre eigene Schuldenlast erinnert und daran, daß sie über den Strom fahren wollte, um Abtrag und Zinsen zu bezahlen. Sie machte sich sofort auf den Weg.

Diesmal wurde sie nicht empfangen. »Herr Johannsen«, meinte das Mädchen im Parterre des Hauses, »läßt Sie bitten, doch morgen wiederzukommen, wenn möglich, gegen Abend, er hat jetzt wichtige Besprechungen, die er nicht abbrechen kann.«

Lee wollte eine Zinsüberweisung vornehmen, aber das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr Johannsen meint, es hätte Zeit bis morgen.« Dabei senkte sie mit einer eigenen Gebärde den Kopf und sah Lee durchdringend an. Ein sonderbares Gefühl überkam Lee.

»Sind Sie schon lange hier im Hause?«

Das fragte sie in Erinnerung an ihre eigene Zeit.

Sie sprachen über verschiedene Dinge hin und her, bis Lee unvermittelt die Frage stellte, was Herr Johannsen jetzt täte.

Das Mädchen lächelte eigentümlich, so als wenn sie die Frau, die mit dieser Frage kam, belustige, dann sagte sie kurz:

»Vielfacher Aktionär, sitzt im Aufsichtsrat, Direktor einer G. m. b. H., und was weiß ich ...«

Lee horchte auf, da riß ein schrilles Geläut die beiden aus ihrem Gespräch. Das Mädchen schloß eilig die Tür vor Lee und folgte dem Ruf der Glocke.

Im Zimmer Harrald Johannsens saßen fünf Herren in einem erregten Gespräch beisammen. Johannsen hatte das Wort ergriffen.

»... natürlich, die Entwicklung des Marktes ist auch für das neue Jahr vielversprechend. Die Kapitalsanlage im letzten Jahr war lohnend, der Reingewinn ist gegenüber dem Vorjahr um vierzehn Prozent gestiegen. Diese Aussicht bleibt bei einer weiteren Anlage erneuten Kapitals bestehen.«

Jemand widersprach diesen Ausführungen Johannsens.

»Sie dürfen die Konkurrenz nicht vergessen!« rief einer der Herren dazwischen.

»Kurzsichtigkeit, Kurzsichtigkeit, meine Herren – die Konkurrenz wird überwunden werden; ich schlage ernstlich eine Fusion der Gesellschaften vor.«

»Wie meinen Sie das, Johannsen?«

»Ganz einfach: Die Gesellschaften an der Elbe müssen zusammengeschlossen werden. Bei dem jetzigen Bestand des Fischerei-Schiffsparks an der Elbe würde das bedeuten, daß zwei Drittel der gesamten Fangflottille des Reiches in unseren Händen sind – gegen ein Drittel der Flottille an der Weser.«

»Und der Marktausgleich?«

»Wird ermöglicht durch den Zusammenschluß oder durch Verträge der einzelnen Fischerei-G. m. b. H. an den Auktionsorten.«

»Der Absatz, Johannsen?«

»Durch Propagierung des Fischkonsums unter der Bevölkerung im ganzen Reiche. Eine großzügige Propaganda für den Fisch als Volksnahrungsmittel ... Meine Herren, wir machen den Markt lebendig und steigern den Konsum – und steigern damit die Gewinnquote.«

»Die Stärke der Mannschaft auf den Schiffen?«

»Sie meinen die Stärke der Leute in ihren Forderungen an Heuer und Prozenten? Wozu sind denn die Gesetzgeber da?! Und außerdem«, Johannsen fiel wieder ganz in seinen kalten geschäftlichen Ton, »außerdem sind ja noch die Arbeitnehmerorganisationen da.« Eine lässige Handbewegung begleitete die letzten Worte – wie wenn es ein Nichts bedeuten sollte.

»Noch eine andere Tatsache, meine Herren, an der wir nicht vorübergehen sollten – der Markt von Aberdeen, auf den wir angewiesen sind, wird gleichzeitig durch Abmachung mit unseren englischen Kontrahenten gesichert. Die Konkurrenz durch Unterbietung der Fänge wird durch die Verteilung der Fänge nach einem Schlüsselsystem ausgeschaltet.«

Dann herrschte Stille im Raum. Man hörte nur das Saugen an den schweren Zigarren. Johannsen bedeutete dem jetzt eintretenden Mädchen, Kaffee zu bringen. Jeder dachte über die sie bewegenden Dinge nach, bis Johannsen aus seiner Ruhe heraus einen neuen Satz in das Zimmer warf.

»Überproduktion kommt nicht in Frage; was nicht als Frischfisch auf die Märkte geht, fließt der Konservenindustrie in Cuxhaven zu. Auch hier wird eine Regelung des Absatzes getroffen.«

»Der Hering, der geht uns wenig an, den überlassen wir vorläufig den Leuten am Dollart – das Geschäft soll Emden machen. Unser Hauptaugenmerk muß bei den Hallen sein. Sie wissen, daß das Projekt der Verlegung und Erweiterung der Auktionshallen spruchreif ist. Das neue Gelände habe ich bereits an der Hand, und der Abstand des Staates für das alte Gebäude, das er für Verkehrszwecke notwendig braucht, wird bei den jetzigen Bodenpreisen um hundert Prozent gegenüber dem Anschaffungswert steigen. Ein Geschäft für die G. m. b. H., wie wir es uns nicht glücklicher wünschen können.«

Im Raum schwirrten die Zahlen, die sich in die Hirne der fünf einbohrten. Sie jagten sich wie Maschinengewehrfeuer, immer in geregelten Abständen erschienen neue Zahlen. Für diese fünf existierten überhaupt nur Zahlen und Verträge, Schecks und Kupons, Gewinne – und nur selten Verluste. Mit den letzteren fanden sie sich ab wie mit etwas Selbstverständlichem, denn die Verluste wurden durch neue, höhere Gewinne gedeckt.

»Im Augenblick stehen Hansa 154, sie haben angezogen«, meinte einer der fünf auf die Anfrage eines anderen. »Hamburg-Süd werden mit 190 gehandelt, auch Cuxhaven-Hochsee haben eine Steigerung erfahren, haben aber keine Börse. Deutsche Werft ist gleichbleibend, Hapag-Aktien schwanken zur Zeit etwas.«

Das Gespräch, das jetzt geführt wurde, war eine Erholung während des Kaffees. Harrald Johannsen lenkte mit zäher Energie das Gespräch auf die Fischerei zurück.

»Es gibt noch eine weitere Sparte, meine Herren, jedoch sie interessiert uns wohl weniger, aber man sollte ihr Beachtung schenken, für uns ist das Interesse nur als Marktleute vorhanden – ich meine die Hochseefischerei auf Schollen mit Motorkuttern.«

»Daran hat der Staat ein Interesse. Haben Sie nicht auch Gelder in einzelnen Kuttern investiert, Johannsen?«

»Soweit die Fischer zu mir kamen, habe ich diesen Leuten, natürlich gegen Sicherheit, geholfen. Es ist eine zurückgehende Kategorie von kleinen Leuten. Wie lange das Geschäft überhaupt noch geht, kann man nicht voraussehen, der Motor hält diese Leute vorläufig noch ein wenig am Leben!« Damit brach er das Gespräch schon wieder ab, denn seine großen Interessen lagen auf einem anderen Gebiet. Beiläufig meinte er im Aufstehen: »Die Fanggebiete werden wissenschaftlich kontrolliert – das geschieht von Staats wegen –, insbesondere wird der Wandererscheinung der Scholle Aufmerksamkeit gewidmet. Der Staat muß das im Interesse seiner nationalen Industrie unbedingt tun. Die Forschungskosten müssen vom Staat getragen werden, denn es ist eine Unmöglichkeit, daß wir, ich meine Industrie und Handel, alle Lasten tragen.« Mit diesen Worten begleitete er seine Gäste zur Tür.

 

Unter den Frauen des Dorfes wurde Lee mit ihrem Mädchennamen geführt. Man sprach von der Frau des Fischers Hinrichsen oder nannte sie kurz, wie sie vor ihrer Hochzeit hieß, Lee Tews. Sie war im Gespräch der Leute des Dorfes. Ihre Kraft, mit der sie das Geschäft des Mannes weiterführte, verübelte man ihr. »Eine sonderbare Frau«, meinten die Fischer.

»Ob sie sich ihren Bestmann heiratet?«

Das war gewissermaßen das Preisrätsel des Dorfes, dessen Lösung jeder in diesem Sinne erwartete. Weder Lee dachte daran noch Jan, der Bestmann. Der war ein eigentümlicher Kauz. Er verbrachte seine freie Zeit mit Netzestricken und Grogrezepten, die er mit Ausdauer in den Wirtschaften ausprobierte. Wenn es hoch kam, dann schloß er sich einem Zug von Jungmannen an, denen erzählte er von seiner Zeit auf großer Fahrt.

Manchmal prahlte er dabei ein wenig, aber ihm nahm das niemand krumm, denn Jan hatte eine ihm eigentümliche, interessante Art, Geschichten zu erzählen.

Den Kutter hatte er mit Klaas instand gesetzt. Jetzt lag der frisch geteert und gestrichen an der Brücke neben den anderen Fahrzeugen. Gewissenhaft ging Jan mit ihm um, so als wenn es sein Eigentum wäre. Klaas war für ihn weniger der Fischer und Besitzer des Kutters als vielmehr der Junge seines Freundes Hinrichsen.

Eines Abends saß er mit den anderen Seefischern des Dorfes beim Grog.

»Willst nicht mit mir fahren, Jan?« fragte ihn der Besitzer des neuen Ewers.

»Nee, lot man, ick blief op ›Lee H. F. 13‹.«

»Warum, Jan, der ist alt, der meine ist neu!«

»Nee, ick bün ok old dorop worn!«

»Willst du dich mit dem Kutter verheiraten?«

Jan wurde borstig und gab eine derbe Antwort zurück. »Schiet di ut mit dien niegen Ewer! Giff mi noch een Grog!« Er schob sein Glas dem Wirt hin.

»Een beten nördlicher kann de ok sien«, brabbelte er den Wirt an, als der das Glas entgegennahm.

»Der ist schon nördlich, Jan.«

»Ach een Schiet ist der. Hinrichsen hett di datt Rezept gewen, mok em so!«

Die Widerrede des Wirtes ließ er nicht gelten, er nahm seine Mütze, schob sie sich auf seinen Kopf, als wenn er ein Segel nach Backbord braßte, und wollte vom Tisch aufstehen.

»Wenn du mi keen nördlichen Grog gewen kannst, dann lot datt, dann goh ick dor hen, wo ick den krieg!«

Der Wirt setzte ihm die Rumbuddel auf den Tisch und brachte das Glas mit dem heißen Wasser. Jan tat den Zucker hinein, zerstieß mit dem Glasstöpsel den Zucker, trank einen Schluck des heißen Zuckerwassers und spuckte das in die Stube – dann goß er den Rum aus der Flasche hinzu.

»So, datt is een nördlicher Grog, un nu lot mi mit dien Schietewer tofreden«, redete er den Fischer an, »fang man Schulln, datt em ok betohlen kannst, wi hebbt noch immer genog an de Hallen brocht. Seuk di een annern Bestmann, aber kumm nich bi mi! Watt schall de Lee Tews moken, schall de sick een annern Bestmann nehmen?«

Er nahm seine Shagpfeife aus dem Mund, klopfte an seinem Absatz die Asche aus und stopfte sie sich aus seinem Tabaksbeutel voll. Das tat er mit Sorgfalt, als wenn sein Leben von der richtigen Füllung des Pfeifenkopfes abhinge. Tief atmete er den Rauch ein und stieß ihn in grauen Wolken von sich. Er hüllte sich in den Rauch, als wollte er sich von den anderen Menschen, die um ihn saßen, absondern.

Klaas kam in die Gaststube; er suchte Jan, denn seine Mutter wollte mit ihnen sprechen. Als er ihn und die anderen Fischer begrüßte, meinte Jan in seiner holzigen Art: »De wull mi op sien niegen Ewer hebben, he schall man sehn, datt he man nich noch bi uns mol als Bestmann fohren wull.«

Klaas wußte nicht, worum es ging, und sah die Leute an. Der letzte Ausspruch des Jan hatte alle im Raum schweigsam gemacht.

»Drink du man ok een Grog, denn du büst Fischersmann von ›Lee H. F. 13‹. Du kannst den ok verdregen!«

Klaas setzte sich neben Jan, und sie sprachen im Flüsterton miteinander. Sie tranken ihr Glas leer, und beim Hinausgehen grüßte Jan niemanden, nur dem Seefischer vom neuen Fahrzeug rief er zu: »Denk man an mi, wenn nich mehr betohln kannst.«

»Na, du bezahlst nicht für mich!«

»Nee, ober wi könnt datt!« Und er schlug sich auf seine Hosentasche, daß es klatschte, damit ging er hinaus.

»Dieser Jan ist ein Schwein«, meinte der Fischer, als beide hinaus waren. »Und ein Trottel dazu«, erklärte ein anderer.

»Wahrscheinlich denkt er doch daran, der Besitzer von ›Lee H. F. 13‹ auf eine kalte Art zu werden.« Dann tranken sie ihren Grog.

Als Klaas und Jan in Hinrichsens Haus traten, drohte Lee mit der Hand Jan entgegen und lachte dabei.

»Jan, du hast deine Grogzeit wie der Fisch seine Laichzeit, nur kommt sie bei dir öfter!«

»Datt mutt sien, Lee Tews, datt is eene Notwendigkeit des Fischerberufes!«

»Eine andere Sache, Jan! Dieses Jahr tragen wir die letzten Raten ab, jetzt wird es leichter gehn. Bei gutem Fang sind wir bis zum Sommer mit dem Kram zu Ende. Wann wollt ihr hinausgehen? Morgen will ich Zinsen zum Johannsen tragen.«

»Brukst Geld?« fragte Jan zurück.

Lee sah ihn bei seiner Frage an, denn die kam ihr unerwartet.

»Nein, Jan! Wie kommst du darauf?«

»Ick meen man, wenn du watt brukst, ick heff watt!«

»Wi könnt in de nächsten Doog op de Reis gohn«, meinte Jan dann unvermutet, »de Krom is all in Ordnung, ick war man noch to Gesine gohn – datt is man wegen mien Tüch.« Mit diesen Worten ging er aus der Stube, bei der Tür kehrte er noch einmal um.

»Also, wi goht op de Reis!« rief er zurück, spuckte sich in die Hände und rieb sie gegeneinander, dann ging er zur Gesine, von wegen seinem Zeug, wie er sich ausdrückte.

 

Johannsen blickte auf die Uhr. Es ging dem Abend zu. Er dachte daran, daß er die Frau des Fischers Hinrichsen zu sich bestellt hatte. Für sich rechnete er, wie lange sie noch an ihn zu zahlen hatte. Trotz der hundert Dinge, an die er zu denken hatte, vergaß er nichts, am liebsten regelte er alle Sachen selbst, nur das Geringfügige gab er zur Bearbeitung an die einzelnen Büros weiter, aber immer behielt er die Fäden in der Hand. Eine bestimmte Methode der Bearbeitung seiner Sachen hatte er sich zu eigen gemacht, damit er nie den Überblick verlor.

In dieser Minute dachte er aber mehr an die Frau. Er wunderte sich selbst darüber. Im Grunde waren ihm Frauen nebensächlich, und er beschäftigte sich mit ihnen wie mit einer Unvermeidlichkeit des Lebens, die er hinnahm und die ihn selten tiefer berührte. Die Frau hatte er hinter sich, wenn die Begegnung mit ihr ihr Ende erreicht hatte, dann dachte er an nichts mehr, er löschte einfach die Erinnerung aus; so wie eine abgeschlossene Buchseite erledigte er auch das.

Eine bestimmte Unruhe ergriff ihn, wenn er Lee Tews in ihrer Schlankheit und mit dem blonden Haar vor sich sah. Er erinnerte sich, daß er sich in der Zeit, als sie in seinem Hause lebte, nur selten um sie gekümmert hatte. An ihrer einfachen Schönheit war er vorübergegangen – möglich, daß er damals die Raffinesse der Frau seiner Kreise an ihr vermißte. Jetzt suchte er ihre Einfachheit, ihren schlanken Körper mit den schmalen Hüften.

Aus seinem Grübeln wurde er aufgeschreckt, als ihm Lee Tews gemeldet wurde. Er ließ sie in sein Zimmer treten und begrüßte sie mit einem Lachen und einer Entschuldigung; daß er sich vor dieser Frau entschuldigte, darüber empörte er sich innerlich, aber er lachte. Lee setzte sich, ohne seine Aufforderung dazu abzuwarten.

Wie er sie ansah, bewegten sich seine Gedanken im Kreis, und er rekapitulierte: schlank, blond – schön? Ja, schön! Alter unbestimmbar; trotzdem er nach dem Alter gefragt hatte und es kannte, dachte er wieder: Alter unbestimmbar. Beim kreisenden Suchen hielten seine Augen an einem Pol. Das war die Brust. Wie am Tage der letzten Begegnung bezwang ihn diese unscheinbare Brust, deren Warzen in das Gewebe des Kleides stießen. Nichts belebte die Stille im Zimmer; er wollte aufstehen und zu Lee treten. Einen Gedanken hatte er, der ließ ihn nicht los – die Frau, die Frau –, das wiederholte er mechanisch, da riß ihn der Schrei der Glocke des Telefons in die Wirklichkeit zurück. Seine Hand bewegte sich unschlüssig dem Hörer zu. Nehmen – nicht nehmen – nehmen – drängte es in seinem Hirn. Gewohnheitsmäßig faßte er nach dem Hörer und meldete sich, dabei war es ihm, als wenn ein anderer seinen Namen sagte, nur nicht er selbst.

»Ja – selbst«, lispelte er in den Hörer, »nein! nicht! – Wiedersehn!«

Damit war das Gespräch beendet. Er dachte daran, daß er der Frau etwas sagen wollte, ergriff ein Schriftstück, las darin, dann stand er auf, tat zwei Schritte in das Zimmer hinein, kehrte um, setzte sich wieder.

»Ich bin wohl doch zur unrechten Zeit gekommen?«

Lee fragte das in ihrer freien Art.

»Unrechte Zeit?« Er dachte nach, sah auf die Uhr, draußen dunkelte es bereits.

»Nein, gar nicht zur unrechten Zeit, gar nicht – bin ein wenig mit Geschäften überhäuft.« Mit diesen Worten ging er auf sie zu und begrüßte sie noch einmal, tat, als ob er es vorhin vergessen hatte, und sah ihr dabei ins Gesicht.

Ein paar Sommersprossen waren um ihre Augen gezeichnet, sonst hatte sie eine fehlerfreie gebräunte Haut.

Dummheit, die kleinen Dingerchen könnte sie sich wegmachen lassen. Allerlei Dinge funkten durch seinen Sinn.

Er sah Lee an, der ein Lächeln um den Mund lag.

Zähne gesund, ein bißchen gelblich, können gereinigt werden.

So sah er hundert Dinge an ihr und wollte sie abgeändert wissen. Seine rechte Hand bewegte sich nach ihrer Brust hin. Der Zeigefinger stieß vor, da besann er sich, daß er Harrald Johannsen wäre und die andere – die Frau des Fischers Hinrichsen.

Er kommandierte seine Hand abwärts, die gehorchte. Der ganze Mensch stellte sich um, aus einer Karaffe goß er Wasser in ein Glas und trank es in kurzen Zügen.

»Den zwischen uns bestehenden Vertrag wollte ich mit Ihnen besprechen. Was machen Sie jetzt? – Das interessiert mich.«

Lee bedeutete ihm, daß sie ihm bereits einmal gesagt hätte, daß der Kutter von ihrem Sohn und dem Bestmann geführt würde und daß sie selbst als Unterzeichnerin des Vertrages diesen einhalten werde.

»Die fälligen Gelder wollte ich bringen, im Sommer wird die letzte Rate gezahlt sein – wenn die Fänge einigermaßen eingehen.«

Johannsen lächelte über ihre Geschäftsmäßigkeit.

»Wenn Sie so großen Wert auf Ihren Vertrag legen, soll er natürlich gehalten werden. Ich persönlich hatte ein Interesse daran, Ihnen zu helfen. Es muß für Sie doch immerhin schwierig sein. – Einen Vorschlag wollte ich Ihnen machen!«

Der Mann war wieder aufgestanden. Lee verglich ihn mit Hinrichsen.

Nein, kleiner ist er, nicht solche breiten Schultern hat er, schönere Hände – bei diesen Gedanken verweilte sie und sah immer nur die Hände. Johannsen fühlte den Blick, setzte sich, trieb ein Spiel mit seinen Händen, dann stand er wieder auf, trat zu ihr, seine eine Hand fuhr ihr übers Haar, es war so, als ob er es kaum berührte. Die Frau krümmte sich ein wenig nach vorn, zog die Schultern ein, denn diese Berührung traf nicht nur ihr Haar, sie fühlte die Hand des Mannes am ganzen Körper. Ihr war es, als wenn sie ohne Kleidung vor ihm stünde. Sie faßte nach ihrem Hals, dort war das Kleid geschlossen, aber sie hielt die Hand flach, wie zum Schutz über die Brust gelegt.

Der Mann wendete sich wieder ab und nannte sie beim Vornamen wie in ihrer Jugend, als sie hier im Hause war.

»Frau Lee, sagte er, »ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen!«

Die Frau sah ihn an, und wieder verglich sie ihn mit Hinrichsen.

So groß ist er nicht, seine Schultern auch nicht so breit, nur die Hände, die Hände – sie sagte das in Wiederholung leise vor sich hin.

»Was für einen Vorschlag, Herr Johannsen, der Vertrag bleibt bestehen – der Kutter wird nicht verkauft!« Laut sagte sie das.

»Nein, den können Sie weiterführen, Sie sollen hier in mein Haus kommen – ich brauche Hilfe.«

Das schien ihr unverständlich, darum meinte sie: »Ich habe ein eigenes Haus!« Und sie verglich diesen Raum mit der eigenen Diele.

»Was soll ich hier?«

»Einen besonderen Posten ausfüllen! Beschließerin können Sie hier sein, Ihr Monatsgehalt können Sie selbst bestimmen.«

Lee stand auf. »Erst möchte ich meine geschäftlichen Sachen mit Ihnen erledigen!«

Er hörte mit Deutlichkeit, wie sie sich in seine Art zu sprechen einfühlte, und trat wieder zu ihr. Größer als die Frau war er nicht, als er jetzt neben ihr stand.

Mit einer Wendung drehte sie sich ab.

»Wenn es notwendig ist, werde ich kommen, vorläufig nicht!«

Damit ging sie hinaus. Er ließ sie gehen. Lee hörte hinter der Tür noch ein kurzes Auflachen, das ihr aus seinem Mund folgte.

 

Der Himmel glich einem schönen Gemälde. Der Mond stand zwischen den Wolken. Er kämpfte mit ihnen um sein Licht, das silbrigweiß war. Manchmal verdeckten es die Wolken, sie zogen wie ein schwärzlicher Schleier darüber hinweg, dann trat der Mond wieder vor und warf dieses silbrigweiße Licht über den Strom und das Land. Schattenhaft lag alles unter dem Licht, nur auf dem Wasser spielte eine glitzernde Bahn und spiegelte darin Licht und Wolken wider. Weiße Lichter tanzten auf dem Wasser, rote Bakenaugen blinkten auf, grüne Lampen leuchteten stetig in der Scheide zwischen der schwärzlichen Luft und dem schwarzen Wasser. Es war die anbrechende Nacht eines kommenden Frühlings, durch die Lee Tews ihrem Dorf zufuhr.

Der Abend lastete auf ihr. Er bedrückte die Frau. Sie sah ihr Haus, den Kutter, ihren Jungen, den Hügel auf dem Friedhof, das Dorf sah sie, die Menschen – bei diesen Menschen verweilte sie, dann sah sie die Hände des Harrald Johannson und fühlte, wie sie ihren Körper berührten.

Jetzt wollte sie an die Umkehr denken. Auf dem Verdeck des Dampfers, der sie trug, drehte sie sich dem rückwärtigen Ufer zu. Da lagen im Dunkel der Bäume die Häuser. Lichter blitzten von dort. Sie glaubte das Haus Johannsens zu erkennen, sah ein Licht flammen, es mußte sein Zimmer sein, das Zimmer, das sie soeben verlassen hatte.

Sirenen riefen über das Wasser. Ihr Laut war dumpf und lang, diese Signale riefen auch sie, sie riefen sie aus ihrem Traum zurück. Vom Dampfer stieg sie an Land und ging ihrem Dorfe zu.

Der Kutter lag draußen auf See, er fischte. Noch einmal wollte sie zu Johannsen gehen, um nein zu sagen. Sie schüttelte den Abend ab, als sie ihr Haus betrat, denn dort stand die Bank mit der verhängten Aufschrift. Das Tuch hatte Lee seit dem Tage, an dem der Bestmann und ihr Junge den Rest von Hinrichsens Körper brachten, nie wieder entfernt. Sie riß es herab. Im gelben Lampenlicht leuchtete golden auf blauem Grund, umrahmt vom braunen Holz, der Spruch.

»Tut Seefahrt not?« fragte sie sich und dachte noch einmal an Harrald Johannsen und sein Haus. Dort nicht, hier bei ihr war die Seefahrt zur Not geworden. Der Kampf mit den Elementen und der Kampf um die Existenz hatten ihr diese Not diktiert.

 

Kräne drehten sich. Sie hoben Lasten empor und fierten sie nieder. Winden kreischten, sie rollten stählerne Trossen um ihren Leib und ließen sie wieder von sich. Stimmen schrien, Stimmen der Menschen, sie warnten vor der Last und feuerten sich zu höherer Arbeitsleistung an. Ballen schwenkten über die Laderampen. Baumwolle aus Mittelamerika!

Sie wurde aus dem Leib eines Schiffes gehoben.

Kanonenrohre hingen in eisernen Klammern und versanken in dem Raum eines Schiffes. Ihr Bestimmungsort war ein entfernter Hafen über See.

Zwei Kisten schwebten in einem Stropp. Ihr Inhalt: Gebetbücher für kulturbedürftige Heiden im Sonnenland des erschlossenen Afrika.

Reis kam aus Indien, Guano von fernen Inseln.

Kisten wurden über die Laderampen gerollt, darauf stand: »Rasierapparate«. Der Bestimmungsort Shanghai. Ein riesiges Ausmaß hatten diese Kisten. Felle und Hanf kamen aus Rußland. Kohlen gingen nach Italien.

Öl! Öl! Dieses Gut umstrittener Gebiete floß durch Rohre aus Schiffen in eiserne Tanks.

Lasten rollten, Menschen schwitzten. Uniformierte spazierten, die Wächter über diese kostbaren Güter hatten die Augen offen, sie suchten Eigentumsschänder. Makler sausten am Kai entlang, sie spürten Ware und Gewinne auf.

Das war der Hafen!

Er sang eine eigene Melodie, es war der Song um das Gold, das der Ware entsprang.

Flüche schallten, Signale flammten, Sirenen brummten, Motoren knallten, Hämmer rammten, Autos summten und trugen Menschen und Lasten durch den Hafen. Der schluckte die Lasten auf und verdaute sie, die Menschen sorgten für seine ordnungsgemäße Verdauung. Die Kette der Arbeit riß hier nicht ab. Dieser Hafen war der gefräßige Bauch des Hinterlandes, es gab kein Produkt, das er nicht verschlang und in seinem Innern weiterverarbeitete. Dieser Organismus mußte immer gesund erhalten werden. Eine Verstopfung seines Magens bedeutete Krankheit für das ganze Land.

Mit ängstlicher Scheu wachten die Organe der Sicherheit über sein Wohlergehen.

Ein Teil dieses tausendfältigen Hafens war erkrankt. Ein wichtiger Teil ...

»STREIK IN DER HOCHSEEFISCHEREI!«

Zeitungsjungen brüllten es.

Quer über die Seiten der Zeitungen stand es in Balkenschrift.

»STREIK IN DER HOCHSEEFISCHEREI!«

Das schrie die Straßen entlang, hallte an den Häusern wider.

»Die Arbeitnehmer auf den Fischdampfern haben die Arbeit eingestellt, sie mustern ab!«

»Ein Schlag gegen die Bevölkerung!« Das schrieb eine große Zeitung.

»Mehr denn je ist unsere Bevölkerung auf den Fisch als billiges Volksnahrungsmittel angewiesen, es muß von Staats wegen gegen die streikenden Mannschaften eingeschritten werden!« So stand es in einem anderen Blatt.

Alles schrie in einer anderen Art, alle sahen ihre Interessen gefährdet, die sie hinter der Parole: »Der Fisch muß dem Volke immer erhalten bleiben!« zu verbergen suchten.

 

Im Fischereihafen drängten sich die Fischdampfer. Leib an Leib. Tot lag ihr Inneres, tot war das Äußere. Sie lagen an den Trossen vertäut und schaukelten sich im Wasser des bewegten Hafenbeckens, dabei rieben sich knarrend ihre Körper, wie faule Seehunde auf einer Sandbank, aneinander. Friedlich hingen die Netze an den Masten, so als hätte sich nie ein Fisch in ihr tückisches Garn verfangen. Die Schlote waren kalt, ihnen entstieg kein Rauch. Die Stahltrossen, die aufgeschossen an Deck lagen, setzten Rost an und blinkten rötlich. Wie ein schlafendes Heer stählerner Delphine lagen in diesem Teil des Hafens die Schiffe. In den Meeren schwärmte der Fisch, die See rollte unbekümmert um diese Dinge, und auf den Kämmen der Dünung pufften nur die Motoren der Schollenfischer, und die Wanderer der Ozeane durchfurchten das Wasser, um von Hafen zu Hafen zu pilgern.

Die Mannschaften der Motorkutter streikten nicht, sie brachten ihre Ware, Schollen von Amrum, von Borkum und von Helgoland. Das war alles.

Hoch türmten sich die leeren Kästen in den Hallen am Pier. Phosphoreszierend glänzten vertrocknete Schuppen an ihrem Holz. Alles atmete Ruhe – Gebäude und Inventar. Unruhig waren nur die Wächter, die in Zivil und die in Uniform. Aufgeregt durchliefen die Kommandeure der Gesellschaften die Schuppen, die Hallen und den Hafen. Die Mannschaften lagen an Land, sie warteten auf die Bewilligung ihrer Forderungen und organisierten den Kampf, um, wenn es notwendig wurde, ihm eine breitere Basis zu geben.

Sie harrten in Ruhe aus, sie hatten nichts zu verlieren – ihr ganzes Leben war eine Kette von Verlusten –, aber alles zu gewinnen.

Wenn die Hauptmonate der Fänge waren, dann mußten sie Wochen, ja Monate draußen auf der See liegen. Hoch oben in der Barentsee oder im Weißen Meer. Immer auf zwei Reisen gingen sie nach Aberdeen, dem englischen Fischhafen, und auf eine Reise kamen sie nach Hamburg. Vierundzwanzig Stunden hatten sie Ruhezeit, dann war der Dampfer leer von Fischen, frisches Eis wurde an Bord genommen und neue Tranfässer für die Leber des Fisches, dann ging es wieder hinaus.

Schlaf stand ihnen in dieser Zeit in den Augen, aber sie konnten ihn nicht nehmen. Den Schlaf durften sie sich aufheben bis zur Zeit der großen Flaute, wenn sich für die Gesellschaften die Ausfahrt nicht lohnte. Jetzt hieß es fischen, fischen. Der Fisch mußte Gewinn bringen, für die Mannschaften brachte es nur erhöhte Arbeit bei kärglichem Lohn.

Ein Familienleben kannten die Seeleute der Fischdampfer während dieser Zeit nicht. Auch das war für sie ein Artikel, den sie auf Konserven füllen durften, bis die Zeit der Flaute kam. Mit dieser Flaute kam das Familienleben, aber auch der Lohnausfall, denn die Reeder zahlten nur, wenn der Dampfer fuhr; wenn er auflag, hatten sie kein Interesse für das Wohlergehen ihrer Mannschaften. Das Wohlergehen der Mannschaften war gleichfalls ein Artikel, der nur etwas wog, solange Aussicht auf hohe Fänge und hohen Gewinn vorhanden war, dann konnten die Fahrensleute ein Körnchen Salz vom großen Block des Gewinnes erhalten, den sie unter tausend Gefahren aus der See für die schöpften, die die See nur in ihrer Schönheit kannten, nicht in ihrer Gewalt.

Gewalt! – Das war das Wort der Beherrscher der Netze, die die See durchfurchen mußten, damit der goldene Segen ohne Arbeit in ihren Schoß floß.

Die Arbeiter auf den Schiffen der Hochseefischerei waren zur Erkenntnis ihrer Lage gekommen.

Sie hatten ihr »Halt!« gerufen, und nun ruhte der Hafen.

Erst ihre Kraft konnte ihn wieder beschwingen, konnte ihn aus der Erstarrung zum Leben erwecken und damit goldene Ernte in die Scheuer fahren.

 

»Halt! Tedje! Wohin?«

»Zum Schiff!«

»Hier gibt es kein Schiff – hier wird gestreikt! Weißt du das nicht? Die Fischdampfergesellschaften wollen uns 'ne neue Ordnung aufzwingen. Wir husten ihnen was – und haben unsere Gegenforderungen gestellt!«

»Oha, datt mokt ji ok? Datt hett lang nog duert, bitt ji juch besinnt hebbt! Ji hebbt woll markt, datt ji keene Minschen mehr sünd, sondern ...« Er hielt inne; er wollte einen derben Ausdruck gebrauchen, den er aber noch verschluckte, als er in das Gesicht des Streikpostens sah. Dann schwieg er.

Der Streikposten spähte noch einmal umher. Nach kurzem Besinnen meinte er:

»Sind wir allein daran schuld? Wir haben verdammt lange gearbeitet, um das Gros der Mannschaften rumzukriegen. Das is nu mal so: Ohne eine geschlossene Organisation war nichts zu machen. Und der Mann hielt einen Augenblick auf zu sprechen, holte Luft, sah wieder zu den schlafenden Schiffen, und dabei bekamen seine Augen einen harten Glanz, »und kannten die Unternehmer nicht die Schwächen unserer eigenen Organisation?«

Wieder hielt der Mann im Sprechen inne, es schien, als wenn es ihm schwerfiele, Weiteres zu sagen, darum schloß er kurz:

»Dir sind ja die Dinge nicht unbekannt. Du weißt doch, um was wir uns mit den Leuten ›oben‹ immer rumschlagen. Mit diesen Knechten!«

Der andere blickte den Kollegen verwundert von der Seite an. Also die Fahrensleute der Fischdampfer streikten wirklich. Donner und Doria!

»Tja – und nu streiken wir schon vier Wochen«, fuhr der Posten fort, »die Sache steht nicht schlecht für uns. Wir kriegen den vierten Decksmann wieder, den sie uns vor fünf Jahren genommen haben, weil wir uns nicht stark genug gewehrt haben.«

»Sooo?« Dem anderen schien diese Zuversicht komisch vorzukommen. »Dann müßt ihr euch ja bannig stark fühlen ...« Und er setzte hinzu: »Und eine gute Unterstützung haben!«

»Die haben wir!«

Eine Überzeugung sprach aus den Worten des Streikpostens, die so fest klang, daß der Fahrensmann ein wenig verwirrt wurde. Er hörte dem Streikenden jetzt noch einmal so aufmerksam zu. Donnerschlag, der hielt ihm ja eine lange Rede! Von dem langen Kampf vor fünf Jahren, als ihnen der vierte Decksmann genommen wurde; elf Wochen hatten sie sich heftig gewehrt – dann mußten sie passen. Da waren wohl Gesetze, auf die sie glaubten, sich zur Verteidigung ihrer Rechte stützen zu können. Aber Kuchen – das Unternehmertum bewies ihnen, daß man Gesetze in ihr Gegenteil verkehren konnte. Mal so – mal so, gerad so, wie's paßt.

»Und, siehst du, damals waren die Unternehmer im Vorteil, diesmal sind wir es – denn es ist Fangzeit, der Hering schwärmt, und die Zeit für den Schellfisch kommt. Fünf Jahre lang haben drei Mann die Arbeit für vier schaffen müssen. Unsere Knochen haben gekracht«, er bewegte seine Handgelenke, zog den Arm an, daß sich die Muskeln unter dem Stoff des Ärmels hoben und ihn spannten, »aber die Dividenden sind gestiegen, nur unsere Löhne sind geblieben. Jetzt husten wir ihnen was und spucken auf ihre ›Durchrationalisierung des Fischereibetriebes‹. Ein gemeiner Trick ist das! Die Fischpreise sollen gesenkt werden, damit die Fische als ›billiges Volksnahrungsmittel‹ zum Ausdruck gegen die anziehenden Fleischpreise auf den Markt kommen.«

»Seit wann beschäftigst du dich mit wirtschaftlichen Studien?«

»Studien oder nicht!«

Es klang Musik aus der Ferne. Dumpfe Paukenschläge hallten im Rhythmus eines Marschtaktes.

»Das tägliche Leben lehrt uns viel besser die Dinge erkennen, als das Studium großer Bücher!«

Immer näher kam die Musik, härter wurde der Paukenschlag. Der Streikposten sprach weiter.

»Sieh dir das an!« Er wies mit der Hand nach dem Plakat an einer Säule, das eines der Mittel der Propaganda für den Seefisch, die über das ganze Reich planmäßig geführt wurde, war.

Eßt Fisch, er macht gesund und schlank!

»Hast du etwas gehört, daß der Kleinhandelspreis für Seefische heruntergegangen ist?«

Der andere wußte nicht sofort die Antwort auf diese Frage zu finden, er wurde seinem Kollegen gegenüber unsicher.

»Den vierten Mann hat man uns genommen, wir waren nur noch drei Decksleute auf einem Dampfer, die Fänge waren nicht kleiner, die Reisen nicht länger, unser Verdienst nicht höher – mit Ausnahme der paar Mark Lebergeld –, aber die Reeder haben auf jedem Dampfer die Heuer, die Prozente und den Proviant für einen Mann gespart; das machen wir nicht mehr mit. Jetzt gilt ihnen der Kampf, wie er uns damals galt. Den vierten Mann wollen wir an Bord haben. Gegen viertausend Seeleute sind ohne Chance, also ohne Verdienst. O ja, diese Herren Reeder können diesen Zustand gebrauchen; je mehr Arbeitslose, desto größer ist die Aussicht auf billiges Arbeitsmaterial und Streikbrecher gegen uns – wenn wir nicht aufpassen.«

Unwillkürlich hielt er in der aufgeregten Rede inne, denn aus der Nähe drangen die Töne der Kapelle scharf herüber, es klang das Lied vom Arbeitsmann. Auf dem Gesicht des Streikenden lag ein Lächeln, sein Ärger, in den er sich hineingeredet hatte, war verflogen.

»Du fragtest vorhin, wer uns unterstützt, das kann ich dir sagen. Die Kapelle, die dort spielt, sind Arbeiter, Seeleute. ›Rote Matrosen‹ nennen sie sich. Sie sind erwerbslos wie wir und spielen auf öffentlichen Plätzen, sie konzertieren in Arbeitsversammlungen, auf ihren Vergnügungen und sammeln dabei; das Geld fließt uns Streikenden zu. Auch in den Betrieben wird gesammelt. Auf den Werften und in den Landbetrieben – überall. Das haben wir Seefischer noch nicht erlebt. Immer neue Listen werden angefordert, und das gezeichnete Geld geht uns ständig zu. Außerdem hilft, uns noch die IAH ...

»Watt is datt?« fiel der Seemann ein.

»Die Internationale Arbeiterhilfe! Du weißt doch, daß im Jahre, im Jahre ..., ich glaube 1922, na, auf jeden Fall – du erinnerst dich doch an die Hungersnot an der Wolga. Damals rief Lenin die Arbeiter der ganzen Welt zur Unterstützung der Hungernden an der Wolga auf. Und dann wurde die Internationale Arbeiterhilfe gegründet. Heute hilft sie uns, wie sie schon vielen anderen Arbeitern geholfen hat.«

Der Schall der Musik wurde vom Winde immer lauter herangetragen, immer näher, dumpf dröhnte die Pauke zum Takt des Marschschrittes.

»Ick weur Johre op lange Fohrt, un kun datt allens nich weeten. Ober datt mutt ick schon seggen – wenn datt so is, dann brukt ji keene Angst to hebben. Die IAH – de much ick gern kennenleern.«

»Dann geh dort drüben in das Lokal.« Der Streikposten lenkte den Blick des Fahrensmannes auf ein Haus hin, vor dem Frauen und Kinder standen. Dort kamen Frauen und gingen wieder. Immer, wenn sie gingen, trugen sie Plakate mit sich oder schleppten Brote auf ihren Armen hinweg. Ein bewegtes Leben war das, was sich dort abspielte.

»Sieh dir mal das an – das ist die Lebensmittelverteilungsstelle der Arbeiterhilfe. – So halten wir durch!«

»Die neueste Abendausgabe!« brüllten die Zeitungsverkäufer.

»Der Streik der Seeleute im Fischereihafen ist beendet!«

»Was?« sagte der Streikposten, er glaubte, er höre nicht richtig.

»Die neueste Abendausgabe – die Forderung der Seeleute bewilligt, morgen gehen die ersten Fischdampfer in See!«

Das war die Schlagzeile, die die Zeitungsverkäufer brüllten.

Der Streikposten kaufte sich ein Abendblatt, ihm war das unfaßbar, er wußte von Verhandlungen, aber nichts von der Bewilligung ihrer Forderungen. Er las in der Zeitung:

 

»Abbruch der Streiks auf den Fischdampfern. Sonderbericht B-S.-Korrespondent:

Wie uns unser B-S.-Korrespondent soeben mitteilt, haben die Fischdampfergesellschaften beschlossen, die Forderungen der Schiffsbesatzungen zu bewilligen. Morgen sollen die ersten Schiffe bereits Order erhalten, um an ihre Fangplätze zu dampfen. Die Reedereien haben sich bei ihrem Beschluß vom Interesse der Bevölkerung, für die der Fisch in den letzten Jahren ein nicht zu unterschätzendes, billiges Nahrungsmittel geworden ist, leiten lassen.

(Wir begrüßen diesen Schritt der Reeder und sehen, daß sie ihre eigenen Interessen dem Allgemeinwohl untergeordnet haben. Das zeugt von einem weitgehenden Verständnis für die wirtschaftlichen Nöte unseres Volkes. Die Redaktion.)«

Der Streikposten lachte dröhnend auf, als er den Bericht las.

»... im Interesse der Bevölkerung.« Er grölte es über die Straße, daß dort die Menschen auf ihn aufmerksam wurden.

»... dem Allgemeinwohl untergeordnet!« Er drehte sich um den Kollegen, hieb mit der Faust durch die Luft.

»... och! Igittegitt, watt for eine menschenfreundliche Sorte sind doch diese Sonderberichterstatter«, warf der Seemann ein und spritzte den Saft des Kautabaks in den Rinnstein.

»Nein!« Das Zeitungsblatt schwenkte der Posten wie toll in der Hand.

»... das zeugt von einem weitgehenden Verständnis für die wirtschaftlichen Nöte unseres Volkes.« Er lachte, daß er bis zur Stirn rot wurde.

Das Blatt zerfetzte er und warf es in die Gosse.

»Wer hat Verständnis für unsere Not? – Die Reeder? Wer ist das Volk? – Wir! Wir!« Seine Faust hämmerte auf seine Brust.

»Was haben wir vom Fang, von der Arbeit? – Einhundertfünfunddreißig Mark im Monat und ein halbes Prozent! Wieviel Prozente bleiben für den Reeder? – Wieviel Dividende? – Wieviel wachsendes Kapital?«

»Wer fährt im Sturm auf der brüllenden See und läßt sein Leben, um Gold zu scheffeln, Gold für andere? Wir! Wir! Und wer erntet mühelos? – Der Aktionär!«

Er stürmte die Straße abwärts.

»Wo willst du hin?« riefen ihm die Kollegen nach, als sie ihn rennen sahen.

»Man zum Internationalen Seemannsklub. Unser Freund Walter soll uns sagen, ob das mit der Bewilligung stimmt ... Da liegt die Zeitung!«

Er zeigte auf die Gosse.

 

Etwas Unbestimmtes war in Lee. Sie wußte nicht, was, nur wenn sie an die Hände Harrald Johannsens dachte, dann kam dieses unbestimmte Etwas, das sie verwirrte, wieder. In ihr brach ein Teil ihres Ichs zusammen. Die Stetigkeit, mit der sie bisher sich wie auch Hinrichsen angetrieben hatte, war vorüber. Ruhelos war sie, unschlüssig in ihrem Tun, sie wußte nichts mit ihrem Selbst anzufangen, träumend ging sie einher.

Einen kurzen, geschäftsmäßigen Brief von Johannsen hatte sie empfangen. Dieser Brief erregte sie, ihr brannten die Buchstaben vom Papier entgegen, wenn sie ihn aus der Truhe holte, in der sie alle ihre Papiere aufhob. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte zu Johannsen, denn der Vertrag bestand. Sie überlegte und rechnete, stellte wieder ihre Zahlenkolonnen auf und kam zu dem Ergebnis, daß, wenn alles so wie bisher ging, der Vertrag in ein paar Monaten erfüllt war, noch ehe der Kutter wieder auflegen mußte. Der Abtrag war dann erledigt. Die Schuld, die sie früher nie fühlte, war ihr jetzt zur Last geworden.

Ein erster Maiabend war es, als sie hinüber zum Haus am Hügel fuhr. Der Tag war grau und nicht sonnig gewesen. Lee fror ein wenig. Seltsam verändert kam ihr die Umwelt vor, ihr schien, als habe sich das Bild des Stromes gewandelt.

Wenn sie sonst den breiten Fluß kreuzte, freute sie sich über das lebendige Bild der Segel und des Rauches, ganz gleich, ob das Wasser gelb oder schwärzlich war. Jetzt nicht, denn sie mußte an Hinrichsen denken ...

»Frau Lee!« Mit diesen Worten begrüßte Harrald Johannsen sie.

Mehr sagte er nicht, sondern schob einen Stuhl herbei, drückte die Frau in das weiche Polster nieder, setzte sich ihr gegenüber in einen anderen Stuhl und sah sie an. Eine Zeit saßen sie wortlos, er betrachtete nur ihren schlanken Körper. Diese Schlankheit fesselte ihn. Und Lee wurde, wieder verwirrt beim Anblick seiner Hände – dieser Hände, die so langsame, aber sprechende Bewegungen ausführten.

»Haben Sie sich mein Angebot, in mein Haus zu kommen, überlegt?«

Lee beantwortete diese Frage nicht – und er blieb still, beobachtete fortgesetzt die Frau, deren Gedanken sich auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Sie versuchte, den Mann vor ihr ruhig anzusehen, aber immer wieder wanderten ihre Augen von seinem Gesicht zu den Händen zurück. Ein Wunsch brannte in ihr: Wenn mich diese Hände jetzt berühren würden!

Was würde ich tun? fragte sie sich und wollte aufstehen, um das Zimmer zu verlassen, aber sie blieb still sitzen.

Der Mann erhob sich und ging zu einem Schrank an der Wand. Er mußte dabei das Zimmer durchqueren. Lee glaubte, er trete auf sie zu, und sie saß, als sei eine Lähmung über sie gekommen. Den Schlag ihres Blutes fühlte sie am Hals. Dort hämmerte es in ihren Adern.

Der Mann entnahm dem Schrank ein Aktenstück, setzte sich wieder und öffnete den Deckel, dann blätterte er darin herum.

»Hier, Frau Lee – der Vertrag!« Er reichte ihn der Frau.

»Sie kommen zu mir – er soll erledigt werden!«

»Nein«, meinte sie kurz, »dieser Vertrag ist ein Vertrag, den wir auf gegenseitiges Vertrauen geschlossen haben. Sie sagten das selbst, als er unterschrieben wurde.«

»Aber der eine Kontrahent ist tot!«

»Der andere lebt und hält ihn, oder wollen Sie ihn zu Ihrer eigenen Sicherheit umändern? – Bin ich nicht sicher genug?«

»Sonderbare Frau!« Er stand auf, trat zu ihr und strich mit seiner Hand über ihr Haar.

»Sie nehmen mein Angebot an?«

»Was?« fragte sie ihn, stand vom Stuhl auf und sah starr in seine Augen.

Dann spürte sie, daß sie den Mann küßte.

Der sah sie an und war von der Plötzlichkeit dieser Handlung überrascht.

»Den Vertrag nehme ich nicht zurück, Harrald Johannsen!«

»Und Sie kommen in mein Haus?«

»Ich habe ein eigenes Haus!«

Sie standen wie am Anfang ihrer langen Verhandlungen. Die Frau holte aus der Tasche die fällige Summe des Geldes und legte sie auf den Tisch nieder.

»Warten Sie!« Er ging hinaus.

Lee wurde in ihrem Denken wieder klar und überlegte, was sie tun sollte. Entfernt kam ihr Hinrichsens Bild. Das löschte sie mit einer streichenden Handbewegung über die Augen aus, denn Johannsen kam ins Zimmer zurück und trat auf sie zu.

»Was soll werden, Frau Lee?« Er fragte das kurz und schob seinen Arm unter den ihren, dabei setzte er sich auf die Lehne des Sessels. So von oben her betrachtete er sie genau. Diese Frau war merkwürdig. Groß, zart – wie sie sich diese Zartheit in ihrem Leben neben dem Fischer Hinrichsen erhalten hatte, war ihm etwas Rätselhaftes. Dabei war sie voller Energie.

Jetzt ging in Harrald Johannsen etwas Sonderbares vor sich. Er nahm das Geld, legte es in ein Stahlfach seines Schrankes, machte ein paar Eintragungen in ein Buch, kam zurück, erfaßte die Frau um die Knie und um die Brust, hob sie aus dem Sessel, so daß er sie auf seinen Armen quer vor sich liegen hatte, und wollte sie aus dem Zimmer tragen.

Die Frau legte ihren linken Arm um seinem Hals, zog seinen Kopf zu sich nieder und sah ihm groß in die Augen. An der Tür sprang sie aus seinen Armen und stieß ihn in das Zimmer zurück. Beide kämpften, die Tür zum Zimmer stand offen, er sprang in dem Augenblick, als sich die Frau von ihm befreit hatte, dorthin, um sie zu schließen. Ihr kam der gleiche Gedanke, auch sie sprang zur Tür. Ihre Körper flogen im Sprung gegeneinander, gegen die Tür, die mit einem Knall zuflog. Der Knall brachte beide für einen Augenblick zur Besinnung. Wie Feinde standen sie sich gegenüber, die Augen hatten sie ineinandergebohrt. Die lichterten in der Dämmerung des Raumes. Jeder suchte die Schwäche des anderen. Lautlos, mit vorgestrecktem Kopf, wie auf der Lauer liegende Tiere, die gegenseitig die Bewegungen des anderen beobachten, um sich dann aufeinanderzustürzen, standen sie.

Langsam zog Johannsen seinen Kopf zurück und hielt der Frau die Hände hin. Sie sah die Hände, nur diese Hände, wie sie sich langsam zu ihrem Körper vorwärts tasteten. Von einem sonderbaren Drang getrieben, ergriff sie die Hände Johannsens und biß hinein.

Der Mann schrie auf, sie hielt die Hände eisern fest, drängte ihren Leib an den seinen, sie flüsterte etwas, sinnlose Worte, er verstand sie kaum. Ihr Leib schob den Mann zurück, sie bog sich, daß ihr Kopf rückwärts fiel, dabei richtete sie die Augen so starr aufwärts, daß er nur noch das Weiße in ihren Augen sah – wie in einer plötzlichen Schwäche entließen ihre Hände den Mann.

»Lee!« Das war alles, was er sagte. Sie deckte eine Hand über die Brust, die durch ihre Bluse schimmerte, die beim Kampf zerrissen worden war. Schweigen herrschte. Nach einer Weile nahm Johannsen Lee bei der Hand, er ging ein wenig von ihr entfernt, zog sie wieder in den weichen Stuhl und setzte sich neben sie. Er betrachtete seine Hand, und dabei zeigte sein Gesicht ein schwaches Lächeln.

»Was sollte das?« Er deutete auf die gezeichnete Hand. Sie küßte den Fleck. Deutlich sah sie den Abdruck ihrer Zähne im Fleisch und nahm seine Hand an ihr Gesicht und liebkoste sie.

»Ich glaube – ich wollte die Hand vernichten, weil ich sie – fürchtete!«

Ihre Augen wurden groß, sie lichterten wieder. Johannsen zog ein wenig den Kopf zurück, als fürchtete er sich vor neuen Angriffen. Die Augen Lees wurden seltsam. Ob sie irre wird? – Das fragte er sich.

Der Mann bog sich noch mehr zurück, aber die Augen der Frau wurden größer und starrten in Johannsens Gesicht.

Plötzlich schnellte sie auf, öffnete ihre Arme und warf sich über den Mann.

Der wehrte sich, aber sie umschloß ihn eisern. Wieder ging der Kampf. Sie drückte den Mann nieder.

Sie sprach Worte zu ihm, die er nicht verstehen konnte, denn sie hatte seinen Kopf so fest an ihre Brust gedrückt, daß ihm das Atmen schwer wurde.

Mit einem brutalen Griff machte er sich frei und stieß die Frau zurück ins Zimmer. Da schlug sie nach ihm. Er packte ihre Hände und hielt sie nieder. Sie wurde ruhig und sprach zu ihm. »Hier im Hause bleibe ich nicht, und der Vertrag wird erfüllt!«

»Was soll werden?«

Sie sah ihn mit einem stechenden Blick an, dann wandte sie sich mit einem Ruck von ihm ab und versuchte ihre Blöße zu bedecken.

Er riß die Decke von einem Tisch, der sich im Zimmer befand, und brachte sie ihr. Gläser, die darauf standen, klirrten auf der Erde, die Splitter knirschten unter seinen Sohlen. Darauf achtete er nicht.

»Hier!« Um ihre Schultern legte er die Decke, dann setzten sie sich nieder.

Sie saßen ruhig, aber in Lee sprangen die Gedanken wie im Wirbel. Unvermittelt fragte sie: »Und was ist mit dem Streik?«

Johannsen war auf eine solche Frage nicht gefaßt, ihn bewegten in diesem Augenblick andere Gedanken.

»Was ist mit dem Streik?« Hartnäckig wiederholte sie die Frage.

»Er ist zu Ende! Morgen bekommen die ersten Dampfer Order zur Ausfahrt!«

»Werden die Preise bleiben?«

Sonderbar, was diese Frau für Fragen stellte. Da kämpfte sie mit ihm, war Weib, und fragte im gleichen Augenblick kaufmännisch kühl nach Fischpreisen und sonstigen Dingen, die seines Erachtens nur Männer interessieren konnten. Diese Frau wollte er ergründen.

Die Zeit schritt. Eine Uhr schlug. Zwölf Schläge. Sie sahen sich an, dann sprach der Mann, er fand das Du.

»Du mußt bleiben, Lee! – In dein Dorf kannst du nicht zurück.«

Sie gab keine Antwort, sah ihn nur ruhig an. Dann stand sie auf, um zu gehen, sie drehte sich zu ihm hin.

»Dein Zimmer! – Wo?«

»Dort!« Er winkte mit dem Kopf seitwärts zu einer Tür, die ein Vorhang überdeckte.

Es überfiel sie eine seltsame Mattigkeit, sie ging zum Stuhl zurück und setzte sich wieder.

»Laß mich hier sitzen und ruhen, morgen mit dem ersten Schiff fahre ich in mein Dorf!«

»Mit meiner Barkasse fahre ich dich hin!«

Sie sprang auf. »Kennst du das Dorf?« Voller Haß sah sie ihn mit ihren seltsam großen Augen an.

»Nein!«

»Die Menschen dort?«

»Nein!«

Da sprach sie von ihrem Dorf. Das lebte vor ihm auf. Es blühten die Gärten, die Vögel sangen. Die bunten Häuser und die verfallenen Hütten zeichnete sie. Frischen Erdgeruch atmeten ihre Worte. Gelber Neid der Menschen schrie aus ihrem Mund. Fischer humpelten über den Deich, von der Gicht geschlagene Gestalten. Nach süßem Wasser roch es und nach getrockneten Fischen. Die Glocken der Dorfkirche klangen blechern über das Wasser, und die Inschriften der Grabsteine des Friedhofes bekamen Leben. Verblühter Wohlstand und halbe Armut marschierten vorüber. Die spitzen Zungen der Frauen hörte er. Harrald Johannsen sah das Dorf aus den Worten Lees vor sich aufsteigen und sah die Frau an. An ihrem Hals erblühte der Fleck – da nahm er sie auf seine Arme und trug sie in sein Zimmer.

Dort stellte er sie wieder auf ihre Füße – vor seinem Bett. Das war breit. Seide lag darüber. Rote Seide, die leuchtete aus dem Halbdämmer auf. Er riß sie zurück, darunter war alles weiß und roch frisch. Sie sah das Schöne, und ihre Finger tasteten über das feine Gewebe, so fein, wie sie es nie gekannt. Ihre Hand fuhr nach dem Tuch, das um ihre Schultern lag, sie nahm es und knüllte es zusammen.

Da bemerkte sie den Mann, der neben ihr stand und sie beobachtete. Sie stieß ihn zurück und warf ihm das Tuch ins Gesicht.

»Lee!« Er trat auf sie zu, und seine Hand fuhr über ihr Haar. Unter dem Streicheln dieser Hand legte sie langsam ihre Kleider ab. Stück für Stück. Er musterte diese Kleidung, die ihren Körper bedeckte. Zuletzt stand sie im grobleinenen Hemd. Ein schmaler Bandstreifen hielt es über der Schulter fest. Der Mann hob seine Hand, riß das Band von der Schulter, daß ihr das Hemd über die schmalen Hüften glitt und um ihre Füße am Boden lag. Sie trat daraus hervor, ihre Hände krampften sich zu Fäusten. Die stieß sie vorwärts. Der Mann ging zurück. Er sah die Frau in ihrer ganzen feinen Schönheit. Schmal wie die Hüften waren die Schenkel, die Brust war unscheinbar, die Brustwarzen unterbrachen die Weiße ihrer Haut, die von feinen Adern durchzogen war. Sie nahm die rotseidene Decke vom Bett und warf sie sich um ihren Leib und schritt aus dem Schlafzimmer, hinüber wieder in den anderen Raum. Dort setzte sie sich in den weichen Stuhl.

Lee war eine einfache Frau. Das, was sie jetzt tat, sah Johannsen für die Raffinesse einer Frau an, die den Mann bezwingen wollte. Sie dachte nicht an solche Dinge. Etwas anderes brannte in ihr, sie wußte nicht, was es war, sie war über sich selbst nicht im klaren. Etwas schrie in ihr nach dem Mann. Ein eigentümliches Gefühl kroch über sie. Der Mann hatte seine Augen starr auf einen Teil ihres Körpers gerichtet. Die Decke hatte sich verzogen, das nackte linke Bein war bis zum Schoß sichtbar. Daran hing der Blick des Mannes. Sie deckte es zu. Scham glühte in ihr. Die Augen suchten in der Runde und fanden keinen Halt, sie wollte aufstehen und konnte es nicht.

Endlich sprach sie, aber das kam aus dem Unterbewußtsein.

»Dazu war ich nicht gekommen!«

»Wozu – Lee?«

Um nichts sehen und hören zu müssen, schloß sie die Augen.

Johannsen trat zu ihr und löste ihre Haare. Wie rieselnder Sand über roten Granit sprang die Farbe ihres gelösten Haares von der Umhüllung. Alles Licht im Zimmer schaltete Johannsen ein, und so saßen sie sich gegenüber und sprachen über alle möglichen Dinge. Erst jetzt erkannte Johannsen, daß die Frau eine unkomplizierte Natur war, deren Verstand an ein einfaches Denken gewohnt war, aber alle Dinge sehr scharf und richtig sah. Was sie zu ihrem Tun getrieben, das konnte der rührige Geschäftsmann nicht ergründen, für seinen komplizierten Verstand, der jede Rechnung löste, war das ein besonderes Exempel, es ließ sich nicht in die Formel rp = x zwängen.

Und nun geschah das, was außerhalb seiner Berechnung lag.

Die Frau fragte ihn, ob er sie liebe.

Dummheit, dachte er, gab aber keine Antwort darauf, sondern stand auf, zog die Decke um ihren Körper, nahm sie am Arm und ging mit ihr zurück in sein Schlafzimmer, das im Dämmer des verhängten Lichtes lag.

* * *

 


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