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August ist der Monat, der die Gewässer austrocknet, und nicht nur die Gewässer, auch die Menschen. Flimmernde Luft lag über den Straßen, sie zitterte über den Boden hin und machte die Augen schmerzen, vom Wasser dampfte es in den Morgenstunden, der Tau trocknete, noch ehe die Sonne zur Höhe stieg. Die Last der Sonne drückte die Menschen zusammen, und alles floh vor dem Mittag.

So lag das Dorf in die Hitze des Mittags gehüllt. Die bunten Farben der Häuser gleißten im grellen Schein. Das dunkelgrüne Laub der Bäume suchte Schutz bei sich selbst und atmete schwer, es neigte seine Spitzen der Erde zu, um weniger von der Sonne getroffen zu werden.

Das weite Land lag schattenlos, saftiges Gras war zu Futter vertrocknet, zur Winternahrung für das Vieh. Unter den gelockerten Stoppeln der Felder brach die zerfallende Erde auf, und der leichte Wind trug Staub mit sich, der in die Poren der Menschen drang.

Sonntag war es. Mit dem mißfarbenen, grellen Klang der Glocken spie die hölzerne Kirchentür ihren Inhalt aus, Menschen mit steifen Gesichtern und Kleidern, die sich die Wege mit heiserem Flüstern entlangschoben. Die Männer hielten noch ein wenig den Kopf gesenkt, die Frauen bewegten noch vom Gebet oder schon wieder zu anderem Tun die Lippen. Das Werkzeug ihrer Überzeugung, aus dem sie das Heil suchten, hatten sie unter den Arm geklemmt oder trugen es in den verknorrten Händen an den Leib gestützt. Der goldene Schnitt der Bücher von Gott, die meistens von den Frauen getragen wurden, zuckte im Spiel mit der Sonne.

Die gichtigen Fischer, die mit aus der Kirche traten, bewegten sich ruckweise vorwärts über den Weg. Mit einem Seitenblick stampften sie am Friedhof vorüber. Über alle hatte die Meinung des Pfarrers vom Dorf ein Fünkchen heiligen Geistes gestreut, so sie in Liebe zu ihrem Herrn getreten waren. Dieser Geist und diese Meinung waren Tradition im Dorfe, verkörpert durch die Generation der Fischer, die es bevölkerten.

An diesem Sonntag war der Gemeinde ein besonderes Heil widerfahren. Einen neuen Altarschmuck hatte die Kirche erhalten, gestiftet von Harrald Johannsen, »dem Förderer der Hochseefischerei«, wie es der Pastor von der Kanzel bekanntgab. Der gesegnete Dank und das schallende Hosianna der Gemeinde umwob noch jetzt die Kirchgänger auf ihrem Heimweg oder begleitete sie in die Wirtschaften, in die sie traten, um die Hitze des Mittags und des Gebetes mit einem Getränk niederzuschlagen.

Unter den Kirchenbesuchern war auch Gesine, die Waschfrau des Jan. Jan und sie waren alte Freunde von Jugend auf gewesen, und sie betreute Jans Zeug, wenn er draußen auf See war. Seine schwache Seite war ihr bekannt, mit dem Verständnis der einfachen Frau wußte sie ihren Umgang mit ihm zu pflegen. Neben seiner Wäsche behütete sie ihm auch sein anderes Zeug. Als er nicht mehr zurückkam, kramte sie in seinen Sachen und fand dort einen verschlossenen Brief vor. Der war an sie selbst gerichtet. Sie drehte den Brief in ihrer Hand.

»Was mag das sein? – Der Jan hat mir doch sonst nicht geschrieben?«

Sie öffnete umständlich den Brief; solche Arbeit war sie nicht gewohnt, denn bisher hatte sie nie einen Brief erhalten – und fand darin ein Testament von ihm.

Sie las es begierig, verstand aber den Inhalt nicht recht, dann las sie es noch einmal und suchte in Jans Zeug, bis sie ein Buch fand, das er ihr vermacht hatte. »Die Hälfte der Summe«, hieß es in dem Vermächtnis, »die im Buch aufgespart ist, gehört dir, Gesine, und die andere Hälfte mußt du Lee Tews, der Frau des Fischers Hinrichsen, geben.«

Gesine begriff nicht recht, denn er schrieb dort: »Ich vermache dir das Geld, weil du dich ein wenig um mich gekümmert hast.«

Über den Teil für Lee stand nichts geschrieben.

Weshalb hatte er Lee die Hälfte vermacht? Dieser Gedanke verließ sie nicht.

Sie hatte sich das Testament und das Kassenbuch eingesteckt, denn sie hoffte, Lee beim Kirchgang zu treffen. Unschlüssig stand sie nun und sah sich im Kreise um; sie konnte sich nicht denken, was Lee hätte vom Kirchgang abhalten können, denn bisher hatte sie regelmäßig an der Predigt teilgenommen.

»Op wen teufst denn, Gesine?«

Das rief ihr eine Fischerswitwe, die unter den anderen Dörflern stand, über den Weg zu.

»Lee Tews mutt ick hebben!«

Dieser Ruf Gesines brachte die Kirchgänger darauf, daß Lee fehlte. In der Kirche hatte man nicht weiter darauf geachtet, die Worte des Pfarrers hatten das Denken nach einer anderen Richtung gedreht. Die Frauen umringten Gesine, Fischer traten hinzu, ein Kreis mit Neugierde erfüllter Menschen hatte sich gebildet, der stand in der Mittagssonne und hörte geduldig, was Gesine über das Testament vom Jan erzählte.

Wie zu einer Prozession schlossen sich die Kirchenbesucher Gesine an und begleiteten sie einen Teil des Weges, um sich dann, als sie genug erfahren hatten, unter eifrigem Gespräch langsam zu entfernen. In ihnen fraß die Unruhe, die Neuigkeit mußte schnell verbreitet werden.

Als Gesine am Hause Lees angelangt war, stand nur noch die Fischerswitwe, die sie angerufen hatte, bei ihr.

Beide traten in Lees Haus und fanden in der Diele den ungeordneten Haufen der Papiere und Hefte verstreut auf dem Tisch und am Boden liegen.

Sie sahen sich an. Dann ging Gesine auf den Tisch zu, die Witwe aber war in heller Aufregung schreiend auf die Straße hinausgelaufen, da sie an einen Einbruch oder Überfall dachte. Der Schrei der Witwe rief die Menschen wieder zusammen.

Vom Tisch aus konnte Gesine die Tür der Schlafkammer sehen, die halb geöffnet stand, und dahinter hörte sie ein qualvolles Stöhnen. Sie trat näher und sah, wie sich Lee im Fieber in ihrem Bett warf. Als sie sich umwandte, stand hinter ihr die Kammer und die Diele voller Menschen.

Der Fischer, der Lee am Deich getroffen und der mit seinen scharfen Augen ihren Leib gemessen hatte, war mit in die Kammer getreten. Er sah Lee liegen und rief den Frauen zu: »Geht zur Wehmutter, sie soll bei Lee Tews den Jungen vom Jan holen!«

Diese Worte waren ein Signal für die Frauen, sie sahen sich an und verließen die Kammer, der Mann trat mit einem breiten Lächeln an das Bett heran. Jans Worte, die der ihm damals beim Grog entgegengeschleudert hatte, waren ihm noch gut im Gedächtnis.

Der Jan war ein Schwein – und diese Frau? ging es durch sein Hirn, und sein Lächeln verschärfte sich.

In diesem Augenblick öffnete Lee ihre fiebernden Augen.

Sie sah unklar den Mann. Sie richtete sich auf und schrie: »Du bist ein Spieler und ein Ausbeuter!«

Sie spuckte dem Fischer ins Gesicht. Der wischte sich mit der flachen Hand den Speichel der Fiebernden ab, ein gehässiges Lachen spielte auf seinem Gesicht, er erhob die Hand, bedachte aber einen Augenblick, daß er an einem Krankenbett stand. Mit häßlichem Lachen ging er rückwärts aus der Kammer, denn Lee hatte sich aufgerichtet und auf ihre Ellbogen gestützt, dabei war ihr die Decke des Bettes herabgeglitten, und der Mann sah den geöffneten blutenden Schoß, ihre aufgerissenen Augen wirkten wie die einer Irren, aus ihrem brennenden Gesicht schrie ein Lachen auf, das von einem bellenden Husten unterbrochen wurde.

»Ein Spieler bist du«, rief sie noch einmal, »ein schlechter Spieler!«

Dann sank ihr schmerzender Körper unter Schreien ins Bett zurück.

An der Tür stieß der Fischer mit Gesine zusammen, er faßte sie hart am Arm, daß sie aufschrie. Auf diesen Schrei achtete er nicht, sondern warf sie halb auf die Straße.

»Zur Wehmutter! Marsch, renn zur Wehmutter!« brüllte er sie an und hob die Hand.

Gesine lief, als wenn der Fischer mit einem Stropp hinter ihr wäre, über das holprige Pflaster der Straße.

Hinter den Scheiben der Fenster standen die Bewohner des Dorfes und verfolgten den Auftritt, sahen auch Gesine über die Straße rennen.

Jetzt wußten sie, daß in den nächsten Stunden eine Neuigkeit durch das Dorf fliegen würde, und sie traten aus ihren Stuben auf die Straße hinaus.

Das Dorf lag noch immer unter dem Druck der glühenden Sonne und eines Ereignisses.

»Nein, hier ist nichts zu machen, du mußt in eine Klinik«, sagte die Wehmutter, nachdem sie den blutenden Leib der Frau untersucht hatte.

Lee gab keine Antwort auf die an sie gerichteten Fragen. In ihrem Fieber hörte und sah sie nur alles unklar und wußte auch nicht, was mit ihr geschah. Ein paar Fischersfrauen hoben sie aus ihrem Bett, dabei schrie sie auf und schlug um sich. Ihr Mund schleuderte Anklagen heraus, die sich auf niemanden und alle beziehen konnten.

 

Der Netzmacher Peters saß vor seinen Garnstangen und zog die Nadel durch die Maschen, er knüttete an einem Netz. Seine rechte Hand vollführte immer die gleiche Bewegung. Sie stieß die Nadel durch die Masche, drehte sie um, knüpfte, stieß die Nadel zurück und holte dann das Garn mit einem Ruck seiner Hand nach der Schulter zu. Dann begann er eine neue Masche. Er saß mit dem Rücken nach dem Deich zu und konnte durch das halbfertige Netz hindurch über das Land und auf den Strom sehen.

Wie vergittert lag das alles jenseits des Netzes, so als wäre das, was dahinter lag, eine so eng vergitterte Welt, daß niemand durch die dichten Maschen schlüpfen könnte. Ihm schien es, als sei das ganze Dorf gegen die Außenwelt abgeschlossen, und seine Hände schufen Masche auf Masche, eng genug, um darin gefangen zu werden.

Hinter sich hörte er harte Pantoffeln auf das Pflaster schlagen. Gesine kam daher und rief dem Knüttenden ihren Gruß zu. Der Netzmacher drehte sich langsam um. Der weiße rundgeschnittene Bart, der sein rundes Kinn umkränzte, wehte durcheinander, als er den Gruß erwiderte. Er blickte Gesine eine Weile an, dachte ein wenig nach, dann legte sich ihm eine Frage auf die Zunge, die die Lippen herausgab.

»Ist das wahr mit Lee Tews, Gesine?«

»Was soll wahr sein, Peters?«

»Daß Lee Tews ein Kind vom Jan bekommen hat?«

Gesine fuhr sich mit der Hand ins Haar, löste dort eine stählerne Nadel, bog sie ein wenig auseinander, riß ihren Mund auf und stocherte sich damit in den Zähnen herum, dann meinte sie gedehnt:

»Nee – davon weiß ich nichts!«

»Na, es wird aber im Dorf erzählt, daß du dabeigewesen bist. Du hast doch die Wehmutter geholt!«

»Ja, Peters, wer hat dir denn das erzählt?«

Gesine war entsetzt, daß es bereits Peters wußte, der doch am Ende des Dorfes wohnte, in einem Haus, das weit von den anderen entfernt lag.

»Ja! Das ganze Dorf erzählt sich doch, du hast ein Testament vom Jan für Lee Tews gehabt, sein ganzes Geld hat er der Lee vermacht!«

»Na! Das ist nicht wahr, Peters. Das ist eine Lüge!«

Gesine bog die Nadel zurück, steckte sie wieder in ihr Haar, bückte sich, nahm einen Pantoffel hoch und schüttete den Sand heraus.

»Weißt du, Peters, das ist doch schlimm mit solch Lügen – ich weiß ja man auch nicht, weshalb der Jan der Lee das Geld vermacht hat ...«

»Ja! Gesine! Nun lügst du ja doch, du sagst, daß der Jan der Lee das Geld vermacht hat.«

Der Fischer drehte sich um und knüttete weiter, stieß die Garnnadel hin und zurück, er kümmerte sich nicht mehr um die Frau.

»Es ist doch eine Lüge, Peters!« Mit diesem Ruf lief Gesine zornig mit ihren Pantoffeln die krummen Steine der Straße entlang, daß es klatschte.

Und Peters knüttete weiter, auch seine Gedanken zogen Maschen. »Lüge!« hatte Gesine gerufen, sie hatte nur vom Geld gesprochen, aber nicht vom Kind. Er warf sein Knüttzeug hin, verließ seine Garnstangen und seine Netze und ging den Häusern des Dorfes zu. Als er ein paar Schritte gegangen war, sah er Gesine mit einer Fischersfrau vor ihrem Haus stehen und schwatzen. Sie stand breitbeinig da und hatte die Hände unter die Schürze geschoben, so daß es aussah, als hätte sie einen gesegneten Leib; dabei sahen die Beine, die in grauen wollenen Strümpfen steckten, wie ein paar Stelzen aus.

»Lügt sie dir auch was vor?« rief Peters und trat zu den Frauen heran, stellte sich zwischen beiden auf und sah mit seinen runden, blitzenden Augen Gesine in das Gesicht.

»Es ist doch eine Lüge, Peters«, meinte die Fischerin, »Lee hat nur das halbe Geld bekommen, die andere Hälfte hat Gesine gekriegt.«

»Du hast aber kein Kind bekommen, oder hast du einen vertrockneten Leib?« Mit dieser Frage sah er Gesine noch einmal an und stolperte weiter.

»Was will der alte Peters mit dem Kind, Gesine?«

Gesine geriet ein wenig mit der Stimme ins Schwanken und erzählte der Fischerin, wie sie Lee Tews gestern nach dem Kirchgang gefunden hatte.

»Was, mit einer Nadel – solch Mensch!« Wütend stieß die Fischerin ihren trächtigen Leib vor, der schon fünf Kinder geboren hatte. Es war, als wenn die vollen Brüste, die fast den hochgeschossenen Leib berührten, bei dieser Erzählung sich mit dem Leib zu einem Tanz vereinigen wollten. Sie bebte vor Empörung. Ihr ganzer rundlicher Körper war in Aufwallung geraten. Alles Blut schoß ihr ins Gesicht.

»Solch Mensch war die!« schrie die Fischerin.

Vor diesem Ausdruck floh Gesine den Deich entlang, sie konnte ihre Mitmenschen nicht verstehen.

»Wissen der Gendarm und der Vorsteher das schon?«

Gesine hörte noch diese letzte Frage der Fischerin, sie suchte dem Bannkreis des Dorfes zu entfliehen. Ihr selbst war es unverständlich, weshalb Lee Tews das getan hatte, aber mußten die Leute sich darum kümmern? Und nun sollte gar der Gendarm kommen!

Der Gendarm war für sie die verkörperte Autorität der Gesetzmäßigkeit des Staates, und ihrem Sinn erschien er wie der irdische Vollstrecker der von Gott gewollten Ordnung.

Drei Gebäude gab es, vor der ihr Inneres im stillen immer erzitterte.

Das war die Kirche, mit ihr verband sie eine heilige Scheu vor allen Dingen, die ihr Verstand nicht lösen konnte. Von der Kirche aus bewegten sich ihre Gedanken immer zu einem besseren Sein, das ihr nach dem Tode beschieden wäre. Der Pastor predigte das, und an seine Worte glaubte sie wie an das Evangelium.

Dann war es das Gebäude des Gendarmen. An diesem Hause schlich sie immer geduckt vorbei. Wie eine unsichtbare Hand, die zum Schlage ausholt, um sie zu zerschmettern, lag es über ihr, wenn sie am Hause des Gendarmen vorüber mußte. Wie von einem Alp erlöst, atmete sie auf, wenn sie das Haus hinter sich hatte. Trotzdem war sie noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

»... und jetzt?« Der Ausruf der Fischerin kam ihr in den Sinn. Sie stöhnte auf. – Schließlich holt mich der Gendarm mit! Das waren ihre Gedanken.

Dahinter sah sie das Gericht, den Richter und hörte den Urteilsspruch. Den kalten Hauch des Gerichtssaales fühlte sie am Rücken herunterziehen. Sie krümmte sich zusammen, zog ihren Kopf zwischen die Schultern und schlich wie ein schuldbeladener Hund, der Prügel zu erwarten hat, um die Menschen herum und strebte ihrem Hause zu. Sie achtete auf keinen Zuruf mehr, sondern scheute vor den Bewohnern des Dorfes. Sie fing an, an den Menschen zu zweifeln, und in diesem Zweifel bewegten sich ihre Lippen in eigener Zwiesprache.

Peters trat in den Krug und an den Tisch, an dem man ihn einlud, Platz zu nehmen. Der alte Peters war der Netzmacher für das ganze Dorf. Früher war er, wie alle Jungen des Dorfes, über die Meere gesegelt, er kannte das Salzwasser und den Sturm.

»Was hast du, Peters, du machst so ein weisheitsvolles Gesicht?«

Der Fischer Golpers fragte das, und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, er kniff ein Auge zu und fragte lauernd:

»Willst du Pate stehn bei deinem Patenkind?«

»Laß das, denn Gesine sagt, es ist eine Lüge.«

»Was? – Eine Lüge? Dann frag den Gendarm, der war bei der Wehmutter, der kann dir Auskunft geben!«

»Dann ist sie doch so ein Mensch!« Das kam gequält aus ihm heraus, denn Lee Tews Mutter und er waren Spielkameraden gewesen.

»Es ist gut, daß die alte Frau schon Jahre tot ist, das hätte sie kaum überleben können«, sagte er leise vor sich hin und bestellte sich einen Grog. Den trank er mit langsamen Zügen. Um ihn redeten die Menschen.

Da rief Golpers unvermittelt über den Tisch: »Doch – in der Woche hätte ich auch mal eine Nacht bei ihr geschlafen, schön war sie schon, das Mensch!«

Ganz still war es nach diesem Ausspruch im Kreis der Trinker geworden. Von der Tonbank her löste sich eine Gestalt. Groß und hager war der Mann. Er schien fremd im Dorf. Sein Alter mußte an die Fünfzig sein. Das Gesicht war von der Sonne und dem Wetter wie Leder gegerbt, aber ganz aufrecht ging er an den Tisch der Fischer heran.

»Von wem sprichst du – von Lee Hinrichsen, der Frau meines Freundes Hinrichsen?«

Alle sahen sich den Gast an, der sich immer um einen halben Schritt näher an den Tisch heranschob. Der alte Peters setzte seinen Stuhl beiseite und sah sich den Mann an.

Er dachte an seine Fahrenszeit. »Es ist doch nicht Nacht auf dem Schiff, und auf See bin ich doch auch nicht?« sprach er zu sich. »Soll denn der Klabautermann auch an Land am hellen Tage erscheinen?« Er schob seinen Stuhl noch einen Schritt weiter zurück. Dadurch konnte der seltsame Gast ganz an den Tisch herantreten. Peters grübelte. Dem alten Netzmacher kamen Erinnerungen an seine Jugend, der Mann erschien ihm bekannt, wenigstens das Gesicht.

Der Fremde wandte sich noch einmal an den Fischer. Er hatte das Gespräch des Dorfes schon vernommen, auch an sein Ohr war das Geschehnis mit Lee gedrungen. Nach Jahren war er heimgekehrt, der Zimmermann von der »Niobe«, um seinen alten Freund Hinrichsen und dessen Frau zu besuchen – und er fand weder Hinrichsen noch seine Frau, die Lee, nur das Dorf voller Empörung über sie.

»Sag noch einmal, daß Lee Hinrichsen ein ›Mensch‹ ist!« Unverwandt sah der Sprecher den Fischer an. Der erhob sich, denn er fühlte, daß hier der Eingriff eines Fremden, eines Mannes, der ein Butenländer war, in die Belange seines Dorfes vorlag, und wollte sprechen, aber der andere schnitt ihm die Rede ab und sagte mit einer klangfremden Betonung: »Eine Frau ist kein ›Mensch‹, auch wenn sie einmal einen Schritt tut, den Ihr Schweine nicht verstehen könnt; die Frau ist frei und gehört sich selbst.«

Dann hob er ganz langsam die Hand, schloß sie zur Faust und hämmerte sie dem Fischer zwischen die Augen. Der sackte wie ein vom tödlichen Schlag getroffener Ochse in sich zusammen.

Langsam ging der Mann rückwärts aus der Gaststube, kein Mensch dachte daran, ihm zu folgen.

Auf der Straße sah er sich um und spuckte aus. »Nein – die Menschen hier werden sich auch in einem Jahrhundert nicht geändert haben, es wäre denn ...« Er sprach nicht weiter, sondern verließ das Dorf und ging zum Ufer. Dort setzte er sich.

Nach Norden zu lag das Meer, er fühlte es; trotzdem sein Auge es nicht erreichen konnte, nahmen es seine Sinne wahr, in seinem Ohr tönte das ewige Rauschen. Jahre war er über alle Meere gefahren, hatte den Atlantik und den Stillen Ozean in allen Richtungen gekreuzt. Nirgends war er zur Ruhe gelangt. Die Welt schien ihm weit und war ihm doch so eng. Australien war ihm so nahe gewesen wie dieses Dorf, und trotz allem hatte er sich heimgesehnt. Er suchte die Freiheit der Persönlichkeit im Dorfe, die Schönheit seiner Heimat und fand nur den gehässigen Neid der kleinlichen Menschen, die von einer Hand sogenannter Ordnung in Zucht gehalten wurden. Darunter sah er eine kleine Schicht im Ringen um die Freiheit. Sie war noch gering, wenn sie auch wuchs ...

Noch ehe der Ort ein wirkliches Dorf wurde, als die zweite Hütte eines Fischers ihre Geburt erlebte, standen Klatschsucht und menschliche Dummheit als Parzen Gevatter für dieses werdende Dorf. Die grausame Härte der vernichtenden See schmiedete die Menschen nur für Augenblicke der Not, wenn ein Unglück kam, zusammen, sonst fielen sie auseinander – und übereinander her.

So sah der Zimmermann der »Niobe« das Dorf wieder, das er über zwei Jahrzehnte nicht betreten hatte. Die Fassaden der Häuser hatten ein anderes Gesicht angenommen, ein paar neue Gebäude waren errichtet worden, dafür standen zerfallene Hütten leer. Die Wege waren ausgebessert, Land hatte der Staat angeschwemmt, eine Kolonie errichtet, die Gärten hingen voller Früchte, die Erde gab Ernten, das Meer Nahrung, wenn auch kärglich, die Vögel sangen – aber die Menschen, sie waren in ihrer erbärmlichen Kleinheit dieselben geblieben. Es war nur eine äußerliche Veränderung vor sich gegangen, innerlich hatte das Dorf sich nicht gewandelt. Die Menschen in ihm waren noch so, als ob eine vielhundertjährige Entwicklung ohne merkbaren Einfluß auf sie vorübergegangen sei.

 

Gesine drehte sich in ihrer Stube um, als die Tür von draußen geöffnet wurde. Im Rahmen der Tür stand ein Landjäger; als er Gesine erkannte, trat er näher und stürzte, ohne einen Gruß angebracht zu haben, mit Fragen unvermittelt über die Frau her. Sie stand mit schreckhaften Augen da und dachte, daß nun ihr letzter Tag gekommen wäre. Die Furcht vor der Uniform, die sie durch ihr Leben geschleppt hatte, erreichte in dieser Minute ihren Höhepunkt. Um ihre aufgerissenen Augen, die voller Angst waren, wirkte das farblose Gesicht wie eine Totenmaske. Bläulich, wie ein Strich, hoben sich die Lippen, deren obere immer aufzuckte, aus der Blässe des Gesichts ab. Feine, kalte Tropfen flossen aus der Haut der Stirn hervor. Ihr Rücken krümmte sich, und die hageren Beine wollten den Körper nicht mehr tragen.

»Also, Gesine Fuß, Sie sind dabeigewesen?«

»Ja!« Dieses Wort klang verzweifelt dünn. Es war wie das Eingeständnis eines Schuldbewußtseins.

»Na, das ist gut, daß Sie nicht leugnen, das hat keinen Sinn.« Der Gendarm nahm sich einen Stuhl, setzte sich an den Tisch, den Tschako legte er neben sich und beförderte einen Aktendeckel hinter den Knöpfen seiner Uniform hervor.

»Nehmen Sie einen Stuhl und setzen Sie sich hierher – neben mich!«

Er benahm sich, als wenn es seine Amtsstube wäre, diese Kammer der Gesine.

Gesine setzte sich. Das erstemal sah sie die Uniform ganz nahe neben sich, sie roch sie förmlich, dieser Geruch kroch in sie hinein und benebelte sie.

»Da werden wir nicht viel hermachen, also wie war das ...?«

Nicht Gesine erzählte, sondern er berichtete ihr das, was das Dorf erzählte, und machte Notizen, als wenn das alles Gesines Aussage wäre.

»Die Nadel hat noch im Bett gelegen, als die Wehmutter kam, ja? – Na, der Golpers hat das auch gesehen! ... und der Jan, der erste Knecht, ist ihr Liebhaber gewesen, was!? Na ja, das stimmt schon alles zusammen ..., und das Geld hat er ihr auch vermacht, Sie haben das ja unter Zeugen gesagt.«

»Man bloß die Hälfte!« protestierte Gesine schwach.

»Haben Sie mit dem Bestmann Jan auch ein Verhältnis gehabt?«

Gesine wurde bei dieser Frage des Uniformierten ganz verschüchtert. Sie sah überhaupt kein Gesicht mehr, nur noch die Uniform, und konnte keine Antwort geben.

»Sie können bei diesem Punkt die Aussage verweigern ...« Der Landjäger streckte die Füße von sich, lehnte sich zurück, lächelte über seine eigene Frage, denn innerlich sagte er sich: Na danke für dieses Dörrobst, haben eben Klöße gegessen – so was habe ich zu Hause auch, da braucht man nicht in fremden Revieren zu pirschen. Wenn der Jan mit der Lee was hatte, die wäre schon leckerer ... Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er in seiner Rede fort:

»Das mit dem Geld stimmt also.«

Er schrieb umständlich die alleinigen Aussagen hin, las sich das, was er geschrieben hatte, halblaut noch einmal vor und meinte mit einem Male: »Donnerwetter, was ist das nun? Daß die Ärzte immer lateinisch schreiben müssen!« Dann beruhigte er sich wieder und stellte an Gesine neue Fragen.

»Sie haben es doch auch dem Peters erzählt, daß das Kind vom Jan ist. Er hat mir das gesagt ... Wissen Sie, warum Frau Hinrichsen das getan hat?«

»Nein!«

»Das ist sonderbar. Was meinen Sie, ob die das Kind noch haben wollte, nachdem der Jan versoffen war ...? Das glauben Sie auch nicht!« Er packte seine Blätter fein säuberlich zusammen und ließ Gesine die Akte unterschreiben. Dann ging er hinaus. Als er in der Tür stand, fragte Gesine: »Wann werd ich geholt?«

Er lachte über seinen Erfolg. »Wenn Sie gebraucht werden, bekommen Sie eine schriftliche Einladung, bei uns herrscht eine vornehme Ordnung.«

Gesine stand unbeweglich, in ihrem Hirn war es dumpf. Sie beschäftigte nur die Frage: Wann wird man mich holen?

Der Landjäger hatte ein gestrichenes Pensum Arbeit, denn er mußte alle Beteiligten am Fall »Lee Hinrichsen« im Dorf aufsuchen, um das Material zu sammeln. Die Augen der Frauen im Dorf verfolgten ihn, die Männer trafen ihn später in der Gaststube des großen Kruges. Dort saß er und drehte sein Gesicht den eintretenden Leuten zu, musterte sie, trotzdem er sie kannte, und suchte ihre Gesichter mit Fotografien zu vergleichen. Bei dieser Arbeit kam er zu der Überzeugung: Komisch, die Menschen sehen sich alle verdammt ähnlich, nur ihre Gestalt und ihre Kleidung zeigen Unterschiede auf. Hol der Teufel alle Steckbriefe!

Langsam erhob er sich hinter dem Tisch, bürstete mit seiner Handfläche über den Brustteil seiner Uniform und ging hinaus, dabei grüßte er mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Er hob sie halb an den Tschakorand, nicht höher. Immer Autorität bewahren und ein Fünkchen Loyalität zeigen, denn ich bin ein Teil des Staates, von dem Recht und Ordnung, Gesetz und Sitte ausgeht, über die ich zu wachen habe.

Mit diesen Gedanken schritt er die Dorfstraße entlang und kontrollierte die Fenster der Häuser. Seine Augen sahen immer Verstöße gegen irgendeine Vorschrift, die niemand kannte und er selbst nicht recht. Aber wenn sein Auge etwas erblickte, was gegen seine Kasernenhoferziehung ging, dann war es ein Verstoß gegen irgendeine Ordnung, der geahndet werden mußte. So riß er sein von Paragraphen durchsetztes Dienstleben herunter und wurde selbst ein mit einer menschlichen Haut überzogener Vorschriftensack, in dessen Hirn sich immer diese Vorschriften und die Paragraphen stritten. In diesem Sinne löste er die ihm gestellten Aufgaben, und so führte er die Untersuchung des Falles »Lee Hinrichsen« durch.

Als er am Deich entlangkam, stritten sich die Jungen des Dorfes, sie prügelten sich, ihr Gebrüll durchzog die Luft. Mit einer Zähigkeit sondergleichen kämpften sie um ein heiß umstrittenes Objekt, eine an den Strand getriebene Korkweste. Jeder wollte sie besitzen. Immer der Stärkere machte sie dem jeweils Schwächeren strittig, so wechselte das Objekt in einer kurzen Zeit oftmals den Besitzer, bis es sich der letzte Sieger um seinen Leib band.

Gerade wollte der Gendarm, der das Gebrüll hörte, einschreiten, als alles auseinanderstob. Er sah nur noch die Beine der Jungen und hörte aus der Ferne ihr höhnisches Lachen.

Die Jugend hatte mit ihrem Spiel seiner Autorität gespottet. Er kaute an seinen Bartenden herum, weil er im Augenblick nichts Glücklicheres anzufangen wußte. Diese Bartspitzen brachten ihm oft einen Ausweg aus seinen festgefahrenen Gedanken oder aus Situationen, die ihm ärgerlich waren. Jetzt war er verärgert, daß die Jungen seine Uniform noch verhöhnten, vor allem darüber, daß sie schneller waren als er und er ihnen nicht folgen konnte, um einen der Sünder zu erwischen.

 

Lee begriff nicht, was mit ihr geschehen war. Sie sah sich um; der Ort, an dem sie sich befand, war ihr fremd. Eine seltene Helligkeit umgab sie, eine Fülle von Licht überfloß ihr Bett. Die Decke des Raumes, in dem sie lag, kam ihr, wenn sie nach oben blickte, so unendlich fern vor. Sie spielte mit ihren Händen und versuchte zu denken, es fiel ihr schwer. Bei diesem Spiel wurde sie durch den Eintritt einer Krankenschwester unterbrochen, die auf ihr Bett zuschritt. Der Schwester folgte ein Mann, hager, mit einem blassen Gesicht und mit sorgfältig gescheitelten schwarzen Haaren. Die ganze Gestalt hatte etwas Verkniffenes.

»Sie sind Frau Hinrichsen?« Er beugte seinen Oberkörper ein wenig nach vorn, daß es aussah, als wenn er seine Person vorstellen wollte, aber diese Bewegung konnte auch eine Täuschung sein.

»Ich bin der Untersuchungsrichter Doktor Weiß, ich hätte in Ihrem eigenen Interesse ein paar Fragen an Sie zu richten...«

Die Schwester der Klinik brachte einen Stuhl, den rückte sie an Lees Bett, er setzte sich nieder und sah die Kranke an.

Lee blickte teilnahmslos in das Gesicht dieses Herrn Doktor Weiß. An diesem Gesicht störte sie etwas. Sie machte mit ihrer Hand eine Bewegung, als wollte sie es fortwischen, aber es ging nicht, das blieb bestehen, im Gegenteil, ihr war, als wenn sich aus diesem Gesicht der Körper einer Spinne formte und diese Spinne sie umgarnen wollte. Sie fuhr sich mit einem Tuch über ihre Stirn und wischte die Feuchtigkeit, die die Schwäche trieb, hinweg. Dann blickte sie starr über das Fußende ihres Bettes.

»Der Arzt ersucht darum, daß Sie nicht zu ausgedehnte Fragen stellen, Herr Untersuchungsrichter, das könnte der Patientin schaden.«

In einem ruhigen Ton richtete die Krankenschwester diese Aufforderung an den Richter, dann setzte sie sich nicht weit entfernt an das Fußende des Bettes und sah der Kranken in die Augen. Die Anwesenheit der Schwester wirkte beruhigend auf Lee. Sie legte ihre Hände auf die Bettdecke und sah Dr. Weiß fragend an.

»Bitte, lassen Sie sich nicht in Ihren Verrichtungen stören, Sie können ruhig hinausgehen; wenn ich meine Fragestellung beendet habe, werde ich Sie rufen, Schwester.«

»Das verstößt gegen die ärztliche Anordnung, und im übrigen gibt es bei uns etwas Ähnliches wie ein Berufsgeheimnis, Herr Untersuchungsrichter!« Als die Pflegerin diese Antwort gab, wußte sie, daß sie den Richter gegen sich hatte.

»Herr Doktor Weiß!« Er erhob sich halb und drehte sich zur Krankenschwester um; das sollte die Vorstellung sein und gleichzeitig die Betonung seines abgestempelten Bildungsgrades.

»Danke! Schwester Hildegard!« Sie stand gleichfalls halb auf und machte eine förmliche Verbeugung zu ihm hin.

Jetzt mußte der Richter mit seinen Fragen in ihrer Gegenwart beginnen, denn sie hatte ihn dazu gezwungen.

»Sagen Sie mal, Frau Hinrichsen, ich nehme an, die Personalien hier stimmen ...«, damit unterbrach er den angefangenen Satz, nahm seine Akten zur Hand und stellte die Personalien Lees noch einmal fest.

»Es ist wohl richtig, daß Sie ein Verhältnis mit Ihrem Bestmann Jan hatten, das Folgen zeitigte. Das ist durchaus zu verstehen ...«

Lee sah ihn an, ihre Augen wurden groß, sie antwortete nicht, sah zur Schwester, aber die lächelte nur.

Dr. Weiß trug der Kranken ähnliche Fragen vor, wie sie der Gendarm Gesine gestellt hatte. Nur sein Auftreten war geschmeidiger und unangenehm höflich. Doch auch er schien nicht auf Antworten zu rechnen. Ihm genügte das Schweigen, das ihm gleichbedeutend mit Eingeständnis und Schuldbeweis war.

»Sehen Sie, der Fall ist nun einmal öffentlich geworden, ich muß mich, Gott sei es geklagt, damit beschäftigen. Es ist mir durchaus verständlich, daß Sie diesen Schritt getan haben, nachdem Sie alles verloren hatten. Sie waren sicherlich in einer deprimierten Stimmung, daß Sie nicht wußten, was Sie taten. Solche Fälle kommen häufig vor, ich möchte von Ihnen nur die Bestätigung kleiner Einzelheiten haben ..., an sich ist die Sache nicht schlimm.«

Lee lehnte sich in ihre Kissen zurück, das Herz pumpte mit schnellem Schlag das Blut in ihr Gesicht, es überflutete einen Augenblick die Blässe der Haut, dann floß es wieder zurück, das Gesicht wurde weiß, und plötzlich schrie es aus ihr heraus: »Harrald Johannsen ist ein Lump!«

Dr. Weiß neigte sich nach vorn, er war so stark in der Erwartung einer Enthüllung, daß er in der gekrümmten Stellung verharrte. Da trat die Krankenschwester auf ihn zu und erklärte: »Herr Untersuchungsrichter, weitere Fragen kann ich im Interesse der Gesundheit der Patientin nicht mehr gestatten, denn Sie sehen selbst, daß Frau Hinrichsen noch so erschüttert von allem ist, daß sie nicht klar denken kann.«

Das war Dr. Weiß zuviel. Er sprang auf, denn er fühlte, daß hier das Recht, das er vertrat, unterbunden werden sollte, und er war als unverletzlicher Beamter des Staates berechtigt, Fragen zu stellen, die er für gut befand.

»Ich bin Richter«, herrschte er die Schwester an.

»Sie übertreten Ihre Befugnisse«, gab die Schwester zurück, sie trat an das Bett der Kranken, beugte sich zu ihr und sprach mit sicherer Stimme, die beruhigend auf Lee wirkte und verständlich genug für den Richter war.

»Frau Hinrichsen, bleiben Sie ruhig. Kein Mensch kann Sie jetzt schon zwingen, eine Aussage zu machen. Das brauchen Sie erst im Gerichtssaal – vor dem ordentlichen Richter. Ich verstehe ein wenig von solchen Dingen. Wir werden noch einmal darüber sprechen. Aber jetzt bleiben Sie hübsch ruhig liegen, nicht wahr?«

Lee sah der Schwester dankbar in die Augen. Sie fühlte, daß hier ein Mensch sprach, der mit ihr war. Sie drehte sich mit dem Gesicht zur Wand, um den Richter nicht mehr sehen zu müssen.

»Und außerdem«, fuhr die Schwester, sich gegen Dr. Weiß wendend, fort, »was ist das für eine Untersuchungsmethode? Sie stellen einfach Suggestivfragen und gehen dabei von der Voraussetzung aus, daß bereits feststeht: Die Frau ist schuldig, sie soll sich ganz ahnungslos noch mehr belasten ...; vorgeschrieben ist, dem Angeklagten die nachgesagte Tat zu beweisen.«

Der Richter maß die Schwester mit einem Blick, der eine Beleidigung sein sollte, dann trat er auf sie zu.

»Merkwürdig, wie Sie das Gesetz kennen«, zischte er durch die Zähne.

»Das ist gar nicht so merkwürdig, wie Sie meinen. Ehe ich hierherkam, habe ich zwei Semester Jura studiert, und das erklärt vieles. Ich finde, daß ich zu meinem jetzigen Beruf besser tauge. Hier kann ich Menschen in ihrer Hilflosigkeit beistehen. Hier kämpft man gegen Krankheiten – das ist etwas anderes, als gegen Paragraphen und gegen Richter kämpfen, deren Beruf es ist, Menschen auf Jahre unglücklich zu machen. Was sehen Sie mich so an? Wundern Sie sich, daß ich glücklicherweise noch rechtzeitig genug gemerkt habe, was es mit der Rechtsprechung auf sich hat? Dazu bedurfte es nicht viel, um zu spüren, für wen die Gesetze geschaffen sind – aber darüber kann ich jetzt nicht mit Ihnen sprechen. Kurz und gut: Ich habe einfach Abstand genommen, noch weiter die Rechte – entschuldigen Sie! – zu studieren.«

Mit einer starken Betonung sagte sie das letztere, dann ging sie zur Tür, öffnete sie und verbeugte sich mit einem Lächeln. »Guten Tag, Herr Untersuchungsrichter.«

Lee begriff den tieferen Sinn der Unterhaltung zwischen der Schwester und dem Richter nicht, sie fühlte nur instinktiv, daß die Schwester ein tapferer Mensch war, der ihr wohlwollte, darum drehte sie sich um, gab der Schwester die Hand, und es war das erstemal, daß sie weinte. Die Schwester setzte sich zu ihr ans Bett, und nun war Lee dieser Raum wie ein Garten. »Nicht wahr, Schwester, Sie verstehen mich?«

»Sie haben vorhin einen Namen geschrien, den Sie auch in der Narkose in diesem Zusammenhang genannt haben.«

In Lee brach etwas auf, sie suchte Worte zu einem Anfang, denn sie wollte mit der Schwester über das, was sie bedrückte, sprechen. Bisher hatte sie niemanden gefunden, dem sie sich anvertrauen konnte. Nun fand sie Mut und erzählte der Frau an ihrem Bett ihr Leben der letzten Monate. Die sagte nichts, sondern erhob sich von ihrem Platz und kam nach einiger Zeit mit ein paar Blumen in der Hand zurück und sagte unvermittelt: »Hier war vor ein paar Tagen ein großer Herr, der nach Ihnen fragte. Als ich ihm sagte, daß er Sie nicht sehen könnte, meinte er, ich möchte Ihnen bestellen, er wäre der Zimmermann von der ›Niobe‹, und er käme wieder, wenn Sie gesund sind.«

Lee wurde froh, vergaß die schwere Zeit, die hinter ihr lag, und ihr Gesicht bekam wieder Farbe. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und richtete viele Fragen an die Schwester.

Sie erzählte von den Leuten auf der »Niobe«, lachte auch manchmal leise auf. Schwester Hildegard warf ab und zu ein paar Worte ein. Das Geplauder nahm dann wieder eine ernste Wendung. Die Schwester kam noch einmal auf den häßlichen Besucher zurück. Sie erklärte Lee, wie sie sich verhalten sollte. Erzählte ihr, daß sie keine Protokolle zu unterschreiben brauche und daß das Gericht, nicht sie selbst, die Beweise für ihre Tat erbringen müsse.

Nach diesem ernsten Gespräch verfiel Lee wieder in tiefes Nachdenken und wurde ganz still.

Was konnten die Menschen von ihr wollen, weshalb verfolgte man sie so stark? Diese Fragen tauchten vor ihr auf, und mit ihnen kamen die Gedanken an das, was werden würde. Die Schwester merkte es und wollte sie ablenken, aber es gelang ihr nicht. Lee verfiel in eine Art Schwermut. –

 

Der Untersuchungsrichter hatte einen Haftbefehl erlassen. Darin stand: »Da Verdunkelungsgefahr besteht, ist die angeschuldigte Fischersfrau Lee Hinrichsen als Untersuchungsgefangene, sobald es ihr Zustand erlaubt, in das Untersuchungsgefängnis zu überführen.«

Als dem behandelnden Arzt die Zustellung des Untersuchungsrichters übergeben wurde, schüttelte er den Kopf, dann ging er zu Lee. Er trat an das Bett und steuerte gerade auf sein Ziel los.

»Sehr geschickt haben Sie die Sache nicht angefangen – und dann die Verhältnisse in Ihrem Dorf, dafür müssen Sie jetzt die Ohren steifhalten. Aber das ist nicht so schlimm. Hier ist ein Haftbefehl gegen Sie ausgesprochen worden ...«, damit legte er ihr die Zustellung auf das Bett, gab ihr die Hand: »Na, lassen Sie man, kleine Frau, gesund haben wir Sie wieder, und der Schmerz geht bald vorüber, man will Ihnen nur Gelegenheit zum Beten geben, denn in Ihrem Leben werden Sie verdammt wenig Zeit dazu gehabt haben.«

Der Arzt lachte bitter auf. Ihm schien das Beten und die Religion wenig zu bedeuten. Er glaubte sicherlich weit mehr an seine Messer und Medikamente.

»Schwester Hildegard«, rief er laut, »kommen Sie, unterhalten Sie sich mal mit unserem blonden Strich dort im Bett!« Damit ging er hinaus, und die Schwester sprach mit Lee, die immer nur auf die Zustellungsurkunde mit dem blauen, kreisrunden, gezackten Siegel blickte, das das Wappen des Staates trug.

Die Schwester nahm ihr das Schriftstück aus der Hand.

»Vorläufig bleiben Sie noch bei uns, wir schreiben Sie einfach nicht transportfähig – und außerdem ist es noch nicht raus, ob man Sie überhaupt verurteilen kann.«

Lee sah bereits die gräßlichen Gitter vor sich. Ihre Vorstellung vom Gefängnis war wie die aller Menschen, die nie Gesetze verletzt haben, sondern immer in ehrfurchtsvoller Scheu auf den Pfaden der vom Staate vorgeschriebenen Tugend gewandert sind, sehr schlimm. Es war ihr, als wenn sie kurz vor dem Schafott stände. Eine lähmende Angst befiel sie. Es wurde der Schwester schwer, ihr den Sinn der Staatsmaschine in ihrer ganzen Kompliziertheit klarzumachen. Es kostete viel Mühe, der verschüchterten Frau aus dem Dorfe die Begriffe Strafe und Gefängnis so zu erklären, daß diese sie nicht zu tief niederdrückten.

Schließlich gab ihr die Schwester noch einmal Verhaltungsmaßregeln für den Prozeß und klärte sie über das Wesen der Untersuchungshaft auf.

»Sehen Sie, die meisten Menschen sehen in dem Untersuchungsgefangenen bereits einen Verbrecher oder, wie sich die Justiz so wunderbar milde ausdrückt, Gesetzesübertreter. Dem ist nicht so. Während der Untersuchungshaft sind Sie ein sogenannter vollwertiger Bürger, der nur zu seinem oder dem Schutze des Staates in Gewahrsam genommen wurde – nicht mehr. Ihm müssen alle Freiheiten und Rechte gewährt werden, die nicht mit dem Sinn der Untersuchungshaft in Widerspruch stehen. Allerdings werden auch diese Rechte aus mancherlei Gründen beschnitten. Von den Bestimmungen bleibt wenig übrig.«

Die beiden Frauen unterhielten sich noch lange über dieses Thema.

Lee schloß die Augen und schlief beruhigt ein. Die Schwester schlüpfte hinaus. Der Arzt kam vorüber und fragte:

»Na, was macht der blonde Strich da drinnen, Schwester Hildegard?«

»Augenblicklich schläft sie!«

»Dummes Luder – noch dämlicher solch Dorf. Die Zungen müßten festgebunden werden. Aber nun helfen Sie mal – ja, ja, unser lieber Paragraph 218!«

Sein weißer Kittel blähte sich hinter ihm, der große Körper des Arztes verschwand am Ende des Korridors. Die Schwester sah ihm nach, auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, leise, niemand hörte es, sprach sie vor sich hin: »Wie ein grober Sack ist der Mensch, in seine große Hand, die so sicher ist, paßt viel besser ein Schmiedehammer als eine Sonde oder ein Seziermesser, er flucht wie ein Hafenarbeiter und ist zartfühlend wie eine Frau. Da sagt er dieser Frau mit der Gelassenheit eines Bankiers, daß sie verloren hat, und sein Gutachten wird zu ihren Gunsten sprechen.«

Später ging sie zurück in das Zimmer Lees. Die schlief noch, atmete schwer, aber regelmäßig. Beide Fensterflügel riß Schwester Hildegard auf. »Die Herbstsonne muß herein, sie soll dich bescheinen, blonde Frau, eine Zeitlang wird kaum die Sonne in deine Wohnung hinein können, denn die Fenster werden hoch liegen und matt sein.« Damit ging sie zur Tür, wendete sich und meinte: »Dein Traum mit Harrald Johannson ist aus, auch andere haben so mit ihm geträumt!« Dann ging sie hinaus.

 

Lee stand im Zimmer des Untersuchungsrichters. Er war freundlich, gab ihr die Hand, erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen, lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu ihm zu setzen, schob ihr sogar einen Stuhl hin und entschuldigte sich, daß er sie hätte in Haft nehmen müssen. »Aber«, so meinte er, »Ihr Dorf hat eine besondere Struktur, die Mentalität der Einwohner ist eigenartig ...« Lee antwortete nicht, sie verstand auch nicht seine Redewendung, sie dachte nur immer an die Mitteilungen der Krankenschwester, daß sie nicht gezwungen wäre, Aussagen zu machen.

»Es hätte sich später niemand mehr zurechtgefunden, denn scheinbar sind die Dorfzungen ein wenig lose – und dann hätten Sie wohl kaum ruhig leben können. Es ist vielleicht ein wenig unbequem in der Zelle, in der Sie sich jetzt befinden, aber wenn Sie einen Wunsch haben, dann können sie ihn mir mitteilen, soweit meine Macht ausreicht, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen ...«

Lee sah den Untersuchungsrichter an. Es schien ihr, als wenn er gar nicht so schlimm sei, wie sie es damals bei dem Besuch in der Klinik empfunden hatte. Er sprach sehr anständig mit ihr, wollte ihre Wünsche erfüllen. Sie wollte über diese Veränderung in seinem Wesen nachdenken, kam aber nicht dazu, denn Dr. Weiß fuhr wieder fort:

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Sie ein Verhältnis mit Ihrem Bestmann gehabt haben sollten, daß diese Folgen gezeitigt hätte!« Dabei lächelte er sie an, dann stand er auf, trat an das Fenster, drehte sich um und lächelte wieder – wie ein Mensch lächelt, der den anderen gewinnen will. Sie bog sich unter dieser Zumutung und dieser Lüge, sie sah den Richter mit sonderbaren Augen an.

»Bitte, Frau Hinrichsen, ich glaube nicht an diesen Dorfklatsch, ich bin vielmehr der Auffassung, daß ein anderes Erlebnis Sie zu diesem Schritt getrieben hat. Sie nannten mir schon einmal den Namen – Harrald Johannsen.«

Jetzt wußte Lee nicht, log dieser Richter oder hatte sie schon einmal mit ihm darüber gesprochen; ein Zweifel kroch in ihr hoch, sie dachte an die Schwester, nur sie konnte es verraten haben, denn nur mit ihr hatte sie sich darüber unterhalten.

»Vielleicht hat Ihnen das ein anderer erzählt, ich kann mich nicht darauf besinnen, Ihnen etwas davon gesagt zu haben.«

Wieder fühlte sie diese eigentümlichen Schauer am Körper. Es wurde ihr, trotz der Wärme im Zimmer, kalt, der Richter erschien ihr wieder wie eine Spinne.

Der Richter lächelte. »Vielleicht hat es mir auch jemand anders erzählt, aber es ist der Fall – nicht wahr, Frau Hinrichsen?«

»Mein Gott!« Mehr sagte die Frau nicht, sie wurde blaß und zitterte.

»Lassen Sie – wenn Sie wollen, brechen wir das Verhör ab, und ich sende Ihnen den Seelsorger der Anstalt, unterhalten Sie sich mit dem, bevor Sie wieder zu mir kommen.«

Er drückte auf einen Knopf, ein Justizwachtmeister öffnete von außen das Schloß der Tür und nahm Lee mit hinaus. Der Untersuchungsrichter gab ihr vor dem Verlassen des Raumes die Hand, als wenn sie seinesgleichen wäre, dann setzte er sich wieder und machte nähere Eintragungen in seine Akten und lächelte befriedigt. Aus den Akten löste er einen Brief, den legte er zu näherem Studium beiseite.

Die langen Gänge der Anstalt mußte Lee entlang, hinter ihr ging der Beamte mit seinem Schlüsselbund, dem Abzeichen seines Berufes. Leise, katzenartig trat er beim Gehen auf, wie ein Raubtier, das seine Beute beschleicht, um im geeigneten Moment zuzuspringen. In Lee stieg ein Grauen auf, sie merkte den Verfolger, durfte sich aber nicht umsehen, immer sechs Schritt blieb er hinter ihr. Am Ende des Ganges nahm sie die Beschließerin der Frauenabteilung in Empfang. »Na, nun machen Sie keinen Unfug, Sie haben doch hoffentlich ausgesagt, denn je länger Sie damit warten, je länger dauert die Untersuchungshaft, und die wird beim Strafmaß meistens nur halb in Anrechnung gebracht.«

So sprach die Beschließerin auf Lee ein, und ihre Augen wurden dabei schwarz. In ihnen glomm es auf, die kaum sichtbare Pupille schloß und öffnete sich. Es war ein Spiel, wie es sich bei Menschen zeigt, die immer Böses wollen und nach außen hin den Eindruck erwecken, als möchten sie helfen. In Wirklichkeit spielten ihre Gedanken mit irgendeiner Gemeinheit. Lee gab keine Antwort, denn sie wußte nicht, was sie dieser Frau entgegnen sollte. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, sie mußte in ihre Zelle treten, kaum merklich rastete hinter ihr die Mechanik der Tür wieder ein. Sie wollte zurück, ging zu der geschlossenen Tür, ihre Hand wollte sie öffnen. Nichts war daran, weder Klinke noch Schloß, eine glatte, stählerne Wand war da, die bleckte sie wie ein tückisches Tier an. Mutlos ging sie zu ihrem Schemel an der Wand, den drehte sie so, daß sie mit dem Gesicht nach dem Fenster zu saß – schräg nach oben, durch die Scheiben, konnte sie ein Stückchen des Himmels sehen. Danach starrte sie, bis sie die Sehnen im Nacken und am Halse schmerzten, dann begann eine ruhelose Wanderung durch ihre Zelle, immer sechs Schritte in die Länge, vier Schritte quer.

Wie lange sie so lief, konnte sie nicht ermessen, denn ihr schlug keine Zeit. Sie dachte an einen banalen Spruch, den sie einmal auf ein Tuch gestickt hatte, das über ihrem Bett hängen sollte: »Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.«

Hier, in ihrem Aufenthalt schlug die Stunde nie, hier regelte sich die Zeit nach einer Zweiteilung – es war ewige Tag- und Nachtgleiche. Tag und Nacht wurden halbiert durch ein Glockensignal, das lärmend die Gänge durchhallte. Mit diesem Zeichen begann der Morgen, und ebenso schloß der Tag. Und so wie der Ablauf der immer gleichen Tage, so war auch der Inhalt immer wieder derselbe. Hartnäckig tauchten dieselben Bilder auf. Ihre Gedanken wanderten ins Dorf, tasteten sich durch die Ereignisse. Sie sah den Kutter zu seiner letzten Fahrt ausziehen, sah sich am Deich tagelang warten, bis sie sich damit abfinden mußte, daß »Lee H. F. 13« überfällig war, nicht mehr heimkehrte. Dann der Gang zu Harrald Johannsen, dem Verfluchten ...

In ihrem Nachdenken wurde sie gestört durch eine Drehung des Schlüssels im Schloß, die Tür sprang auf, und die Beschließerin brachte ihr einen Brief, der geöffnet war. Sie nahm ihn hin und dachte an die Worte der Schwester: »Nach dem Gesetz sind Sie nur in Verwahrsam genommen, Ihnen stehen alle Rechte eines freien Bürgers zu.«

Da hielt sie den geöffneten Brief, vom Untersuchungsrichter zensiert und der Wärterin gelesen, in der Hand und kannte nun die freien Rechte, die ihr als Untersuchungsgefangenen zustanden. Sie faltete das Schreiben auseinander, der Blick der Wärterin tastete an ihrem Gesicht entlang, und sie las:

»Liebe Lee Hinrichsen! Ich bin zurück von meinen Weltreisen und hatte meinen alten Freund Hinrichsen gesucht, fand aber nur seinen Grabstein. Da hörte ich das Gerede im Dorf und habe mich ein wenig um Ihre Sache gekümmert. In die Klinik durfte ich nicht hinein, um mit Ihnen zu sprechen, denn Sie waren schwer krank; und in dem Hotel, in dem Sie jetzt wohnen, läßt mich der Portier nicht durch. Da schreibe ich Ihnen nun.

Östlich von Borkum Riff hat ein Fischer eine Wassertonne und die Rückenlehne vom Beiboot aufgefischt, die zu ›Lee H. F. 13‹ gehörten. Das Boot ist also untergegangen. Weil ich Ihnen das nun schreibe, will ich auch gleich mitteilen, daß ich wieder wegfahre. Wie lange, weiß ich nicht, ich habe einen russischen Dampfer erhalten, aber vorher habe ich noch mit einem Rechtsanwalt gesprochen, der Sie besuchen wird. Um das Bezahlen brauchen Sie sich nicht zu grämen. Und nun brechen Sie sich das Genick.

Ich wünsche Ihnen alles Gute.
Ihr Jakob
Der Zimmermann von der ›Niobe‹

Die Bark ist schon lange nicht mehr, die liegt an der Westküste auf Grund.«

Sie lächelte über den Brief, dann wurde sie ernst. Für sie war jetzt die Gewißheit da, daß ihr Kutter in der Nordsee untergegangen war – und mit dem Kutter Klaas, Jan und die beiden anderen Helfer. In ihrem Innern ging eine Veränderung vor sich. Mit der Bestätigung des Unterganges kam die Ruhe über sie, die sie bis dahin gemieden hatte. Nun brauchte sie sich nur noch vor dem Gesetz zu verantworten und nicht mehr vor ihrem Sohn und dem Bestmann; sie hatte in der Furcht gelebt, daß diese beiden vor sie treten könnten, um ein moralisches Urteil über ihre persönlichen Handlungen zu fällen. So furchtbar auch die Gewißheit über die Katastrophe war, Lee fühlte sich doch von einem lastenden Druck befreit.

 

Mehrere Wochen vergingen. Lee harrte dumpf, allein mit ihren ruhelosen Gedanken, in der Zelle auf den Tag, der ihr Schicksal bestimmen würde. Tag für Tag dieselbe Spannung, und immer die gleiche Enttäuschung, die Marter schien kein Ende zu nehmen. Dann aber wurde doch eines Tages die Tür geöffnet, und die Beschließerin überbrachte ihr ein Schriftstück, eine Zustellung, deren Empfang sie durch Unterschrift bestätigen mußte. Dieses Schreiben war unverletzt, war nicht aufgebrochen, hatte nicht die Zensur passiert, und sie mußte es eigenhändig öffnen. Das Schreiben enthielt die Mitteilung ihres Vergehens, dessen sie angeklagt war, und den Termin der Verhandlung.

So wie bei der Nachricht des Zimmermanns ihr die Ruhe zurückkam, löste sich jetzt der letzte Druck, der sie umschlossen gehalten hatte. Nun kannte sie den Zeitpunkt, an dem sich der Schlußakt ihrer Tragödie abspielen würde.

Die Glocke, die durch die Gänge schrillte, verabschiedete mit diesem Ruf den Tag und leitete die Nacht über das Gefängnis ein. Jeder Ruf und jeder Schritt verklang, nur vom Hof erscholl das Gebell der von der Kette gelösten Wachhunde. Der Pfiff ihres Begleiters ließ sie für einen Augenblick verstummen, dann jaulten sie von Zeit zu Zeit wieder auf. Mit dem sinkenden Abend kreuzten sich Schreie aus den einzelnen vergitterten Fenstern der Zellen über die Höfe. Sie wurden erstickt durch den Ruf der Wächter, die mit Bestrafung drohten.

Lee löste ihre Bettstatt von der Wand und legte sich nieder, in dieser Nacht schlief sie seit Monaten das erstemal einen traumlosen Schlaf.

 

Niemand aus dem Dorf, außer Gesine, kam zu Lee. Auch die nur selten, denn sie schleppte eine unsichtbare Last mit sich. Noch stärker bog sich ihr Rücken, wenn sie am Haus des Gendarmen vorüber mußte. Jeden Tag glaubte sie die Einladung des Gerichts zu erhalten, daß sie kommen sollte, so wie es ihr der Gendarm zugerufen hatte, als er lachend aus ihrer Stube ging. Eines Tages erhielt sie vom Briefträger die Zustellung. Ihre Hand zitterte, als sie den Empfang bestätigen mußte. Der Briefträger fragte: »Nun mußt du hin, Gesine, wann ist der Termin?«

Sie konnte das Schreiben nicht öffnen, da tat es der Bote für sie und las ihr den Inhalt vor.

»Sie sind zu dem Termin über die Seefischersfrau Lee Hinrichsen, die des Verbrechens gegen den Paragraphen 218 angeklagt ist, als Zeugin geladen. Bei Nichterscheinen erfolgt Zwangsvorführung.« Tag und Ort waren vermerkt.

Gesine lief in der Stube herum, sie suchte einen Ort, wo sie sich verkriechen konnte. Der Briefträger lachte. »Das ist nicht so schlimm, Gesine Fuß, du sagst nur das, was du gesehen hast, dann ist es gut.« Er ging und ließ Gesine allein, die immer noch mit ihren Händen einen Halt suchte. Endlich drückte sie die Klinke nieder und wollte über den Deich fliehen, um die Menschen nicht mehr zu sehen.

Dort standen auf der Straße die Fischerswitwe, der Seefischer Golpers und um sie geschwätzige Frauen – und nach morastigem Wasser riechende Kinder.

»Halt, Gesine!« Golpers rief sie an. Gesine blieb stehen, denn es gab kein Loch, durch das sie entschlüpfen konnte, das Netz des Dorfes hatte sie umgarnt, und sie krümmte sich in diesem Netz wie ein gefangener Fisch, der den Eingang gefunden hat, aber dem der Ausweg versperrt ist. Sie atmete heftig, ihre Brust flog wie die Kiemen eines sterbenden Fisches, der wasserlos an der Luft liegt.

»Was?« Langsam schlich sie zur Gruppe der Menschen, die sie riefen. Langsam, schwerfällig schlurften ihre Pantoffeln über die Steine, ihr Blick hatte etwas Wesenloses.

Golpers lachte. »Nun steigt die Sache mit Lee Tews – hast du auch die Einladung?«

Gesine antwortete nicht, die Falten an ihrer Stirn zogen sich zusammen und bildeten dort kleine Höcker, ihre Augen suchten gehetzt in der Runde, das Herz schlug wie toll.

Gezwungen lachte Golpers auf, als er Gesine in der Not ihres Zustandes sah.

»Dich peitscht wohl der Ungerechte? Erst hast du alles veranlaßt, und nun spielst du die Gepeinigte. Wenn man sich eine Suppe einbrockt, dann muß man sie auch auslöffeln!« Er drehte sich um und ließ den Kreis der Gaffer stehen.

»Aus Weiberklatsch wird immer Mist, der die Pestilenz mit sich bringt!« rief er noch einmal zurück.

Die Fischerswitwe wurde über diesen Zuruf wütend und keifte hinter ihm her: »Du alter Bock stinkst eher wie die Pestilenz, schlaf lieber bei deiner Alten als bei den Huren drüben. Du bist wohl wütend, daß du keine Aktien auf ein Gör bei Lee Tews anbringen konntest?«

Golpers lachte noch einmal und brüllte zurück: »Na, an deinem Leib findet man ja schlecht den Geburtsort, da ist die Saat verdorrt, sonst würde ich zu dir kommen!« Die Witwe drehte sich um, bückte sich tief und lüftete ihre Röcke.

Schallend lachte das Dorf hinter den beiden her, und an den Öfen der Stuben in den Häusern lief ein neues Gespräch um, man fühlte sich gedrängt, neuen Zündstoff auf die Dorfstraßen zu schleudern.

 

Der Tag des Prozesses war da, die Beteiligten zogen vom Dorf in die Stadt zum Gericht. Die Zeugen waren im Gerichtsgebäude versammelt. Sie saßen gemeinsam unter dem Kreuzbogen eines Ganges, der das Wartezimmer vorstellen sollte, auf einer Bank. Ihr Gespräch unterlag dem Zwang der Stunde.

Nur Gesine saß nicht, sie lief unablässig die Gänge entlang und betrachtete sich die Anwälte in ihren Talaren und die Richter mit der gleichen Bekleidung und dem Barett, diesem Auszeichnungsstück der Unfehlbarkeit ihrer Person. Bei dieser Betrachtung duckte sich ihr Körper wie unter einer unsichtbaren Last, die sie überkam, noch tiefer, und sie suchte mit den Augen den Ausgang, um dieser Minute entfliehen zu können; doch hinter ihr stand die Drohung der Zwangsvorführung, die sie an diesen Ort bannte.

Der Seefischer Golpers unterhielt sich mit dem Gendarmen und der Fischerswitwe. Der Gendarm hätte das Amtszimmer als Warteraum benutzen können, aber er zog es vor, unter den anderen Zeugen zu warten.

»Das Haus der Lee Tews wird vorläufig nicht verkauft?« fragte der Seefischer den Gendarm; er hätte es gern besessen, denn die Lage war besser als die seines Hauses, und überdies wäre es bei solcher Gelegenheit zu einem Preise zu erstehen gewesen, den er aus seinem alten Haus mit noch einem Gewinn wieder herausgeschlagen hätte.

»Nein«, antwortete der Gendarm, »es ist vorläufig versiegelt, erst nach der Klärung des Prozesses wird darüber eine Entscheidung gefällt werden.«

»Wollen Sie es kaufen?« Er sah den Seefischer von der Seite an, versuchte noch mehr zu fragen, aber in diesem Augenblick rief ein Gerichtsdiener in den Gang hinein, daß es von den Wänden widerhallte.

»Die Sache der Seefischersfrau Lee Hinrichsen steht zur Verhandlung, die Prozeßbeteiligten eintreten, Saal zwölf!«

Gesine schlich hinter allen zuletzt in den Saal. Sie sah sich um. Alle hatten sie auf den Stühlen Platz genommen. Der Richtertisch war noch leer, nur der Protokollführer saß da. Sie gewahrte Lee hinter einer Schranke, die vom allgemeinen Teil des Saales abgetrennt war. Neben ihr saß ein Justizbeamter, vor ihr der Rechtsanwalt. Gesine ging zur Schranke und wollte Lee begrüßen, da wehrte sie der Justizbeamte mit den Worten zurück: »Wenn Sie mit der Angeklagten sprechen wollen, dann brauchen Sie dazu eine Erlaubnis vom Gericht, die müssen Sie sich in der Verhandlungspause holen, dazu eine Extraerlaubnis für einen persönlichen Handschlag, sonst dürfen Sie nur von weitem guten Tag sagen!«

Gesine schlich zu einem Stuhl in der hintersten Reihe des Saales. In diesem Augenblick öffnete sich an der Stirnwand des Raumes eine Tür, und das Gericht trat ein. Drei Richter waren es; aus einer anderen Tür war kurz vorher, fast unbemerkt, der Vertreter der Anklage, ein Aktenbündel in der Hand, eingetreten. Alle Anwesenden im Saal erhoben sich; der Gendarm sah sich um, ob auch alle standen. Gesine saß wie festgenagelt auf ihrem Platz. Der Gendarm ging hin, riß sie aus ihrer Stumpfheit und stellte sie auf ihre bebenden Füße.

Das Gericht setzte sich. Der Vorsitzende griff nach den Akten und las mit dumpfer Stimme, ohne aufzusehen, die Personalien und die Straftat vor.

Dann richtete er seinen Oberkörper gerade und rückte das Glas vor seinen Augen zurecht, beugte sich nach rechts und links zu seinen Richterkollegen hin.

»Ehe wir in die Beweisaufnahme eintreten, möchte ich die Zeugen bitten, draußen bis zum Aufruf Platz zu nehmen ...«

»Sie können im Verhandlungszimmer bleiben.« Er nickte dem Landjäger zu. Die Zeugen gingen mit einem Blick auf Lee hinaus, der Seefischer Golpers sah sich noch einmal nach der Angeklagten um und lachte.

»Wir treten nunmehr in die Beweisaufnahme ein.«

»Also, Angeklagte«, mit diesen Worten drehte sich der Richter Lee zu.

»Sie haben die Anklage verstanden, wollen Sie sich dazu äußern, oder – warten Sie! – ich werde Fragen stellen, die Sie beantworten können, dann kommen wir leichter zum Ziel!«

Lee sagte nichts, der vom Zimmermann gestellte Rechtsanwalt drehte sich zu ihr und sprach leise auf sie ein.

»... Es handelt sich nach dem Strafgesetzbuch um den § 218, Verbrechen gegen das keimende Leben. Sie müssen uns die Wahrheit sagen. Sie geben doch zu, einen unerlaubten Eingriff gegen das keimende Leben unternommen zu haben? Wollen Sie sich dazu nicht äußern?« Lee saß auf ihrem Platz und blieb still, denn ihr hatte die Angst die Sprache verschlagen, sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Ja, hören Sie, Angeklagte, ich muß Ihr Schweigen als die Bestätigung meiner Worte hinnehmen ... Wollen Sie uns nicht erzählen, wie die ganze Sache ihren Anfang genommen hat?«

»Ich kann mich an nichts recht erinnern, ich muß ohne Besinnung gehandelt haben.« Fast unhörbar kamen diese Worte von den Lippen Lees.

»Wer ist denn nun derjenige, mit dem Sie ein Verhältnis hatten, war es der Bestmann Jan?«

»Nein.«

»Aus den Protokollen der Aussagen der Zeugen, die im Laufe der Untersuchung vernommen wurden, geht das aber hervor!«

Für Lee war es eine Pein, hier vor diesen Leuten zu sitzen und alles sagen zu sollen, es war ihr beinahe unmöglich, nur ein Wort zu sprechen.

»Wie erklären Sie sich das Testament Ihres ehemaligen Bestmannes Jan, worin er Ihnen die Hälfte seines Spargeldes vermacht hat?«

»Davon weiß ich nichts, mir ist das unbekannt!«

Der Staatsanwalt verlangte dazu die Gegenüberstellung der Zeugin Gesine Fuß, die der Angeklagten laut den Aussagen anderer Zeugen dieses Geld überbracht hatte.

»Wie lange kannten Sie den ehemaligen Bestmann Jan?«

»Seit meiner Verlobung mit meinem Mann Hinrichsen. Das sind fast zwanzig Jahre.«

»Sie haben den Eingriff nach einer primitiven Methode mit einer Nadel vorgenommen – hat Ihnen dabei jemand Hilfe geleistet?«

»Ich kann mich an nichts erinnern, ich muß durch den Verlust meines Jungen, überhaupt der vier Menschen und meines Fahrzeuges ganz von Sinnen gewesen sein.«

»So, man kann das verstehen, wenn Sie dieser Verlust niedergedrückt hat, aber das gibt Ihnen nicht das Recht, gegen das Gesetz zu verstoßen. Haben Sie den Eingriff unternommen, weil Sie nun fürchteten, keinen Ernährer für das Kind zu haben?«

»Nein.«

»Justizwachtmeister, rufen Sie die Zeugin Gesine Fuß herein!«

Für Gesine waren diese Minuten unerträglich, sie fror, ihre Zähne schlugen aufeinander, sie knickte beim Gang in den Saal öfter in die Knie. Sie schleppte sich förmlich bis an den Richtertisch.

»Gesine Fuß! Wir werden Sie sofort vereidigen.«

Das Gericht erhob sich, alle, die im Saal saßen, mit, die Richter setzten ihre Barette auf, der Vorsitzende hob die Hand: »Schwören Sie!«

»Ich schwöre!«

»... bei Gott dem Allmächtigen!«

Gesine schüttelte eine innerliche Furcht, sie hatte alle Gedanken verloren und sprach nicht nach, was der Richter ihr vorsagte, sie hörte nur, daß es sich um Gott handelte, dadurch wurde sie ganz verschüchtert.

»Sie sollen schwören«, rief der Richter, »verstehen Sie mich denn nicht!« Und nun ging die göttliche Komödie ohne Anstoß vor sich. Gesine hatte begriffen, daß sie nachsprechen sollte, was der Richter vorsagte, so wie einst in der Schule dem Lehrer. Sie fühlte, daß von dem Manne dort oben, der vor ihr stand, eine noch größere Macht ausging als vom Pastor des Dorfes bei der Predigt von der Kanzel der Kirche herab. Mechanisch hob sie die Hand und stolperte den Weg der Eidesformel entlang.

»... nach bestem Wissen und Gewissen«, klang es ihr noch im Ohr. Ja, so muß ich aussagen ...

... nach bestem Wissen und Gewissen, diese Formel hatte ihre Gedanken unterjocht, um sie tanzte der Gerichtssaal, alles drehte sich im Kreise. Vor ihren Augen blitzte es, Lichtfünkchen hüpften, wuchsen zu großen Kreisen an, die bunt vor ihren Augen zerplatzten, und wie ein rotes Feuermeer brannten Sterne im Raum. Ihre Hand wollte danach greifen, da rissen sie die nächsten Worte des Vorsitzenden aus diesem Taumel der Gedanken und der Schwäche heraus.

»Wie war das Testament des verschollenen Bestmannes Jan? Das Geld hatte er Frau Hinrichsen vermacht – ja?«

»Man nur die Hälfte!«

»Das haben Sie der Angeklagten übergeben?«

»Das wollte ich, aber sie lag doch da und hat nichts mehr gewußt, die anderen waren doch dabei.«

»Wer war dabei?«

»Der Golpers, die Witwe Fiedel und so die ganze Kammer voll.«

»Setzen Sie sich, wir werden den Seefischer Golpers vernehmen müssen ... Justizwachtmeister!«

Der Seefischer Golpers kam herein und trat an den Richtertisch, ihm war die Zeremonie der Vereidigung nicht fremd. Leicht erledigte er mit dem Gericht diese Angelegenheit. Er kannte das von anderen Verhandlungen geschäftlicher Art.

»Erzählen Sie uns, was Sie von der Sache wissen.«

Golpers sah zu Lee hin, suchte mit seinen Augen den Staatsanwalt, holte tief Luft, so daß die Brust sich hob, und er erzählte wie ein Mensch, der sich der Wichtigkeit seiner Persönlichkeit bewußt ist.

»Schon vor geraumer Zeit hatte ich einen Zusammenstoß mit dem Bestmann Jan, das war vor seiner letzten Ausreise mit dem Kutter. Da war ich aus seinen Worten zu der Überzeugung gekommen, daß er ein Verhältnis mit Lee Tews hatte.«

»Wer ist Lee Tews?« fragte der Richter.

»Die Frau vom Fischer Hinrichsen, wir nennen sie im Dorf bei ihrem Mädchennamen.«

»Wie sind Sie zu der Überzeugung gekommen?«

»Ich ging mit der Lee über den Deich, da sah sie mir am Körper verändert aus, und da habe ich sie ausgefragt, und sie ist rot geworden und hat nicht nein gesagt ..., und der Bestmann hat sich immer mächtig für sie ins Zeug gelegt ...«

»Du lügst ja!« rief Lee hinter der Anklagebank, von der sie sich bei den Worten Golpers erhoben hatte.

»Angeklagte, wenn Sie die Verhandlung stören, wird ohne Sie weiterverhandelt.«

»Man muß meiner Klientin die Möglichkeit geben, sich gegen offensichtliche Unwahrheiten zu wehren.«

»Darüber entscheidet das Gericht, Herr Rechtsanwalt, hier wird das Recht gewahrt, und das Gericht bemüht sich, die Wahrheit zu finden. Auch der Angeklagten wird ihr Recht werden.«

Der Richter hatte sich von seinem Platz erhoben, lehnte sich über den Tisch zu Golpers und fragte: »Sie haben das Testament gekannt und auch die Nadel im Bett gefunden, mit der der Abortus herbeigeführt wurde?«

»Ja. Gesine Fuß hat uns ja das Testament gezeigt, und wir waren in der Kammer, und ich habe Gesine Fuß zur Wehmutter geschickt, die dann auch gekommen ist. Was die gemacht hat, weiß ich nicht, aber nachher ist sie ja in die Klinik gekommen. Für meine Hilfe hat mich Lee Tews noch beschimpft und bespuckt, die Wehmutter weiß das!«

»Du lügst ja, Golpers!« schrie Lee wieder hinter ihrer Schranke hervor.

»Gesine Fuß, kommen Sie mal nach vorn. Ist das wahr, was der Zeuge sagt?«

»Das Testament hab ich gezeigt, aber Geld hat die Lee Tews noch nicht bekommen, und nach der Wehmutter hat mich der Golpers« gejagt, aber von der Nadel weiß ich nichts!«

»Die Angaben des Zeugen sind nach dem Gutachten des Arztes stichhaltig«, sagte der Staatsanwalt kurz.

»Ich möchte das Gericht darauf aufmerksam machen, daß in dem Gutachten des Arztes, dessen Abschrift mir vorliegt, nichts von einer gewaltsamen Abtreibung gesagt wird. Das Gericht soll beschließen, den Arzt persönlich zu einer Vernehmung zu laden.«

»Das ist nicht notwendig. Das Gericht unterstellt die Auffassung des Herrn Rechtsanwalts über das Gutachten als wahr, es braucht eine Ladung des Arztes nicht zu erfolgen.«

»Meine Mandantin wünscht zu einer Erklärung das Wort!«

»Was wünschen Sie?«

Lee erhob sich, ihre Augen waren groß geworden, die Hände hatte sie nach vorn gestreckt und die Finger weit auseinandergespreizt, langsam begann sie zu sprechen und sah immer nur Golpers an.

»Wenn hier gelogen wird, dann muß ich reden.«

»Sie dürfen einen Zeugen nicht beschimpfen, sonst sieht sich das Gericht veranlaßt, dagegen einzuschreiten.«

»Eine Lüge bleibt eine Lüge«, fuhr Lee unbeirrt fort, »und darum will ich hier die Wahrheit sagen. Was Golpers sagt, ist unwahr, er hat mich nur so gefragt, als wenn Jan mein Liebster sein sollte, denn er hat mit dem Bestmann in Streit gelegen, weil der nicht mit ihm auf seinem Kutter fahren wollte. Golpers hat doch versucht, mir die Arbeitskraft des Bestmannes zu nehmen, damit er mich als Konkurrenz loswürde. Das, was er hier aussagt, ist nur der Haß, er wollte auch mit mir Streit anfangen, aber ich habe mich nicht mit ihm eingelassen. Das Kind, was ich verloren oder wie sie hier sagen ›abgetrieben‹ habe, ist ...«, sie machte eine Pause, sah sich im Saal um. Die Zeugen, die Zuhörer, das Gericht und der Staatsanwalt sahen auf Lee. Eine Stille, wie vor dem Ausbruch eines Naturereignisses, lagerte im Raum. Das pfeifende Atmen der erwartungsvollen Menschen war hörbar. Lee fuhr fort: »Das Kind ist von Harrald Johannsen, er hat die Schuld an allem, ihm habe ich mich anvertraut, und er hat mich verraten ..., das ist die Wahrheit ..., mit keinem im Dorf habe ich ein Verhältnis gehabt ..., das ist eine Lüge!«

Sie setzte sich und sah niemanden mehr an, sondern trieb ein nervöses Spiel mit ihren Händen.

Der Staatsanwalt erhob sich, er hatte seinen Akten einen Brief entnommen, den hielt er in der Hand, schwenkte ihn zum Richtertisch und sprach schneidend: »Diese Ausführungen der Angeklagten habe ich erwartet. Hier ist ein Schreiben vom Rechtsanwalt des Herrn Johannsen, das eine Aufklärung der Sachlage bringt. Die Staatsanwaltschaft hat sich an Herrn Johannsen gewandt, weil die Angeklagte ähnliche Ausführungen, laut Protokoll, auch vor dem Untersuchungsrichter gemacht hat. Herr Johannsen ist leider durch eine längere Geschäftsreise nach dem Ausland verhindert, hier als Zeuge zu erscheinen.«

Mit ausgestrecktem Arm und einer halben Verbeugung reichte er das Schriftstück hinüber. Der Richter nahm es, sah kurz hinein und begann die Verlesung. Gleichzeitig mit dem Richter hatte sich Lee erhoben und beugte sich über die Schranke. Ihre Augen starrten auf den Brief, der in der Hand des Richters war; der las mit monotoner Stimme. So angestrengt wie Lee, hörten alle auf die Worte des Briefes.

»Mein Mandant erklärt an Eides Statt, daß er kein Verhältnis mit der Seefischerswitwe Lee Hinrichsen unterhalten hat, wie ihm nachgesagt wird. Er kennt Frau Hinrichsen schon aus ihrer Jugend her, als sie bei ihm in Stellung war. Eines Tages erschien sie mit ihrem Mann, dem Seefischer Hinrichsen, um ein größeres Darlehen zum Umbau für ihren Kutter zu erhalten. Mein Mandant gab unbedenklich eine Summe von 30 000 Mark, und die Abmachungen wurden, bis in der letzten Zeit sich Frau Hinrichsen ein Versäumnis zuschulden kommen ließ, immer gehalten. Durch dieses Versäumnis ist mein Mandant geschädigt worden. Frau Hinrichsen hat trotz Vertrag die fälligen Prämien nicht an die Versicherungsgesellschaft gezahlt. Herr Johannsen leistet aber hierdurch ausdrücklich darauf Verzicht. Durch die geschäftlichen Abmachungen waren die notwendig sich ergebenden Verhandlungen, insbesondere nach dem Unglück des Fischers Hinrichsen, mit Frau Lee Hinrichsen geführt worden. Andere als diese geschäftlichen Beziehungen bestanden nicht. Es scheint, als wenn durch das doppelte schwere Unglück, das Frau Hinrichsen betroffen hat und durch den körperlichen Zustand eine Sinnesverwirrung bei der Frau eingetreten ist, und er bittet, das letztere zu bedenken und ersucht, daß das Gericht dem Seelenzustand der Frau Rechnung trage. Die Unterstellung der Frau Hinrichsen bedeutet eigentlich eine Verleumdung seiner Persönlichkeit, aber er legt keinen Wert auf die Verfolgung, trotzdem ihm die Nachrede im öffentlichen Leben schadet.«

Der Richter sah Lee an und wollte eine Frage an sie stellen, aber die schrie mit einer Stimme, die in diesem Augenblick schneidender als die des Staatsanwaltes klang: »Zur Lüge kommt die Gemeinheit – und die Feigheit!«

»Jetzt entziehe ich Ihnen das Wort, Angeklagte. Sie haben kein Recht, einen abwesenden Zeugen, der an Eides Statt eine glaubhafte Erklärung schickt, in dieser Form zu beleidigen ... Die Beweisaufnahme ist geschlossen. Das Gericht tritt in eine kurze Pause ein, nach der der Vertreter der Anklage, der Herr Staatsanwalt, das Wort hat.«

Die drei Richter verließen den Saal, die Anwesenden erhoben sich von den Plätzen.

Alles atmete Stille, nur Lee lachte schrill auf. Der Staatsanwalt sah sie mißbilligend an, als er hinausging.

* * *

 


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