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»Sieh da – geradeaus!« Hinrichsen rief es den beiden zu.

Am Backbord stießen zwei Mastspitzen aus dem gelben Wasser. Das war nördlich die Einfahrt zur Geeste. Neben den Masten hatte sich ein Bergungsdampfer verankert. Ein schwarzer Ball hing am Mast des Dampfers, und eine rote Flagge wehte von seinem Halbmast die Warnung:

»Vorsicht – stoppen – langsame Fahrt!«

Hinrichsen brüllte durch die hohlen Hände. Auf seine Frage kam die Antwort über das Wasser:

»Ein Geestemünder Kutter ist gerammt. Der Fang, der Fischer und sein Junge liegen unten!«

Hinrichsen nahm die Fock weg, riß die Mütze vom Kopf und warf sie auf das Deck, dann ließ er seine Flagge auf Halbmast gehen.

Langsam segelten sie am Totenschiff vorüber, und Hinrichsen redete mit sich selbst.

»Wieder zwei in de Bünn gesegelt – de kann de Pastur ok nich mehr helpen. Je, watt mokt de Fru vom Fischer nu? Seilen un fischen kann se nich. Dor unten sloppt nu de Fischer – der, der Mutter helfen konnte, liegt bei dem Vater.« Das war sein Selbstgespräch.

»Wi möt seilen! – Jung mok de Pfänder Korkballen zum Schutze des Schiffes und de Leinen klar.«

Mit diesem Zuruf schwoite er in die Geeste ein.

 

Die erste Frucht des Sommers an den Bäumen nahte der Reife. Die Flut kam, und die Ebbe ging im Zeitlauf ihrer Regel. Der Deich war still, das Wasser, das ihn bespülte, trug keinen Schiffsleib. Verblichene Netze hingen vereinzelt an den Stangen dicht bei den Häusern. Die Fischer lagen draußen auf der See. Sie jagten dem Meer Beute ab. Im Dorf lebten nur die Frauen, die Witwen und die Jungen. Die Jungen warteten in der Hoffnung auf den Mann. Die Alten hatten solche Hoffnung aufgegeben. Im Wandel ihres Tuns lebten sie zwischen Friedhof, Meer und Haus. Das, was Nahrung gab, nahm ihnen oft den Ernährer. Dieses Dorf hatte sein eigenes Gesicht. Fische, Wind und Wasser waren die bestimmende Unermeßlichkeit für die Einwohner dieses Dorfes. Nur die Jugend lärmte, sie erkannte die Bestimmung der Unermeßlichkeit nicht. Ihr Lärm teilte sich zwischen Dorf und Wasser.

Unter allen lebte Lee still in ihrem Haus fast am Ende des Dorfes, dort, wo die satte Erde sich in dunkles Grün weitete, und wartete auf Hinrichsen.

Auf der Straße zum Haus kam der Postbote und schwenkte einen Brief. Er rief schon von weitem:

»Lee Tews – ein Brief von deinem Mann, er kommt von der Geeste. Der Wind läßt die Schiffe nicht die Elbe raufkommen. Bei Altona liegen man bloß die Fischdampfer am Pier.«

»Schönen Dank!« Lee nahm den Brief, sah auf den Stempel und lief damit ins Haus. Auch Briefe waren eine Seltenheit im Dorf. Die Fischer schrieben nicht gern. Papier und Feder waren ein ungewohntes Handwerkszeug in ihren Händen. Die Sonne schien grell. Ihre Strahlen standen schräg in der Diele des Fischerhauses. Das Glas der niedrigen Fenster wirkte wie ein Brennspiegel. Alle Gegenstände in der Stube bekamen eine eigene Farbe in dieser Beleuchtung. Auch das Papier in Lees Hand war schreiend weiß. Blau hoben sich die Buchstaben davon ab. Lee saß in der Diele des Hauses und entzifferte die Worte in Hinrichsens Brief.

»Lee!«

stand da auf dem Papier in großen, schweren Buchstaben:

»Der Fang war gut. Drei Kutter waren hier in Geestemünde. Die Schollen haben ihr Geld gebracht. Wenn die Dampfers nich wären, aber sie haben soviel Fische in ihrem Leib. Wir haben alles verkauft. Die Kutter, die hinter uns kamen, hebbt nich soveel for de Schollen kregen. Wir müssen bannig segeln und fischen. Wenn de Wind steht, kommt wi mit de nächsten Schollen na Altona. Watt mokt Klaas?

Geld hab ich hier auf der Post eingezahlt. Proviant is ok an Bord nohmen worden. Morgen seilt wi wedder zum Fischen rut.

Dein Hinrichsen.

Mit de annern Fischer heff ick mi unterhalten. Wi ment, wi möt Motoren an Bord hebben. Das geht leichter und bringt schneller Fische.«

Dieser Brief gab Lee zu denken. Sie überrechnete den Fang, die Prozente für den Bestmann und den Jungen, den Proviant für die Reise, die Netze, den Abtrag und das Leben. Zahlen an Zahlen stellte sie in Kolonnen auf das Papier, das vor ihr lag. Die Zahlenkolonnen standen darauf wie Reihen ungeordneter Mädchen im Tanzsaal. Sie strich Zahlen durch, malte neue hin und rechnete immer wieder. Ein eigentümlicher Gedanke hatte sie erfaßt: Die anderen Fischer – nein –, die durften nicht mit ihrem Hinrichsen in Konkurrenz treten können.

Wieder stellte sie Kolonnen von Zahlen auf das Papier. Ihr Klaas rief. Er stand auf seinen jungen Beinen neben ihr und hatte ihre Schürze erfaßt. Daran zerrte er, das merkte die Mutter nicht; denn die Zahlen hatten ihre Sinne eingezwängt. Sie schrieb, sie rechnete, ihre Finger begleiteten die Zahlen auf dem Papier. Ein starker Atem floh aus ihrem Mund. Sie wollte die Zahlen wegwischen, sah ihre Unzulänglichkeit ein und malte neue Kolonnen auf das Papier.

»Nicht richtig – vom Hinrichsen! Der Motor muß in sein Boot – nicht zu den anderen«, das waren die Worte zu ihren Gedanken, die sich hetzten. Vom Papier lachten sie die Zahlen an. Den Klaas zog sie hinter sich her nach dem Garten hinaus. Der Baum hinter ihrem Haus trug Früchte, die zur Reife neigten.

»So muß der Kutter Frucht tragen, und die Ernte dieser Frucht muß ein puffender Motor sein«, sprach sie zu Klaas gewandt, indem sie mit der Hand auf den Baum wies.

Das Kind verstand weder ihre Worte noch deren Sinn. Nur aus seinen Augen sprach die Zugehörigkeit zur Mutter.

Noch einmal nahm Lee den Brief und studierte den Nachsatz. Da stand es schon für sie fest: Sie wollte der Kaufmann des Kutters sein, fischen und segeln konnte Hinrichsen. Ihre Gedanken wollte sie in die Tat umsetzen.

Noch zweimal war Hinrichsen an der Weser. Seine Fische hatte er in Geestemünde abgesetzt. Aber das letztemal war der Preis für die Schollen nicht so hoch, denn die Fänge waren stark gewesen. Jetzt fischte er wieder draußen.

 

Die See lag wie mit Blei übergossen, so grau und träge war sie. Ein schwacher Dunstschleier stand über der schwachen Dünung. Rot, wie glühendes Eisen, tauchte die abendliche Sonne ins Meer. Feurige Tupfen standen auf dem Wasser in der Bahn zum Kutter hin. Kein Wind trieb die Segel; sie hingen wie müde Vögel, die auf ihren Zweigen ruhten, an den Masten. So konnten die Männer nicht fischen und lagen mit dem Kutter still. Die Kurre trieb schlapp im Wasser, denn die Stille hatte sie überrascht, der Wind war plötzlich eingeschlafen.

»Das is eine dösige Zeit – morgen, wenn es nicht weht, werden wir das Netzzeug in Ordnung bringen.« Damit ging Hinrichsen in die Kajüte nach unten, drehte die Lampe hoch und kramte in seinen Karten. Dann griff er zur Tasche in seiner Koje. Der Tasche entnahm er zwei Postabschnitte. Er rechnete die Summen zusammen. Für zwei Fänge blieben ihm etwas über fünfhundert Mark. Die Rechnung, die er aufmachte, hatte immer ein Loch. Mit einem »Schiet ut« warf er Papier und Bleistift hin und stieg wieder an Deck. Hier unterhielt er sich mit dem Jungen und dem Bestmann. Mit dem letzteren tauschte er seine Erlebnisse auf der »Niobe« aus. Auf diese Dinge kam Hinrichsen mit einer wahren Besessenheit immer wieder zu sprechen.

»Watt moog wohl de Timmermann moken? Sicher würde er, wenn er jetzt bei uns wäre, einen Grog brauen.«

Mit diesen Worten beauftragte er den Jungen, einen Teepunsch anzurühren. Mit dem Sinken der Sonne hinter den Horizont stieg die Kühle der Nacht über das Deck. Sie tranken zu dritt und unterhielten sich. Bei dieser Unterhaltung war der Junge passiv. Er hatte die Wache zugewiesen erhalten. Wenn es wehte, sollte er den Fischer wecken. Ehe Hinrichsen zur Koje ging, blickte er noch einmal über das Wasser und kratzte am Mast, daß der Wind wiederkäme. Das war eine dumme Angewohnheit, das »Mastkratzen« oder das »Windpfeifen«, aber er konnte es nicht unterlassen. Überm Wasser standen Lichter in der Nacht. Rote, grüne und gelbe. Die schwankten wie bezechte Trinker leicht hin und her. Manchmal war die Bewegung härter, manchmal weicher. Das machte die Dünung. Wenn das Rot und Grün der Lichter der anderen Fischerboote, die dort drüben lagen, sich kreuzten, schien es Hinrichsen, als schielten ihn Teufelsaugen an.

Er war weder fromm noch gottesfürchtig. Das hatte er sich in den langen Sturmnächten abgewöhnt, denn er wußte, daß er sich selber helfen mußte. Es konnte ihn kein Gott erretten und kein Teufel vernichten. Von der Geistesgegenwart der Menschen und ihrer Voraussicht in der Einschätzung der Gefahr im Kampf mit den Elementen hing ihr Bestehen ab.

Aber die Nacht hatte ihre Tücken. Hinrichsen dachte an Lee. Plötzlich war ihm ihr Körper nahe, der so schlank und doch so fest war. Mit dem Gedanken an Lee betrat er die Kajüte.

»Wenn wir ausscheiden, gehen wir nach Altona – und wenn wir die Elbe aufwärts dampfen müssen«, so murmelte er, als er in seine Koje stieg. Der Körper der Frau rief ihn in dieser sommerlichen Nacht. Er fühlte die Schlankheit ihrer Glieder neben sich in der Koje und drängte seinen Leib gegen das Holz.

»Wenn es man wehen wollte, denn kommen diese Schietgedanken nicht.«

Wind war sein Wunsch, damit der Wind ihm diese Stimmung vertrieb und er zur Elbe kam. Er bemühte sich krampfhaft einzuschlafen und konnte es doch nicht. Im dumpfen Raum rief er zu seiner Erleichterung nach der Frau. Wenn er bei ihr war, nahm er ihren Leib unter seine Schenkel, um von einem Druck befreit zu sein. Das alles war ihm eine Handlung, deren Notwendigkeit er fühlte. Die Augen der Frau, in denen der Wunsch nach der Vereinigung mit dem Mann brannte, sah er nicht, und er begriff auch nicht ihre Sprache, wenn sie ihn erneut rief. Nach getaner Arbeit war gut ruhn – mit solcher Überzeugung schlief er seine Nächte neben Lee, im halben Unverständnis für die Frau.

Ehe er Lee kennenlernte und ehe der Zimmermann von der »Niobe« mit seiner Gradlinigkeit in der Lebensauffassung in sein Leben ungewollt eingriff, kannte er überhaupt keine Frau. Nur die Umhüllung ihres Körpers machte sie ihm als Weib erkenntlich. Sein Denken galt seinem Beruf, galt der See. Er dachte an seine Kameraden, die in den Winkeln der Häfen der Welt sich den Frauenleib für die Nächte, die sie an Land verbrachten, kauften, um dann darüber zu reden und noch daran zu denken, wenn sie wieder von der See empfangen wurden. Dieses Wissen blieb ihm fremd. Ihm fehlte die Andacht zu dieser Schattenseite seines Berufes.

Das Blut klopfte in seinem Hirn, und er dachte an seine erste Nacht mit Lee. Jene Nacht war wie die heutige, schwül und voller Fragen. Wieder rief er den Namen seiner Frau ins Dunkel der Nacht. Langsam schlief er ein. Schwer warf ihn der Traum in seiner Koje umher.

Mit einem Schrei und einem Schmerz am Kopf erwachte er. Er sah sich um und horchte. Von der Luke klang ein Ruf. Das war der Ruf des Bestmanns vom Deck her.

»Fischer! – Austörnen!«

Eine leichte Brise trieb den Kutter auf der See. Er zog wieder das Netz in langsamer Fahrt hinter sich. So fischten sie Zug um Zug in den Tag hinein.

Die Sonne erwachte am östlichen Horizont des Meeres, nachdem sie am Abend zur Ruhe gegangen war. Sie hatte die Nacht über auf der anderen Seite der Erde verbracht, um hier wieder ihr Tagewerk zu beginnen. Ihr Anfang war so flüssiges Rot wie ihr Ende am vergangenen Abend. Nur ein paar Stunden stand sie so, dann zog sich ein grauer Schleier vor ihr Gesicht. Das Wasser wechselte seine Farbe. Vom Blau ging es zum Grün über und wurde schließlich grau. Die Fischerboote, deren Lichter in der Nacht bunt durcheinandergeleuchtet hatten, waren verschwunden. Irgendwo hinter dem grauen Schleier fischten sie, so wie Hinrichsen.

»Sechs Strich«, meinte Hinrichsen, »das ist gute Fahrt!«

»Ja«, rief der Bestmann, »noch sechs gute Törns, dann könnt wi woll utscheiden!«

»Fische müssen wir haben und zuerst an de Pier sein denn lohnt sich das. Wenn wi de ersten sünd, bestimmt wi de Preise.«

Der Bestmann kannte seinen Quartermeister gar nicht wieder. Früher hatte der sich nie um die Preise von Waren gekümmert. Karten und Sextant, Kompaß und Rufer, Segel und Trossen nahmen seine Sinne gefangen.

»Wie der Mensch sich ändern kann«, murmelte er.

 

Am Elbe-Feuerschiff 4 suchte »Lee H. F. 13« nach einem Schlepper. Den fand er nach dem Wechsel seiner Signale. Mit dem Führer des Schleppers, der auf der Brücke stand, handelte Hinrichsen um den Schlepperlohn. Um keine Zeit zu verlieren, stimmte er dem geforderten Preis des Schiffers zu und nahm die Stahltrosse, mit der er geschleppt wurde, über Bord. Der Junge zog sie durch die Klüse und machte sie am Poller fest kurzer Pfahl zur Befestigung der Trossen.

An der »Alten Liebe« vorbei schleppte der Dampfer den Kutter die Elbe aufwärts. Gelb gurgelte der Strom an ihnen entlang. Das Land zu beiden Seiten schob sich enger zusammen, und der Strom gebar Leben. Schiffe fuhren aneinander vorüber, und Boote kreuzten sich im Fahrwasser.

Die Türme der Stadt sahen herüber und wuchsen höher, je näher sie dem Hafen kamen. Von den Ufern her sahen die kleinen Häuser so sonderbar zu den Schiffen und Menschen auf den Strom herab.

Sie kamen nach Altona zum Fischmarkt. Der Schlepper pfiff kurz, und der Junge warf die Trosse los. Ganz langsam legte der Kutter an. Der Bestmann war der erste an Land. Er nahm den Tampen, um den Kutter anzubinden. Er hatte es eilig, um schnell auf einen »Lütten« zu Kohrs zu lotsen.

Der Markt war leer. Die Fenster der Häuser, die ihn umsäumten, gähnten müde in den Tag hinein. Ein paar Katzen rasselten über das Pflaster. Am Ende des Platzes starrte ein Eisengerüst gegen den Himmel. In dem metallenen Skelett hingen Menschen und hämmerten, hämmerten. Die Schläge klangen vom Wasser zurück und fingen sich an den Häuserfronten wieder. Sie kletterten dort entlang und zerfielen und wurden wieder neu geboren.

»Nu baut se dor Hallen op, Hinrichsen!«

»Ja, für de Dampferware, wir brauchen sie nicht, wir handeln aus de Bünn an de Pier.«

Langsam belebte sich der Platz mit Neugierigen und Frauen, die kaufen wollten.

»Fischer, wollt ihr den Fang verkaufen?« Mit diesen Worten kletterte ein Mann an Bord. Das war eine gewichtige Gestalt. So neugierige Fragen kamen aus seinem Mund.

»Nee – wi verkaufen an de Frun!« meinte Hinrichsen.

Er schlug die Luken frei und trieb den Jungen und den Bestmann, der schon zurück war, zur Eile an.

»Den ganzen Fang kauf ich auf einmal, ihr braucht nicht zu handeln«, sprach der Mann auf Hinrichsen ein.

»Nee!« knurrte der und drehte dem Mann seine Achterseite zu.

Der Mann umschlich Hinrichsen immer wieder und machte erneut sein Angebot.

»Lot mi in Ruh – ick verköp an de Frun. De Fische möt Geld bringen. Ji verköpt man denn ok bloß an de Frunslüd!«

Wie er sich umdrehte, stand Lee neben ihm. Sie begrüßten sich. Er nahm sie auf seinen Arm, trug sie zur Kajüte und ließ den Mann stehen.

Nach einer Weile begann der Handel mit den Fischen. Lee strich das Geld ein und zankte mit den Frauen. Hinrichsen lachte und brachte seine Fische aus dem Raum.

Lärm stieg über den Platz. Die Menschen sprachen aufeinander ein. Frauen tippten mit ihren Fingern die Fische an. Warfen sie herum. Die Schollen zeigten ihren weißen Bauch. Die rötlichen Muster auf ihrem klebrigen Rücken leuchteten zart. Die Kiemen der Schollen saugten Luft auf und wehrten sich gegen das Absterben im wasserlosen Netz.

Lee sah von dem Lukendeckel, auf dem sie stand, über die drängelnden Frauen hin. Sie fühlte sich wie auf einem Kommandostand und dirigierte mit ihren Blicken und leisem Zuruf die drei Männer. Die hoben die Fische aus dem Raum heraus, riefen die Stückzahl und schmissen sie in die Netze, die Körbe und Taschen der Frauen. Der Bestmann lachte allen ins Gesicht. Von seinen Händen tropfte fischiger Schleim. Den wischte er sich an seinen Hosen ab. Mitunter machte er einen derben Witz mit den Frauen. Manchmal bekam er auch eine Antwort, dann aber sah er zweifelnd die Frauen an, denn er verstand sie wohl nicht recht.

Andere Fischer machten hinter Hinrichsens Kutter am Pier fest. Sie sahen zu dem wirbelnden Handel hin.

»Segen des Meeres«, meinte Lee zu ihrem Hinrichsen.

»Nee, Deern – datt seggt de Pastur man bloß, das ist der Lohn unserer Arbeit. Von selber kommt der Segen nicht. Wir haben fischen müssen und haben keine Zeit zum Beten gehabt.«

»Hinrichsen!«

»Ja, – Deern! De Fischerei is keen Kinnerspeel!«

Lee sah ihn vorwurfsvoll an, aber Hinrichsen ließ sich durch solche Blicke nicht beirren. Ruhig kescherte er die Fische aus der Bünn, suchte nicht aus, sondern gab sie so, wie sie aus dem Raum kamen.

»Watt for Preise haben wir gemacht!« Dabei lachte er seine Lee an. Die reichte ihm die Hand, trat ganz nahe zu ihm, versuchte ihm ein wenig zu schmeicheln, um die Angelegenheit, die sie im Innern so stark beschäftigte, mit ihm zu bereinigen.

»Hinrichsen?«

»Ja, Deern?«

»Was hast du da von dem Motor geschrieben? Ihr habt euch bereits besprochen? Wer ist alles dabeigewesen?«

Sie bekam keine Antwort. Denn mittlerweile war der Fang abgestoßen, und Hinrichsen wollte sein Schiff klarmachen, um nach seinem Fischerdorf zu kommen. Jede nicht ausgefüllte Stunde bedeutete Zeitverlust für ihn. Darum drängte er mit einer Handbewegung ganz langsam Lee beiseite und rief seinen Helfern zu, daß sie vom Steg abstoßen sollten. Er prüfte die Windrichtung, um festzustellen, ob er die Elbe hinunter konnte. Aber die Ebbe nahm ihn den Strom mit abwärts, der Kutter brauchte den Wind nur wenig. Hoch an den Trossen, zwischen Besan und Großmast, hingen die Netze.

Wie Hinrichsen am Fischdampferhafen vorübertrieb, lagen längsseits aneinandergepreßt die Fischdampfer. Eine ganze Flottille lag da und sah zerstoßen und zerdrückt aus. Das äußere Kleid der Schiffe war so seltsam bunt. Wie bei Scharlachkranken brannten rote Flecke auf ihren Körpern. Die See hatte das Eisen zerfressen, und diese Wundstellen mußten geheilt werden. Wie bei Kranken der Arzt Salbe auf die Wunden schmiert, so fuhren die Mennigepinsel der Matrosen über die zerfressenen Stellen und färbten sie gesund. Scharlachbunt leuchteten die Körper dieser Schiffe auf, die von Island und der Barentsee und dem Weißen Meer kamen. Wind und Meer schlugen die Schiffe und vor allem die Menschen auf ihnen wund. Alles, was dem Meere Nahrung entriß, um sich selbst zu ernähren, wurde gepeitscht und mußte wieder peitschen. Die ruhende Flottille der Fischdampfer rüttelte an Hinrichsens Gedanken. An der Backbordseite des »H. F. 13« puffte ein Motorschiff vorüber. Motor und Dampfer hämmerten ihm ins Hirn, daß die Technik die Helferin des Menschen sei. Daß das ein Irrglaube war, blieb ihm vorläufig fremd.

»Lee«, meinte er zu seiner Frau, die neben ihm stand, »mit einem Motor muß das besser gehen.«

Die Frau dachte an die Zahlenkolonnen, die sie auf das Papier gekritzelt hatte; diese Zahlen hafteten noch in ihrem Sinn, und so trieben ihre Gedanken dem Denken des Mannes entgegen.

»Was mag der Motor kosten?«

Dieser Gedanke schleuderte mit einer Wucht durch ihren Kopf, als wenn ihr Hirn ein im Viertakt arbeitender Motor wäre, dessen Schwungscheibe den Ausgleich schaffen mußte.

Sie trieben um die Buhne ihres Hafenkopfes. Hinrichsen ließ die Fock fallen und machte zum Anlegen klar. Der Bestmann sprang wie ein Wiesel über das Deck hin. Das Fanggeld, das er ausgezahlt erhielt, konnte er nun unter die Leute bringen.

 

»Hallo, Hinrichsen!«

Jan, ein alter Fischer, der nicht mehr hinaus auf die See konnte, rief das von der Bank, die auf dem Deich, stand, als Hinrichsen an der Anlegebrücke festmachte.

Diese Bank war der Ruheplatz der Fischer, deren Körper die See zum Wrack geschlagen hatte. Von dieser Bank aus übersahen sie die Einfahrt ihres Hafens. Hier saßen sie die Tage und die Abende ab und kontrollierten den Verkehr der Flottille ihres Dorfes. Sie waren die stillen Aufsichtsräte jedes einzelnen Kutters und seiner Menschen. Von hier aus hofften sie noch ein Stück ihres verlorengegangenen Berufes neu zu finden. Sie waren wie hoffnungslose Fischer im Meere des Unerkannten.

Jan war der älteste der Fischer und der Fahrensleute im Dorf. Er schien aus einem vergangenen Jahrhundert herübergeboren zu sein in eine neue Zeit, zu der seine ganze Persönlichkeit im stärksten Widerspruch stand.

Sein Alter war schwer festzustellen, nur in den Augen las man den Zersetzungsprozeß seines Blutes, wie überhaupt seiner Organe. Diese Fischer waren Menschen, die, wenn sie nicht die See fraß, aufrecht in ihr Grab stiegen, trotzdem sie sich gegen die Erde wehrten, auf der zu leben sie gezwungen wurden. Jans Worte wurden beachtet. Was er sprach, war für die anderen Fischer ein Stück Bedeutung.

»Hallo, Hinrichsen!« rief er noch einmal, als Hinrichsen nicht sofort auf seinen Zuruf reagierte.

»Hest god fischt un god verkofft?«

Hinrichsen rief sein »Vorn Dag!« nach oben. »Datt war 'n goden, goden Fang – wi hebbt 'nog Geld in de Tasch!«

Um Jan saßen andere Fischer, die gleichfalls nicht mehr hinaus konnten, weil die Gicht sie krumm geschlagen hatte. Ihre knotigen Finger lagen auf den Knien, die Füße steckten in ledernen Pantoffeln, weil ihre Füße für die Stiefel zu plumpe Klumpen waren. Aus ihren wettergegerbten Gesichtern leuchteten nur die Augen. Das Spiel dieser Augen war sonderbar; sie schillerten wechselweise, wie das Meeresleuchten, in allen Farben. Es wurde ausgelöst durch ihre Gedanken, die sich um den jungen Fischer dort unten im Fahrzeug drehten.

»De ward een von de Seefischer warn, de mit de Kutter sien Geld mokt, wenn em nich de fleegende Holländer buten begegnet.«

Jan sagte das vor sich hin, aber seine Rede war an die anderen gerichtet. Die saßen stumm und bewegten nur die knotigen Finger, als wollten sie versuchen, ob diese Hände noch Helmholz und Kurrleine regieren konnten. Das war vorbei. Ein anderer alter Fischer saß unter ihnen. Seine Stimme klang, wie wenn ein Pickhammer auf rostiges Eisen schlug und ein zerfressenes Stück nach dem Schlag des Hammers von der Platte sprang.

»De brukt keen Veteranensold von fiefuntwintig Mark im Monat, wie ick em heff!«

Alle kannten den Alten und wußten, daß das sein Einkommen nach langer Fahrenszeit war und daß die Gesine, seine Frau, krumm den Wagen vor sich durch die umliegenden Dörfer karrte und mit quäkender Stimme ihr »Frische Schulln!« ausrief, damit zu diesem Ehrensold noch ein paar Pfennige dazukamen.

Hinrichsen, dieser »Butenländer«, wie sie ihn nannten, schien den Neid aller zu erwecken.

»Lot sien«, sprach der Alte wieder, »Tews hett en bös Nummer op sien Gaffel, datt is de Dörteihn, de Kutter is god in See, aber he hett all den veerten Besitzer.«

Hinrichsen hantierte auf seinem Kutter. Lee ging an Land ihrem Hause zu. Der Junge kam mit einer Kiste lebender Schollen, die verteilt werden sollten, hinter ihr. Gesine sollte ihren Teil davon haben, denn Schiffer Tews, der Vater der Lee, hatte es nach jedem Fang ebenso gehalten, und diesen Brauch im Dorf hielt sie mit. Auch die Fischerwitwen, die vom Dezember 1909 her, als zehn Kutter auf einmal mit Mann und Maus im Sturm blieben, sollten ihren Teil bekommen.

Am Deich standen die Garnstangen. Wo sonst die Netze trockneten, hingen Scharben Schollenart auf den Leinen. Immer zwei waren mit den Schwänzen aneinandergebunden. Die Sonne durchleuchtete ihren herzförmigen Leib. Die Scharben trockneten in der Luft, um im Winter, wenn der Nordwest wehte und Hafen und Strom zugefroren waren, Ersatz für die lebenden Schollen zu sein.

 

Ein Wetter stand über dem Dorf, das drückte von der See zurück. Rundum war der Himmel schwarz. Nur im Zenit stand ein rosig gefärbter heller Fleck, der glich einem feinen Kinderlächeln. Hinrichsen stand hinter dem Haus, das auf dieser Seite tief unter dem Deich lag. Der Wind spielte um die Kronen der Bäume. Er fegte zur Erde nieder und wirbelte fallende Blätter, Papier und Spreu durcheinander, hob es auf, sog alles in einem steigenden Strudel in die Luft, ließ ihn zerplatzen und Spreu, Staub, Papier und Laub zurückfallen, um es dann mit einem rasenden Stoß die Straßen und das Land entlang davonzujagen.

Lee stand neben Hinrichsen und sah von der Seite auf sein Gesicht und beobachtete, mit welchem Ausdruck er das Wetter prüfte. Hinrichsen kehrte zurück ins Haus, dabei nahm er Lee an die Hand, ging zum Barometer, das in der Döns hing und sah aufmerksam auf das langsam fallende Spiel des Zeigers am Glas.

»Ja – das wird ein Wetter – aber wir sind hier – aber ok op See harr ick keene Bange hett. Vielleicht hätte ich noch schnell hinter Helgoland vor Grund gehen können.«

»Das soll woll sein«, sprach Lee ruhig, »aber wenn ein Motor im Kutter ist, kann man schneller vor solchem Wetter ausweichen, so sind man nur die Segel da.«

»Watt for ein fixe Deern bist du!«

Das sagte Hinrichsen mit Überzeugung, denn er sah in Lee einen halben Fahrensmann, der mit Schiff und Wetter vertraut war.

Sie setzten sich an den gebeizten Tisch in der Döns, während sich draußen der Wind legte und Stille eintrat. Das war die Gewitterstille. Die wird am Meere mit besonderer Spannung erwartet. Ein funkelnder Blitz teilte die schwarzen Wolken.

Er sprang in schneidender Eile am Horizont entlang, hinein in die Erde und erhellte die Stube bläulichrot. Lee erschrak, ihr Körper zuckte auf, aber Hinrichsen blieb ruhig und trat zum Fenster, um dem Spiel der Natur zu lauschen. Hier klangen schwere Tropfen gegen das Glas, sie perlten aneinander an den Scheiben nieder, sammelten sich an der Wasserleiste des Fensters und flossen ab.

Hinrichsen ging zu Lee an den Tisch zurück, und sie diskutierten ernstlich über das Problem, das die Anschaffung eines Motors für den Kutter darstellte. Für ihn war das Ziel vorläufig unerreichbar, denn noch stand die Abtragssumme für die Überholung seines Kutters. Die Reisen, die er noch machen mußte, um diese Summe zu decken, waren noch nicht übersehbar. Ganz unvermittelt meinte er zu Lee: »Een poor Jahr dauert es doch noch!«

»Was dauert ein paar Jahr, Hinrichsen?«

»Der Motor!«

Draußen fiel der Regen gleichmäßig, denn der Sturm hatte sich gelegt. Die Wolken hatten ihre Reibungsfläche abgeschliffen, so daß die funkelnden Blitze verlöscht waren. Das Gewitter hatte sich zu einem gleichfließenden Regen verwandelt, der fiel über die grünende Frucht, flutete über die Erde hin und gab neue Kraft und neues Leben. Die Eintönigkeit der fallenden Tropfen schläferte die Menschen ein. Auch Lee war wortkarg geworden. Sie dachte wohl noch an den Kutter, aber sie sprach mit Hinrichsen nicht mehr darüber. Ein neuer Gedanke überfiel sie: Wie wäre es mit Harrald Johannsen?

Als sie noch in dessen Hause war, sprach er oft zu ihr. Sie empfand seine Art, mit ihr zu sprechen, als etwas Ungewöhnliches, ihr fast immer unverständliches Tun.

Seine Augen sahen sie an, aber sie wußte nicht, was in ihnen stand, sein Gesicht war still. Es war etwas in seiner Maske, was sie anzog und doch wieder abstieß. Oft wollte sie mit ihm sprechen. Das merkte er, dann strich seine Hand über ihr Haar. So ganz ungewollt. Das tat er halb abgewendet, ohne sie anzusehen; dabei suchte sie seine Augen, aber die waren irgendwo anders. Auch seine Lippen blieben stumm. Dann schwieg auch sie und unterließ jede Frage.

Jetzt krochen Lees Gedanken heimlich aus dem Fischerhaus unter dem Regen fort nach dem anderen Stromufer, zu ihrer ehemaligen Arbeitsstelle. Zu ihrem Herrn, wie sie sich ausdrückte. Hätte jemand zu ihr von Johannsen als von einem »Arbeitgeber« gesprochen, so hätte sie das als eine Niedertracht empfunden. Für sie war er ihr Herr. Was er tat, wußte sie kaum, denn er sprach nicht darüber, auch nicht die Leute, die zu ihm ins Haus kamen. Lee dachte nur, daß er reich sein müßte, er hätte sonst kaum so leben können, wie er lebte.

»Ob wir wohl mal zu Harrald Johannsen gehn, Hinrichsen?«

»Watt schallt wi dor?«

»Ich meine, ob wir wegen einem Motor fragen?«

Hinrichsen gab keine Antwort. Er zog aus der Kammer ein angefangenes Netzzeug und hantierte daran. Der Regen floß nur noch in feinen Strichen nieder. Das Netz, das Hinrichsen auseinanderzog, wollte er für die nächste Reise fertigmachen.

»Mach man alles klar, Lee, das Glas steigt, morgen können wir wieder auf die Reise gehn.«

Mit diesen Worten ging er aus dem Haus, um zum Kutter zu kommen.

An Bord fand er nur den Wachhund vor, denn der Bestmann und der Junge waren an Land gepilgert. Sie saßen bei Mewes in der Gaststube und bereiteten sich für die nächste Reise vor. Der Bestmann probierte das mit dem Rezept des Zimmermannes von der »Niobe«. Er versuchte, den Wirt mit diesem Rezept bekannt zu machen, aber der wollte darauf nicht eingehen und meinte, es wäre gescheiter, wenn sich der Bestmann eine Buddel Rum mit an Bord nähme, dann könnte er den in der Kombüse heiß machen, denn Wasser gäbe es sowieso nicht viel an Bord. Aber damit war der Bestmann nicht einverstanden, denn an Bord konnte er, wie er meinte, lange genug sein. Der Junge trank halb Brause und halb Bier gemischt, bei jedem Schluck von seinem »Alsterwasser« blätterte er in alten Journalen, deren neuestes vor sechs Monaten aus der Druckmaschine gekommen war. Als Hinrichsen die Leute nicht an Bord fand, ging er den Deich entlang und hörte, daß seine Crew beim Gastwirt Mewes säße und daß der Bestmann dort mit dem Wirt eine gründliche Diskussion über ein Grogrezept führe. Und so verlegte er seinen Kurs zum Gastwirt Mewes hin. Schon in der Tür hörte er seinen Bestmann dem Wirt das Rezept des Zimmermannes von der »Niobe« erklären.

»Watt versteihst du vun eenen anständigen Grog! Woter hebbt wi genog, Rum mutt dor in sien. Datt ol Tüch, watt du hor hest, mutt all warn; wenn datt in de Buddel steiht, ward datt slecht, du ol Flegenbost.«

Diese Worte hörte Hinrichsen bei seinem Eintritt.

Der Bestmann sah Hinrichsen kommen und appellierte an dessen Einverständnis mit diesen Redereien. Im Augenblick war aber Hinrichsen noch erbost, weil der Bestmann den Jungen mitgenommen hatte; er ging hin, haute dem Jungen eins hinter die Ohren, auch wenn er man Alsterwasser getrunken hätte, und forderte den Bestmann zum Bezahlen auf. Dann nahm er ihn mit an Bord. Als sie den Deich entlanggingen, wollte sich der Bestmann noch immer nicht über den schlechten Grog vom Mewes beruhigen.

»Je – Woter – datt wull de Bosten verköffen un denn noch Geld for hebben. De Schieter sall man een Reis mit uns mitmoken, denn ward he vunt Woter de Nees vull hebben.«

Das sagte er mit einem bieder-ehrlichen Gesicht, blieb am Deich stehen und sah Hinrichsen vertrauensvoll in die Augen, damit auch der davon überzeugt wurde, daß der Grog vom Mewes »man een Schiet« war. Dann gingen sie beide zu Külpers, um »einen einzigen, richtigen Grog« zu nehmen, wie der Bestmann meinte.

»Aber das Rezept segg ick dem Külpers«, erklärte Hinrichsen. Damit war der Bestmann einverstanden, denn wenn der Fischer das Rezept angab, dann mußte er auch den Grog bezahlen. Gegen Abend gingen sie von Külpers mit wiegenden Schritten nach dem Kutter. Die Füße berührten die Steine, als seien sie Planken. Behutsam setzten sie ein Bein vor das andere, denn sie wollten die Steine schonen und ihnen nicht weh tun. Der Bestmann sah gegen den Himmel, die Augen gingen ihm dabei über Kreuz und sagte: »Hinrichsen, wi könnt nu reisen – de Schulln teuft op uns!«

»Ja – die stehen bei Juist und Amrum im Wasser wie der Rum bei Mewes in de Buddel!«

Mit dieser unerschütterlichen Überzeugung gingen sie an Bord. Unterwegs trafen sie andere Fischer, an denen sie mit einem kurzen Gruß vorübergingen, denn sie waren beide in Gedanken vertieft, der Bestmann wie der Fischer, daß der Fang gut würde und daß sie hinaus müßten, auch wenn der Grog noch so nördlich wäre.

 

An der Brücke im Hafen lagen längsseits aneinander die Kutter und Ewer. Hinrichsen mußte, wenn er an Bord von »H. F. 13« wollte, über den Setzbord eines anderen Kutters. Er ging über das Deck seines Nachbarn, der am Rudergang stand.

»Hest Proviant nohmen, Hinrichsen, un wullt du wedder op de Reis?«

»Ja – man muß die Zeit wahrnehmen, je mehr buten – je mehr binnen!« Dabei klopfte er auf die Hosentasche.

»Hest fix verköfft?«

»Es ging – wird man immer schlechter. Seit de Hallen stoht, gehn die ganzen Fänge an die Auktion, man bloß sonntags geht es aus de Bünn an de Lüd!«

»Dafür brauchst du auch nicht lange zu liegen, kannst nach dem Ausladen wieder auf de Reise!«

»Ja – aber die Preise for de Schollen bestimmen de annern!«

»Bis jetzt heff ick noch nich an de Händlers verköfft, wenn de Motor bei mi in'n Kutter is, dann kann datt woll anners warn!«

»De letzte Reis hett fiefhundert Mark brocht! – Je, wi sünd ok Seefischers!« Damit brach Hinrichsen das Gespräch ab. Seine letzten Worte kamen betont stolz von seinen Lippen. Er fühlte sich als unabhängiger Seefischer, trotz der Lasten, die er zu tragen hatte.

Im Munde der Leute vom Dorfe hieß es:

»De Hinrichsen hett mit sien Netz über Vineta fischt. Bei ihm laufen alle Schollen ins Garn, he hett Glück.«

Sein Glück war seine nicht zu brechende Arbeitskraft und sein einfach denkender Verstand, der die Dinge immer am richtigen Ende anpackte und sie zu Ende führte. Eine halbe Arbeit war ihm zuwider.

So bereiteten sie den Kutter für die Ausreise am anderen Morgen vor. Was an Proviant und anderen Dingen fehlte, trugen sie noch an Bord. Der Junge und der Bestmann legten sich in ihre Kojen, langsam wiegte sie der Kutter, der an seinen Trossen schaukelte, in den Schlaf. Ehe der Bestmann ganz einschlief, murmelte er noch einmal:

»Und der Mewes is doch een Flegenbost, aber morgen in der Frühe geht es an de Schulln!«

 

»Keine Bange!« rief Hinrichsen seinem Bestmann und dem Jungen zu. »Keine Bange, wir bringen den Kutter schon nach Altona!«

Der Wind pfiff aus der Nordwestecke und trieb Regenböen mit sich. Die See stand hoch und schlug über das Deck des Kutters hin. Hinrichsen hatte den Klüver und den Besan weggenommen, nur das Großsegel stand noch halb. Er hatte den Kutter in den Kurs gebracht und ihn halb vom Winde genommen. Das Wetter hatte ihn überrascht. Im Ruderhaus stand er jetzt allein, seine beiden Helfer waren noch unten im Raum. Über dem Kompaß schwelte die Lampe. Mit dumpfem Schlag brach sich eine See am Ruderhaus. Der Kutter holte gewaltig über, das übergekommene Wasser lief über den Setzbord ab. Wie eine Schaukel hob sich der Kutter empor und wurde von der nächsten See in die Tiefe gerissen. Hinrichsen stand im engen Ruderhaus, spähte zum Kompaß und blickte durch das Glas über Deck hin. Der Sturm heulte um das Ruderhaus und drückte den Kutter stetig in die See, es schien, als wenn er ihn unter die Oberfläche des Wassers drängen wollte.

Wenn man die Leinwand hält. Das war Hinrichsens einzige Sorge, an eine Gefahr für sich selbst dachte er nicht, denn solche Stürme hatte er oft erlebt. Er baute auf seine Kraft.

»Über Nacht wird der Sturm nachlassen«, meinte Hinrichsen zu seiner eigenen Beruhigung. Der Wind wurde stärker, die Regenböen hatten sich verzogen, aber die See ging nun höher. Brecher auf Brecher gingen über den Kutter hin. Der Bestmann versuchte, Hinrichsen am Ruder abzulösen. Am Großmast ergriff ihn eine See, überspülte ihn und riß ihn mit sich fort – gerade zu den Wanten hin, in die er sich mit aller Kraft anklammerte. Hinrichsen sah das und drehte ein paar Strich bei, dadurch holte das Fahrzeug gewaltig über, und das Wasser floß nach der anderen Seite. In diesem Augenblick kam eine schwere See von vorn herangerollt und ergoß sich über das Deck. Der Bestmann hing noch immer in den Wanten. Hinrichsen hatte die Tür des Ruderhauses aufgestoßen und brüllte über das tobende Element hinweg: »Fastholln, fastholln!« Er wollte hinaus, seinem Bestmann zu Hilfe eilen. Eine neue Welle kam heran. Sie stieg wie ein riesengroßer, wandelnder Berg, der unaufhaltsam seinen Weg geht, auf das Schiff zu, riß mit einem Schlag die Tür des Ruderhauses weg und warf Hinrichsen an die Wand. Mit einem donnernden Knall zerriß das Großsegel. Die schlagenden Fetzen des Segels zerrten mit dem Wind um die Wette. Der Bestmann machte sich frei und versuchte die Fetzen des Segels zu bergen. Mit einem Tampen hatte er sich festgeseilt. Hinrichsen hatte wieder das Ruder erfaßt. So trieb sie der Sturm vor Topp und Takel.

Um das Großsegel war es dem Fischer nicht zu tun, denn er hatte noch ein anderes zur Hand. Um die Menschen ging es ihm. In der Stunde der Gefahr rechnete er nicht mit den Zahlen, er rechnete nur mit den Elementen, mit ihnen wollte er den Kampf um die Menschen führen. Jetzt kümmerte ihn nichts anderes.

Aus den Wellen tauchte einer Vision gleich das Gesicht seiner Lee auf. Er sah sie mit gefalteten Händen in der Stube sitzen, neben ihr die Mutter, die in der Bibel las. Deutlich stand sie vor ihm: die alte Frau, wie sie den Finger netzte und ein neues Blatt umschlug. Er glaubte durch den Sturm die betenden Stimmen zu hören.

»Nee – nich beten, dazu ist keine Hand frei, die muß das Ruder halten, Gedanken für einen Bibelvers sind unnütz jetzt.«

Alle Gedanken und alle Kraft für das Fahrzeug einsetzen – das schoß ihm durch den Sinn. Hinweg war die Vision, verweht mit dem Wind, der ihn umheulte. Eine neue See brach über den Kutter weg. Der Bestmann stand neben Hinrichsen im engen Ruderhaus. Sie brüllten sich gegenseitig in die Ohren.

»Wenn ich man wüßte, wo wir treiben, ob wir weit vom Land sind, Peilen könnt wi ok nich!«

Der Kutter trieb, Hinrichsen hatte das Schaudern überwunden. Der Bestmann sah seinem Fischer in die Augen und las darin eine unerschütterliche Ruhe.

»Man keen Bang nich!« brüllte Hinrichsen und versuchte zu lachen. Wieder stürzte eine See über das Deck und schlug das Beiboot in Trümmer. Die Splitter trieben mit der See am Ruderhaus vorbei. Dieses Boot war solange noch ein Schutz für das Kompaßhaus gewesen, jetzt war auch der fort, und frei stand das Haus für den nächsten Brecher.

Hinrichsen gab dem Bestmann für einen Moment das Ruder, sah auf den Kompaß und holte unter dem Rad eine Leine hervor und legte das Ruder fest. Dann zog er einen anderen Tampen herbei und seilte sich selbst am Ruder fest.

»Versuch nach unten zu kommen«, brüllte er dem Bestmann in die Ohren, »wenn das Ruderhaus wegschlägt, bin ich selbst am Ruder fest.«

Die See hob das Schiff und warf es regellos hin und her. Der Sturm versuchte, die Körper vom Schiff aufzuheben und in die See zu schleudern. Wasser und Wind wirkten auf diese Menschen, als wären sie fleischlos. Sie fühlten nicht das nasse Zeug auf ihrem Leib; ihnen war es, als wenn der Wind alles Fleisch von ihren Knochen geschält hätte und ihre Knochen frei lägen. Aus den Seestiefeln gurgelte das Wasser wieder hinaus, und das durchnäßte Leder drängte gegen die Schienbeine.

Noch einmal holte der Kutter gewaltig über, eine achterliche See brach über ihn hinweg und riß das Dach des Kompaßhauses mit sich. Die niederspülende See floß wie ein Strudel aus der weggerissenen Tür, sie hatte den Bestmann erfaßt, der sich an den Fischer klammerte. Mit einem Arm griff der dem Bestmann um den Leib, mit der anderen dirigierte er das Ruder. So standen sie eine Weile.

»Es geht zu Ende!« brüllte der Bestmann, in seinen Augen flackerte das Suchen nach einem letzten Halt.

»Geh nach unten, versuch über das Deck nach unten zu kommen, sag dem Jungen Bescheid, daß wir durch sind.«

In seiner Koje erwartete der Junge seine letzte Minute. Ihn hatte die Seekrankheit gepackt. Klare Gedanken, in welcher Lage er sich befand, kamen ihm nicht, nur ein schwacher Glaube an seinen Fischer blieb ihm. Auf Grund konnte er nicht liegen, dort wäre es ruhiger gewesen, noch holte der Kutter gewaltig über.

So trieben sie achtundvierzig Stunden. Langsam beruhigte sich die See, der Wind hatte aufgehört zu heulen, er stand nur noch mit sechs Strich. Der Junge war wieder an Deck, und alle drei hatten das neue Großsegel aufgezogen. Über Deck sah der Kutter wie ein gefledderter Mensch aus. Nur das halbe Ruderhaus stand noch da, das Boot fehlte ganz. Die Scherbretter waren weggespült, und die Überreste des zerrissenen Großsegels lagen umher. Ans Fischen dachten sie nicht mehr, denn auch die Kurre trieb irgendwo auf Grund. »Nordsee – Mordsee«, meinte Hinrichsen, »auch beim Kap hat das nicht schlimmer geweht.«

Der Wind ließ mehr und mehr an Kraft nach, nur die Nordsee rollte in langer Dünung noch aufgewühlt einher und warf den Kutter von der Höhe in die Tiefe. Er tanzte auf den Wellen. Hinrichsen versuchte zu peilen, damit er wußte, auf welchem Punkt der Nordsee er sich befand. Ob er vor Borkum-Riff oder hinter Helgoland wäre.

Im Dorf hielten sie den Kutter für überfällig, und der alte Jan meinte zu den anderen Fischern, daß dem Kutter nun wohl doch der fleegende Holländer begegnet wäre.

Sie wunderten sich, als vierundzwanzig Stunden später »Lee H. F. 13« am Ponton mit zerschlagenem Ruderhaus und ohne Beiboot festmachte.

Diese Nachricht ging den Deich entlang und drang in alle Stuben ein.

»Hinrichsen, Lee ihr Mann, ist zurück, der ist mit dem Holländer um die Wette gesegelt!« flüsterten die Lippen der Menschen. Sie sprachen diese Worte mit einer gewissen Scheu im Dorf. Auch Lee erreichte die Neuigkeit, und sie eilte zum Hafen. Da lag der Kutter. Langsamen Schrittes kam Hinrichsen auf sie zu und lachte aus seinem Gesicht wie immer.

»Ich hab dich gesehen, Hinrichsen! In der Nacht hab ich dich gesehen, du hast mich gerufen. Am Ruder standst du und hast das Fahrzeug in der See wieder aufgerichtet, das hab ich gesehen!« Mit diesen Worten trat sie ihm entgegen.

Hinrichsen sah Lee an, schüttelte den Kopf bei ihren Worten, und sein Lachen vertiefte sich. Von seiner Vision sagte er ihr nichts. Langsam strich seine Hand über ihr Haar. Dann nahm er sie auf den Arm und trug sie die Treppe vom Steg hinauf zum Deich. Dort setzte er sie nieder. Ehe er ins Haus ging, schritt er zur Werft. Das Fahrzeug mußte für den nächsten Fang instand gesetzt werden. Mit dem Bootsbauer hatte er eine lange Unterredung über die Erneuerungsarbeiten an seinem Kutter. Dabei maßen sie die Räume und kletterten in die Achterplicht, untersuchten die Bünn, bis der Bootsbauer meinte: »Ja – Hinrichsen, das kann angehn, aber dazu müssen wir klassifizieren.«

»Dann müssen wir klassifizieren«, war die Antwort.

Den Leuten im Dorf wurde Hinrichsen immer unverständlicher. Nun sprach man nicht mehr von dem Butenländer, sondern mit einer scheuen Hochachtung vom Hinrichsen, und man ging an ihm vorüber, nahm sein Lachen entgegen und wurde dabei ernst. Dieser Fischer beherrschte das Dorf, die Menschen schlichen unter ihm weg. Der Unglaube, den man ihm in der ersten Zeit entgegengebracht hatte, wandelte sich zum Glauben an ihn. Es wurde über Hinrichsen nur noch gesprochen, wenn er selbst nicht anwesend war. Das geschah im Flüsterton. In seinem Beisein war der Gesprächsstoff ein anderer. Er drehte sich dann um das Dorf, das anfing über seine Grenzen zu wachsen. Über den Boden, der gleichzeitig im Preis stieg und daß die Butenländer damit spekulieren wollten. Niemand fragte ihn mehr über Fang und Reise aus. Daß sein Fang gut sein mußte, war eine Selbstverständlichkeit; auch daß er von der Reise zurückkehren mußte, selbst wenn er mit dem fliegenden Holländer um die Wette segeln müßte, wie das auf seiner letzten Reise geschehen wäre, denn niemand könne das bestreiten, der zerschlagene Kutter beweise das.

Die Fischer im Dorf gingen zur Bootswerft und besahen sich den zerschundenen Kutter. Dabei war nichts Besonderes an diesem Boot, was nicht jedem passieren konnte, denn mancher von ihnen hatte zu seiner Zeit mit einer Havarie am Deich festgemacht. Aber die Erinnerung an die Witwen vom Dezember 1909 lastete zu stark auf den Fischern. Damals wurden zehn Kutter an einem einzigen Tage draußen von der See gefressen, und achtunddreißig Mann aus dem Dorfe kehrten nicht mehr wieder, weil sie mit den Fängen und den Booten und Netzen unten am Grund der Nordsee ruhten.

Seit diesem Tage wurde jede Havarie mit besonderen Augen gemessen. In der Erinnerung an dieses Unglück maß man das Glück des Hinrichsen. Die Depression dieses Tages verließ das Dorf nie wieder, und so wurde unmerklich Hinrichsen zum Drehpunkt aller Ereignisse.

 

Ein Geräusch schreckte Lee aus ihrem Sinnen auf. Sie saß am Tisch im Hause, die Hände im Schoß, und war in Gedanken versunken. Noch einmal stand das Gesicht der Nacht vor ihr; Hinrichsen am Steuer in der bewegten See, geworfen vom Sturm, ohne Segel, vor Topp und Takel.

Sie sah auf, als Hinrichsen in der Tür stand, und mußte sich in die Wirklichkeit zurückrufen und daran denken, daß der Fischer von der See zurück war. Diesmal hatte er keinen Fang, das Boot lag mit großer Reparatur auf der Werft, beim Segelmacher war ein neues Großsegel bestellt und beim Netzmacher ein Fangzeug. Das bedeutete wieder Reisen ohne Überschuß.

Hinrichsen besprach mit Lee die Beschickung der Dinge. Sie redete erneut auf ihn ein, daß es besser wäre, einen Motor einbauen zu lassen.

»Du bist unabhängig vom Wind, Hinrichsen, und auch unabhängig vom Markt.« Dabei holte sie aus einer Truhe die Blätter, auf die sie die Zahlen gemalt hatte, breitete sie auf dem Tisch aus, glättete mit dem Handrücken noch einmal die Seiten und erklärte Hinrichsen die Zahlen. Dabei begleitete der Zeigefinger ihrer rechten Hand jede Reihe.

»Bis zur ›Alten Liebe‹ brauchst du mit der Tide Gezeiten, Ebbe und Flut; hier Ebbe soviel Stunden, nachher zwei Stunden weniger; wenn du keinen guten Wind bei ›Elbe 1‹ findest, dann bringt dich der Motor zum Fangplatz. Auch bei Windstille kannst du die Kurre hinter dem Kutter ziehen und gehst an den Markt, wo du willst, auch der Ostwind hält dich nicht mehr ab, wenn du nach Altona willst.« Sie stand auf, neigte sich über ihn, »Hinrichsen«, rief sie mit Angst in der Stimme, und wieder stieg die Vision der Sturmnacht vor ihr auf, »wenn das Glas fällt, hievst einziehen, aufwinden du die Kurre und gehst in Sicherheit. Dir bleibt das Segel, das Netzzeug, und du hast keine Werftreparaturen!«

»Und das Geld dafür, Deern?«

»Harrald Johannsen!« meinte sie leise.

Hinrichsen sah sie fragend an.

»Harrald Johannsen wird es gegen einen Vertrag leihen. Jetzt bleibst du unbestimmte Zeit auf einer Reise.« Wieder nahm sie ihre beschriebenen Blätter zur Hand. »Dann dauert deine Reise aber nur fünf bis sechs Tage, und fast jedesmal hast du vier- bis fünftausend Pfund Schollen in der Bünn. Du brauchst nicht vor Cuxhaven zu liegen und dich aufschleppen zu lassen. Du bringst springlebendige Schollen auf den Markt.«

»Die hab ich jetzt auch!«

»Diese Reise gar keine und einen zerschlagenen Kutter!« Dieser letzte Ausruf, den Lee fast schreiend herausbrachte, entwaffnete Hinrichsen. Er blieb stumm am Tisch und hörte die Vorlesung seiner Lee bis zu Ende an.

Durch die Tür stürmte Klaas auf seinen Vater zu. Beide sprachen nicht viel. Der Junge packte sein Ranzel aus und sah seinem Vater ins Gesicht. Ihre Augen hielten eine stumme Zwiesprache. In ihren Unterhaltungen nahm der Mund erst die zweite Stelle als Ausdrucksmittel der sie bewegenden Gedanken ein. Immer sprachen die Augen. Das war auch so, als er mit Klaas zur Werft ging, um sich den Kutter jetzt richtig zu besehen. Als der Junge an Deck stand und das Beiboot suchte, meinte er kleinlaut: »Datt hett woll bannig brist, Vadder?«

»Man een büschen, Klaas!«

Von dem »büschen« war der Kleine nicht ganz überzeugt, als er das zerschlagene Ruderhaus und das zerfetzte Großsegel sah.

»Woveel Vadder – wörn datt tein oder twölf Strich?« fragte er sachverständig.

»Bi acht nehm een ordentlichen Fischer noch keen Steek in de Seils.«

Das wenige, was er mit seinem Vater besprach, geschah im Plattdütsch, bei seiner Mutter mußte er das vertrackte Hochdütsch, das für ihn gar keine rechte Sprache war, anwenden.

»Hochdütsch un Seefischers geheurt nich tosomen!«

Das war seine Überzeugung. Keinen Fischer im Dorf hörte Klaas hochdeutsch sprechen. Daß er Seefischer oder Fahrensmann, wie sein Vater einer war, werden würde, stand für ihn fest – nicht ganz bei seiner Mutter, trotzdem sie einer Fischerfamilie entstammte. Erst hatte sie Hinrichsen zu diesem Beruf gedrängt, um ihn öfter um sich zu haben, jetzt trug sie sich mit Gedanken daran, ihren Jungen einen Beruf an Land ausüben zu lassen, wenn er das nötige Alter erreicht hätte. Die See fraß so viele Menschen – Fischer und Fahrensleute. Lee war in steter Sorge um die Menschen, mit denen sie lebte.

 

Das Zimmer Harrald Johannsens sah für Lee so verändert aus. Die Möbel waren keine anderen geworden, es waren noch genauso wenig wie früher. Da stand der Schreibtisch mit dem mächtigen Lehnstuhl und dort das große Bücherregal. Ein Telefon und eine Schreibmaschine waren neu. Ein verändertes Aussehen hatten nur die Wände; an ihnen hingen Karten und Tabellen. Die Diagramme an den Wänden sah Lee sonderbar an. »Marktbewegung« stand über der einen Tafel. Zickzackförmig verliefen dreifarbige Kurven auf dem Papier. Nach einem Fall stiegen sie immer höher. Die letzte Bewegung, die wie ein erhobener Finger in die Luft stieß, hatte eine außerordentliche Höhe angenommen.

Eigentümlich, ging es Lee durch den Sinn, was für Zeug ihn interessiert, früher hatte er das nicht.

Das Haus am Hügel lag still, auch in diesem Zimmer ruhte eine weite Stille, nur in Harrald Johannsens Gesicht arbeiteten wie ein Motor die Gedanken.

Er betrachtete Lee und stellte fest, daß sie noch schöner als früher geworden war, sogar noch schlanker und das Blond ihrer Haare noch gebleichter.

Eigentümlich – eigentümlich, sagte sich dieser Mann, daß blonde Frauen immer schön bleiben, ja, nach der Geburt eines Kindes vielfach noch schöner werden. Und er maß ihren schlanken Leib und schätzte den Wert, wie er den Fang eines Dampfers taxierte, der zur Auktion kam. In diesem Augenblick übersah er den breiten Fischer, der ihm ruhig und unbeweglich gegenübersaß. Er mußte wohl die Schönheit dieser Frau, die früher in seinem Hause war, fast ganz übersehen haben. Johannsens rechtes Auge zog sich zusammen, mit seiner rechten Hand, deren Daumen sich stark vom Zeigefinger spreizte, wischte er sich über die Unterpartie seines Gesichtes, als wollte er die Gedanken, die ihn bewegten, unsichtbar machen. Dabei zog er das rechte Knie an, hob das Bein hoch und legte den rechten Fuß über den linken Oberschenkel.

Mit einem Seitenblick prüfte er noch einmal unauffällig die schlanken Beine der Fischerfrau und im stillen fragte er sich: Ob diese Frau in diesen Räumen glücklich werden könnte?

Blitzförmig stellten sich seine Gedanken um, er wendete sich zum Fischer, dabei saß er gerade und sah dem anderen ebenso gerade in die Augen.

»Sie haben gute Fänge und sind ein Fischer mit einer glücklichen Hand. Letzthin war Ihr Kutter überfällig, aber Sie sind zurück – ein wenig ramponiert, aber bei dem Geschäft kann das vorkommen. Die See hat keine Eisenbahnschienen, auf denen man einförmig dahinrollt. Was führt Sie zu mir?«

Hinrichsen war verwundert, daß der Mann so gut über ihn Bescheid wußte, aber er antwortete in seiner kurzen, knappen Art:

»Nee – een Schipp is keene Isenbohn un een Fischkutter keen Luxusdampfer, do hebben Se recht. Mien Fru wull mit Ihnen spreken!«

Lee hatte sich nach vorn über den Schreibtisch gebeugt und sah Harrald Johannsen ins Gesicht, so voller Vertrauen, wie sie es früher immer getan hatte.

»Wir sind gekommen, um mit Ihnen über Geld zu verhandeln. Hinrichsen soll einen Motor in seinen Kutter bauen lassen.«

Sie entwickelte ihm den gesamten Plan und hatte ihre Blätter mit den Zahlen in der Hand. Dabei wurde sie so eifrig, daß ihr wieder der Fleck am Halse erblühte und langsam verwelkte.

Harrald Johannsen sah das alles und hörte auch ihre Zahlen. Seine Gedanken waren bei der Frau und auf dem Markt, er kalkulierte die Fänge, die Auktionspreise und sah auch die Kurve für den Schollenhandel steigen. Angebot und Nachfrage! Das waren die Beherrscher seines Marktes. Ausschaltung der Fischer vom direkten Handel mit den Konsumenten, das sah er hier. Der Zug der Zeit riß auch diese zurückgebliebenen Fischer mit sich, die noch Inhaber ihrer Produktionsmittel im vorwärtsentwickelten Zeitalter waren, an die sie sich klammerten, und die sie doch unmerklich bald verlieren würden. Das eherne Gesetz der Entwicklung der Gesellschaft setzte auch hier seinen Hebel an.

Das sah Harrald Johannsen, nur der Fischer und seine Frau nicht, denn sie glaubten ihren eigenen Wohlstand zu heben, wenn sie den Motor hätten. Die Nachfrage nach Fischen aus dem Inland war jetzt schon stark, für eine weitere Steigerung wollte Johannsen noch künstlich sorgen. Motoren mußten diese Fischer haben, ihre Fänge konnten sie nicht mehr an den Konsumenten allein absetzen und – wozu war die Gesetzgebung da? Das übersah Johannsen alles.

»Ja, welche Sicherheiten bieten Sie für die geliehene Summe?«

»Sicherheit?«

»Wenn ich Ihnen Geld leihe, sehen Sie, muß ich auf die Sicherheit meines Geldes doch bedacht sein. Ich leihe es Ihnen gerne, aber Sie werden verstehen, daß Umstände eintreten können ..., damit ist nicht gesagt, daß es so kommt, aber auch Sie müssen sichergestellt sein. Ja – ich muß sichergestellt sein und Sie auch!«

An die Sicherheiten hatten Hinrichsen und auch Lee in ihrer unkaufmännischen Einfachheit nicht gedacht. Jetzt saßen sie still, sahen sich an und wußten nicht, was für eine Garantie sie bieten konnten. Harrald Johannsen nahm wieder das Wort. Seine Stimme war sachlich und ruhig, sie wirkte in diesem Raum wie einschläfernd auf die Sinne der beiden einfachen Menschen.

»Sie besitzen ein Haus, einen Garten und den Kutter. Das alles geben Sie als Sicherheitspfand für die geliehene Summe, außerdem zwanzig Prozent vom jeweiligen Fang als Abtrag von der Gesamtschuld und die bankmäßigen Zinsen für die geliehene Summe bis zur Tilgung des Restgeldes. Der Kutter wird voll versichert zu Ihren Lasten. Reparatur und sonstige Ausgaben werden voll von Ihnen getragen.«

Ganz kurz sagte das Harrald Johannsen. So als wenn er es schon vorher auswendig gelernt hätte.

»Bei einigermaßen ertragreichen Fängen haben Sie die Summe in einem Zeitraum von fünf Jahren getilgt. Zwanzigtausend Mark brauchen Sie für den Umbau. Die Schuld können die Motorenwerke und die Werft auf Akzepte auf mein Saldo ziehen!«

»Einen Sicherheitsvermerk, Hinrichsen«, so meinte er beiläufig, »nehmen wir im Vertrag auf.«

Lee sah Harrald Johannsen an und glaubte wie in ihrer Dienstzeit an seine Lauterkeit. Sie nickte Hinrichsen zu, daß er den Vertrag annehmen könnte.

Viertausend Mark je Jahr, das war eine Summe, die vorläufig noch seine Begriffe überstieg. Viertausend Mark Abtrag ohne die anderen Lasten. Zwanzig Prozent vom Verkauf an seine Mannschaft für die Arbeit, das waren schon vierzig Prozent, dazu die Zinsen, das machte zusammen fast die Hälfte seiner Fänge aus; aber das dauerte ja auch nur fünf Jahre, dann war er alleiniger Besitzer und bestimmte alles weitere. Der Kutter hielt noch zwanzig Jahre, zwanzig hatte er erst hinter sich. Mit diesen Gedanken stimmte er dem Vertrag zu. An den Betriebsstoff, die Reparaturen und Ersatzteile hatte er noch nicht gedacht. Hinrichsen und Lee kamen mit Johannsen überein, daß bei einem nochmaligen Besuch all das, was mündlich ausgemacht war, unterschrieben werden sollte. Dann trennten sie sich voneinander.

Beim Abwärtsschreiten sah Lee noch einmal zum Häuschen am grünen Hügel empor.

»Sieh, Hinrichsen! Hier sind wir uns das erstemal vor Jahren begegnet.« Sie nahm seine Hand und wanderte mit ihm abwärts zum Strand, wo ihre Segeljolle lag. Hinrichsen löste das Segel, heißte es auf und kreuzte mit dem Wind seinem Fischerhafen zu. Er saß an der Ruderpinne und sah unter dem Segel hinweg über den Strom, ob er freie Fahrt für die Jolle hatte, dann zog er das Seising fester und ließ den Wind voll in die Leinwand blasen. Lee sah ihm zu, wie er mit seiner großen Hand leise die Ruderpinne berührte und wie die Jolle sich in den Wind legte. Einmal ging er über Stag, kreuzte zurück, holte neu auf, um mit richtigem Wind und der Strömung in seinen Fischerhafen zu kommen. Mit einem Bogen um das Heck des letzten Kutters legte er an der Brücke an und setzte seine Lee an Land. Er selbst mußte erst noch sein Boot an den Liegeplatz und in Ordnung bringen; dann ging auch er, holte den Bestmann, nahm ihn mit ins Haus und sprach eindringlich mit ihm.

»Willst du drei Wochen auflegen bei anständiger Kost und einem Teil Fanggeld?«

»Was willst du machen, Hinrichsen?«

»Das sag ich dir später, erst laß uns dem Mewes das neue Rezept vom Zimmermann lehren!«

»Nee«, meinte der Bestmann und spuckte aus, »nee – de Fleegenbost wull datt nich leern, lot uns to Külpers gohn, de kann datt all, den hest datt all lehrt!«

So schritten beide den Deich entlang; sie waren in der Sturmnacht noch engere Kameraden geworden, als sie es schon früher waren.

»Wi könnt nich all Seefischers mit een eegen Kutter warn, Geld for een Ewer heff ick woll«, meinte der Bestmann zum Hinrichsen, »obers kiek di de armen Pütschers an, watt hebbt se vun de Fänge? – Datt ist een Schiet.«

»Warum?« fragte Hinrichsen zurück.

»Meenst, weil se nich no See gohn könnt?«

»Datt nich – een Schiet hebbt se for eere Reis.«

Unten am Deich lag ein Elbfischer mit seiner Jolle. Er zog seine Netze an der Gaffel hoch, um sie zu trocknen. Den Fang hatte er am Markt in Altona gelassen, den Erlös dafür brachte er jetzt heim. Ein eigenes Haus besaß er nicht, sondern wohnte in Miete bei einem Seefischer. Er bewohnte die Räume im Keller des Hauses, in die eine Holzstiege hinabführte. Die Fenster waren nicht nach dem Deich, sondern nach hinten gelegen und gaben nur die Aussicht auf das Nest frei.

Hinrichsen und der Bestmann unterhielten sich noch weiter über die Elbfischerei. Sie blickten als Seefischer mit einer gewissen Überhebung auf die Kollegen von der Elbe hinab. Unter ihrem Namensschild am Haus stand »Seefischer«. Das stand in einer gewissen Protzigkeit da. Das Wort blähte sich unter dem Namen wie ein volles Segel im Wind. Seefischer, das wollte der Bestmann werden, Elbfischer nicht.

Jeden Tag waren sie auf der Werft, der Fischer und sein Mann. Sie legten, wo es not tat, mit Hand an. Der Schiffsbauer besprach mit Hinrichsen die Zeichnungen und mußte ihm immer wieder klarmachen, daß der Raum für die Bünn, in die er die gefangenen Schollen tat, nicht kleiner würde.

»In die Achterplicht wird der Motor eingebaut.« Das waren jedesmal Hinrichsens letzte Worte, und er spie wie zur Bekräftigung dabei aus.

Eines Tages stand der Gasolinmotor auf der Werft. Da lagen die Welle, die Schwungscheibe, das Drucklager und die Schraube mitten zwischen Planken und Holzspänen am Boden. Die Monteure standen dabei, prüften die Teile, verhandelten mit dem Bootsbauer und dem Fischer. Der Bestmann lief mit gesenktem Kopf um »datt iserne Seil«, wie er sich ausdrückte, und beklopfte den Motor, bückte sich, er wollte die Mechanik von innen prüfen, dabei richtete er an die Monteure hundert Fragen. Die gaben ihm die verkehrtesten Antworten, er schielte sie an, lief zu seinem Fischer und fragte den um Rat. Plötzlich kletterte er eilfertig an Bord, stolperte dabei über die Welle, die am Boden lag. Aus seinem Hintern entfuhr ihm ein mächtiger Wind. »Laß sein, Jan«, meinte der Bootsbauer, »du brauchst keinen Wind mehr zu husten, das macht der Motor jetzt!«

»Aber nich solchen feinen!« schrie der Bestmann erbost, kletterte an Bord und spuckte wütend aus.

»Son Schiet – son Schiet – nu schallt wi nich mehr seilen!« schimpfte er vor sich hin.

»Nu brauchst du auch nich mehr die Kurre aufzuhieven, das macht das eiserne Segel jetzt«, tröstete ihn der Fischer.

»Datt ok noch, dor bruckst denn ok keen Bestmann mehr!«

»Ja, wir nehmen sogar noch einen Viertsmann an Bord!«

Das war dem Bestmann völlig unverständlich.

»Noch einen Mann und das eiserne Segel?« Sein Fischer schien ihm mit einem Male ein Narr geworden zu sein.

Auch die alten Fischer kamen zur Werft, standen abseits, kauten ihren Tabak, drehten ihn im Munde herum, damit er »achter de anneren Kusen to legen keem«, sahen sich an und sagten nichts dazu. Nur der alte Jan meinte: »Nu ward de Hinrichsen wohnsinnig, he will de Dampfers Konkerenz moken!«

Hinter den Alten standen die Jungen. Sie standen mit offenen Mäulern und besahen die Arbeit. Ihre Augen verfolgten mit Neugierde den Fortschritt. Im Dorf erzählten sich die Frauen der Fischer vielerlei über Hinrichsen und seinen Umbau. Von Lee wollten sie erfahren, was geschehen war. Lee wußte nichts, sie schwieg oder gab ausweichende Antworten, aber heimlich rechnete sie immer wieder. Das Endresultat ihrer Rechnung war stets das gleiche: daß ihr Hinrichsen vor dem Wetter gesichert sei, nach jeder Reise ins Dorf kam, die Reise nur ein paar Tage dauerte, daß er unabhängig vom Wind war und viel Schollen bringen würde und daß damit der Wohlstand käme ...

Eines Morgens puffte der Motor.

Hohl und stoßweise klang das »Paff – paff – paff!« vom Wasser her. Das ganze Dorf stand am Deich. Der Kutter machte seine Probefahrt. Ohne Segel und gegen die Flut drehte er von der Brücke ab zum Strom. Auf dem Deck rannten sich die Menschen fast um. Der Bestmann stand hinter Hinrichsen am Ruder und schüttelte den Kopf darüber, daß er nun nicht mehr die Schoten fieren lassen konnte. Er kam sich überflüssig vor und wollte wenigstens am Ruder stehen, aber da stand der Fischer. Der Motor hämmerte, seine 50 PS drehten die Schraubenwelle und schoben den Kutter im Wasser vorwärts. Hinrichsen hatte den Wind nicht mehr nötig. Die beiden Jungmannen standen auf Deck, hatten die Hände in ihre Hosentaschen versenkt und feixten sich an. So ging der Kutter auf seine erste Fahrt. Von dieser kam er bald zurück, noch ehe es dunkelte. Die Monteure überholten noch einmal den Motor, dann gingen sie von Bord, schüttelten Hinrichsen die Hand und gaben ihm die letzten Verhaltensmaßregeln.

Am Deich stand, auf seinen Haselstock gestützt, der alte Jan. Sein Körper war mächtig und breit, nur die Füße waren von der Gicht gemartert, und darum gebrauchte er den Stock.

Als er Hinrichsen sah, rief er ihn an.

»Schallt de annern Seefischers sich ok solche Motors inbaun loten?«

Hinrichsen gab ihm die Antwort, daß das Sache der anderen Fischer wäre.

»Meenst, datt de Schulln nich all warn, Hinrichsen?«

»Nee, Jan, de See is grot!«

»Mennst, datt de Lüd so veel Schulln köfft, Hinrichsen?«

»Wir werden die Fänge schon los. Harrald Johannsen sorgt dafür!«

»Meenst, datt de Preis för de Schulln bliwt, Hinrichsen?«

»De ward schon bliwen – meint Harrald Johannsen.«

»Watt is datt for een Kerl, Hinrichsen?«

»Man bloß mein Freund«, lachte Hinrichsen verlegen.

Der alte Jan hatte so eine Art zu fragen. Es waren weniger seine Fragen, als sein Gesicht mit den seltsamen Augen. Diese Augen wollten den Dingen bis auf den Grund sehen. Wenn Jan jemanden ansah, dann war es, als wenn seine Augen diesem Menschen langsam die Haut abschälten und er unter der Haut den Menschen untersuchen wollte, ob dessen Meinung echt sei. Das tat er jetzt mit Hinrichsen. Der suchte von ihm loszukommen, um mit Lee zu sprechen, ehe er wieder hinaus auf die See ging.

Jan war mit den Antworten Hinrichsens nicht zufrieden.

»Datt sünd de Jungen, de wullt kleuger als de Olln sien.«

Vom Strom her brummte die Sirene eines Dampfers.

»Ok son Negenschieter, de keen Tid hett!« Er spuckte und humpelte den Deich entlang zu seiner Kate. Er sah das Aufschnellen der neuen Zeit nicht, mit ihm ging die Tradition einer viele Jahrhunderte alten Segelschiffahrt in das Grab. Die wenigen Segler, die noch den Strom aufwärts geschleppt wurden, die waren eine Winzigkeit gegenüber der riesigen Masse der Dampfschiffe, die im Hafen umgeschlagen wurde.

Jan erlebte die Veränderung seines Dorfes, er sah, wie der alte Wasserlauf, der nordwärts seines Dorfes führte, totgelegt und ein neuer Strom geboren wurde. Vor ein paar Jahren noch floß dicht an seinem Haus der breite Strom vorbei, jetzt lag da Land, das man dem Wasser abgewonnen hatte.

Mit der Landanschwemmung waren neue Menschen ins Dorf gezogen. Auch das hatte er erlebt. Diese Menschen sprachen nicht seine Sprache, sie teilten nicht seine Gedanken, sie hingen nicht an seiner Lebensart und verstanden nicht sein Erleben – sie bauten eine andere Welt. So sah er auch den Fischer Hinrichsen als einen Menschen der neuen Zeit, der neue Methoden des Erwerbs und eine neue Lebensart in sein Dorf brachte.

In dieses Dorf, das abseits der Welt leben wollte, das nichts Fremdes innerhalb seiner Grenzen und Familien duldete. Hier herrschten bisher nur ein paar Familien. »Datt is ok een von de Butenländers«, murmelte Jan. Diesen Butenländern war das Dorf, das noch vor kurzem eine einzige große Familie war, auf Jahrzehnte verschlossen gewesen. Fast alle waren sie untereinander verwandt. Wenn auch in verschiedenen Graden, aber verwandt waren sie und wehrten sich gegen alles, was nicht aus ihnen heraus geboren war. Diese Inzucht hatte auch noch andere Nachteile mit sich gebracht als nur das hartnäckige Unverständnis, das sie der neuen Zeit gegenüber zeigten. Aber diesen Degenerationserscheinungen standen die Alteingesessenen blind gegenüber. Viele Jahrzehnte hatten sie sich erfolgreich gegen neue Einflüsse gewehrt. Das war nun vorbei. Ein neuer Zug war da erwachsen.

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