Hans Hopfen
Der alte Praktikant
Hans Hopfen

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XVI.

Eisenhut machte sich einen Tag lang weis, daß ihn die große Stadt sehr aufheiterte und ergötzte. Doch am Abend schon war ihm zu Muth, als sollt' er auf und davonlaufen. Alles, was er sah und hörte, erinnerte ihn an die entfernte, die verlorene Geliebte. Er konnte sich so thörichte Schwäche nicht verzeihen. Aber war es ein Wunder, wenn ihm bei jedem Mädchen, dem er begegnete, einfiel, um wie viel zierlicher doch die Zwillinge der Frau von Rüdenhausen gekleidet gewesen, wie viel anmuthiger ihr Gang, wie viel sinniger ihre Augen waren. Ihm, dem Verwilderten, waren sie das Maß für Alles, was sehenswerth vor seine Blicke kam.

Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als er bei dem vortrefflichen Freunde Schnauzenberg immer nach dem Befinden des Herrn Staatsraths von Rüdenhausen gefragt wird. Er hat gut antworten: »Ich kenne den Mann ja gar nicht! oder doch so gut wie gar nicht. Ich habe einmal flüchtig mit ihm gesprochen, ohne mich ihm vorzustellen. Er weiß gar nicht, daß ich auf der Welt bin.«

309 Der diplomatisch gedrillte Schnauzenberg hat gelernt, Diskretion zu achten. Er lächelt verständnißinnig vor sich hin und denkt dabei: der verschmitzte Kerl muß höllisch wichtige Dinge für den Fremden gearbeitet haben, weil er so gar nichts davon Wort haben will! Bloß als der hinterhältige Freund sich bei ihm verabschiedet, erlaubt er sich, lächelnd zu bemerken:

»Wenn Du vielleicht – ich meine ganz zufällig – Herrn von Rüdenhausen einmal begegnen solltest, so vergiß nicht, mich ihm bestens zu empfehlen.«

Schnauzenberg lacht, als hätte sein Witz den Vogel abgeschossen. Max Eisenhut geht zornig in der Nacht herum. Weßwegen der Narr ihn mit dem alten Rüdenhausen aufgezogen hat, das ist ihm ganz gleichgültig, aber – so wenig kennt der Mensch sich selbst – er hat geglaubt, wie es sich für einen Mann in so verständigen Jahren schickt, die »kleine Herzensangelegenheit« vollkommen ausgelöscht zu haben, und nun Jener ein wenig in der Asche gerührt, brennt's in ihm wieder lichterloh. Er findet nirgends Ruhe; er möchte den theuren Namen, der ihm nie wieder über die Lippen kommen darf, laut in die Nacht hinausschreien; er möchte sich selbst an's Leben. Ja, er sinnt allen Ernstes darüber nach, ob es dieser thörichten, ihm selbst verächtlichen Herzenspein nicht vorzuziehen sei, mit allem Empfinden und Denken ein für allemal ein Ende zu machen. Was auch wird er noch viel Gescheidtes hienieden erfahren, das ihn überraschen oder gar entzücken könnte!

310 Er tritt in ein Kaffeehaus. Er sucht hier nichts. Er ist weder durstig noch neugierig. Das viele Licht nur, das aus den hohen Fenstern auf die Straße fällt, hat ihn unbewußt angezogen. Da ist er nun einmal, so mag er auch ein Weilchen bleiben. Hier oder anderswo, gilt ja gleich. Die Leute gaffen ihm neugierig in's Gesicht, da er an ihren Plätzen vorübergeht. Er setzt sich an das erste beste Tischchen, wo er keinen Nachbar findet, er bestellt das erste Beste, was ihm der Aufwärter anbietet, er nimmt die erste beste Zeitung in die Hand, die gerade vor ihm liegt.

Ein großes, schöngedrucktes Blatt, das nicht in dieser Stadt erscheint und in der ganzen Welt gern gelesen wird. Aber Eisenhut starrt nur so auf einzelne Buchstaben, als wartete er darauf, daß sie sich nach und nach auf den Kopf stellen würden. Endlich fährt er mit der Hand über's Auge. Du solltest dich schämen, alter Knabe! sagt er fast halblaut und faßt den männlichen Entschluß, seine Zerstreutheit, seine Verstimmung, seine Tollheit zu bezwingen, sich mit Gewalt andere Gedanken in den Kopf zu trichtern und demgemäß gleich diese Zeitung von Anfang bis zu Ende zu lesen.

Trotzdem will es ihm nach dreimaligem Anlauf nicht gelingen, die ersten drei Sätze dieses ebenso klug gedachten als fein stylisirten Leitartikels zu begreifen. Er hat nur so eine dämmernde Ahnung, daß darin von Russen und Türken die Rede sei. Ehe er das vierte Mal die fahnenflüchtigen Gedanken zum Sturme führt, meint er, daß er wohl taktisch richtiger verfahre, wenn er das Blatt umgekehrt, statt vom 311 Anfang bis zum Ende, dießmal vom Ende bis zum Anfang zu lesen versuchte, erst die kurzen nichtssagenden Annoncen, und dann die großen, inhaltsschweren Aufsätze.

Nichtssagende Annoncen?! Er hat kaum die Zeitung in seiner Hand gewendet, da fällt ihm eine in's Auge, die sagt so viel und so Wichtiges, daß ihm die Augen übergehen und er keine andere Zeitung mehr lesen kann.

Ohne einen Tropfen genossen zu haben, wirft er dem Kellner ein Goldstück hin; er wartet's nicht ab, daß der ihm voll herausgibt. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt er seinen Hut und läuft auf die Straße und steigt in die erste Droschke, die ihm begegnet, und ruft ihr zu: »Auf den Bahnhof! aber rasch!«

Während das Fuhrwerk durch die nächtigen Straßen poltert, stützt der ungeduldige Fahrgast beide Ellenbogen auf die Kniee und faßt seinen Kopf mit beiden Händen und sagt zu sich selbst: »Welch' ein unglaublicher Thor bist du gewesen, welch' ein unverzeihlicher Narr des Glücks! Ach, warum ist es so schwer, glücklich zu werden! Selbst wenn Einem ein freundliches Geschick alle Hindernisse hinwegräumt und der besten Wünsche Erfüllung zunächst vor die Hand hinlegt, greift noch so ein täppischer Mensch daneben!«

Und eine brennende Angst und folternde Sorge kommt über ihn, als hätt' er ein Verbrechen begangen, ein Verbrechen an seinem eigenen Glück und an dem Glück des Wesens, das ihm das Liebste auf der Welt war. Er lebt die nächsten Stunden wie Einer, der in der Trunkenheit 312 einen Schuß in die Nacht hinausgeknallt hat und nun, ernüchtert, nicht weiß, ob er ein Menschenleben umgebracht.

»Wann geht der Zug nach ****?« ruft er den Kofferträger an, der beim Anfahren an seine Droschke herantritt.

»In zwei Stunden, gerade um Mitternacht!« sagt der Mann, dessen enttäuschte Augen vergebens ein Gepäckstück auf dem Fuhrwerk suchen.

Eisenhut zieht die Uhr. Da ist es ja immerhin noch Zeit genug, in seinen Gasthof zu fahren und wie ein ordnungsmäßiger Reisender seine Rechnung zu begleichen, seine Habseligkeiten und den vernachlässigten Waldl mitzunehmen und – sich eine leichte Lektüre auf den Weg zu kaufen.

Max kaufte sich dieselbe Nummer derselben Zeitung, die er vorhin im Kaffeehause in die Hand bekommen hatte, und wollte durchaus keine andere haben, obwohl dieselbe schon mehrere Tage alt war.

Ein anderer Mann, der mit Eisenhut im nämlichen Coupé die Nacht durchfuhr, wunderte sich nicht wenig, daß sein Nachbar mehr als einmal sich ein kleines Wachslicht ansteckte, eine klein zusammengelegte Zeitung vor die Flamme brachte und mit deren Hülfe ein paar Worte – wie es schien immer die nämlichen – in dieser Zeitung las und dann das Licht ausblies und sich zufrieden in die Ecke zurücklehnte. Er mußte doch nachgerade die paar Zeilen auswendig wissen, dachte Jener.

Und er wußte sie auch. Es waren ja auch nur wenige Worte. Eine kleine Familienanzeige, wie sie zu Dutzenden in jedem Tagesblatte zu finden sind. Zwei gute Menschen 313 hatten sich ehelich verbunden und empfahlen dieß Ereigniß auf dem gewöhnlichen Wege ihren entfernten Freunden.

Der junge Gatte war der Dragonerrittmeister Ferdinand Freiherr von Eberstein-Zornhofen und seine Gattin eine Tochter des Herrn Staatsraths &c. &c. Karl Ewald Bernhard von Rüdenhausen und seiner annoch lebenden Gattin Eleonore. Mit dem Taufnamen hieß die Neuvermählte merkwürdigerweise Violette. Und eben weil sie nicht Florence hieß, war dem guten Eisenhut mitten in der Nacht ein Licht aufgegangen, daß ihm die Augen brannten, bis sie naß waren.

Er hatte nur eine kleinwinzige Entschuldigung für seine beklagenswerthe Kurzsichtigkeit und er fragte sich ein über's andere Mal: Wie war meine Steinnelke denn in Violettens Hand gekommen?

»– Sie hatte sie mir eben aus der Hand genommen,« antwortete Florence, da Eisenhut endlich zu ihren Füßen saß. »Und weil Mama nichts merken durfte und Violette selbst keine Ahnung davon hatte, wessen Blume sie mir im arglosen Muthwillen aus den widerstrebenden Fingern gerissen, so ging's weder an, darum zu raufen, noch sich zu erklären. Ich dachte auch nicht, was daraus entstehen könnte.«

»Und dann, Florence?«

»Dann? Je nun, ich schwieg und wartete, bis Sie kommen würden. Ich wußt' es ja, daß Sie kommen würden.«

Er bedeckte die schöne Hand mit Küssen. Nur die eine Sorge, daß der große Herr höher mit seiner Tochter hinauswolle, machte ihn bangen.

314 Florence beruhigte ihn mit halbbetrübter Miene.

»Sie gehören keiner ultramontanen Partei an?« fragte das Mädchen.

Und da Eisenhut dieß herzhaft verneinte, fragte sie weiter:

»Und Sie glauben auch nicht an Wunder?«

»Nur an die Wunder, welche die Liebe wirkt!«

»Sie heirathen mich also nicht aus politischer Ueberzeugung? Nein! das dacht' ich mir. Und darum glaub' ich, daß Papa nachgerade ›Ja‹ sagen wird, wenn er Sie erst kennen wird und ich ein wenig darum bitte. Ich werde ihn ein wenig bitten.«

Den vereinten Bitten gelang es denn auch, dem Staatsrath das Jawort abzugewinnen. Im Stillen war er froh, einen so wackern Eidam zu erhalten. Seit der Wundergeschichte von Mariatannerl litt er ein wenig unter dem unausgesprochenen Spott, unter der verzuckerten Schadenfreude der Gesellschaft. Frau Eleonore war nicht dazu zu bewegen, diesen Winter die Gesellschaft zu besuchen. Florence hatte unter diesen Umständen keine Gelegenheit, die Augen der großen Welt auf sich zu ziehen und die goldene Jugend anzulocken. Und da sie den alten Praktikanten liebte und der junge Notar dem Staatsrathe je länger desto besser gefiel, warum hätte sich ein Vater wie er dem Glücke seines geliebten Kindes widersetzen sollen!

Eisenhut hielt an dem Wunsche fest, daß kein Anderer als der Pfarrer Johann von Gott Brettschneider ihn mit seiner geliebten Florence trauen sollte. Dagegen hatte auch 315 Ewald von Rüdenhausen nichts einzuwenden, um so weniger, nachdem er gehört hatte, daß Brettschneider gegen das Wunder, welches sich zu Mariatannerl begeben, eine fulminante Predigt gehalten habe und derohalben vom Ordinariate sogar gemaßregelt worden sei.

In den Briefen, die in dieser Angelegenheit gewechselt wurden, erkundigte sich der Bräutigam auch darum, wie es dem Alois Noderer auf dem Böswirthshause ginge. Er durfte ja in seiner jetzigen Lage ein besonderes Interesse daran nehmen und verlautbaren. Da erhielt er denn die erfreuliche Nachricht, daß Alles zum Besten stehe und daß insbesondere die Bahnverwaltung das Haus gekauft habe, welches dem Eigenthümer nutzlos neben dem Bahnhof stand. Sie hatte sich lange besonnen und wie der Florian in der Klemme war, da hatt' ihm der Bartel das Haus abdrücken wollen. Nachdem er aber die Antwort erhalten, daß das Haus gar nicht mehr dem Noderer, sondern eigentlich dem Notar Eisenhut gehörte, dachte der schlaue Fuchs: »Kleine Aufmerksamkeiten erhalten die Freundschaft. Wer weiß, ob ich den Notar drüben nicht einmal von Nöthen habe. Der alte Praktikant soll, wie ich neulich vom Rath Schnauzenberg gehört habe, beim Minister einen Stein im Brett haben! Wer weiß, wozu's gut ist.« Er legte sich in's Mittel, das Geschäft kam glatt zu Stande und Noderer zahlte seine Schulden. Dieß ward ihm um so leichter, als der alte Zlabinger die neue Ehe nicht lange aushielt und starb. Seine Wittwe, das noch immer schöne Katherl, verkaufte 316 beide Liegenschaften, und weil das Dorf keine Reize für sie hatte, ging sie als ehrbare Frau auf Reisen, um sich einen schönen Ort zu suchen, der ihrer Niederlassung würdiger wäre.

Als Frau Violette von Eberstein auf der Hochzeitsreise die Nachricht von der Verlobung ihrer Schwester erhielt, hatte sie mitten im Glück eine sentimentale Anwandlung. Wär' es nicht viel romantischer gewesen, wenn »er« nie geheirathet hätte, als daß er sich jetzt mit ihrer Schwester tröstete – »bloß weil sie ihr ähnlich sah?«

Florence hatte Violetten über jenes Mißverständniß nicht aufgeklärt. Es war sie damals zu hart angekommen, über die Sache zu sprechen, die ihr doch schmerzlicher und ängstlicher gewesen, als sie hatte merken lassen. Jetzt aber? sie dachte nicht mehr an alte Mißverständnisse.

So blieb Violette zu ihrem Schwager in einem interessanten, nie aufgeklärten, immer zartfühlenden Verhältniß. Da sie aber selber glücklich war, so gönnte sie ihrer Schwester all' das Glück, das sie besser als Andere würdigen zu können meinte, weil sie es einmal hatte verlieren müssen.

Florence und Max aber waren glücklicher als alle Anderen um sie her.

Vielleicht läßt sich vom königlichen Notar Herrn Eisenhut auch einmal ein Roman erzählen. Die Geschichte vom alten Praktikanten ist hier zu Ende.

B., Mai-Juni 1877.

 


 


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