Hans Hopfen
Der alte Praktikant
Hans Hopfen

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V.

Leichter, als die guten Dörfler es geglaubt, gewöhnten sie sich an das Pfeifen der Lokomotive, an das Rasseln der Räder und an all' das Gute und Böse, was der Dampfwagen an ihrer friedlichen Gemarkung vorüberfuhr oder auch bei ihnen absetzte.

Als es Winter geworden, war ihnen Allen nicht anders zu Muthe, wie wenn der Schienenstrang schon seit Menschengedenken sie mit der weiten Welt verbände; sie dachten gar nicht mehr, wie es anders sein könnte.

Auch die Bauten der Moosrainerin waren vor dem Schneefall unter Dach gekommen und kaum, daß der Schnee auf den Dächern lag, waren auch schon die meisten der Bauten von gläubigen Patienten bis unter's Dach angefüllt. Nur das Fürstenhaus und die kleineren Villen waren von der Eigenthümerin etlichen Arbeiterfamilien ohne Entgelt eingeräumt worden – damit die höheren und höchsten Herrschaften trockene Wände fänden, wenn sie im Frühjahr am Walde von Mariatannerl zu residiren geruhen würden.

86 Auch auf dem Grundstücke, das zum größern Theil einst Max Eisenhut gehört hatte, stand ein artiges Häuschen im verschneiten Hof. Es war zuletzt fertig geworden und nur zum Theil bewohnt. In etlichen Zimmern hatte die Moosrainerin bis auf Weiteres ihr Quartier aufgeschlagen. Es war gar ein lauschiges Heim, wie es sich mit dem Rücken an den Wald lehnte und mit den blanken Fenstern weithin über die sanft abfallende Ebene und das meilenlange Moos ausschaute. Jetzt freilich waren die Bäume des Waldes entlaubt und die weite Ebene schien unter der weißen Schneedecke reglosen Winterschlaf zu halten, wenn nicht von Zeit zu Zeit mit Dampf und Brausen ein Zug der Eisenbahn das stille Landschaftsbild von einem bis zum andern Ende durchschnitt.

Die Moosrainerin hatte wenig müßige Augenblicke. Aber wenn sie in einem solchen vom Thal herauf das Klappern und Schnauben des herannahenden Zuges vernahm, dann trat sie doch an's Fenster und sie, die sonst wenig Vergnügen an Betrachtung der schlummernden Natur empfand, sah mit Behagen zu, wie der graue Rauch über den weißen Gefilden verpuffte und die dunklen Wagen sich so bunt vom blassen Weg abhoben. Dann maß sie immer wieder mit den Augen die geringe Entfernung ab, die ihre neue Ansiedelung vom alten Dörfchen trennte, wo die Eisenbahn eine Station hatte, und der zufriedene Ausdruck ihres Gesichtes schien zu sagen: es ist gerade die richtige Entfernung, nicht zu nah und nicht zu weit; nicht so nah, wie ein Marktschreier 87 oder ein Bedürftiger gleichsam von selbst den Vorübergehenden sich aufdrängt, sondern vornehm beiseite stehend wie etwas Kostbares, das gesucht werden will; und doch wieder so nah, daß sich des Suchens Mühe rasch verlohnt und kein Suchender fehl gehen kann.

Es mangelte denn auch nicht an Suchenden. Hier, wo sonst um die rauhe Winterszeit nur selten ein armer Tagelöhner, ein verirrter Forstgehülfe oder der weltfremde Meßner von Mariatannerl aus dem Walde getreten war, herrschte jetzt ein reges, wenn auch stilles Leben. Aus Nah und Ferne kamen der wirklichen und der eingebildeten Kranken genug und wurden gut, schlecht oder gar nicht empfangen, je nachdem es die Bauerndoktorin für richtig und ersprießlich achtete.

Mit den Leuten in der Umgegend unterhielt sie keinen andern Verkehr, als den ihr Beruf und dessen Ausübung mit sich brachte. Mit wem auch hätte sie verkehren sollen? Den Bauern war sie entwachsen, und wollte sie den Glauben an ihre Wunderkraft und ihre geheimen Fähigkeiten unter ihnen bewahren, so durfte sie sich nicht unter ihnen gemein machen, nicht alltäglich wie ein gewöhnliches Menschenkind mit ihnen zusammenleben, und wenn Einer bis vor ihr Angesicht drang, sich nicht allzu freundlich, nicht allzu willfährig geben.

Was die umwohnenden Gutsbesitzer, Beamten und Pfarrer anlangt, so waren diese Gebildeten entweder Leute, die sie brauchten und an sie glaubten, oder solche, die nicht an sie glaubten und sie auch nicht brauchten. Die Ersteren kamen 88 ohnehin zu ihr und bei den Anderen hatte sie nichts zu suchen, nichts zu finden. Denn sie war stolz, besaß hohe Meinung von ihrem Beruf und ihrer Kraft, achtete keinen Widerspruch und vertrug keinen Spott.

Nur Einer war, der sie nicht brauchte und auch keinen Glauben an ihre großen Fähigkeiten zur Schau trug und der sie doch ab und zu heimsuchte, manche Stunde mit ihr verschwatzte und auch einen Scherz über die Aerzte im Allgemeinen und die Bauerndoktorin insbesondere wagen durfte, ohne sie aufzubringen. Das war der Waldmensch, der Sonderling, der alte Praktikant.

Nicht daß er eine besondere Bewunderung für die rastlose Frau empfand, oder daß auch nur ein Zug des gleichgestimmten Herzens ihn zu ihr oder ihrer Familie zog; es war im Gegentheil der Reiz des Widerspiels, der den sorglosen Jäger, dem die Tage, die Jahre, ohne Gewinn, fast ohne Erfahrungen zurückzulassen, durch die Finger glitten, immer wieder zu der Frau führte, welche jeden Augenblick festhielt und auspreßte, von der man nicht wußte, ob sie auch Zeit zum Schlafen sich gönnte, von der Niemand sagen konnte, wo in ihrem Innern die Grenze der Selbsttäuschung und des bewußten Spiels mit Anderen anfing.

Es machte ihm eine ähnliche Freude, wie anderen Menschen ein gelungenes Schauspiel, wenn diese so fremdartig bewegte Seele von ihren Geheimnissen und Plänen so viel auskramte, als ihr eben ungefährlich schien. Denn auch die Moosrainerin hatte, sie wußte selbst nicht warum, zu dem 89 uneigennützigen Menschen das Vertrauen bewahrt, das ihr bei der ersten wunderlichen Begegnung angeflogen war.

Noch eine Kraft hielt beide fremdartigen Naturen trotz manchen Widerstreits in Zusammenhang, die Dankbarkeit.

Der Bauerndoktorin war der leichtfertige Sinn und gute Muth, mit dem ihr Eisenhut das widerrechtlich bebaute Grundstück überlassen, ohne aus ihrer Verlegenheit Vortheil ziehen zu wollen, wie eine Seelengröße seltener Art erschienen. Einmal von dem Ungeschick Bartel's in Kenntniß gesetzt, hatte sie einen Augenblick Alles für verloren gegeben. Sie wußte, daß sie Feinde, Neider und Widersacher genug ringsum hatte, die sich ein besonderes Vergnügen daraus machen würden, ihr das Spiel zu verderben, so oder so. Eine bessere Gelegenheit als diese, sich an ihr zu rächen, ihre ganze, großartig angelegte Unternehmung im Keim zu vereiteln und ihrem Ruf ein tief brennendes, vielleicht vernichtendes Merkzeichen aufzudrücken, konnte gar nicht erfunden werden. Wie sie vollends hörte, daß der Eigenthümer des aus Dummheit oder Bosheit verbauten Feldes »Einer vom königlichen Landgericht« sei, gab sie jede Hoffnung auf gütlichen Ausgleich verloren. Denn wenn ihr die verwünschten Juristen, die ihr so oft das Handwerk hatten legen und das Wohlthun verbieten wollen, ohne daß es ihnen gelungen war, wenn ihr die jetzt Eins anhängen konnten, so würden sie 's auch gewiß thun und ohne Schonung.

Mit solchen Gedanken war sie in jener Mondnacht des verwichenen Herbstes durch den Wald gegangen. Sie hätte 90 am liebsten die Steine gleich vor Tag noch aus dem Boden reißen und wegschaffen lassen, auf daß am Morgen kein Böswilliger mehr einen Stein auf sie hätte werfen können. Erst der Anblick des so schön und richtig begonnenen Werkes, wie es im Mondlicht vor ihr gelegen, hatte ihr's angethan, daß der Wunsch über die Sorgen wieder Oberhand erhielt, auch ohne daß ihm noch die Hoffnung half. Allein der Trotz und die Gewohnheit, das Begonnene, was man auch sage und thue, bis an's Ende durchzuführen, kam ihr zu Hülfe. Abergläubisch, wie alle abenteuernden Naturen, die rasch und unerwartet in die Höhe gekommen sind und sich für Werkzeuge einer geheimnißvollen Vorsehung halten, hatte sie den Erfolg ihres Unternehmens gleichsam auf die Eine Karte gesetzt. Schlägt der Prozeß um das Distelfeld zu ihren Gunsten aus, dann wird das ganze Unternehmen vom Glück gesegnet sein; verliert sie im Kleinen, so hat sie auch zum Ganzen das Zutrauen verloren und will an dem einen Mißgriff erkennen, daß, wie die Bauern sagen, »der Teufel seine Hand im Spiel habe«.

Wie sie dann unverhofft auf den Eigenthümer gestoßen, mitten in demselben Grundstück, um das der Streit entbrennen sollte; wie sie in Eisenhut jenes »gute Kind« gefunden, das ihr den Zankapfel am allerliebsten geschenkt hätte, mit dem ein Anderer tausend Schikanen beschworen, den ein Bartel oder Zlabinger sich mit Gold hätten aufwiegen lassen – das hatte die harte Seele tief gerührt. Von dem Augenblick an war sie von der glänzenden 91 Zukunft Mariatannerls felsenfest überzeugt. Als thatkräftige Seele empfand sie diesen beflügelnden Glauben für ein Glück und war Eisenhut dafür noch dankbarer, wie für den greifbaren Gewinn, den er ihr mit seinem Eigenthumsrecht überlassen.

Um den Kaufpreis hatte es freilich noch manchen Zank gegeben, bis er endlich festgesetzt worden war. Ohne den guten Pfarrer wäre man nie so weit gediehen, denn Eisenhut hielt jede Summe, die ihm die Bauerndoktorin anbot, für übertrieben und nicht viel besser als ein Geschenk, und umgekehrt behauptete auch die Moosrainerin, daß sie sich nichts schenken lasse – schon ihr Aberglaube untersagte ihr, etwas geschenkt zu nehmen, was in ihrer Hand Gewinn abwerfen sollte. Daß etwas Geschenktes Frucht und Segen brächte, das zu glauben war ihr nach allen Erfahrungen ihres Lebens verleidet und verboten.

Wenn sie sich darob nicht gänzlich entzweien wollten, so mußten sich Freunde in's Mittel legen. Das war von Seiten der Bauerndoktorin ihr Eheherr, der, ein wohlgemästeter, von Haus aus grundgütiger, nunmehr freilich höllisch aufgeblasener Biedermann, als wirthschaftlicher Intendant und Haushofmeister in der Anstalt fungirte und sich wohl hüten mußte, ein Jota von dem zu ändern, was die mächtigere Gattin vorgeschrieben hatte. Für den Praktikanten kam sein alter Freund, der Pfarrer, Johann von Gott Brettschneider, der ja ohnehin dessen Ersparnisse verwaltete und, wie er immer väterlich für den Leichtsinnigen bedacht war, 92 auch dießmal dafür sorgte, daß ihm sein Aeckerchen Zinsen trug.

Dießmal ward ihm seine Fürsorge lediglich von seinem Schützling schwer gemacht. Der Käufer war leicht zu behandeln. Der Pfarrer, der das, was er an Eisenhut wohlwollend »blindes Gottvertrauen« nannte, zwar sehr zu loben fand, doch aber für die Zukunft des Verbauerten alle Aengsten ausstand, freute sich wie ein Kind zu Weihnachten, als er für den jüngeren Freund das Schäfchen im Trockenen hatte. Der Preis der Miethe war von einem reichen Mann für drei Jahre festgesetzt worden, der in der Villa »Distelfeld« sich von einem Leiden befreien sollte, das die größten Aerzte dreier Kulturländer bereits für unheilbar erklärt hatten. – Nach der Summe dieses Zinses hatte der Pfarrer ein Kapital berechnet, das die Bauerndoktorin auszahlen und er verwalten sollte. Das gab mit dem, was er bereits für seinen Freund zurückgelegt, ein ganz hübsches Sümmchen; die Bauern nannten vordem solches Sümmchen schon »ein Vermögen«, und wenn für den alten Praktikanten einst die Stunde schlug, die der Pfarrer in seiner Vorsicht immer näher kommen hörte, so war nun auf einige Zeit für den Sorglosen gesorgt. Nachdem sich Eisenhut endlich drein ergeben hatte, kam auch bei ihm allmälig das Gefühl der Dankbarkeit zur Herrschaft für die brave Käuferin, die den Grund zu dem gelegt hatte, was nun auch er scherzhaft ein »kleines Vermögen« nannte, was aber auch in Wahrheit sein ganzes Vermögen war.

93 Im Frühling starb jener große Herr und ward so von seinem alten Leiden befreit, noch ehe die Moosrainerin ihm ihre Hände auflegen konnte. Der Zins für ein Jahr ward von den Erben als Abstandszahlung gegeben und der Kontrakt gelöst. Wenige Wochen darauf war die Villa schon wieder von anderen Patienten begehrt. Ein zweiter Miethzins ward im Voraus entrichtet.

»Ich hab's ja g'wußt,« sagte die Wunderbäuerin, »daß mir's Distelfeld Glück bringen wird.«

Eisenhut war aber nicht zu bewegen, nun auch von diesem zweiten und unverhofften Gewinn sich eine nachträgliche Aufbesserung seines Kaufschillings gefallen zu lassen. Was einmal abgemacht war, sollte abgemacht bleiben. Die Moosrainerin dagegen sagte, es wäre von Anfang an abgemacht worden, daß der Miethspreis des ersten Jahres als Berechnungsbasis für den Kaufschilling gelten sollte. Der Praktikant entgegnete wieder etwas Anderes und auf alle Zumuthungen ein entschiedenes Nein. Der gute Pfarrer Johann von Gott Brettschneider aber meinte, daß Gott die Lilien auf dem Felde auch nicht fragte, was sie für Kleider haben wollten, daß der Herr den Frommen im Traume schenkte, und endlich, daß die Narren ebensowenig zu wissen brauchten, wie man ihr Glück machte, als die Patienten, was man ihnen für Medizin verschriebe.

Einige Tage später kaufte er in der Stadt ein paar neue Aktien und legte sie zum Uebrigen.

Der Pfarrer benützte gern seine freien Stunden, um 94 zuweilen in die Stadt zu fahren. In ihm war der unverdorbene Appetit eines Feinschmeckers, der nur zu lange und mit Bewußtsein alle jene besseren Genüsse entbehrt hatte, die ihm unter den Bauern im Moos nicht gedeihen konnten. Er besuchte alte Freunde, besuchte Galerieen und Bibliotheken, und gab es eine Kammerdebatte oder auch eine Vorstellung in der Oper, von der im Voraus gesprochen wurde, so wußte er es einzurichten, daß er gerade an diesem Tage für sich oder für Andere etwas in der Stadt zu besorgen hatte. Ihm war die Eisenbahn gerade recht gelegt worden, um dem milden Abend seines Lebens milde Freuden zuzuführen. Er sah seit dem letzten Winter ordentlich verjüngt aus und zum Frühling ließ er sich sogar neue Kleider von einem Schneider in der Stadt machen.

Anfangs war Eisenhut ein und anderes Mal auf die Zumuthung seines Freundes eingegangen, ihn nach der Residenz zu begleiten. Das Wiedersehen der bekannten Häuser, Straßen und Plätze. aus denen sich einige seiner fröhlichsten Jahre abgespielt, griff dem alten Praktikanten an's Herz. Wehmuth und Erinnerung machten ihn da für einige Stunden recht glücklich. Auch war er mit einer gewissen Hast überallhin gegangen, wo ihm der Pfarrer einen guten Genuß vorhergesagt hatte.

Das war so ein Taumel, der nur allzu rasch verflog. Dann lehnte er jede weitere Aufforderung, selbander die so nahgerückte Stadt zu besuchen, ab. Er wollte sich nicht wieder Bedürfnisse zulegen, deren er sich nicht ohne Mühe 95 und Strenge entwöhnt hatte. Er wollte schlicht, unabhängig im Gemüth und mit seiner Lebensweise zufrieden bleiben, wie es sich für ihn schickte. Wenn alles Behagen des Wiedersehens ausgekostet war, hatte er auf dem Boden des Bechers doch immer betrübende, nicht selten beschämende Gedanken gefunden. Der Nachgeschmack verleidete ihm den Trank.

Nicht so fast, daß er von alten Häusern auch alte Gedanken und Empfindungen ablas, mit denen er jetzt nichts mehr anzufangen wußte. Was sollten ihm die Träume, die Pläne seiner Studentenzeit, all' die Luftspiegelungen hochfliegender Jugendphantasie, aus denen nichts, rein gar nichts geworden war! Mein Gott, war es nicht so, war es doch anders geworden! Er beklagte sich ja nicht. Aber die Menschen! daß sich die Menschen so verändert hatten, das verstimmte ihn tief. Thor, der er war und glaubte, daß ihn die Anderen nicht auch sehr verändert fanden – oder vielleicht wußten diese gerade deßhalb, weil er sich so ähnlich geblieben war, nichts Rechtes mehr mit ihm anzufangen.

Freilich hatten sie ihn herzlich empfangen, die alten Kumpane – aber die nicht verschollen oder verdorben waren, die hatten's in der Zeit ziemlich hoch gebracht. Der saß im Ministerium, Der in der Kammer, der Eine pochte auf seine Lehrkanzel an der Universität, der Andere auf die große Firma der Aktiengesellschaft, die er dirigirte. Die Brauchbarsten und Rührigsten waren es ja eben, welche die Hauptstadt des Landes gefesselt oder wieder an sich gezogen hatte. 96 Auch waren sie Alle verheirathet, hatten Kinder, hatten Orden, hatten politische Ueberzeugungen, eine recht sichtbare und angesehene Stellung in der Partei, in der Gesellschaft, in der öffentlichen Meinung.

Er hatte nichts von alledem! Darüber würden die Freunde leicht hinweggekommen sein. Aber wenn die gegenseitigen Herzlichkeiten, die gemeinsamen Erinnerungen, die Nachfragen um des Einen Tod und des Andern Gedeihen erledigt und wiederholt erledigt waren, da konnte man mit dem alten Praktikanten, der nach achtzehn Jahren über's Moor zurückkam, wie er nach dem Examen dahin gegangen war, nicht recht weiter fort im Gespräch. Wo die gleichen Interessen fehlen, hält die beste Freundschaft nicht gleichen Schritt in der Unterhaltung. Ihn kümmerte weder Rangliste noch Kurszettel; er war nicht einmal ein ζωον πολιτικον, wie sich's in unserer Zeit gehörte; ihn interessirte die letzte Rede des Ministers so wenig wie die bevorstehende Landtagswahl; der Zoll auf Roheisen war ihm so gleichgültig wie die Gesundheit des Papstes. Ja, als man ihm Vorwürfe machte, was für dunkle Biedermänner gerade aus der Urne seines Wahlkreises hervorzugehen pflegten, besaß er die Stirne zu versichern, daß er dem dermaligen Vertreter sein spezielles Vertrauen ebensowenig zu entziehen gedächte, wie die Stimmen seiner Mitbürger, obwohl er niemals einer Meinung mit ihm gewesen; es wäre ein braver Mann und das ihm eben genug.

Was er dann auf's Tapet brachte, lud wieder Jene nicht 97 ein, im Gespräch zu verweilen. Genau beachtet, sprach er eigentlich von nichts als von der Jagd, von den Bauern und von ein paar alten Büchern, die längst aus der Mode gekommen waren. Er hatte die Hartmann'sche Philosophie und die Wagner'sche Musik verschlafen. Er hatte nicht einmal Kleider, in denen man ihn mit gutem Gewissen zu den Damen führen konnte. Als er zum ersten Mal mit seiner lehmfarbigen Joppe im Salon der steifen Gattin seines Jugendfreundes, des kleinen Schnauzenberg, auftrat, schämte er sich selbst. Ganz in Betrachtung des wunderlichen Gegensatzes versunken, wie seine ausgeblaßten Loden sich vom Plüsch der eleganten Möbel abhoben, vergaß er, den Faden der Konversation festzuhalten, und schwieg sich also zur Verzweiflung Derer, die es gut mit ihm meinten, ein halbes Stündchen durch. Dann kam anderer Besuch. Feine Leute mit rasirten Gesichtern und modischen Toiletten. Die Dame des Hauses erröthete, da sie den plumpen Gesellen vorstellte. Wie um sein Hiersein zu entschuldigen, fügte sie dem leise gesprochenen Titel »Rechtspraktikant« eiligst »ein Jugendfreund meines Mannes« hinzu. Die Herren redeten herablassend freundlich zu ihm; ein Gänschen, kaum flügge, verbiß nur allzu sichtbar das Lächeln über solchen Aufzug, sie sagte ein über's andere Mal: »Ich dachte, Sie wären ein Forstmann!« und fächelte die Luft zwischen ihm und ihr mit einem Spitzentuche, als wollte sie sagen: Geh' fort, Du roher Bauer!

98 Er ging auch bald. Der Hausherr lud ihn für übermorgen zu Tisch und ließ nur so nebenher in aller Freundschaft fallen: »Aber komm' in einfachem schwarzem Rock; Frack ist bei uns nicht de rigeur, wenn auch vielleicht Excellenz XYZ mitspeisen sollte.«

So ähnlich war es ihm fast bei Jedem ergangen. Frack? . . . Er hatte wohl noch einen . . . denselben, den er sich zum ersten Examen hatte »bauen« lassen. Er war noch »wie neu«, denn er hatte ihn keine zwei Dutzend Mal, nur eben bei Sterbefällen und dergleichen traurigen Veranlassungen auf dem Leibe gehabt . . . Einfacher Rock? . . . er trug als einfaches Kleid die Joppe. »Ein Rock, Ein Gott!« wie's im Sprüchwort heißt.

Für das Vergnügen, sich mit fremden Leuten zu langweilen, sich von alten Narren hofmeistern und von schnippischen Backfischen aushöhnen zu lassen, wollte er keine seiner Bequemlichkeiten opfern, nicht die kleinste! . . . Und er war sehr bequem geworden. Ja, er sagte sich's selbst, wie's die Anderen von ihm sagten, aber er empfand keine Lust, es zu ändern: er war bequem geworden und verbauert.

So blieben die Eindrücke, die er mit nach Hause nahm – wie freundlich sie sich anfangs auch angelassen – doch unerquickliche. Wozu sie wiederholen! Mochte der Pfarrer nur allein fahren, wenn es ihn nach der Stadt gelüstete. Der Pfarrer ward es auch bald müde, den Widerstrebenden zur Begleitung aufzufordern. Und so kam's, daß der alte Praktikant die Eisenbahn nur auf der kurzen Strecke 99 zwischen seinem Dorf und der nächsten Station benützte, von welcher er in einer guten halben Stunde bis zu dem neuangelegten Kurorte der Moosrainerin gelangen konnte.

Im Frühling, da die Jagd sich besonders gut anließ, kam er auch nicht mehr zur Wunderbäuerin hinüber. Und einmal des Ganges entwöhnt, war es ihm auch im Sommer selten eingefallen, nach Mariatannerl abzuschweifen. Er wußte ja ohnehin, daß Alles dort zum Besten stund und immerfort gedieh. Zu sagen hatten sich er und die Moosrainerin so viel wie nichts. Auch waren bei ihr allerhand vornehme Leute mit Wagentroß und Livreien eingezogen, die großes Wesen trieben, viel Aufwand machten und die Gemüthlichkeit verscheuchten. Man sah dort Rassepferde, lange Schleppen, neueste Moden. Böse Mäuler wollten sogar behaupten, daß einigen der hohen Patienten zur Zerstreuung ihrer Melancholie, zur Ermunterung ihrer kranken Nerven hohes Glücksspiel von Zeit zu Zeit erlaubt worden wäre.

Daneben am alten Wallfahrtsort hielten die Bauern jetzt ständige Kramladen. Musik fehlte nicht. Ein Tanzplatz im Walde wurde errichtet, damit die Patienten ab und zu etwas Lustiges zu sehen hätten. Eine wandernde Menagerie, ein Ringelspiel und andere Merkwürdigkeiten baten um die Erlaubniß, sich einander ablösen zu dürfen. Es schien den ganzen Sommer durch Jahrmarkt zu sein. An Prozessionen und anderen geistlichen Ereignissen war aber auch kein Mangel. Zuweilen gab es zwischen den Weltlichen und den himmlisch Gestimmten ordentliche Prügel. Doch ereignete sich 100 nichts besonders Strafbares dabei, und für kleine Schäden an Schädeln, Armen und Beinen war ja bei der Wunderbäuerin in nächster Nähe Heilung, wohl auch für etliche Tage freie Verpflegung zu finden.

All' der Lärm und das Getriebe auf der einen, die vielen Kranken mit ihrem breitspurigen Gefolge auf der andern Seite schreckten Eisenhut vom Besuch zurück. Die Moosrainerin hatte ohnehin im Sommer über und über zu thun. Und ihm war jeder Vorwand recht, den Menschen aus dem Wege zu gehen. Die wenigen Besuche in der Stadt hatten nicht glücklich auf ihn gewirkt. Trotz der schönen Jahreszeit und der guten Jagd war eine Verstimmung über ihn Herr geworden, von der er sich noch im Winter nicht hatte anfechten lassen. Immer schon ein Freund der Einsamkeit, ließ er jetzt oft ganze Tage vergehen, da er außerhalb des Bureau mit keiner Menschenseele ein Wort wechselte. Wo er die Sonntage zubrachte, wußte man nicht. Er trieb sich in den Wäldern, im Moos, auf fremden Dorfschaften herum; zeichnete zuweilen alte Bäume und alte Bauerngesichter in ein Skizzenbuch; kaufte ein neues Gewehr und schoß es auf der Schießstatt ein. Wenn ein Anderer hinzukam, ging er fort. Dann setzte er sich wieder wochenlang unter die Bauern und machte all' ihre Festlichkeiten mit, Kirchweihtanz, Kegelschieben, Scheibenschießen, Alles mit überlauter Stimme und übernächtiger Ausdauer. Es geschah aber auch, daß er's mittendrin satt kriegte und, ohne daß ihm Einer ein böses Wort gesagt hätte, im besten Trubel stumm seinen 101 Hut vom Nagel riß und in den Hofgarten hinaufging, wo er am höchsten war. Dort saß er dann oft eine Stunde lang oder zwei, sah nach der Stadt, die zwischen Moor und Alpen vor ihm in der Ebene lag, und träumte so hin; er wußte selbst nicht, was er träumte, noch warum er so that und nicht anders, da ihm doch Eins war wie's Andere.

Er trug eine dauernde Unruhe, ein leises, aber hartnäckiges Unbehagen mit sich herum, das er weder rechtfertigen noch loswerden konnte. Ein schaler Geschmack in der Seele wie auf den Lippen, ohne daß er sich großen Genusses hätte anklagen können. Ein immer auflebender Trieb, in's Ungewisse hinauszujagen, und dazu eine Müdigkeit des Entschlusses, die nichts mehr für der Mühsal werth hält. Ihm war zu Muthe, wie wenn er behext worden, und er konnte sich doch keines Zaubers erinnern, der ihm begegnet wäre.

Der Pfarrer, mit dem er noch immer am meisten verkehrte, lächelte, wenn er ihn also sah, nickte, klopfte ihm auf die Schulter und sprach:

»Ich kenne das! 's ist das Alte-Junggesellenfieber. Will eben auch durchgemacht sein.«

Eisenhut ließ ihn reden; that sich ab und zu Gewalt an, heiterer zu scheinen, als er war, und hing im Uebrigen ziemlich ungestört seinen einsiedlerischen Launen nach. 102

 


 


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