Wilhelm Holzamer
Vor Jahr und Tag
Wilhelm Holzamer

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Der Kamper wurde nach Mainz beordert. Jeden Tag war er in letzter Zeit die ganze Strecke, die er gebaut hatte, abgegangen – es war kein Grashalm gewachsen, den er nicht beachtet hätte. Daß er nun nach Mainz beordert war, das war doch wohl, weil er zum Oberingenieur ernannt werden würde – es war so gut wie sicher. Den ganzen Tag war die Dorth allein – und sie wußte nicht, war ihr freier oder war ihr enger. War ihr leichter oder schwerer? Es war ihr beides – es kam nur darauf an, woran sie dachte.

Nun konnte sie auch nichts mehr arbeiten. Sie sank geradezu zusammen. Endlich entschloß sie sich, zu der Annelies zu sagen: »Annelies, mach du's. Ich kann nit mehr – ich weiß nit – ich muß was in mir haben – ich glaub, ich werd krank.«

Die Annelies hatte ein gutes Herz. Sie nahm ihr alle Arbeit ab. Sie triumphierte aber auch heimlich ein bißchen, daß ihr die Dorth doch noch das gut Wort hatte gönnen müssen.

»Schon dich, Dorth – brauchst dir kein Sorg zu machen, ich bring schon alles in die Reih.«

War leicht zu sagen: schon dich!

Die Annelies war geschäftig, daß ihr der Speck wackelte. Der Kamper schrieb, daß er zum Oberingenieur ernannt sei und daß er noch ein paar Tage zurückgehalten werde, eines neuen Projektes wegen, das sehr schwierig sei: eine Bahnlinie durch den Odenwald, dazu ein sehr gewagter Viadukt notwendig sei.

Er blieb am Ende über die Kirchweih weg?

In die Dorth kam etwas, wie eine Lust. Das war wie ein großes, freies Atemschöpfen. Sie konnte sich nicht helfen – aber es zog ihr durch alle Glieder. Sie konnte die Musik nicht abwarten. Noch einmal tüchtig tanzen – die drei Tage lang – alle Tänze, die drei Nächte durch. Dann konnte die Hochzeit sein – in Gottes Namen. Na ja, in Gottes Namen.

»Annelies, ist alles in der Reih?«

»Nit 's Untätchen, das fehlen tät«, antwortete die Annelies stolz.

Die Dorth belebte sich wieder.

»Kerbekuchebackesamstag« – sie tat nichts – sie schrieb nur die Kuchenzettel, die auf die Kuchen kamen, damit der Bäcker wußte, wem sie gehörten. Aber sie war frisch. Sie trällerte vor sich hin. Sie klappte mit den Absätzen und setzte zierlich die Fußspitzen.

Es war doch gut, daß es einmal Kirchweih war im Jahr, daß man sich austoben konnte.

Und nun war der »Kerbesonntag« da.

Nun war der Saal blank – nun war alles nur ein Erwarten – nichts im ganzen Hause, das der Kirchweihputz nicht um- und umgewendet hätte, die Kochtöpfe in der Küche waren blankgeputzt und schienen auch nur drauf zu warten, auf den Herd gesetzt zu werden. Und erst die Annelies, sie stand da, die Arme in die Seiten gestemmt, und leckte sich die Lippen. Ihr Doppelkinn glänzte, und aus den aufgeschürzten Ärmeln prangten die dicken Arme in ihrer ganzen speckigen Rundung hervor. Ihre weiße Schürze aber umspannte straff den hochgewölbten Leib und gebot Achtung, wie der Hermelin eines Herrschers. Der Herd war angezündet – der Schweinebraten, der Rindsbraten, der Kalbsbraten, sie standen schon bereit in den Brätern. Die Bratwürste hatte die Annelies roh versucht, wie sie gewürzt waren: der Solms hatte sie fein gemacht diesmal – sie gaben guten Durst, ohne zu scharf zu sein. Es sollte ihr nur einer kommen und was auszusetzen haben.

Der alte Rosenzweig ließ sich nicht viel sehen, wenn so etwas los war im Hause.

An der Kasse saß die Marie, die nun respektvoll von allen Leuten Frau Goschel genannt wurde.

Dann fuhren die ersten Wagen vor: Klein-Winternheimer, Ober-Olmer, Essenheimer, Stadecker, die ankamen. Lauter alte Kirchweihstammgäste. Wenig Leute aus dem Dorfe.

Oben raste der Mainzer Zug vorbei – er war gekeilt voll. Dann läutete es »Gebet« – und noch ein halb Stündchen, da war's drei Uhr.

Punkt drei schmetterte das Jeanchen seine Trompete. Er ganz allein – das Signal zum Anfang. Erst groß und pathetisch, dann luftig und leicht – Läufe und Triller drin – und dann, mit der Trompete am Munde zu den anderen Musikanten hin den Takt nickend, begann er den Eröffnungswalzer, und Baß und Klarinette, Violine und Althorn fielen ein. Wer zuerst tanzte, das war die Dorth. Und wer mit ihr tanzte, das war der Stationsvorsteher, der neu ins Dorf gekommen war.

Sie mußte etwas Besonderes an sich haben für Fremde – denn es durfte nur ein Fremder kommen, sein Auge fiel auf die Dorth.

Der Stationsverwalter war aus Bingen – ein rheinisch lustig, leichtes Blut, ein echtes »Binger Lüftchen«, und die Dorth tanzte wie eine Feder.

Und er tanzte mit heftigen Bewegungen – nicht ruhig, gleichmäßig und still – gefühlvoll wie der Vetterlein. Das war aber der Dorth gerade recht. Sie hüpfte gern mal und ließ sich gern mal in einem großen Schwung mitnehmen.

Sie war wie ausgewechselt.

Mit ihr tanzte die Welt. Alles Zurückgehaltene in ihr war losgebrochen – es stürmte in ihr. War sie wieder das echt rheinhessische Mädchen von früher – oder war alles übertriebene Ausgelassenheit und Verzweiflung?

Aber nicht denken – über ihr war keine Peitsche – und sie war nicht an Zügeln – und sie war daheim – daheim mit allen Gedanken und Sinnen und Gefühlen – den heimischen Boden unter den Füßen und fest und sicher auf ihm, verwachsen mit ihm und glücklich dabei. In dem alten Daheim, dem ihr ganzes Sinnen und Trachten, ihre ganze Jugend gehört hatte. Alles, was sie erlebt hatte, und alles, was ihr lieb gewesen war. Alles, was ihr leid war – ja, das auch – und das wie Glocken war, die übers Feld ziehen, mittags, wenns ganz still ist. In dem Daheim ihrer Mutter und ihres Vaters – und des Jörg-Adam – wo man ausgelassen war und übermütig, neckisch und leichtsinnig, froh und sorglos und gedankenlos. Auf einmal glücklich. Und sie tanzte. Keine Pause während der Tänze – und keinen Tanz versäumen. Walzer, Schottisch, Rheinländer, Mazurka, Galopp – alles ganz egal – sie tanzte jeden Tanz mit der gleichen Hingebung, in dem gleichen wilden Sturme. Es war alles Bewegung und Takt in ihr – alle Muskeln zitterten, alle Nerven hüpften, und das Blut sprang in den Adern.

Gegen Abend streckte der alte Rosenzweig einmal den Kopf zur Saaltüre herein.

Die Gäste waren ihm treuer geblieben wie die Zeiten. Es war besetzt – und schon hatte man angefangen, Essen zu bestellen. Was er gemeint hatte, daß es eine schlechte Kirchweih werden würde, das war nun doch eine gute geworden, und die Marie konnte kaum allein die Kasse bewältigen. Die Dorth hätte ihr helfen sollen – aber die Dorth war nur eine Narretei heute, und es war nichts mit ihr anzufangen. Mochte sie in drei Teufels Namen toben, ihren »Stußkopp« durchsetzen. »Die Kränk hat sie ein«, knurrte der Rosenzweig, »und der Eisenbahnkerl hat ihr noch ganz den Kopf verdreht. Sie soll aber haben, was sie will; sie wird schon kriegen, was sie gewollt hat.« Nun kamen auch die Mainzer. Es ging schon gegen Abend. Es war halt doch noch ein Renommee, was die »schöne Aussicht« hatte – und wenn einer sagte: wir gehen zum alten Rosenzweig, so war das dasselbe, als wenn er gesagt hätte: wir wollen einen guten Schoppen trinken und was Gutes essen.

Gut essen und trinken aber, das geht dem Rheinhessen über alles.

»Mag sein, wie's will – eine gut Küch und einen guten Keller – und da möchten noch zehn Bahnen gebaut werden, die ›schöne Aussicht‹ hält sich doch«, triumphierte der Rosenzweig.

Die Dorth hatte gespäht, ob der Kamper nicht gekommen sei. Sie hatte ihn nicht gefunden, er war wohl nicht da. Ob er tanzen würde, wenn er da wäre?

Ja, der und tanzen! Nein, der tut's gewiß nicht. Viel zu steif und würdig, viel zu vornehm. Abgezirkelt wie ein Amtsrichter.

Pfui, war sie ein garstig Ding – und gar kein Respekt, gar nit! –

Sie trat wieder zum Tanze an.

Auf einmal stand der Vetterlein im Saale.

»Tanzen wir einen?« fragte die Dorth.

»Zu alt«, sagte der Vetterlein.

»O mein, gehn Sie, vor ein paar Jährchen, wissen Sie noch?«

»Ja, so ein paar Jährchen – das kann aber auch lang her sein. Und der Herr Bräutigam?«

»Er ist in Mainz. Entweder macht er sich aus der Kirchweih nichts, oder er hat etwas zu tun, so daß er nit fortkann. Schließlich ist er ja ein Leimsieder gegen uns Leut hier.«

»Na, na«, drohte der Vetterlein mit dem Finger, »am Ende sollten Sie als Braut doch nicht so viel tanzen, Dorthchen – es könnte ihm nicht ganz recht sein – und ich glaub, es ist auch unrecht von Ihnen.«

»Ich bin Wirtstochter.«

»Ja, ja – aber – –«

»Ach, aber – Sie sind auch ein Mensch wie ein Stück Holz.«

Damit war sie weg – und gleich darnach sah sie der Vetterlein im Tanze schweben. Der Machetti, der mit dem Dalma als den einzigen Italienern, die dauernd an der Strecke beschäftigt wurden, im Dorf geblieben war, tanzte ein Solo mit ihr, mit allen graziösen Bewegungen des Italieners und gelegentlichen Wildheiten. Und gerade, als sie zierlich sich drehten und die Arme einander hoben, leise schwebend in dem tragenden Takte des Walzers, Arme und Oberkörper auf den Wellen der Melodie wiegend, warf der Machetti den Kopf in die Höhe und nickte dem Jeanchen oben auf seinem Orchester zu – da ging die Musik in einen Galopp über – und so, wie nun die beiden rasend herumwirbelten, hatte noch niemand zwei tanzen gesehen. Die Zuschauer klatschten Beifall.

»Eviva italiano!« machte sich ein Mainzer ein Scherz zu rufen.

Der Italiener horchte auf – dann verbeugte er sich mit königlicher Grandezza, um dann mit feierlichen Schritten zu seinem Platz zu schreiten.

Die Dorth war wieder bei dem Vetterlein.

»Ich kenne Sie ja fast nicht wieder, Dorthchen. Es ist ja unheimlich. Tun Sie's nicht, ich bitte Sie.«

»Ach was!« sagte sie übermütig, »ich will jung sein und mein Leben genießen.«

»Sie werden's bereuen.«

»Gut, dann bereue ich's – aber ich hab dann doch genossen. Einmal ist immer.«

So tanzte sie den Abend weiter.

Dann hörte man den letzten Zug aus Mainz draußen vorbeirauschen. Es war nun die Stunde, in der gegessen wurde. Auch die Musikanten pausierten. Die Dorth rührte nichts an, keinen Bissen. Aber ein Glas Wein leerte sie mit einem Zuge.

»Noch einmal gilt's heut: daheim ist daheim«, sagte sie zum Vetterlein.

»Man ist daheim, wo man liebt«, entgegnete der.

Sie besann sich.

»Wissen Sie was – ich glaub – man kann nur lieben, wo man daheim ist.«

Ihre Blicke, schien's dem Vetterlein, waren verwirrt. Er behielt sie fest in den Augen.

Sie erfaßte seinen Blick und erschrak.

»War das dumm, was ich gesagt hab?« fragte sie.

»Dumm? – Vielleicht unrecht. Sie sind aber entsetzlich aufgeregt, Sie müssen sich beruhigen, Dorthchen. Übrigens – es steht heut morgen im ›Mainzer Tageblatt‹ – Kamper ist Oberingenieur geworden, er wird den Bau des Himbächelviadukts leiten – Sie werden's schon wissen das soll eine ungeheure Leistung geben – weit schwieriger als der ›hohe Damm‹ hier. Im Odenwald da hinten.«

Die Dorth erwiderte nichts. Und eben begann die Musik.

Sie sprang in den Saal.

Ihr war, zwei brennende, große, gräßliche Augen stierten sie an. Sie waren so nahe, daß sie nach ihnen hätte schlagen können.

Sie tanzte, und die Augen tanzten mit ihr. Wie sie sich auch drehte, sie stierten auf sie. Unentrinnbar stierten sie auf sie.

Da war's ihr auf einmal, sie müsse einen Schrei tun als ob ein Unglück geschehen sei.

Der Tanz war aus – sie spürte den Boden nicht mehr unter den Füßen – alles um sie herum schwankte. Auf und nieder gingen die Menschen, der ganze Tanzsaal schaukelte.

Neben dem Vetterlein stand der Kamper. Er war mit dem letzten Zuge gekommen – nur für diese Nacht – andern morgens in der Früh mußte er wieder nach Mainz – die Arbeit an dem Viaduktprojekt hielt ihn ganz in Atem.

Die Dorth wollte einen Schrei tun. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Ihr war's, sie müsse fliehen – und doch war sie wie an Ketten angebunden. An Ketten, wie ein Pferd an der Leine. Und an den Ketten zog er – er zog sie zu sich hin – und sie wollte doch fliehen. Sie wankte auf ihn zu und stürzte ihm an die Brust. Auf einmal war ihr alles so hell und klar, wie wenn ein Blitz durch sie hindurchgefahren wäre.

»Ich kann doch nicht«, stöhnte sie, in seine Arme sinkend.

Der Kamper sah, wie es um sie stand.

Nun aber kein Aufsehen weiter vor den Leuten. Man begann so schon, sich um sie herum anzusammeln.

Er richtete sie auf und führte sie weg, und der Vetterlein half sie stützen. Es gab kein Bedenken und Besinnen bei ihm, kein Fragen und kein Zaudern.

Die Wirtsstube unten war voll von Gästen – so mußte man sie hinaus in ihre Stube bringen.

»Ihre Stube!« rief er im Hausgang.

Die Annelies sprang aus der Küche.

Sie brachten auch weiter die Dorth die Stiege hinauf. Der Kamper tat alles ohne Aufregung, umsichtig, ruhig.

»Holen Sie rasch Wein und Essig, Herr Vetterlein«, bat er oben.

Die Annelies öffnete die Stube der Dorth.

Der Kamper legte sie sanft auf ihr Bett hin. Dann trat er einen Schritt zurück und sagte zur Annelies: »Bitte, machen Sie ihr den Hals und die Brust auf, sie muß Luft haben.«

Die Annelies tat's und deckte dann der Dorth ein leichtes Tuch über.

Der Vetterlein kam mit Wein.

Die Annelies rieb der Dorth die Schläfen ein wenig – sie atmete bald in ein paar tiefen Zügen – dann hielt ihr die Annelies den Wein an die Lippen und flüsterte ihr zu, einen Schluck zu nehmen. Die Dorth tat einen gierigen Zug.

»Sie hat wie verrückt getanzt«, sagte die Annelies, »das kommt davon – aber jetzt muß ich in mein Küch.«

Sie ging, und die beiden Männer blieben.

Die Dorth gähnte tief und krampfhaft.

Als sie darnach die Augen aufschlug, sah sie den Kamper, und es war ein tödlicher Schreck in ihrem Blick.

»Ich kann nicht«, stöhnte sie – und »ich kann nicht«, wiederholte sie nach einer Weile.

»Verhalte dich ganz ruhig, Kind«, bat der Kamper, »es wird bald vorübergehen.«

»Beruhigen Sie sich, Dorthchen«, gab der Vetterlein gute Worte, »'s ist nichts weiter.«

»Ich kann nicht!« stöhnte die Dorth nach einer Weile wieder.

»Was kannst du nicht, Kind?« fragte der Kamper.

Aber sie wiederholte nur:

»Ich kann nicht – nein, ich kann nicht.«

Sie hatte dabei die verwirrten Augen, die den Vetterlein geängstigt hatten; aber nun waren sie mehr wie verwirrt, nun waren sie lauter Verzweiflung. Es wagte keiner mehr zu fragen; aber dem Vetterlein schlug bang das Herz: er meinte sie verstanden zu haben. Doch wie sollte er helfen können?

Nach einer Weile nahm der Kamper ihre Hand.

»Freust du dich nicht, Kind, daß ich richtig zum Oberingenieur ernannt worden bin – und daß ich den Viadukt im Odenwald zu bauen habe? Es ist eine Aufgabe, wies kaum noch eine bis jetzt in Deutschland gegeben hat«, und seine Stimme hatte nun einen Klang, den auch der Vetterlein noch nicht bei ihm vernommen hatte. Es war sein Herz, das flehte. Aber sie blieb stumm.

Im Hause hatte es keine Störung gegeben, der Tanz war weiter gegangen – nur der Annelies waren ein paar Hähnchen ein bißchen dunkel geworden.

Die Dorth schien zu schlafen.

Die beiden Männer entfernten sich.

Sie schlief aber nicht, sie war nur sehr matt. Sie war zum Sterben matt. Und sie sah beständig die furchtbaren Glühaugen, die sie anstierten.

Die Lokomotive, die auf ihr Haus zuraste.

Aber dann auch wieder: groß, übermäßig groß, die Augen vom Kamper, die einen so zwingen konnten, wie wenn man einen Hund ansieht, daß er kuscht.

Sie wollte schreien – aber sie hatte das Bewußtsein, daß sie das nicht dürfe. So bezwang sie sich und verhielt sich ruhig.

Die Tanzmusik tönte gedämpft herauf – sie war wie eine warme wohlige Luft, die einen umweht – dann klangen – es schien nach langer, langer Zeit – Tritte, zwei Männer traten an das Bett.

»Sie schläft«, sagte der Vetterlein.

»Ja, sie scheint zu schlafen«, bestätigte der Kamper – »es war wohl ein bißchen viel für sie in letzter Zeit.«

»Es ist mir, ich weiß nicht wie«, erwiderte leise der Vetterlein, »es ist mir bang um sie.«

»Sie ist doch aber so ein gesunder Mensch – von einer so prachtvollen Gesundheit.«

»Ja, ja – aber gerade, weil sie so gesund ist.«

»Ich meine immer noch – es kann ja nichts weiter sein.«

Dann gingen sie sacht hinaus – und bald darnach wurde die Musik still. Die Dorth richtete sich auf. Der Tag begann zu grauen. Noch schwebte und schwankte die Welt – und wenn sie die Augen schloß, war es ihr, sie werde an die Decke gehoben. Sie faßte mit aller Willenskraft fest einen Punkt ins Auge, ihre Blicke klammerten sich förmlich an das Fensterkreuz an, damit sie das Gehobenwerden und An-der-Decke-schweben nicht wieder zu fühlen habe.

Dann erhob sie sich. Sie hatte nun Kraft. Auf den Zehen schlich sie hinaus, die leichten Tanzschuhe in der Hand. Die Stiege knarrte ein wenig – aber das Haus blieb still.

Im Hofe sprang Treff auf sie zu, leckte ihr die Hand und blickte mit großen Augen zu ihr auf. Sie streichelte ihn und glitt an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen.

Sie trat vors Tor, sie zog die Schuhe an – dann ging sie den Feldweg hinauf zum Damm. In ihren Füßen war noch ein Nachzittern vom Takt des Tanzes. Sie schritt die Strecke hin, nach dem Viadukt zu. Der erste Zug von Mainz mußte bald kommen – es mußte die Stunde sein. Vor ihr waren die feurigen Augen.

Mit ausgebreiteten Armen schritt sie ihnen entgegen. Ein Fauchen und Rollen, das fernher tönte. Und da waren sie wirklich, weit da vorn. Nun lief sie. Sie lief ihnen entgegen mit ausgebreiteten Armen. Ein Pfiff, der die Luft durchschnitt.

Sie war am Viadukt angelangt.

Ihr Name war an ihr Ohr geschlagen – der Pfiff hatte ihn verschlungen.

Und doch –

Ein Schrei brach auf ihren Lippen – zwischen Erschrecken und Erwachen ein wunder Schrei.

Mit einem Ruck wurde sie zur Seite gerissen.

»Dorth!«

Der Zug brauste vorbei.

Die Sinne vergingen ihr.

Zwei Körper überschlugen sich und rollten den Abhang hinab.

Der zweite Pfiff des Zuges schnitt in die Stille des Morgens, der noch von der müden Nacht träumte, nachdem er ihrem Arm entglitten war.

Das Dorf und alle Häuser schliefen. Auch dem Goschel sein Haus schlief noch. Aber einer war längst auf gewesen. Der Kamper hatte sich in seinen Kleidern aufs Bett gelegt gehabt, den Frühzug nicht zu versäumen. Er hatte sich vorgenommen, rechtzeitig genug fortzugehen, um noch einmal in der »schönen Aussicht« nach der Dorth fragen zu können.

Und wie er eben aus dem Hause trat, sah er sie den Damm entlangeilen, dem Zuge entgegenlaufen, der eben sein Bremssignal gab.

»Dorth!« hatte er geschrien, mit aller Kraft des Schreckens und der Verzweiflung – und von der furchtbaren Aufregung getragen, war er den Damm hinaufgesprungen und hatte sie vom Geleise gerissen, gerade, wie sie die Brücke des Viadukts betreten wollte. Sich überschlagend waren sie den Damm hinuntergekugelt, scharf an der Grenze, wo der Viadukt gemauert war, und mit beiden Armen umschlungen hielt er ihren Kopf, ihr Gesicht gegen seine Brust, damit sie nicht verletzt werden konnte.

Der Kamper war aufgestanden – es rann ihm ein wenig Blut über die Stirne, die von Steinen und Stoppeln geritzt war. Sonst war ihm nichts. Vor ihm lag die Dorth, bewußtlos, mit geschlossenen Augen, kaum atmend. Er beugte sich zu ihr nieder und horchte an ihrer Brust auf den Herzschlag. Er vernahm deutlich den Schlag.

»Gott sei Dank!« flüsterte er.

Dann, ohne sich erst nach einer Hilfe umzutun, trug er sie in des Goschel Haus – und, obgleich ihm einen Augenblick Bedenken kamen, entschloß er sich doch, sie in seine Stube zu schleppen und auf sein Bett zu legen.

Er saß still an ihrem Lager und hielt ihre Hand.

Er war so erschöpft, daß er nichts denken konnte. Er saß stumpf und hielt die Hand und spürte nur den Pulsschlag.

Dann rauschte nach einer langen Weile der Zug oben vorbei, mit dem er hatte fortfahren wollen und auch hätte fortfahren müssen.

Das brachte ihn zur Besinnung. Er dachte nach, was geschehen war, in welcher Situation er mit der Dorth hier war.

Was war in ihr vorgegangen – war es im Irrsinn oder in der Verzweiflung geschehen, daß sie dem Zuge entgegengestürzt war?

Niemand hatte sie gesehen – auch der Bahnwärter oben wohl nicht. Sonst hätte er vielleicht doch noch ein Signal geben können.

»Wo bin ich?« fragte mit matter Stimme die Dorth.

»Bei mir, Dorth!« sagte er, und nie hatte in dem Namen »Dorth« so viel Liebe und Mitleid gelegen, von keinem Munde noch war ihr so viel zärtliche Liebe und schmerzliches Mitleid entgegengeklungen.

»Kamper?« hauchte sie.

»Ja, Dorth!«

»Ach Gott!« – und dann nach einer Weile – »mir ist's wie ein Traum.«

»Bleibe ruhig, Dorth.«

»Ja – ich will ruhig bleiben.«

Er strich ihr weich über die Stirne.

»Kind, Kind – du wirst nicht krank werden?«

»Nein, ich werde gesund werden, Kamper, du mußt nur –«

Sie hielt inne, und auf ihrem Gesichte malte sich Entsetzen.

Er verharrte ruhig.

»Willst du etwas, Dorth?«

»Wasser!«

Daß er daran auch nicht früher gedacht hatte. Er goß aus der Flasche, die auf seinem Tisch stand, ein und reichte es ihr.

Sie trank nur wenig.

»Ich bin bei dir, Kamper?«

»Ja – in meinem Zimmer. Bleibe aber nur ruhig«, bat er.

»In deinem Bett?«

»Auch – aber laß es dir nicht nahe gehen.«

»Und du hast mich vorm Zuge weggerissen?«

»Ja. – Du hast gewußt, was du tust?«

»Ich wollt's ja.«

»Du hast's gewollt? Kind!«

»Ich kann nicht, Kamper!«

Das waren die gleichen Worte wie gestern abend. Und auf einmal fiel es ihm wie ein Schleier von den Augen. Er sah plötzlich klar den Zusammenhang, den bitteren, furchtbaren Zusammenhang. Es ging ihm ein Schnitt durch, aber er faßte sich. Er wollte deutliche Gewißheit haben. Drum fragte er – und er empfand die Frage fast grausam:

»Was kannst du nicht, sage es mir offen!«

Die Dorth hörte jetzt mit feinen Ohren. So weich, so lieb hatte er noch nie zu ihr gesprochen.

Sie sah ihn mit großen, traurigen Augen an. Was sie ihm an Liebe geben konnte, was sie ihm je im Leben an Liebe hätte geben können, das gaben ihm jetzt ihre Augen, in deren Glanz ein Nachzittern der ausgestandenen Aufregungen, physischer und seelischer Schmerzen war, und eine unendliche Traurigkeit, wie sie nur in Frauen- und Kinderaugen liegen kann. Wie um ihm alles zu geben, was sie ihm zu geben hatte, was sie für ihn in ihrer Seele frei hatte, blieb sie lange still und ließ lange ihren Blick auf ihm ruhen.

Es zog ihm warm durch die Seele, und er drückte leise ihre Hand. Mehr wagte er jetzt nicht.

»Dorth!« sagte er.

Da gingen sachte die offenen Lädchen zu, da wich der weiche, seidene Glanz aus ihren Augen. Tränen füllten sie.

»Was kannst du nicht, Dorth, sage es mir offen, ich bitte dich!« wiederholte er. »Ich werde dir gewiß helfen, wenn ich dir helfen kann. Es soll an mir nicht fehlen, das verspreche ich dir.«

»Ja, ich will dir's sagen, Kamper – und ich kann dir's sagen. Und du weißt dann, warum mir das Leben leid war. Nun hab ich dir das Leben zu danken, sei mir nit bös – gelt, sei mir armem Menschen nit bös, wenn ich dir's sag, ich kann ja nit anders.«

Sie richtete sich auf.

»Es war zu viel die Tage – und ich hab nit aus und ein gewußt. Siehst du, Kamper, du hast mich genommen – und ich hab ja sagen müssen, wie du gefragt hast, ob ich dein Frau sein wollt – und du hast ja auch voraus gewußt, daß ich ja sagen tät – du zwingst einen ja so, und 's kann dir nichts widerstehen – aber nun kann ich nit. Das ist's, was ich dir sagen muß – und was ich dir nit hab sagen wollen – und auch nit hab sagen können – und ich wär ja dein Frau geworden, wie du's gewollt hast – aber ich kann nit. Ich kann nit, Kamper, meiner Seel – und wenn's mein Leben kost – ich kann nit.«

Er blieb stumm.

»Arme Dorth!« sagte er nach einer Weile.

Sie faßte mit beiden Händen seine Hand.

»Kamper – du bist nit schuld und ich bin nit schuld. Wir sind alle beid nit schuld – es ist nur einmal so. Es ist wie Feuer und Wasser – ach, Gott, ja – und siehst du, die können nit zusammen kommen. Und wir sind so anders – du bist so anders wie ich und ich so anders wie du. Dafür können wir alle beid nichts.«

Er wollte sagen, daß er das nicht so gefühlt habe, daß er nicht so darnach gefragt habe, daß das nur so in ihr liege und daß es ihm fremd sei. Aber er sagte es nicht, weil er dachte, er könne sie damit kränken.

»Auf einmal hab ich gewußt, was es ist, auf einmal, wie du fort warst und wie ich getanzt hab. Da hab ich auch gewußt, wie unglücklich ich gewesen bin – und dann hat's mich gepackt – und ich hab mir nit mehr helfen können – und 's war, als tät ich einen Berg auf mir tragen – als hätt ich Ketten an Arm und Bein – bis ich aufgestanden bin – und ich hab ja auch beständig die zwei Lichter von der Lokomotive gesehen, wann ich nur an dich hab denken müssen – und da bin ich auf den Damm gelaufen und wär gern gestorben, wenn du mich gelassen hättst.«

Sie war erschöpft. Sie verdeckte ihr Gesicht mit den beiden Händen.

»Wenn du mich nur gelassen hättst, Kamper, ich hätt ja gern nit mehr leben mögen.«

Er legte ihr beide Hände auf den Scheitel – und seine scharfen, strengen Augen wurden milde und sanft. Sie waren nun voller Traurigkeit.

»Dorth – verzeih mir – daß ich dir das habe antun müssen, du armes Kind!«

Sie neigte den Kopf auf die Brust unter seinen warmen Händen, aus denen es auf sie strömte wie lauter Ruhe und Güte, wie Sonntag und Glück.

»Ich habe dich nicht gekannt – ich habe mir nicht Mühe gegeben, dich kennen zu lernen. Ich habe dich genommen – du hast recht, wenn du das sagst – man soll aber keinen Menschen nehmen, der sich einem nicht gibt. Ich hätte dich erst gewinnen sollen.«

Er trat ein wenig zurück.

Sie ließ die Hände sinken und schlug groß die Augen zu ihm auf.

»Kamper«, bat sie, »du sollst nit so gut sein zu mir, ich hab's ja nit verdient – und ich will alles aushalten, alle Straf und Schand, aber das halt ich nit aus.«

»Du kannst dich mir nicht geben, Dorth – ich werde dich nicht nehmen. Und ich werde nicht böse sein, sei es auch mir nicht. Du bist gut – und ich habe alle Schuld. Und nun lebe wohl! Du wirst ganz gesund werden, wirst dich ganz erholen. Alles wird dann wieder gut. Ich habe meinen Beruf und meine Arbeit. Es gibt Menschen, die nicht mehr haben können, die nicht mehr dürfen haben wollen. Ich bin so einer. Das habe ich nun bitter erkennen müssen – und habe dir dabei Leid zufügen müssen. Es ist nicht mehr zu ändern. Du mußt das vergessen und mußt mich vergessen – und ich gebe mich drein.«

Er nahm ihre Hand und küßte sie heiß.

Seine Gestalt hatte nun ein wenig das Straffe verloren, das sie sonst immer gehabt hatte.

Die Dorth glitt vom Bett und sah ihn an. Sie war wie auf einer Wolke, die hoch und still über der Erde hinglitt. Alles war Fragen und Erstaunen in ihr.

War alles Wirklichkeit? Träumte sie? Träumte sie seine Sanftheit und Güte, die Wärme im Ton seiner Stimme?

»Werde nicht irre an dir, Dorth!«

Er sah ihre Ergriffenheit und wehrte sie ab. Sie sollte sich nicht vom Augenblick überwältigen lassen.

»Ist's denn wahr?« fragte sie.

Er hörte den Ton, der in ihrer Frage lag.

»Ist's denn wahr – wahr und wahrhaftig wahr?«

Einen Moment schwieg er.

»Ja, es ist wahr. Es ist unbedingt wahr.«

Er nahm mit beiden Händen ihre Hand.

»Lebe wohl, Dorth!«

Dann ging er in der gewohnten Ruhe und Sicherheit – und langsam zog er die Tür hinter sich zu.

Am Herd drunten stand die Frau Goschel. Sonst schlief noch das Haus. Er trat zu ihr und gab ihr Aufklärung, es war doch notwendig, und er bat sie, den guten Ruf der Dorth zu schonen, ganz zu schweigen bei den Leuten, und wenn es doch ein Gerede geben sollte, die Dorth zu verteidigen. Er war nicht hastig in seinen Worten und blieb einfach in allem, was er sagte.

»Sie ist jetzt krank, Frau Goschel, und einem kranken Menschen muß man helfen. Was er getan hat, das hätte er nicht getan, wenn er gesund wäre. Ich verlasse mich ganz auf Sie.«

Die Marie versprach ihm, verschwiegen zu sein und der Dorth beizustehen, wie sie nur könnte. Dann nahm er Abschied und ging.

Die Dorth starrte noch auf die geschlossene Türe. Lange, lange. Dann löste sich's in ihr. Sie weinte heiß und lautlos.

Sie wollte gehen – es war ihr unmöglich.

Die Mattigkeit überwältigte sie – und ohne nach der Nachrede zu fragen, die sicher nicht ausbleiben würde, ließ sie sich in die Kissen sinken und schlief bald tief und erschöpft. Einmal streckte die Marie sachte den Kopf zur Türe herein. Als sie sah, daß die Dorth schlief, zog sie sich leise wieder zurück.


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