Wilhelm Holzamer
Vor Jahr und Tag
Wilhelm Holzamer

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Krieg! Man kann die Stunden nicht erwarten, in denen die Nachrichten kommen. Es dauert alles so ewig lang, und was man heut hört, das ist morgen nicht wahr. Es ist so schwer, etwas Gewisses zu erfahren. Die Posthalterei ist zu den Postzeiten ordentlich umlagert, die Wirtshäuser sind überfüllt. Die Dorth kann gar nicht hinhören, was an den Tischen gesprochen wird. Sie denkt beständig, es müsse ein Wort fallen, das sie treffen wird, das auf sie fallen wird wie ein Hammer. Sie hat Angst.

Dabei ist hier in der Gegend sonst nichts von Krieg zu merken. Gar kein Militär zu sehen. Keine Durchmärsche. Im Anfang sind ein paar Abteilungen Kurhessen durchgezogen. Die hatten gefragt: »Hann Se kenne Preiße g'sieh?« Das war dann so ein Witz geworden. Man sagte einander: »Hann Se kenne Preiße g'sieh, frage die Kurhesse.« So wäre man eigentlich nicht am Kriege interessiert gewesen, wenn's nicht geheißen hätte, daß das Land preußisch werden sollte – und wenn nicht ein paar Leute draußen im Felde gestanden hätten, von denen man jeden Tag die Todesnachricht kriegen konnte.

Im »goldenen Lamm« sitzen in der Stammtisch-Ecke nur noch zwei: der Vetterlein und der Döffchen. Der Vetterlein ist abwartend, ein bißchen meinungslos, prophezeit nicht, sagt aber gerne, wenn eine Nachricht eintrifft, er habe sich's gedacht, daß es so kommen werde. Der Döffchen ist auffallend still. Manchmal setzt er an, einen Lacher zu rollen. Aber er bringt ihn nicht mehr heraus gar nicht dran zu denken, daß er in der Kopfstimme ausklinge. Seine Sprenkel scheint er verlernt oder vergessen zu haben. Und warum denn nur? Er hat keinen Verwandten draußen, er ist nicht so arg interessiert, daß er so ganz und gar kopfhängerisch sein müßte – ja, manchmal ist's sogar, er nehme an den Ereignissen gar nicht teil. Das tun nun ja so viele, nachdem die erste Hitze verraucht ist. Sie geben sich schon wieder unbekümmert dem Leben hin. Aber der Döffchen ist abwesend, direkt abwesend.

Der Tierarzt Kullmann mit seinem großen Schlapphut fehlt. Er ist nicht mehr hier. Seine Preußenfeindschaft hat ihn aus dem Lande getrieben, ganz Deutschland werde jetzt preußisch, hatte er gesagt, darauf laufe es hinaus. Drei Tage lang hatte er ein Band mit den alten Freiheitsfarben Schwarz-Rot-Gold getragen – aber sie hatten nichts geholfen, die Preußen waren überall siegreich oder doch im Vorteil geblieben. Dann war am 3. Juli die Schlacht bei Königgrätz geschlagen worden. Niederlage der Österreicher. Da war er abgereist. Er hatte keinem Menschen ein Wort gesagt, dann war eine Karte aus der Schweiz von ihm gekommen: »Freier Bürger eines freien Landes! Es lebe die Republik!« Die Leute erzählten sich davon wie von einem großen Ereignis. Was die Reise gekostet haben mochte – und daß der Kullmann immer so »Speranzen« im Kopf gehabt hätte. Er war immer so halb verrückt gewesen – bei jeder Gelegenheit hatte er eine Rede gehalten, lang und hitzig, und hatte dabei gewettert und getobt und mit der Faust aufgeschlagen, daß die Schoppengläser auf den Tischen getanzt hatten – aber darin hatte er recht, wenn's so weiterging, war's vom Preußischwerden nicht mehr weit. An den Stammtisch im »goldenen Lamm« kam noch ein Brief von dem verrückten Kullmann: »Laßt Euch nur einsacken, Ihr mordsmäßiges Schlafenhaubenvolk. Die neue Schlacht auf den katalaunischen Feldern ist geschlagen, aber diesmal haben die Hunnen gesiegt. Und Eure ganze Vergangenheit, Euere Kultur, Euer gutes neues Recht – das Euch die Franzosen verliehen haben, Ihr Schwachmatiker – flöten geht alles. Laßt Euch ins preußische Joch spannen, laßt Euch vom preußischen Unteroffizier kuranzen, geht im Stechschritt und legt Euch knarrende Stimmen an, daß einem das Trommelfell kracht: werdet Borussen! Baden hat Euch schon verraten, treibt den Spaß weiter! Ein Großdeutschland haben wir geträumt, ein Preußendeutschland werden wir erhalten. Der Herr, der Euch verflucht hat, möge Euch beistehen, Ihr blinden Hessen und Untertanenspießer. Dr. Kullmann, der Republikaner, Bürger der freien Schweiz und Widersacher Bismarcks, des Junkers und Tyrannen.«

Dann hatte er noch eine Nachschrift gemacht: »Gelt, die Kartätschen im Badischen, die habt Ihr vergessen? Ja, so seid Ihr, Ihr behaltet nur, was Euch in den Knochen stecken geblieben ist. Nun, vielleicht kommt auch Euch einmal die Zeit, wo Ihr genug gezüchtigt seid, um frei sein zu müssen. Alle Verachtung. Der Obige.«

Der Brief ging von Hand zu Hand. Er lenkte wieder stärker das Interesse auf die Zeitereignisse. Sogar der Polizeidiener las ihn, und der Adjunkt Eckert war dafür, daß er im Kästchen am Rathaus ausgehängt werde. Dafür war er aber so tüchtig ausgelacht und aufgezogen worden, daß er froh war, wie er sich unbemerkt drücken konnte. Der Vetterlein hatte die Sache mit den katalaunischen Feldern erklären müssen, und der Martin Eifinger, der seines Aussehens wegen »der Napoleon« hieß, hatte den Brief zweimal abgeschrieben und las ihn immer vor, so oft er eine von seinen Freiheitsreden hielt, die zwar sehr verworren waren und französisches Kaiserreich und deutsche Republik als ein und dieselbe Sache erklärten – oder mindestens miteinander verwechselten – und jedenfalls voraussagten, daß Deutschland französisch werden müßte, eine Provinz des französischen Kaiserreichs – und so weiter in einem Atem die krausesten Dinge, die aber immer Beifall fanden, weil man sich drüber amüsierte und das, was man eben für ernst und wichtig genommen hatte, im nächsten Augenblick ins Lächerliche ziehen konnte. So kam's, daß in jeder Wirtsstube, wo der Eifinger sich nur blicken ließ, sogleich die Aufforderung erging:

»Eifinger, les dein' Brief vor!« eine letzte Nachwirkung des letzten Nachkommen der »Bassermannschen Gestalten«.

Mag die Welt in Brüche gehen – es ist immer noch ein Humor bei der Sache. Lachen muß man noch können, sonst hol ei'm lieber gleich der Teufel bei lebendigem Leib.

Dann sagte eines Tages der Döffchen, mitten im Reden und Trubel zum Vetterlein, und es klang gar traurig und armselig:

»Ich bin ein geschlagener Briefträger.«

Der Vetterlein hörte den Ton, verstand aber nicht den Sinn der Worte.

In letzter Zeit waren sie gar nicht mehr zusammen über Land gefahren. Er hatte gedacht, es sei des Krieges wegen. Nun stellte sich's heraus, daß es anders war. Der Döffchen hatte wohl überall noch Aufträge, neue Pumpen zu stellen und alte zu reparieren, aber er führte in letzter Zeit nichts aus – und da überall die Kriegsaufregung war, fand man den faulen Geschäftsbetrieb erklärlich. Außerdem konnte man nicht gut einen andern nehmen, einmal, weil keiner da war, und dann, weil man zu keinem anderen Vertrauen gehabt hätte.

»Die ganze Zeit liegt mir's schon im Magen«, krächzte der Döffchen heraus, »und ich hab alles hängen und bambeln lassen deshalb. Es wird mich die ganze Kundschaft kosten. Die Kränksweiber – bei aller Vorsicht, man kann sich nie genug bei ihnen auskennen.«

Nun wußte der Vetterlein so etwa, wohin's hinauslief, aber er fragte nicht. Es war nicht seine Art auszufragen, er wollte aus niemand etwas herauspressen, das der freiwillig am Ende nicht hergegeben hätte.

Aber dem Döffchen bedrückte es das Herz, und er mußte es erzählen.

Er saß in der Falle – er hatte genascht, daß die Falle zugeschnappt war. Es war das Reinharts Karlinchen. Sollte ein Mensch denken können, daß bei der Gefahr war! Sie war so fromm und lief jeden Tag in die Kirche, wagte keinen Mann anzugucken, ging stets in dunklen Kleidern und hatte das Gelübde getan, jeden Samstag den Muttergottesaltar zu schmücken. Dem lieben Gott und allen Heiligen betete sie die Füße ab. Die Leute behaupteten sogar, sie sei in einem Orden, der vorschreibe, daß sie einen Strick um den bloßen Leib trage. War das ein Vogel, bei dem man besonders vorsichtig sein mußte! Es war doch nicht zu denken gewesen – und er hatte sich zu weit gewagt. Nun hielt sie ihn fest. Er hatte gezappelt und gezappelt, sich wieder freizumachen.

»Es ist ja sonst nichts gegen sie zu sagen, und das Beten vergeht gewöhnlich mit dem Kinderkriegen – es ist jetzt schon weniger geworden« – (hier setzte er einen kurzen Roller an, der in die Kopfstimme ausschlug, ehe er in der Gurgel vollendet war) – »sie wird auch ganz tüchtig sein, ehrsam und züchtig, ganz wie sich's gehört – und wenn sie das Muttergottesgesicht abgelegt hat, wird sie auch ganz hübsch sein, aber 's ist doch die Frau nicht, die ich gesucht hab und um die ich die halbe Welt ausgeschlagen hab.«

»Muß es denn sein?« konnte sich der Vetterlein hier nicht enthalten zu fragen. – »Muß es denn sein, daß sie Ihre Frau wird?« Er war immer noch ein bißchen dumm und unschuldig in all diesen Sachen, obschon er selbst von sich meinte, daß er sich mit dem Döffchen Routine erworben hatte.

Nun wurde der Döffchen rot, und das war etwas, was ihm so gut wie nie passierte.

»Sie hat's schon dem Pfarrer anvertraut – und ich war schon ins Pfarrhaus bestellt – na und – überlegen Sie nur selbst: es gibt kein Entwischen mehr. Ich sitze fest in der Falle. Ach, du liebes Bißchen! – es wird ein Gelächter geben! Daß es mir gegönnt wird, ist mir schließlich egal – aber das Gelächter, das liegt mir im Magen. Wenn ich mir das vorstelle, möcht ich mir grad den Kopf zwischen die Beine stecken, daß ich nichts mehr hören und sehen tät von der Welt, 's ist doch – daß gerade mir so was passieren muß –«

»Nun, das vergeht und vergißt sich«, sagte der Vetterlein aus einer stoischen Ruhe heraus.

Der Döffchen sah ihn groß an.

»Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

»Es läßt sich alles überwinden«, betonte der Vetterlein.

»Kennen Sie das?«

»Ich glaub, ich kenne das.«

»Aber Mensch!«

»Na ja – 's hat jeder was zu tragen.«

»Stille Wasser gründen tief – – und ich hab immer gemeint, Sie freiten nur so überall herum, um die Mädchen an den Nasen zu führen.«

»Ich? Ich freite überall herum? Ich habe gar nicht gefreit! Nie in meinem Leben. Ich habe nirgends dran gedacht – ich bin, ich versichere Sie – ich kann Ihnen heilige Eide schwören – wenn irgend ein Mädchen sich das einbilden sollte – ich bin unschuldig wie ein Lamm.«

Nun gelang dem Döffchen der Lacher, in der Kehle und in der Kopfstimme.

»Mensch«, sagte er – »ich kenne Sie doch nicht. Ist's denn eine – von früher her vielleicht – oder ist's die Rosenzweigs Dorth?«

Der Vetterlein wurde puterrot. Dann fühlte er, daß er den guten Ruf der Dorth zu wahren habe, und daß eben Gefahr für ihren guten Ruf sei. Er mußte sie verteidigen, es war seine Aufgabe und seine Pflicht. Aber leugnen – war das dann nicht die Unwahrheit? Doch es galt, sich nicht lange zu besinnen, das konnte Verdacht erwecken.

»Es ist nicht das Fräulein Rosenzweig«, sagte er, und er gab sich vergeblich Mühe, seine Stimme frei zu machen, »bestimmt nicht!«

Der Döffchen erwiderte nichts darauf, und der Vetterlein wußte nicht, wie er's aufgefaßt hatte, und sorgte sich, was er alles jetzt denken könnte. Es war so unangenehm, wenn so etwas einmal gesagt war. Es blieb ein Weilchen still zwischen ihnen.

»Nun«, sagte der Döffchen, »ich tröst mich, daß die klügsten Hinkel neben's Nest legen. Geh's wie's will. Suchen Sie mir ein schön Orgelstück zur Hochzeit aus, Vetterlein, daß ich mich wenigstens damit nicht blamier. Mein Renommee, das ich mir in der Liebe erworben hab, das ist ja doch hin – schmählich hin.«

Der Vetterlein versprach's. Das war dann die letzte Unterredung der beiden am Stammtisch vom »goldenen Lamm«. Der Döffchen kam nicht mehr, nach ein paar Wochen hing das Aufgebot im Kästchen. Der Döffchen mit der Karolina Reinhart. Erst ein Erstaunen – dann Hohngelächter. Der »Sprenkelmajor« war hereingefallen – und mochten traurige und aufregende Nachrichten gekommen sein, soviel als wollten – das war doch das größte Ereignis. Es löste auch den Humor aus. Überall, in der Familie daheim und in den Wirtshäusern wurden Witze darüber gerissen. Der Döffchen durfte sich nicht blicken lassen. Im »Aufziehen« sind die Rheinhessen Meister.

Das war aber zu der Zeit, als die Hauptschläge des Krieges schon vorbei waren.


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