Wilhelm Holzamer
Vor Jahr und Tag
Wilhelm Holzamer

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Gefallen waren drei aus dem Orte: der Konrad Täuff, der bei der Infanterie gedient hatte, der Nikola Scheuermann, der jetzt wieder hatte einrücken müssen und Korporal bei den roten Dragonern gewesen war, und der Johann Peter Vogelsberger, der gerade in diesem Jahre frei geworden wäre und auch bei den weißen Chevau-legers gedient hatte. Diese Liste erschien morgens, zugleich mit der Nachricht von einem neuen Gefechte bei Aschaffenburg. Erst gegen Mittag kam die Verwundetenliste. Es war nicht leicht abgegangen für die Hessen. Namen aus allen Ortschaften ringsum waren verzeichnet, Leicht- und Schwerverwundete. Unter den Schwerverwundeten war auch der Jörg-Adam Blank aufgeführt: Säbelhieb über den Kopf und Schuß in die Brust.

Der Jörg-Adam! Der Täuff war immer ein bißchen ein einfältiger Kerl gewesen, schade um ihn dennoch, er hatte jung dran glauben müssen, und seine Mutter, die Täuffe-Sett, wußte sich nicht zu fassen. Er war ihr Einziger gewesen. Der Nikola Scheuermann hatte immer ein bißchen den Korporal herausgebissen und hatte sich militärisch aufgespielt. Nach Nennung seines Namens führte man auch gleich die Worte der Nachricht an: Starb den Heldentod auf dem Schlachtfelde für die Ehre des Vaterlandes. Immerhin – einer weniger, der noch da sein könnte. Er war ledig gewesen, weil ihm keine gut genug gewesen war – und Eltern hatte er auch keine mehr. Er hatte geschrieben beim Notar Keller. Der Johann Peter Vogelsberger, für den war's schade. Ein lieber guter Kerl, still, fleißig, solide. Ein bißchen langsam, und darin nicht so ganz nach der sonstigen Art hier, aber das schadete nichts. Was er angriff, machte er, und nie hatte man etwas von ihm gehört, das nicht recht gewesen wäre. Schade, daß er hatte dran glauben müssen. Und seine Mutter, das Vogelsberger Gretchen, war zu bedauern – der ihr Augapfel war der Hannes Peter gewesen.

Dann aber der Jörg-Adam! Daß auch der! Schwer verwundet nur – na, nur! – er konnte noch aufkommen. Aber wenn er wieder aufkam, was man ihm ja gönnen wollte, weil jeder Mensch lieber lebt, als daß er tot ist, was war's dann mit ihm? War er dann noch der Jörg-Adam, der er gewesen war, stramm, kräftig, gesund und allen voran! Herrgott, man könnt einen Stein in den Himmel schmeißen – so einen mußt's grad treffen! Und warum dieser ganze Kram? Nur, weil's die Preußen so wollen und weil Bismarck das Regiment haben will und weil's aus sein soll mit Süddeutschland und dem deutschen Bund und weil die Preußen alles allein für sich haben wollen. Himmelherrgottsternsteinhagelsakerment! Ah, das macht das Herz frei. Ellenlang weiterfluchen! Und grad so einen muß es treffen, und läuft die Welt voll von Tagdieben und Tunitguten und Taugnixen! –

»Was geht dich dann der Jörg-Adam an!« fuhr der alte Rosenzweig der Dorth ins Wort.

»Was er mich angeht? Das weiß ich selbst nit. Aber ich bleib dabei, was ich tun will, das tu ich, und Ihr dürft mir nit hinderlich sein, Vater. Ich fahr hin, ich mein, ich muß das. Fragt mich nit, Vater. Ich kann nur sagen – ich will hinfahren – und ich muß hinfahren, 's läßt mir kein Ruh. Ich hab gewußt, 's kommt, aber ich hab nie gewußt, was ich dann tun wollt; aber jetzt, jetzt, da's gekommen ist, jetzt weiß ich auch, was ich tun will. Und das tu ich!«

»Du bist verrückt, Dorth!«

»Vielleicht!«

»Was geht dich der Jörg-Adam an!«

»Ich geh hin!«

»Was sagen die Leut dazu?«

»Laßt sie sagen was sie wollen, ich tu, was ich will.«

»Darum hast du den Jean Steinert nit gewollt, gelt?«

»Darum? – Ich weiß nit. Ich hab ihn nit gewollt und will ihn nit, da könnt Ihr anstellen, was Ihr wollt, Vater!«

»Ich glaub gar, du hatt'st dich in den Jörg-Adam vergafft?«

Die Dorth schwieg.

»s' wird mir jetzt viel klar, für vieles geht mir ein Licht auf, was die ganz Zeit her war.«

Die Dorth verharrte in ihrem Schweigen.

»Du willst wirklich?«

»Ja, ich will!«

»Aber mich geht's nix an!«

»Nein, gar nichts, Vater!«

»Dann geh!« – Und im Fortgehen knurrte er: »Weibergezeug! Wann denen was in die Kron fährt, brennt's gleich an allen Äst!«

An einem Tische war die Verwundetenliste verlesen worden. Die Dorth hatte die Augen geschlossen und beide Lippen zwischen die Zähne gezogen. So hatte sie wartend gestanden. Dann war's gekommen: »Georg Adam Blank.« Einen Moment zuckte es in ihr – sie wollte schreien. Sie hielt sich. Die Zähne ließen die Lippen los, es lief ihr eiskalt über den Rücken, gerade mitten die Wirbelsäule hinunter, und es stach ihr in den Schläfen wie mit Dornen, aber sie hielt sich und verlor die Kraft nicht. Sie war nur bleich wie Wachs, und alle Haare auf dem Kopfe taten ihr weh.

»Hast du's gehört, Dorth?« fragte der Vorleser, »der Jörg-Adam. Geboren zu Nieder-Olm am 13. September 1838. – Er wär grad nächstens achtundzwanzig Jahr geworden. – Säbelhieb über den Kopf, Schuß in die Brust. Feldlazarett zu Laufach«, las der Gast noch einmal. »Hast du's gehört? Schade!«

Die Dorth wußte nicht, wer da zu ihr sprach.

Sie sagte tonlos:

»Ich hab's gehört.«

Der Gast schwieg. Es schwieg an allen Tischen.

»Schade!« wiederholte sich's dann von Mund zu Mund.

Dann ging die Dorth langsam, fest und aufrecht hinaus und sprach mit ihrem Vater. Nach der Unterredung schritt sie die Stiege hinauf in ihre Stube, kleidete sich um und packte die gestickte Reisetasche, die noch kein Mensch gebraucht hatte, weil der Vater noch eine ältere besaß, die immer genommen wurde, wenn sie nach Mainz fuhren. Als sie mit allem fertig war, griff sie sich einen Augenblick an die Stirne und besann sich.

»Ja«, sagte sie vor sich hin, »'s ist besser, die Annelies geht mit.«

Sie stieg hinunter in die Küche und nahm sich die Annelies Brabender auf die Seite.

»O – ich? Ich kann das nit. So eine alt, schwerfällig Person wie ich!«

»Zieh dich an, Annelies, und die Blume Marie soll zum Peter Eckert laufen, er soll anspannen für nach Mainz, sein klein Wägelchen mit dem Verdeck. Geh, Marie, halt dich nit auf und eil dich!«

Sie war ganz ruhig, und jedes Wort war sicher und jeder Gedanke klar. Die Marie lief davon, die Annelies stöhnte in ihre Stube hinauf und zog ihr Staatskleid an, leckte sich die Handflächen und strich sich die Haare zu beiden Seiten glatt, dann breitete sie ihren großen schwarzen Kirchenschal über ihr Bett aus und legte ihn über Eck.

Die Dorth klopfte an ihre Türe. Die Annelies warf den Schal um. Da fuhr auch schon der Peter Eckert vor. Er fuhr selbst. Und die Dorth und die Annelies stiegen ein, ohne auch nur ein Wort zu sagen, außer einem Guten-Tag-Nicker.

Sie fuhren nach Mainz – von da mit der Bahn nach Darmstadt – und dann von Darmstadt nach Aschaffenburg mit einer Chaise. Es war schon tiefe Nacht, als sie nach Laufach kamen.

Die Dorth wurde nicht mehr vorgelassen im Feldlazarett, aber man sagte ihr, sie könne andern morgens kommen, es gehe dem Blank nicht so schlimm, daß Gefahr wäre. Es war eine schlaflose Nacht. Selbst die Annelies konnte keine Ruhe finden und sagte, das Bett sei schuld.

Am Morgen ging die Dorth ins Lazarett.

Sie fragte, ob Aussicht sei, daß der Jörg-Adam gesund werden könnte.

Der junge Feldarzt zuckte die Achseln.

»Die Kopfwunde ist nicht schlimm, die heilt, wenn sie auch die Hauptschmerzen macht. Die Brustwunde ist nicht so sehr schmerzhaft, aber sie ist gefährlich. Die Kugel ist durch die Lunge gegangen. Sie ist noch im Körper – erschrecken Sie nicht, das ist unter Umständen das Schlimmste nicht – aber die Blutungen in der Lunge. Darum kann ich Sie auch nur vorlassen, wenn Sie dem Kranken gegenüber fest und ruhig bleiben. Keine Aufregung verursachen. Er wird nur über den Kopf klagen – trösten Sie ihn und versichern Sie ihm, daß es heilen wird – und nehmen Sie die Brustwunde leicht, wie er sie selbst nimmt.«

Sie versprach, genau seine Vorschriften zu befolgen und fest zu bleiben.

»In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen Sie denn zu ihm?« fragte der Arzt.

Die Dorth überlief es rot. Sie bekam einen Schrecken. In keinem – da wurde sie am Ende nicht vorgelassen – und Schwester – das ging doch nicht, das sah man ihr ja an. Und wieder schoß ihr eine Blutwelle in die Wangen, und das Herz schlug ihr hoch. Diesmal war's Scham.

»Ich bin seine Braut«, sagte sie.

Der junge Arzt lächelte ein wenig, betrachtete sie einen Moment lang wohlgefällig und rief dann einen Lazarettgehilfen herbei, der die Dorth zu dem Chevau-leger Blank führen sollte.

Die Dorth ging wie in lauter Spinnweben, vorsichtig, leise. Der Tritt des Lazarettgehilfen tat ihr tief in den Ohren weh. Sie ging behutsam auf den Spitzen und mit vorgestreckten Händen, und es fiel ihr ein, daß es gut sei, daß die Annelies nicht mitgegangen war, denn es war nur ein schmaler Gang zwischen den Betten. Fast am Ende lag der Jörg-Adam. Sie las von weitem schon das Schildchen. Neben seinem Bett war das Fenster – und auf der Fensterbank lag ein Haufen Charpie. Auch die Annelies saß jetzt im Gasthaus mit im Kreise und half Charpie zupfen.

»Hier«, sagte der Lazarettgehilfe und trat dann zu einem Kranken hin, der ihn rief.

Da lag der Jörg-Adam. Er schlief. Er war ganz bleich, und die Augenbrauen und der Schnurrbart waren wie grobe schwarze Striche in dem weißen Antlitz. Die Kopfhaare deckte vollständig der Verband der Säbelwunde.

Die Annelies sollte nur viel Charpie zupfen – und sie wollte auch helfen, wenn sie heim käme, dachte die Dorth.

Und das war jetzt der Jörg-Adam! Aber sie nahm sich zusammen, nicht weich zu werden.

Er hatte die Hände auf der Decke liegen. Sie legte leicht ihre Rechte auf seine Rechte. So stand sie, ohne sich zu rühren.

Er atmete leise, so schwach und kurz, daß man es kaum vernehmen konnte – nur manchmal hörte man ein Röcheln. Dann krampfte sich alles in der Dorth zusammen, aber ihre Hand auf seiner Rechten blieb ganz ruhig.

Der Jörg-Adam verzog schmerzlich den Mund. Dann versuchte er die Hand zu heben. Er war offenbar zu matt dazu. Aber die Schmerzgrimasse breitete sich weiter auf seinem Gesicht aus, er stöhnte – die Dorth hatte furchtbare Angst und wollte rufen, aber sie bezwang sich – er stöhnte weiter in kurzen Abständen. Sie wagte es nun nicht, ihre Hand von seiner Hand zu nehmen. Sie stand ganz still und richtete sich hoch auf. Denn sie hatte auch nicht den Mut, sich über ihn zu beugen. Der Heilgehilfe war wieder neben sie getreten.

»Er hat Schmerzen«, flüsterte er, »das ist die Kopfwunde. Übrigens – ich bin aus Stadecken – und Sie sind die Dorth Rosenzweig aus der »schönen Aussicht« in Nieder-Olm?«

Die Dorth nickte.

»Sind Sie verwandt mit ihm?«

Da mußte es die Dorth zum zweiten Mal sagen, und sie sagte es in der Weise und Sprache ihrer Heimat, die ja auch die seine war, fest und ohne Zagen:

»Wir haben ein Verhältnis miteinander.«

Er verstand.

Da fiel ihr Blick auf den Jörg-Adam. Die Schmerzgrimasse war wie ein Lächeln geworden. Sie erschrak.

»Es ist wie bei kleinen Kindern«, erklärte der Heilgehilfe, »wenn sie Schmerzen haben. Er lächelt nicht.«

Aber der Dorth wich das Blut nicht mehr aus den Wangen.

Dann schlug auf einmal der Jörg-Adam die Augen auf. Er blickte ins Leere. Seine Augen wurden matt und müde.

Der Arzt trat eben ans Bett, der Gehilfe trat zurück.

»Wie geht's, Blank?«

Aber er wartete gar nicht auf eine Antwort. Er nahm seine Uhr in die Hand und fühlte mit der anderen den Puls des Kranken, ein wenig nach ihm hingebückt. Dann richtete er sich auf.

»Haben Sie Schmerzen, Blank?«

Der Jörg-Adam nickte mit den Augenlidern.

»Im Kopf?«

Er bestätigte mit der gleichen Bewegung.

»Wird vorübergehen. Übrigens, Blank, Sie haben gar nicht gemerkt, daß Ihre Braut da ist. Sie steht schon die ganze Zeit an Ihrem Bette und hat Ihre Hand gehalten, während Sie geschlafen haben.«

Der Jörg-Adam konnte seinen Kopf ja nicht bewegen. Er machte nur große, fragende Augen.

Der Dorth war's, die Erde müßte sich vor ihr auftun und sie müßte hineinversinken. Es hämmerte förmlich auf sie. Fort! Aber nein – warum sollte sie nicht seine Braut sein? Warum nicht? Sie war's ja doch.

Es war auf einmal etwas in ihr, das sie mit einer großen, schönen Wärme durchzog. Es war, als sei alles auf einmal ganz klar in ihr, wie wenn morgens in der Frühe der Himmel schon in hellem Blau steht – und ganz strahlend, wie an dem Tag, da sie im weißen Kleide zur ersten heiligen Kommunion gegangen. Und so feierlich war es ihr auch. Sie beugte den Kopf tief über das Antlitz des Kranken, daß er sie gerade und voll sehen konnte, und dabei flüsterte sie:

»Jörg-Adam – Jörg-Adam!«

Die Hand des Arztes legte sich ihr warnend auf den Rücken.

Sie würde nicht zu viel sagen, gewiß nicht, gewiß nicht!

Sie hatte nicht einmal feuchte Augen.

Der Jörg-Adam sah sie groß an – die Augen wurden ihm naß. Er öffnete den Mund ein wenig – und ein Leuchten kam in seine Augen.

»Dorth?« hauchte er kaum hörbar.

Sie wollte antworten, aber sie hielt sich zurück.

»Dorth!« noch einmal – und dann ein tiefer, röchelnder Atemzug. »Kopf« – stöhnte er matt.

»Ja, Blank, der Kopf tut ein bißchen weh, aber das wird bald heilen«, sagte der Arzt und beugte seinen Kopf neben den der Dorth, »seien Sie nur zufrieden und freuen Sie sich, daß Ihre Braut nun da ist.«

Es blieb still.

Der Arzt flüsterte der Dorth noch zu:

»Er ist sehr matt, seien Sie vorsichtig«, und ging weiter, an das nächste Bett.

Und wieder hauchte der Jörg-Adam:

»Dorth!« und es war wie Gewißheit und Jubel, so tonlos es war.

»Ja, ich bin's, Jörg-Adam, ich bin zu dir gekommen – ich bleib bei dir.«

Er bewegte den Mund, daß man die Zähne aufeinander aufschlagen hörte.

»Bleib ruhig, Jörg-Adam«, bat sie.

Es wurde still in seinem Gesichte.

Nach einer Weile flüsterte er:

»Du bist kommen –«

»Weil ich dich lieb hab, immer gehabt hab.«

Sie spürte den Druck seiner Hand – und sie erwiderte den Druck, ihre Worte bekräftigend. Denn es war ja alles so leise, und es hätte so laut sein sollen.

»Ruh, Jörg-Adam, ich bleib ja bei dir.«

Er schloß die Augen. Er hob die Lider wieder und nickte dann mit ihnen. Dann hielt er sie weit offen, und die Augen waren voller Seligkeit, und es war, als wollten sie alles Licht trinken, tief in ihre dunklen Becher hinein, alles Licht der Erde und des schönen, schönen Lebens.

Es kam ein Ermatten – die Schmerzgrimasse glitt über sein Antlitz, er schloß die Augen.

»Kopf!« hauchte er.

»Ruh nur, gelt, ruh nur!«

»Dorth!«

»Jörg-Adam.«

»Schätzchen!«

»Schatz!«

Dann blieb's still.

Die Dorth beugte sich nieder und küßte ihn auf den Mund. Er erwiderte ihren Kuß. Und nun fiel der Dorth eine Träne aus den Augen und rollte über seine Wange hin. Er zuckte nicht. Er lag mit geschlossenen Augen in einem großen Frieden, matt, wie an einem Frühlingsabend, wenn einem das ganze Glück und Begehren des Lebens durch die Glieder und alle Adern gezogen ist. Dann schlief er ein. Der Arzt kam und führte die Dorth hinweg. Sie dürfe am Nachmittag wiederkommen, aber sie müsse sich immer so fest und zurückhaltend benehmen.

Die Dorth war die eifrigste Charpiezupferin im »Gasthaus zum König von Bayern«, wo sie mit der Annelies wohnte. Als auch noch Krankenessen gekocht wurde, halft sie auch dabei, so daß die Wirtsleute nicht wußten, ob sie da nun zwei Gäste hatten oder ob die beiden Frauen zu ihnen zu Besuch und Hilfe gekommen waren. Auch bei Aschaffenburg hatten die Preußen gesiegt, diesmal über die Österreicher. Der Tag war erfüllt gewesen mit Kanonendonner und Gewehrfeuer, zum zweiten Male hatten die Bewohner hier die Aufregung ausgehalten. Die neuen Nachrichten, die nun kamen, gingen an dem Bewußtsein der Dorth wie Schatten vorbei. Sie arbeitete wie die geringste Dienstmagd in dem fremden Gasthofe, denn es war ihr, alles, was sie tue, tue sie für den Jörg-Adam.

»Wie geht's ihm denn?« hatte die Annelies gefragt.

»Man kann nichts sagen«, hatte sie geantwortet.

»Meinst du, er kommt davon?«

Da fiel es der Dorth ein, daß sie sich das selbst noch gar nicht so gefragt hatte, so deutlich und klar. Was hatte sie denn eigentlich gemeint? War sie sicher gewesen, daß er davonkomme, oder hatte sie den Gedanken gehabt, er werde sterben? Sie wußte es nicht. Sie hatte Angst um ihn ausgestanden – aber einen so deutlichen und klaren Sinn wie jetzt, hatte diese Angst nie gehabt.

Nun hatte sie ihn bekommen seit der Frage der Annelies, und es ließ ihr keine Ruhe mehr. Würde er sterben?

»Herr, du mein Gott, wenn er sterben wird?«

Wenn sie einen Menschen wüßte, der ihr Gewißheit geben könnte – wenn sie einen Winkel in der Welt wüßte, wohin sie vor dieser Gewißheit fliehen könnte! Sie fürchtete sie, die sie doch wollte.

Am Nachmittag wurde sie nicht vorgelassen. Man sagte ihr, der Besuch habe doch den Kranken zu sehr angegriffen. Ihr war's, man gieße Feuer über sie. Aber hier war alles geschäftig, und es war keine Zeit für sie übrig. Die Kranken stöhnten mehr, als sie am Morgen getan hatten sie litten auch noch unter der Julihitze, außer ihren Schmerzen, und der sinkende Tag ist immer schlimmer als der steigende.

Die Dorth stand allein im Gang des Laufacher Schulhauses, das in ein Militärlazarett umgewandelt war. Zwei Lazarettgehilfen trugen eine Bahre an ihr vorbei, die mit einem Laken verhangen war. Als sie an ihr vorüber waren und eben in eine Türe einbiegen wollten, hob sich das Laken am Ende ein wenig, und die Dorth sah zwei nackte, wächserne Füße.

Man hatte einen Toten an ihr vorbeigetragen. Sie tat einen Schrei. Sie war plötzlich nicht mehr Herr ihrer selbst. Sie stürzte hinaus und lief ins Freie. Es war ihr, als seien Peitschen hinter ihr her.

Alles war verwüstet, und die Sonne brannte noch darauf. Der Himmel war hell, blau und lachend. Diese ganzen Felder waren mit Blut getränkt, und die Sonne sog es jetzt der Erde wieder heraus, daß es förmlich dampfte.

Da waren die frischen Hügel mit den kleinen provisorischen Kreuzen – Zeichen der Vernichtung. Vernichtung war hier alles.

Sie blieb stehen und sah ins Land hinaus. Furchtbar war der Krieg – schönes Land verwandelt er in eine Wüstenei – junge, starke Männer mäht er nieder wie Gras, daß sie im Boden modern. Scheußlich! Und wozu das alles? Ja wozu? Und warum?

Da fiel ihr ein, was sie am Wirtstische gehört hatte, das nie sehr eindrucksvoll auf sie gewesen war: alles, was über die Preußen geschimpft worden war. Wenn sie Kinder hätte, sie müßten sie hassen, hassen bis ins siebente Glied.

Da wurde wieder die Vorstellung in ihr lebendig, die sie daheim von der Schlacht gehabt hatte, und sie brauchte jetzt nicht da aufzuhören, wo alle Reiter nur ein Knäuel waren, sie sah deutlicher und sah das Einzelne: sie sah auch den Feind anstürmen. Wilde Preußen, die Bajonette aufgepflanzt, schießend, stechend, schlagend und Reiter, die heransprengten und mit den blanken Klingen dreinhieben, hieben von oben, und Infanteristen, die von unten schössen – und da sank der Jörg-Adam, sank mit seinem Pferde, die blutende Wunde über Stirn und Scheitel, und die verborgene Wunde in der Brust, aus der das Blut unterm Rocke hervorsickerte – und er lag da und stöhnte, hilflos, sterbend. Zu Tode verwundet, blaß, staubig, im Sonnenbrand, dürstend, hilflos und verzweifelnd vor Schmerzen.

Wer trug die Schuld?

Die Dorth hatte einen Augenblick der Verzweiflung und der furchtbaren Anklage. Mörder! Ihn hatten sie gemordet und mit ihm noch viele andere – so viele andere, die in gleicher Kraft und stolzer Stärke gestanden hatten – und ihr Glück hatten sie gemordet, wie das vieler Mädchen, die jetzt weinten und die Hände rangen, die bangten und harrten, die ihr Schicksal anklagten und die Hoffnung nicht aufgeben konnten.

Die Hoffnung!

»Wenn es einen Gott im Himmel gibt –«

Sie hielt inne! Hunderte, Tausende litten mit ihr.

Sie wurde ruhiger. Da wußte sie, daß sie keine Hoffnung mehr hatte. Und vielleicht war er schon gestorben in dieser Stunde.

Die Sonne stand tief – es fielen Schatten übers Land, über Trümmer und Wüstenei, über zerstampfte Felder und zerwühlte Wege, über die Zeichen des Kampfes und die kleinen Hügel der Begrabenen.

Sie kehrte zurück.

Als sie wieder im Gang des Schulhauses stand, begegnete ihr der junge Arzt. Sie wollte fragen, ob sie nicht doch noch zu dem Kranken dürfe. Aber sie hatte es nicht nötig, er kam ihr zuvor.

»Kommen Sie herein, Fräulein,« sagte er.

Da wußte sie, was geschehen war.

»Seien Sie gefaßt«, ermahnte sie der Arzt unterwegs, »der Krieg ist grausam.«

Sie war selbst des Erschreckens nicht mehr fähig. Es war alles erstarrt und gefroren in ihr.

Der Jörg-Adam war tot.

»Eine plötzliche Lungenlähmung – es war zu befürchten gewesen«, erklärte der Arzt.

Sie stand am Bette und rührte sich nicht. Kein Zucken, keine Träne, kein Seufzer – nur große, starre Augen.

So sah sie den Toten an.

Der Arzt stand neben ihr.

»So ist der Krieg.«

Sie sagte nichts. Dann, nach einer Weile:

»Könnten Sie ihm die Binde abnehmen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Nicht?«

Sie sah ihn mit ihren großen Rehaugen an, die von Leiden und Bitten sprachen.

Er nahm den Verband ab.

Tief in die Stirne hinein ging die Wunde und oben über den Kopf – da waren zu beiden Seiten die Haare wegrasiert.

Sie hatte noch einmal den ganzen Kopf des Jörg-Adam sehen wollen. Der Arzt legte wieder den Verband über.

»Danke!« sagte sie. Und jetzt flössen ihr die Tränen, und sie mußte den Arm des Arztes fassen, um nicht umzusinken. Der stark zurückgehaltene Schmerz löste sich voll aus, und der Arzt stand stumm und wagte nicht ein Wort der Tröstung. Er führte sie endlich weg. Noch einmal wendete sie sich um. Aber die Stube lag so tief in Dämmer schon – es war alles in Grau verschwommen, auch an dem Fenster, wo sein Bett stand.

Gebrochen kam sie im Gasthof an. Sie war ganz apathisch. Sie saß und stierte in eine Ecke.

Die Szene stand vor ihr, wie er zum letzten Male in der »schönen Aussicht« gewesen war. Es war alles Anklage darin – und sie war ohne Trost. Es war so etwas Furchtbares, der Tod – so grausam, so schrecklich, schrecklich grausam, wie er alles abschnitt, daß nichts mehr nachzuholen, nichts mehr gutzumachen war. Die Annelies Brabender brauchte die Dorth nur anzusehen, um auch schon zu wissen, was geschehen war. So hatte sie sie noch nie gesehen. So hatte sie noch keinen Menschen gesehen. Sie war, als liege sie tot im Grabe und sie lebte doch noch.

So lange man aber lebt, ist doch nichts aus, dachte die Annelies, und das sagte sie auch zur Dorth.

»Er ist ja aber tot – er lebt ja nicht mehr«, erwiderte die Dorth.

Da strich ihr die Annelies Brabender mit ihren großen, fleischigen Händen ganz sacht über die Stirne und über die Augen, über die Wangen und über die Haare und flüsterte:

»Aber du lebst doch noch, Dorth, und du mußt dich finden. Es ist kein Unglück so groß, daß man sich nit finden könnt, denn sonst käm's nit über ei'm. 's kommt nur so viel über ei'm, als man aushalten kann, und kein Untätchen mehr. Glaub mir, nit so viel mehr, als Wasser in ein Aug geht.«

So tröstete sie die ganze Nacht, bis ihr der Kopf der Dorth im Arme lag, schwer auf die Seite gesunken.

Die Annelies schloß kein Auge. Sie dachte nur immer: »Gott sei gedankt, daß sie schläft – sie wär gestorben, wenn sie nit hätt schlafen können. Gott sei gedankt – ich will ja gern wachen – ich bin eine alt Person, die zu nix mehr nutzt, aber sie ist doch jung, ein schön und kräftig Ding, und das ganze Leben liegt noch vor ihr.«

Nie ist ein Dankgebet wärmer und inniger gesprochen worden als von der Annelies Brabender in dieser Nacht des Schreckens und tiefen Menschenleids.


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