Wilhelm Holzamer
Vor Jahr und Tag
Wilhelm Holzamer

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Die Dorth ging viel mit sich zu Rate: einen Menschen haben, einen, dem man sich anvertrauen könnte, daß man's nicht immer so allein tragen müßte, daß man sich aussprechen könnte, daß man einen Zuspruch fände.

Ja, der Vetterlein, der war gewiß so einer, zu dem man gehen konnte wie an den Beichtstuhl – so hatte sie's früher schon einmal gedacht – der war so einer, der alles verstehen konnte, wofür einen andere abstoßen oder gar verspotten. Aber er war doch ein Mann – so gut er auch war – und ein Mann blieb immer ein Mann. Sie konnte es doch nicht.

Sie wurde immer einsamer und war immer mehr allein. Aber sie war nicht mehr krank und schwach, sie wollte nicht mehr krank sein. Es war ihr, als tue sie das dem Jörg-Adam zuliebe, daß sie sich gesund hielt. Sie ging nur in Schwarz. Der Vater schimpfte deshalb:

»Steck dich gleich in ein Kloster.«

Sie hatte zwei Ohren dafür. Ein Kloster – auch noch Mauern um sich herum – um Gottes Willen nicht! Und mit anderen zusammen, die man gar nicht kannte. Sie blieb und schaffte im Hause, und wurde die Annelies immer dicker und bequemer, wurde sie immer kräftiger, zupackender und flinker. Das war ja das einzige, daß sie schaffen konnte. Nicht den Kopf hängen. Bei der Hand sein!

Der Vater hatte noch einmal angesetzt wegen dem Jean Steinert.

»Er hat mich selbst drum angegangen.«

»So sagt ihm, daß ich ihn nit wollt.«

»Na, warum nit?«

»Weil darum!«

»Darum ist kein Käsebrot«, erwiderte er mit der allgemeinen Redensart.

»Einerlei«, betonte sie aber dagegen: »weil darum!«

Sie mußte nun ganz kurz sein, um Ruhe zu haben.

»Willst Altjungfer werden? Faxen!«

»Ich heirat den Steinert nit, das ist ausgemacht, Vater, und alles Reden hilft nit. Was gesagt ist, ist gesagt.«

»Na. – Wartst auf 'n Prinz?«

»Auf den Großherzog!«

»Hast 'n Stuß!«

»Auch gut – hab ich ein'.«

Nun hatte sie Ruhe im Hause. Weinlese, Keltern, Behandlung des Neuen, das erfüllte nun das Dorf und beschäftigte die Leute. Es kam der Winter. Die Wege schneiten zu. Rings um das Haus lag Schnee. Und nun war es auf einmal schön, so allein zu sein. Nur seine Gedanken zu haben – und draußen ist alles still und weich und gebettet. Alle Töne sind gedämpft. Nur die Schlittenschellen klingeln – und die Raben schreien. Doch das geschieht nur dann und wann einmal und geht vorüber – und man fühlt nur deutlicher darnach, wie still die Welt ist.

Für die Fuhrwerke hat der Kreisschneeschlitten auf den Hauptstraßen Spur gemacht. Aber man bleibt doch getrennt vom Dorf. Nur die Weinfuhren kommen aus der Pfalz und halten an. Der Vater ist viel auf der Jagd. In der Wirtschaft geht's ein bißchen weniger wie sonst. Im Dorf ist nämlich eine Brauerei aufgetan worden, und die Leute fangen an, Bier zu trinken. Es wird nicht lange dauern – 's ist nur der neue Besen, der gut kehrt. Und Bier – wenn man Wein grad so billig haben kann! Nein – 's ist nur eine vorübergehende Stockung in der Wirtschaft.

Die Dorth weinte die halben Nächte, aber am Tage war sie frisch. Was ihr am meisten auf der Seele lag – und was der Tod so besiegelt hatte: daß ihr letztes Gespräch mit dem Jörg-Adam ein Zank gewesen war.

Nun war sie ganz allein, und niemand reichte ihr die Hand, sie zu den Menschen zu führen. Sie wollte auch nicht. Nur wenn der lange Lehrer mal käme – er könnt ihr doch gut freund sein.

Der Vetterlein dachte eines Tages, daß es doch dumm sei, daß er sich so ganz und gar von der »schönen Aussicht« fernhalte. Was würde es ausmachen, wenn er dann und wann mal wieder hinginge. Es war da draußen doch am schönsten. Im »goldnen Lamm« waren die alten Stammgäste nur, die sich immer gleich zu ihren Spielchen hinsetzten – in die Brauerei konnte man auch nicht gut gehen, zumal er Bier nicht liebte – beim Konrad Müller kam er sich so fremd vor, obschon der den besten Roten zapfte – beim Pankraz Klein, im »Engel«, fand man sich mit den auswärtigen Kollegen zusammen an den Festtagen und bei den Konferenzen. In der »schönen Aussicht« saß man so am schönsten für sich, konnte in Ruhe seinen halben Schoppen trinken und den andern Leuten zusehen, was die trieben, und die durchkommenden Fuhrleute brachten ihre Neuigkeiten, die einen aus dem Mainzerland, die andern aus der Pfalz, andere aus dem goldenen Grund und dem Bingerland, andere aus der Essigkammer, und man genoß so recht den Ort, an den man doch halt verbannt war: man fühlte sich ein wenig im Mittelpunkt.

Er nahm einmal einen schönen Anlauf, nach der »schönen Aussicht« zu gehen. Er stapfte ein Stück Weges durch den Schnee und kam auch beinahe bis hin – aber als er an Sattler Beckers Garten war, bekam er Reuen, und er bog ab und lenkte in den Mühlweg ein, den er dann wieder zurückging. So ein paar Mal – nie, daß es ihn bis ganz hinausgeführt hätte. Er dachte: es liegt zu viel Schnee zwischen dem Dorf und dem Wirtshaus – und er wußte ganz gut, daß es nur ein Ausredgedanke war.

Es kam der Frühling – die Wiesen waren wieder überschwemmt – und der Weg zur »schönen Aussicht« war wieder näher gewesen. Aber wenn ihn der Vetterlein nun versuchte, ging er immer an dem Döffchen seinem Hause vorbei über den Steg, die Selz entlang – bald würden hier in den Hecken Veilchen stehen – durch die Bellenallee, die sich schon belaubte. Aber auch hier bog er ab, ehe er am Ziel war, bog wieder in den Mühlweg ein und kehrte unverrichteter Sache heim.

Ein paarmal ging er auch, besonders als es schon mehr in den Sommer ging, am Döffchen den Weg geradeaus weiter, nach dem Judenkirchhof zu. Da kam er an der Bleiche vorbei – und es war so ein heimliches Hoffen, unter den Frauen, die hier hantierten, die Wäsche und die langen Streifen des hausgemachten Leinens begossen, könnte eine sein, die er gern sähe. Unter dem weißen Kopftuch hervor könnten auf einmal zwei Augen gucken, die ihm lieb waren – und es könnte ein Wort hinüber und herüber gehen. Aber es traf sich nie.

Doch sah er die Dorth manchmal von der Empore der Kirche aus. Sie schien ihm so fest und gesetzt, ordentlich wie eine Frau, so daß man sich kaum recht vorstellen konnte, daß sie noch ein Mädchen war. Immer war sie in Schwarz – und obschon es nun aufkam, daß die Mädchen Hüte trugen – und obschon sie zu denen gehört hätte, die sich das leisten konnten – sie trug keinen. Sie kam weiter barhaupt in die Kirche, klar gescheitelt und die Haare fest anliegend, die vollen Zöpfe zum »Nest« gesteckt, wie's vielleicht nicht mehr ganz die Mode war – denn was drang nicht auf einmal alles in die Gegend ein! – aber wie es ihr doch so artig und gut stand. Er sah sie gerne, mit Wohlgefallen und angenehmem Behagen, aber sein Herz stürmte nicht. Es hatte nur seine Wärme und war ihrer froh – es glühte nicht und hatte nun auch sogar etwas wie eine gewisse Furcht vor dem Feuer, das den Menschen so ganz mitnehmen konnte. Ach, er wußte das selbst – und manchmal machte es ihn traurig, manchmal lachte er sich darum aus – und er paßte darin so gar nicht zu den Menschen hier, die in allem so rasch waren und alles so erregt aufgriffen und immer mit dem Neuen gingen und in gar nichts am Alten hingen. Sie waren so respektlos gegen alles hier – er hatte zu viel Respekt vor allem, das machte ihn alt, ehe er so recht jung gewesen war.

Es war halt doch das doppelte Erbe – vom Vater her das Verwandte mit den Rheinhessen, das Leichtere, Genießende, Weinfeine – von der Mutter her bei allem Zarten, das ihr eigen war, doch mehr die schwerere Art der Oberhessen in seinem Blute.

Er müßte es doch einmal verlernen, so viel über sich nachzudenken. Aber wenn er mit der Mutter zusammen geplaudert hatte, dann war das immer so ein Nachdenken gewesen, und das hing ihm nun an, das konnte er nicht ablegen, wie man ein Kleidungsstück ablegt. Und schließlich war doch gerade darin so viel von der Art der Mutter in ihm, die er ihr zuliebe schon nicht ablegen durfte.

Schön war die Dorth – auch jetzt, oder gerade jetzt, da sie so ernst und gefestet war. Aber nun war sie auch noch beherrschender als früher und hielt einen nur noch entfernter.

So sah er ihr immer nach, mit dem Entzücken, wie man einem schönen Gefährt nachsieht, und mit dem Bedauern, es nicht zu besitzen.

Dann war's einmal, als es schon weiter in den Sommer wohl ging, daß sie sich doch trafen. Es war auf dem Wege nach Mainz. Er war seine Straße gemächlich getrollt und war auf die Höhe des Marienborner Chausseehauses gekommen – das Panorama des Taunus war gerade vor seinen Blicken aufgegangen – die hohen Türme von Mainz im Vordergrund, im Hintergrunde das Gekrappel der Häuser von Wiesbaden – da holte ihn ein Gefährt ein. Es war das der Dorth, die zur Besorgung mit dem Wägelchen vom Peter Eckert nach Mainz fuhr. Sie ließ halten und bat den Vetterlein einzusteigen. Er zierte sich erst, aber sie gab nicht nach, und so mußte er sich auf den Platz neben sie setzen. Der Eckert trieb die Pferde wieder an und »jackerte« erst ein wenig, um den kleinen Aufenthalt wieder einzuholen.

Es war ihm ein bißchen warm neben der Dorth, aber es blieb alles gut in ihm und still. Er genoß nur das Schöne, das dies Zusammenfahren hatte – nebeneinander auf einem Sitz – die Straße hinein nach der Stadt, als gehörten sie zusammen – und immer tiefer hinein in das Bild, das er auf der Marienborner Höhe hatte vor seinen Augen liegen sehen – den Stahlberg hinauf, das Gautor hinein – als wenn sie zusammen in die Erfüllung, in eine Wunder- und Traumwelt hineinführen.

Der Dorth war es erst ein wenig beengt. Wie oft hatte sie sich gesehnt, daß er doch einmal kommen möchte, damit sie mit ihm sprechen könnte. Und nun, wenn sie auch daheim in der Wirtschaft ganz allein so nebeneinandersäßen, sie hätte ihm doch nichts zu sagen gehabt. Das spürte sie – und wenn der Peter Eckert auch nicht vor ihnen auf dem Bock säße und alles hören könnte nein, es war nun anders zwischen ihnen, wie sie gemeint hatte.

Er war gewiß ein guter Mensch, das war richtig, aber es hatte noch etwas in ihrer Einbildung von ihm gelebt, das auf einmal nicht mehr da war. Das war ihr nun ganz selbstverständlich, sie war gar nicht enttäuscht, und wie sie immer weiter fuhren und der Stadt näher kamen, war sie ganz frei ihm gegenüber.

Sie scherzte, wie sie eingeschneit gewesen wären, und spottete über die Männer, die jetzt anfingen, das miserable Bier zu trinken. Sie war auch ein klein wenig kokett – so mit der Geschicklichkeit der Unterhaltung, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu kommen und überall Bescheid zu wissen, die Übung der Wirtstochter und die Anlage der Rheinhessin.

Sie fuhren die Gaugasse hinunter nach der »Insel«. Im »Täubchen« stellten sie ein.

»Sie waren recht lange nicht mehr bei uns, Herr Vetterlein.«

Er stammelte etwas Unverständliches, und seine Verlegenheit amüsierte sie ein wenig.

»Kommen Sie doch einmal wieder heraus – ich habe manchmal gedacht, Sie kämen, wenn ich Sie gesehen hatte bis Sattler Beckers Garten gehn. Aber jedesmal sind Sie vorher abgeschwenkt.«

Er fand nicht Worte, und er hatte das Gefühl, sie weide sich an seiner Hilflosigkeit.

Er sah sie mit seinen treuherzigen Augen an. Da errötete sie.

»Ich wollte auch öfter mal zu Ihnen kommen«, gestand er.

»Nun ja – also nun führen Sie's mal aus.«

Sie waren im Absteigen.

»Hören Sie, wir fahren so gegen sechs wieder heim. Sparen Sie sich den Weg und fahren Sie wieder mit. Bis sechs Uhr will ich gerne warten lassen – aber zu lange, das wird nicht gut gehen. Zumal ja das Fuhrwerk nicht uns gehört.«

Er bedankte sich und gab keine feste Zusage.

Dann gaben sie sich die Hand und gingen voneinander.

Von ihm fiel etwas ab, das wie ein Mantel, fast zeitweilig sogar ein bißchen unbequem, auf ihm gehangen hatte. Er ging ein bißchen ziellos durch die alten Gassen von Mainz. »Zwei Welten«, dachte er – »wie's bei Vater und Mutter auch war. Es ist ein andrer Menschenschlag – wer nicht so ist, kann nicht so werden, und ich glaub, kann's auch nicht ertragen.«

Nur daß er dennoch alle Sympathien für die Dorth hatte. Es lag nur eine Entfernung zwischen ihnen; sie waren eine deutliche Zweiheit. Vielleicht war's aber gerade das, was sie zueinander zog; denn das konnte er doch wahrnehmen, daß sie ihm wohl gewogen war.


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