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Die Wirkungen der Rauschgetränke auf das Einzelwesen

Die Zeit liegt noch nicht gar so lange hinter uns, in der man den verschiedenen geistigen Getränken von einander sehr abweichende Wirkungen auf den Körper zuschrieb; der wirksame Stoff des Branntweins wurde für einen ganz anderen angesehen als der der gegorenen Getränke. Bis in die neueste Zeit hinein wurden Versuche gemacht, im Schnapse ein nicht nur der Menge, sondern auch der Art nach von den »bekömmlichen« Genußmitteln Wem und Bier sich unterscheidendes Gift an den Pranger zu stellen.

Die Chemie hat diese Frage längst entschieden; der wirksame Stoff ist in allen geistigen Getränken ohne Ausnahme ein und derselbe: C<sub>2</sub>H<sub>6<sub/>O ist seine chemische Formel, es gehört in die Reihe der einsäurigen Alkohole, die mit dem Methylalkohol beginnt und bis zum Caprylalkohol aufsteigt. Freilich enthalten die geistigen Getränke neben dem Hauptbestandteile noch andere Stoffe, die ihnen ihren verschiedenen Charakter verleihen und unter denen sich manche dem Organismus nicht minder abträgliche befinden als es der Methylalkohol ist; ich erinnere nur an die krampfauslösenden Gifte des Absynths, mit dem sich die Franzosen um den Rest von Kraft und Verstand trinken werden, den ihnen der Alkohol noch lassen wird; an die erst vor kurzem von einem amerikanischen Forscher in verschiedenen Weingattungen nachgewiesenen heftigen Zellgifte; an die höheren, in destillierten Getränken enthaltenen Alkohole, die zumeist unter dem Namen der Fuselöle zusammengefaßt und nicht selten mit Unrecht allein für die verderblichen Wirkungen des Schnapses verantwortlich gemacht werden. Aber das alles tritt hinter der Wirkung des sie alle an Bedeutung weit überragenden Alkohols in den Hintergrund. Er ist es, um dessen willen die Menschen trinken und sich betrinken, er ist es auch, dessen zerstörende Kraft die natürlichen Vorgänge im Körper untergräbt und die verderblichen Folgen des Genusses aller Rauschgetränke verursacht.

Von einer Wirkung, der betäubenden, jener, die die Sucht nach den berauschenden Getränken erzeugt, ist im vorigen Kapitel die Rede gewesen: jetzt soll von den mannigfachen anderen Folgen die Rede sein, die selbst nach der Anschauung jener, die geneigt sind, die anheiternde Wirkung auf die Habenseite des Alkohols zu buchen, weil sie etwas Gutes und Schönes darin sehen, die Sollseite schwer belasten.

Denn so weit hat die rastlos arbeitende Wissenschaft bereits Klarheit geschaffen: die betäubende Wirkung des Alkohols kann preisen und empfehlen, wer dazu Lust hat und es verantworten zu können vermeint, er mag sie nützlich und vorteilhaft nennen; aber irgend welche andere ersprießliche Wirkungen des Alkohols gibt es nicht, sie alle, von denen so viel gefabelt wurde, die heute noch im Volksmunde, in der Überlieferung eine so gewaltige Rolle spielen, sind als Täuschung entlarvt worden.

Der Alkohol nährt nicht, er wärmt nicht, er stärkt nicht; auch ist er kein Blutbildner, die Kinder und Bleichsüchtigen bekommen keine roten Backen durch ihn, der Rotwein, dieses vielgelobte Allheilmittel bei schwächlichen Menschen, hat mit dem Blute weiter nichts, aber auch gar nichts gemein als die Farbe. Der Arbeiter kann sich weder die zu schwerer körperlicher Arbeit erforderliche Kraft aus Schnaps oder Bier holen, noch bei strenger Kälte durch den Trunk Wärme gewinnen, noch auch bei großer Hitze sich Abkühlung verschaffen, wenn er ungemessene Mengen geistiger Getränke in sich hinein pumpt. Man kann weder Blutdruck noch Herzkraft durch Sekt und Kognak heben, die Verdauung wird durch sie nicht gefördert, in der Heilkunde haben alle diese beliebten Heilmittel ausgespielt, sie machen keinen Menschen gesund. Wir können um uns blicken so weit wir wollen, es gibt nicht eine einzige Tugend des Alkohols, die ernster Prüfung Stand gehalten hätte, nicht eine unter den zahlreichen ihm zugeschriebenen nützlichen Eigenschaften, die sich nicht als Hirngespinst, als Selbsttäuschung erwiesen hätte.

Nichts kann leichter verständlich sein als diese hübschen Märchen, die von zahllosen in der Anbetung der Rauschgetränke großgezogenen Geschlechter als gut behütete Ranken um Glas und Faß gezüchtet wurden. Mangel an Urteilskraft ist eine der wichtigsten Folgen der Betäubung, wie uns die Überlegungen schon gelehrt haben; die Kritik muß in doppeltem Maße dem betäubenden Stoffe selbst gegenüber versagen, dessen Wirkungen an sich selbst niemals anders als unter seinem eigenen Einflüsse beobachtet werden können; die Erinnerungen an die lustbetonten Gefühle, die man ihm bereits zu danken gehabt hat, fälschen dann auch in der betäubungsfreien Zwischenzeit das Urteil zu seinen Gunsten, wie wir das an den vorbildlichen Beispielen der Opiumesser oder Morphinisten so deutlich beobachten können. Jeder, der an der Sucht nach einem Betäubungsmittel leidet, – und das trifft bei allen Menschen zu, die dessen Entziehung unangenehm oder gar peinlich empfinden – schmückt es mit allen möglichen schönen Eigenschaften; er nimmt es gegen Angriffe in Schutz und sucht, was die Hauptsache ist, nach Gründen für den ihm unentbehrlich scheinenden Genutzt die außerhalb der tatsächlich angestrebten betäubenden. Wirkung liegen: darum muß Branntwein oder Bier wärmen und stärken, den Schweiß befördern usf. Wenn der Biertrinker nach je 2–3 Krügeln einen Bitteren oder Kümmel zu sich nimmt, so tut er das natürlich nicht etwa deshalb, weil ihn das Bier zu langsam in die erwünschte Stimmung versetzt, sondern zur Förderung der »Bekömmlichkeit«; es wird besser vertragen, der Schnaps muß, »niederschlagen« u. dgl. mehr.

So enge der Kreis der vermeintlichen günstigen Wirkungen der geistigen Getränke geworden ist – bis aus rasch vorübergehende seelisch hervorgerufene nützliche Reize bei einzelnen seltenen Krankheitserscheinungen ist nichts, davon übrig geblieben – so sehr hat sich im Gegenteil das. Verzeichnis der Schädigungen erweitert. Je eingehender das Schicksal des Alkohols im Organismus studiert und je genauer die Wirkungen kleiner Mengen untersucht wurden, um so umfangreicher wird die Liste der Nachteile, den der regelmäßige Genuß selbst geringer Dosen nach sich ziehen kann.

Kann, gewiß, nicht muß! Kein ernster Beobachter, und sei er noch so fanatischer Abstinent, wird sich zu der unbeweisbaren Behauptung versteigen, jeder Tropfen Wein oder Bier sei gefährlich und schädlich und führe zu bedenklichen Folgen. Es bedarf gar nicht des höhnischen Hinweises auf die zahllosen Beispiele, die Stadt und Land bevölkern, auf die geschichtlichen Beispiele hervorragender Meistertrinker von blühendster Gesundheit, anerkannter Leistungsfähigkeit und achtungeinflößendem Alter, um die Unanfechtbarkeit des Satzes zu sichern, daß selbst weitgehendste Unmäßigkeit unter gewissen, nicht zu überwachenden Umständen scheinbar ungestraft ertragen werden könne; woraus dann selbstverständlich ohne weiteres folgt, daß um so mehr mäßiger Genuß noch weit häufiger keinerlei bösartige Folgen zu Tage fördern werde. Wer zweifelt daran?

Aber vermag diese Binsenwahrheit auch nur das geringste an der unbezweifelbaren Tatsache zu ändern, daß die geistigen Getränke ein Gift enthalten, das unter allen Umständen im Körper als Gift und nur als solches wirken muß? Man kann auch bei mäßigem Opium- oder Muskarin- oder Morphiumgenusse steinalt werden und sich scheinbar blühender Gesundheit erfreuen: es gibt Leute, denen weder Blei noch Arsen etwas anhaben und die in den mörderischesten Betrieben frisch und munter bleiben. Ändert das etwa das geringste an dem Giftcharakter aller diese Stoffe? Keinem Menschen wird es einfallen, so etwas zu behaupten, mit Ausnahme natürlich der Opiumesser und Morphinisten, wie die Erhebungen in Indien, die Bekenntnisse einzelner derartiger Kranker beweisen.

Alle Narkotika ohne Ausnahme gehen mit bestimmten Bestandteilen der lebenden Zelle, sei es des Tier- oder des Pflanzenleibes, eine Verbindung ein, d. h. sie werden von den fettähnlichen Stoffen der Zellhülle gelöst, dringen auf diese Art in die Zelle ein, was kein anderer Stoff zu tun vermag, und hemmen während ihres Aufenthaltes dort die Tätigkeit der Zelle; darin liegt eben ihre betäubende Wirkung begründet. Und da die Betäubbarkeit eine allgemeine Eigenschaft der lebenden Gewebe ist – nicht etwa bloß Gehirn oder Nerv, nein, auch Muskel oder Drüse kann betäubt werden – so heißt das mit anderen Worten nichts anderes, als daß die Tätigkeit, die Arbeit jedes Körperorgans durch den Genuß irgend eines alkoholhaltigen Getränks herabgesetzt, vermindert wird. Tätigkeit und Arbeit sind aber mit dem Leben untrennbar verbunden, letzteres erlischt, wenn jene aufhören. Der betäubende Alkohol ist daher lebensfeindlich im klarsten Sinne des Wortes, ein Gift, wenn es überhaupt ein solches gibt.

Auf solcher Hemmung der Tätigkeit beruhen alle Wirkungen des Alkohols, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht als solche erscheinen, sondern den Eindruck erwecken, als ob es sich um Förderungen, Reizungen handeln würde; in diesen Fällen sind eben andere Einrichtungen gelähmt worden, deren Aufgabe die Regelung der Tätigkeit des beobachteten Organs sind; wird ihre Tätigkeit gehemmt, so ruft das die Täuschung hervor, es werde ein Reiz auf letzteres ausgeübt. Am deutlichsten tritt diese Wechselwirkung in die Erscheinung, wenn durch den Alkohol die seelischen Hemmungen, die allerfeinsten Regelungen des Großhirns ausgeschaltet werden, was bei der außerordentlichen Empfindlichkeit dieser höchstentwickelten Ganglienzellen die allererste Wirkung verhältnismäßig geringer Mengen zu sein pflegt. Die Lähmung dieser überwachenden Zellen macht die ihnen untergeordneten Gehirnteile frei, diese arbeiten jetzt ungehemmt, rascher, kräftiger; der Angeheiterte spricht mehr, ungebundener, er reimt und singt, lacht und scherzt. Diese Wirkung wurde und wird als Reizwirkung angesehen und gewertet, ist aber dennoch nichts anderes als Lähmung, Hemmung. Erfaßt die Wirkung bei fortschreitender Alkoholisierung auch die minder empfindlichen Teile, dann freilich macht sich die Tätigkeitsverminderung und endlich Aufhebung in der Arbeitsleistung unmittelbar bemerkbar.

Von ganz besonderer Bedeutung für Leben und Gesundheit ist die Hemmung der im Blute wirkenden Schutzstoffe gegen Ansteckungen. Bekanntlich ist unsere Kenntnis der Einrichtungen des tierischen Organismus zum Kampfe gegen die einwandernden schädlichen Keime noch sehr jung und unausgebaut, begreiflich daher, daß wir auch über die Beeinflussung dieser offenbar sehr verwickelten und verborgenen Verhältnisse durch den Alkohol noch wenig Bestimmtes aussagen können, so viel steht aber doch schon fest, daß die Kraft der schützenden Zellen und Säfte herabgesetzt wird, was uns gewiß nicht wundern wird, da es ja nur ein Einzelfall des allgemein giltigen Gesetzes ist. Der Alkohol betäubt die Zellen, die die eindringenden Krankheitskeime aufzufressen oder sonst wie unschädlich zu machen haben, die unausbleibliche Folge ist selbstverständlich, daß durch den Alkoholgenuß die Widerstandsfähigkeit gegen die ansteckenden Krankheiten herabgesetzt wird. Daß der übermäßige Verbrauch geistiger Getränke diese üble Wirkung hat und Trinker unter sonst gleichen Umständen leichter von Typhus, Cholera, Tuberkulose befallen werden und ihnen öfter erliegen, ist eine uralte Erfahrung, die von keiner Seite in Abrede gestellt wird; sie hat aber nicht zu verhindern vermocht, daß von ärztlicher Seite den an eben denselben Krankheiten Leidenden als Heilmittel eben dieselben Rauschgetränke gereicht wurden, durch deren »Mißbrauch« die Aussichten auf glückliches Ueberstehen so sehr verschlechtert werden. Jetzt freilich beginnt man einzusehen, daß die Wirkung des Uebermaßes sich keineswegs der Art, sondern dem Grade nach von der des mäßigen Gebrauches unterscheidet, daß selbst kleine Mengen die Widerstandsfähigkeit schwächen und die allerbesten Aussichten im Kampfe mit den zahllosen gefährlichen kleinen Feinden, die den ganzen Erdkreis bewohnen, der Enthaltsame hat.

Die Lähmung der Zellen und der aus ihnen aufgebauten Organe, für die sich noch eine Reihe anderer schlagender Beweise und Beispiele anführen ließen, ist vorübergehend und macht dem richtigen Zustande Platz, sobald der Alkohol durch die Fermente des Körpers zur Verbrennung gebracht worden ist: ob dabei eine größere oder kleinere Zahl von Zellen zu Grunde geht und durch andere ersetzt wird, entzieht sich der Beobachtung. Sicher aber ist, daß die Beeinträchtigung der Lebenstätigkeit auf den Gesundheitszustand der Zelle, auf ihre Leistungs- und Widerstandsfähigkeit eine bleibende Wirkung ausübt, wenn sie wiederholt oder gar regelmäßig auftritt, und daß die Höhe dieser Schädigung von der Mächtigkeit der Einzelvergiftung und ihrer Häufigkeit einerseits, von der Tüchtigkeit des bedrohten Organismus und seiner Einzelteile andererseits abhängt. Häufige und starke Berauschung macht bald krank, Kinder, Frauen und zarte Männer halten weniger aus; wer ein schwächliches Herz, Anlage zur Gicht oder Tuberkulose hat, wird den widerstandslosen Teil seines Körpers bald zu Grunde richten, wenn sich die Störung der Betätigung durch das Betäubungsmittel wiederholt.

Auf diese Weise kommt es zu den zahlreichen Krankheiten, als deren Ursache der Alkoholismus allgemein anerkannt ist. Es gibt kein Organ des menschlichen Organismus, das nicht durch ihn beschädigt werden kann, wenn auch natürlich manche häufiger erkranken. Nervensystem, Verdauungsschlauch, Blutkreislauf leiden am häufigsten, unter den Ursachen der Stoffwechselkrankheiten ohne Ausnahme kann der Genuß der geistigen Getränke als eine der wichtigsten und verbreitetsten verzeichnet werden.

Über diese Dinge besteht keine Meinungsverschiedenheit; aber es gibt zahlreiche weise Leute, unter denen selbst medizinisch gebildete Fachleute zu finden sind, die da sagen: natürlich kann das »Übermaß« krank machen, darum muß man sich sorglich davor hüten; aber es fehlen durchaus die Beweise dafür, daß regelmäßiger Genuß kleiner Mengen schadet, denn es gibt so viele Trinker, die sich ganz wohl befinden und ein hübsch hohes Alter erreichen. Der und jener vertilgt alle Tage seine gewohnten Schoppen, ohne irgend welche böse Wirkungen davon zu verspüren.

Dieser Beweisführung fehlt es leider sehr bedenklich an Folgerichtigkeit: denn man kann bekanntlich aus der Tatsache, daß eine bestimmte Ursache in dem und jenem Falle eine fragliche Wirkung nicht gehabt hat, niemals den Schluß ziehen, daß sie sie nicht in vielen anderen Fällen doch habe. Freilich schaden zwei Glas Bier täglich vielen Menschen nicht merklich: ebenso sicher aber ist es, daß sie anderen Leuten, z. B. solchen mit angeborenen Schwächen, mit Herzfehlern, Anlage zur Gicht u. dgl. unbedingt ganz gewaltigen Nachteil bringen. Und da es bekanntlich in der Natur keine Fächer, keine Grenzen, aber auch keine Sprünge gibt, so geht schon daraus hervor, daß eine allgemein harmlose Alkoholmenge nicht ausfindig gemacht werden kann.

Wir verfügen aber heute schon über ein nicht geringes Tatsachenmaterial, das zuverlässige Beweise für die Überlegenheit der körperlichen Beschaffenheit bei vollständiger Enthaltsamkeit liefert. Eine ganz glänzende Probe aufs Exempel geben die Erfahrungen und Berechnungen einiger englischer und überseeischer Lebensversicherungsgesellschaften, die Vergleiche zwischen enthaltsamen und nicht enthaltsamen Mitgliedern vorgenommen haben. Wenn es ziffermäßige Aufstellungen gibt, die Anspruch auf Verläßlichkeit erheben können, so sind es unbedingt die der Versicherungsanstalten, denn da handelt es sich um sehr bedeutende wirtschaftliche Interessen; auch fußen die Tafeln und Berechnungen auf mathematischen Grundlagen. Wenn daher die auf eine lange Zeit, teilweise auf fünfzig Jahre zurückblickenden Erfahrungen dieser Gesellschaften die übereinstimmende, von einem Jahrfünft zum anderen sich neu bestätigende Tatsache lehren, daß die Abstinenten unter sonst durchaus gleichen Verhältnissen eine um rund fünfundzwanzig Prozent bessere Lebenserwartung zeigen als die Nichtabstinenten, so darf dieser wahrhaft schlagende Beweis für die lebensverlängernde Wirkung der Abstinenz wohl den Anspruch erheben, ernst genommen zu werden. Tatsächlich sind irgend welche begründete Einwendungen gegen die Beweiskraft der Ziffern von keiner Seite vorgebracht worden, weder von den darüber wenig erfreuten Brauern und Brennern noch auch von den deutschen Lebensversicherungsgesellschaften, die von der gewaltigen Überlegenheit an Lebenskraft der Enthaltsamen noch immer keine Kenntnis nehmen wollen. Nun, dies wird wohl bald anders werden, wenn ihnen durch die unlängst ins Dasein getretene Versicherungsgesellschaft, die sich die deutschen Abstinenten selbst errichteten, vor Augen geführt werden wird, daß auch am europäischen Festlande die Enthaltsamen im Durchschnitte länger leben als die am »stärkenden« Genusse der Rauschgetränke Festhaltenden.

Beweisen die Versicherungsanstalten, daß die Enthaltsamen länger leben, so lehren die englischen Krankenkassen, daß sie auch weniger oft und weniger lang krank sind. Unter den englischen Arbeitern gibt es Hunderttausende von Teetotalers, wie man die Wassertrinker drüben nennt: dort kann man darum Vergleiche anstellen. Welcher Zweifel ist übrigens noch möglich, wenn man bedenkt, daß in den Städten der Schweiz, wo darüber Aufzeichnungen vorgeschrieben sind, aktenmäßig etwa jeder zehnte Todesfall bei erwachsenen Männern auf Alkoholismus zurückzuführen ist? Und zwar ebenso wohl in den gutgestellten wie in den arbeitenden Klassen! Sind das etwa lauter Trunkenbolde? Und weiß nicht jeder Arzt, daß die regelmäßigst lebenden, den besten Leumund genießenden, ihr Amt würdig ausfüllenden Männer nur allzu oft an der Wirkung ihres allgemein als durchaus zulässig und mäßig betrachteten Bier- oder Weingenusses zu Grunde gehen?

Aber wir verfügen heute auch schon über Versuche und Forschungen, die den strengen Anforderungen neuzeitlicher Naturwissenschaft Rechnung tragen; gilt ja doch heutzutage keine Wahrheit, auch wenn sie auf der Straße liegt und jedem offenbar werden muß, der mit gesunden Sinnen durch das Leben geht, so lange sie nicht »exakt« bewiesen ist, worunter die allerstrengste Schule eigentlich nur den Beweis durch den Tierversuch, höchstens noch durch sehr ausgebreitete statistische Untersuchungen verstanden wissen will. Nun, es gibt Tierversuche, die zeigen, daß schon sehr kleine Alkoholmengen die Widerstandsfähigkeit der Tiere gegen ansteckende Krankheiten herabsetzen: andere, die beweisen, daß Weibchen, denen man Alkohol durch längere Zeit eingeflößt hat, minderwertige Jungen zur Welt gebracht haben. Wir haben zahlenmäßige Aufstellungen, die sich auf Tausende von Fällen beziehen und ganz unzweideutig lehren, daß die Töchter der für die Entwicklung der Nachkommenschaft so ungeheuer bedeutungsvollen Fähigkeit die Kinder an ihrer Mutterbrust zu stillen um so leichter und öfter verlustig werden, je höher der Alkoholverbrauch ihrer Väter war, und daß Trunksucht der Vorfahren so gut wie sicher den Verlust der Stillfähigkeit nach sich zieht. Ebenso einwandfrei ist die Tatsache bestätigt, daß auch Nervenkrankheiten, Tuberkulose und Zahnfäulnis der Nachkommenschaft im geraden Verhältnisse zum Alkoholverbrauche der Väter und Großväter stehen, daß die Kinder der Abstinenten mit größerem Gewichte geboren werden, rascher zunehmen, ihre Zähne früher und rascher bekommen, seltener im ersten Lebensjahre sterben als die der Nichtabstinenten.

Damit wird eines der wichtigsten und ernstesten Kapitel dieser ohnedies schon wichtigen und ernsten Frage berührt: der Einfluß des Trunkes auf die Nachkommenschaft, mit anderen Worten, die Schädigung der Keime durch den Alkohol. Von vorne herein ist es so gut wie sicher, daß die überaus empfindlichen und zarten Keimzellen weder der Betäubung durch den im Blute flutenden Alkohol entrückt sein noch auch dieser Beeinträchtigung ihrer Lebenstätigkeit ohne Schädigung entgehen werden. Tatsächlich haben Untersuchungen gelehrt, daß gerade die Keimdrüsen sehr weitgehende Zerstörung durch den Alkohol erleiden. Nicht minder fest steht die Lehre, daß Gifte, die in den Körper eingebracht werden, bis in die Keimzellen vordringen und darin Schädigungen anrichten, die ihre Wirkung auf das zukünftige Leben erstrecken, das aus den vergifteten Keimen hervorsproßt. Die Jahrtausende alte Erfahrung aller Völker, daß die Kinder von Trinkern minderwertig, an Geist oder Körper krank, verkommen und entartet sein können und nur allzu oft sind, hat durch die Wissenschaft ihre Erklärung und Bestätigung gefunden. Die Trinksitte ist ein bedeutungsvoller Hauptpunkt in der Rassenaufzucht und Rassenentartung.

An dieser über jeden Zweifel erhabenen Tatsache wird sehr wenig durch die Unsicherheit geändert, die heute noch über die Art und den Grad der Rassenverschlechterung durch die Alkoholvergiftung der Völker besteht. Wenn von der einen Seite behauptet wird, die Neigung zum Trunke sei sehr oft das Merkmal bereits bestehender Entartung, so ist an der Richtigkeit dieser Beobachtung gar nicht zu zweifeln. Dadurch wird aber nicht im mindesten die ebenso oft beobachtete und erwiesene Tatsache aus der Welt geschafft oder ihrer Bedeutung beraubt, daß Verderbnis in bisher gesunde Familien durch den Alkohol hineingetragen oder geringe Grade unbemerkbarer Minderwertigkeit durch den Trunk sichtbar geworden und zum jähen Aufflackern gebracht worden sind. Es bestehen hier äußerst verwickelte Wechselbeziehungen, so viele Ursachen und Wirkungen kreuzen sich, verstärken oder heben einander auf, daß es außerordentlich schwer ist, einen der Bestandteile für sich allein zu beobachten, seine Wirkung unbeeinflußt von den anderen festzustellen. Es gibt mannigfache Ursachen der Entartung, ohne Zweifel, aber eine davon ist der Trunk: es gibt viel Minderwertigkeit, die nicht durch Alkohol verursacht wurde, aber die, für die er die Verantwortung trägt, ist noch ungeheuer genug. Und endlich, was vielleicht als das Wesentlichste bezeichnet werden muß: in zahllosen Fällen tritt er der Erneuerungskraft der Natur in den Weg: wo sie mit Hilfe der Zuchtwahl und gesunder Keime die minderwertigen Anlagen unschädlich machen wollte und könnte, verstärkt er ihre Wirkung und zieht das Gesunde mit ins Verderben. Auch bliebe manche schlechte Anlage unentwickelt und unschädlich, wenn sie nicht durch das Gift zur Reife gebracht würde, um erst dann in die Erscheinung zu treten.

In ganz ähnlicher Weise spielt sich in vielen Fällen die Beeinflussung der seelischen Tätigkeit durch den regelmäßigen Genuß der Rauschgetränke ab. Wir müssen gestehen, daß wir auf dem Gebiete des Seelenlebens, seiner Gesetze und seiner Wechselbeziehungen zu den Vorgängen im Körper noch ganz und gar im Beginne des Erkennens stehen; daß es auf diesem Gebiete keine Tierversuche gibt, erschwert die Untersuchung schon erheblich; und die Beobachtungen am Menschen unterliegen so vielen Fehlern, können sich überdies auf einen verhältnismäßig so kleinen Ausschnitt der geistigen Vorgänge erstrecken, daß wir in den meisten Belangen auf Ähnlichkeitsschlüsse angewiesen, in manchen Punkten aber über Hypothesen nicht hinausgekommen sind.

Wohl haben wir ziemlich genauen Einblick in die seelischen Vorgänge, die sich bei der akuten Alkoholvergiftung, beim Rausche, abspielen; wohl lehren uns zahlreiche sinnreich ausgedachte und mit Mühe und Sorgfalt durchgeführte psychologische Versuche geistvoller Forscher, daß alle einfachen geistigen Leistungen, die der Messung und Zählung zugänglich sind, durch Alkoholgenuß ungünstig beeinflußt werden und zwar durch so geringe Mengen und auf so lange Zeit, daß von der Harmlosigkeit irgend einer, sei es auch noch so unbedeutenden Menge wenigstens für denjenigen nicht mehr die Rede sein kann, der ungestörte Arbeit des Zentralnervensystems für unentbehrlich hält und in der Betäubung wichtiger Großhirnteile empfindliche Schädigung erblickt; wohl haben zahlreiche in vielen Schulen angestellte Untersuchungen den unwiderlegbaren Beweis erbracht, daß die Kinder um so besser lernen, um so raschere Fortschritte machen und um so bessere befriedigendere Sittlichkeit zeigen, je weniger geistige Getränke sie erhalten und daß auch hier die Enthaltsamen bei weitem am besten abschneiden. Aber wie viel bleibt dennoch dunkel und ungelöst! Wie sehr sind wir darauf angewiesen, aus den schlimmen Beispielen, die uns durch leider nur allzuhäufige Wirkungen maßloser Trunksucht auf Charakter und Geist an die Hand gegeben werden, Schlüsse auf die Art der Beeinflussung der Seele durch den lange fortgesetzten Genuß dieses betäubenden Giftes zu ziehen.

Daß diese Beeinflussung eine für den Einzelmenschen durchaus ungünstige ist, bedarf wohl nicht der ausführlichen Beweisführung. Der Alkoholiker ist sowohl was Charakter als was Sittlichkeit, Vernunft anbelangt durchaus minderwertig und selbst anscheinend gute oder doch erträgliche Eigenschaften entpuppen sich bald als Schwäche. Die Seelenlehre des Trinkers, die uns von berufenster Seite, von dem Münchener Psychiater Kraepelin, in musterhafter, klassischer Weise geschildert wurde, zeigt nicht einen einzigen erfreulichen Zug, sie gibt uns vielmehr das Bild eines für sich und die Allgemeinheit unbrauchbaren und gefährlichen Menschen. Der Wille wird zunächst erregt, der Trunk macht redselig und mitteilungsbedürftig, das Bedürfnis ist vorhanden, die ungeheueren Kräfte, die man in sich verspürt, in Taten umzusetzen, sei es nun, daß man weit über seine Verhältnisse Geld ausgibt oder glänzende Reden hält oder Laternen einschlägt. Dann aber kommt die Lähmung des Willens, der Umschwung, der Wechsel der Gemütsstimmung. Dazu gesellt sich eine oft unerträgliche Reizbarkeit, die der Umgebung das Leben zur Hölle macht und zu allen möglichen Zusammenstößen, Rechtsbrüchen und Streitigkeiten führt. Die Willensschwäche macht den Alkoholiker der Verführung nur allzu leicht zugänglich, die um so erfolgreicher zu sein pflegt als er sich und seinen Lüsten gegenüber die Urteilsfähigkeit vollständig verloren hat; was er tut, ist recht, und tut er doch einmal etwas Unrechtes, dann sind alle anderen Menschen daran schuld, nur er selbst nicht.

Die edleren Regungen, die besseren Empfindungen sind bis zur völligen Aufhebung abgestumpft; die Gefühlsroheit erreicht oft eine unglaubliche Höhe, Weib und Kind müssen hungern oder stehlen, damit der Gatte und Vater sich das unentbehrliche Gift kaufen kann.

Auffassung und Denken werden allmählich untergraben, das Gedächtnis wird unzuverlässig, geistige Arbeit führt rasch zur Ermüdung. Von Verläßlichkeit ist auch auf Verstandesgebiete keine Rede.

Dies sind nur einige besonders hervorragende Züge aus dem Charakterbilde des Trinkers; sie ließen sich leicht noch reichlich vermehren. Selbstverständlich finden wir genau so wie bei den körperlichen Veränderungen durch den Trunk bald diese, bald jene Seite der Seelentätigkeit mehr betroffen: die Widerstandsfähigkeit ist bei manchem auf Seite des Geistes, bei anderen auf der des Gemütes größer.

Prüfen wir an der Hand dieser lückenhaften Zeichnung den seelischen Durchschnitt unseres Volkes, so werden wir bald zu unserem Schrecken so manche sehr weit verbreitete unerfreuliche Eigenschaft entdecken, die wir in der Seelenlehre des Trinkers gefunden haben; in bald höherem, bald geringerem Grade taucht sie da und dort in der Volksseele auf, besonders auffallend dort, wo dem zwar als mäßig angesehenen, in der Tat aber hart an die höchsten Grade des chronischen Alkoholismus streifenden täglich wiederholten Genusse reichlicher Biermengen gehuldigt wird. Der Typus des Bierphilisters und Kneipstammgastes hat gar verblüffende Ähnlichkeit mit dem von Meister Kraepelin entworfenen Bilde des Trinkers.

Und wer vermag zu behaupten, daß nicht auch schon der allermäßigste Genuß irgend eines geistigen Getränkes die Seele in einem der Beobachtung freilich noch unzugänglichen Grade beeinflußt und schädigt? Wer weiß, ob nicht ein gut Teil der Fehler und Schwächen der mäßigen Trinker auf den Alkoholgenuß zurückzuführen ist, sei es ihres eigenen oder des Trunkes ihrer Vorfahren? Noch ist die Zahl der von Geburt an Enthaltsamen und von enthaltsamen Vorfahren stammenden Menschen viel zu gering, um Vergleiche anstellen zu können; die Erfahrungen jener Abstinenten, die von einem wenn auch mäßigen, doch regelmäßigen Genuß der geistigen Getränke zurückgekommen sind, weisen deutlich in dieselbe Richtung: fast alle bestätigen den außerordentlich günstigen Einfluß, den dieser Schritt auf ihre geistigen Fähigkeiten ausgeübt hat.

Der Alkoholgenuß bietet keinen, nicht einen einzigen, noch so geringfügigen Vorteil; er bedroht das Einzelwesen aber mit einer Reihe sehr bedenklicher, folgenschwerer Schädigungen seiner selbst, der ihm anvertrauten Angehörigen, seiner Nachkommenschaft. Daß die daraus erwachsenden Gefahren sich nicht auf den einzelnen beschränken, sondern tiefgehende Wirkungen auf den gesellschaftlichen Organismus haben müssen, versteht sich von selbst; ihrer Betrachtung sei der nächste Abschnitt gewidmet.


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