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Was zieht den Menschen zu den Genußgiften?

Die Rauschgetränke sind unter den auf dem Erdenrunde bekannten Genußmitteln zwar die verbreitetsten und geschätztesten; aber neben ihnen gibt es noch eine ganz bedeutende Zahl anderer dem Pflanzenreiche abgewonnener Stoffe, die sich die Gunst der Menschen erworben haben und mit den geistigen Getränken in Wettbewerb treten. Tabak, Kaffee und Tee, Kakao, Kolanuß und Mate, Opium, Hanf, Fliegenschwamm und Koka, um nur die wichtigeren zu nennen, sind teils über den ganzen Erdkreis verbreitet und beliebt, teils bei einzelnen Rassen oder Stämmen allein oder neben anderen Genußmitteln eingeführt. Während manche nur dort verwendet werden, wo sie die Natur bietet, und sich größere Absatzgebiete nicht zu erobern vermochten, haben andere ihren Siegeslauf über die ganze Erde angetreten, wenn sich auch keines mit dem sie alle überragenden Herrscher Alkohol vergleichen darf.

Bis weit in das Mittelalter hinein war der Wein und in einzelnen Gebieten das Bier das einzige bekannte Genußmittel; es gibt Völker, die auch jetzt noch sich mit einem einzigen derartigen Stoffe begnügen. Im Gegensatze hiezu finden wir bei den Kulturvölkern eine ganze Reihe von neben einander angewendeten Genußgiften; Alkohol, Tabak und Kaffee oder Tee gehören zu den täglichen Bedürfnissen vieler Millionen Menschen, der Mohammedaner verschmäht neben dem Opium oder Haschisch den Kaffee und den Tabak nicht, der Japaner raucht Tabak und trinkt Tee usw. Und neben den bereits eingeführten und anerkannten Mitteln suchen immer noch neue Eingang zu finden; Aether, Morphium, Koka haben ihre Liebhaber gefunden, Guarana und Mate werden da und dort auch in Europa genossen. Wir sehen, daß das Bedürfnis nach diesen Genußstoffen außerordentlich zunimmt und wie es scheint noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht hat.

Bedürfnis? Ist diese Bezeichnung zulässig und berechtigt? Dürfen wir von einem Bedürfnisse nach Nervengiften sprechen?

Ganz gewiß nicht im physiologischen Sinne des Wortes; es gibt kein Bedürfnis nach Genußmitteln wie etwa nach Sauerstoff, Wasser, Nahrung oder Schlaf. Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft des Organismus sind ohne sie durchaus vollwertig, es gibt nicht einen einzigen Beweis für das Gegenteil. Zur Erfüllung seiner Aufgaben oder zur Erhaltung seines Bestandes bedarf der Mensch daher zweifellos der Genußgifte nicht.

Wir kennen aber eine Reihe anderer Bedürfnisse, die durch Vererbung und Erziehung scheinbar unentbehrlich geworden sind. Fortschritt und Veredelung beruhen ja zum großen Teile auf solchen Bedürfnissen sinnlicher und geistiger Art; wir wären bettelarm, wenn wir uns mit der Befriedigung der zum nackten Leben unentbehrlichen physiologischen Bedürfnisse begnügen müßten. Zu dieser Gattung gehören auch die Genußmittel. Alle Völker, die sich ihrer bedienen, rechnen sie zu ihren wertvollen Gütern, verteidigen ihren Besitz mit allen Kräften, verzichten trotz Strafen und Ermahnungen nicht oder doch nur sehr schwer auf sie, verbreiten ihre Bekanntschaft gleich anderen Kulturschätzen und bemitleiden jene Völker, die aus irgend einem Grunde nichts von diesen Herrlichkeiten wissen wollen.

Welche Eigenschaften der Genußgifte sind es, die den Menschen ihren Besitz so überaus Wertvoll und unentbehrlich erscheinen lassen?

Es ist eine einzige: die Fähigkeit, in den Zustand der Euphorie, des künstlichen Wohlbefindens, zu versetzen.

Im Leben wechseln Lust- und Unlustgefühle in bunter Reihe ab. Schon im glücklichen Kindesalter fehlt es an letzteren nicht, so sehr auch die ersteren überwiegen; beim Erwachsenen stehen je nach Gemütsart, Charakter und äußeren Umständen die einen oder die anderen im Vordergrunde. Den Unlustgefühlen zu entgehen, sein Leben so weit wie nur irgend möglich von Lust erfüllt zu haben, ist das Streben jedes lebenden Wesens, darauf beruht ja die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse, es ist das die Einrichtung, die von der Natur getroffen wurde, um die Lebewesen zu all jenen Tätigkeiten zu veranlassen, die zum Vorteile des Einzelnen und der Art erforderlich sind. Der Kampf gegen die Unlustgefühle ist daher natürlich und notwendig.

Die Unlustgefühle aufzuheben und den Organismus in einen lustbetonten Zustand zu versetzen, ist die gemeinsame Eigenschaft sämtlicher Genußgifte: sie und nur sie allein ruft den leidenschaftlichen Hang der Menschen nach ihnen hervor. Es braucht wohl nicht erst betont zu werden, daß diese wunderbare Wirkung eine rein seelische, durch Betäubung der Gehirnzellen hervorgerufene ist; die Ursachen der Unlust zu beseitigen vermag der Genuß der verschiedenen Mittel auch nicht in einem einzigen Falle, ganz einerlei ob es sich um körperliche oder geistige handelt; daher rührt es ja auch, daß die Wirkung bei ganz entgegengesetzten unangenehmen Empfindungen mit derselben überraschenden Sicherheit eintritt. Gegen die Kälte ist der Genuß eines geistigen Getränkes ein eben so unfehlbares Mittel wie gegen die Hitze; man trinkt mit eben so sicherem Erfolge, wenn der leere Magen knurrt wie wenn der volle drückt; will man abends arbeiten anstatt zu schlafen, so wird ein erfrischendes Getränk gute Dienste leisten, nicht minder aber auch, wenn man sich die berüchtigte »Bettschwere« verschaffen will; der Alkohol hält also wach oder schläfert ein, ganz wie man es eben braucht. Dieselben Wunder leistet er auch auf seelischem Gebiete; in Freud und Leid, in Lust und Schmerz ist er gleich verläßlich, man kann ihn weder bei Hochzeiten, noch bei Leichenbegängnissen entbehren, der Student trinkt vor der Prüfung, um sich Mut zu machen, nach ihr, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen, wenn er sie bestanden, um seinen Kummer zu betäuben, wenn er durchgefallen ist.

Die Gleichartigkeit aller dieser alltäglichen Erfahrungen liegt auf der Hand; überall finden wir Unlustgefühle, die durch je nach Gewohnheit größer oder kleiner bemessenen Zufuhr irgend eines geistigen Getränkes unterdrückt werden; an ihre Stelle tritt ein lustbetonter Zustand, den wir mit dem Ausdrucke Euphorie bezeichnen.

Genau ebenso verhält es sich, wie hier eingeschaltet sei, bei allen anderen Genußgiften auch; freilich ist ihre Wirkung, worauf nicht näher eingegangen werden kann, nicht gleichartig. Tabak und Kaffee enthalten ja z.B. keine betäubenden Gifte, die Art ihrer Beeinflussung des Nervensystems muß daher verschieden sein von der des Alkohols, die Unterdrückung der Unlustgefühle ist aber auch bei ihnen der Zweck des Genusses.

Es unterliegt nun selbstverständlich den weitesten individuellen Verschiedenheiten, bei welcher Menge eines Rauschgetränkes die unlustbannende Wirkung sich einstellt; bei dem einen genügt dazu ein Fingerhut voll Wein, der andere bedarf eines halben Liters Branntwein. Schon aus diesem Grunde haftete der Festsetzung eines allgemein giltigen »Maßes« das Brandmal der Lächerlichkeit an; da der Zweck des Trinkens stets, wenn auch oft unbewußt und uneingestanden, die Herbeiführung des Lustgefühles ist, so ist es durchaus sinnlos, einem Menschen vorschreiben zu wollen, er dürfe nur 30 Kubikzentimeter absoluten Alkohols täglich, u.z. abgeteilt in drei Gaben, früh, mittags und abends, zu sich nehmen, wie dies eine berühmt gewordene Umfrage bei vielen deutschen Medizinprofessoren vor einigen Jahren versucht hat; wer mehr braucht, um seine Unlustgefühle zu betäuben, dem wird die Einhaltung eines unter dieser Grenze liegenden Maßes weit schwerer als völlige Enthaltsamkeit.

Durch die Gewöhnung an ein Genußgift kommt es aber bald dahin, daß die Unlust stets vorhanden ist, wenn der Organismus das regelmäßig zugeführte Mittel entbehren muß; in solchen Fällen kann man bereits von »Sucht« sprechen. Bei geringeren Graden tritt das lebhafte Unlustgefühl nur zu gewissen Stunden ein, etwa des Abends, wenn die Stunde des Wirtshausbesuches heranrückt – manche Männer werden vollständig unerträglich, wenn sie durch irgend etwas gezwungen sind, auf den gewohnten Abendtrunk zu verzichten –; bei höheren Graden steht der Mensch fortwährend unter dem Einflusse seiner kranken – denn man kann hier von Krankheit sprechen – Nervenzellen und befindet sich so lange in peinlichen Gefühlen, übler Laune, ist gereizt und haltlos, bis das Verlangen gestillt ist. Dies führt natürlich zur Trunksucht und zum körperlichen und seelischen Verderben. Aber auch dann, wenn sich der Genuß des Rauschgetränkes in mäßigen Grenzen hält, hat er die folgenschwere Wirkung, die unlustbetonten Gefühle in den Vordergrund zu schieben, sobald der Organismus sich im Zustande voller Giftfreiheit befindet, so daß ein verhängnisvoller Fehlerkreis eintritt: mehr Unlust, daher mehr Bedürfnis nach erlustigend wirkenden Mitteln, durch Befriedigung des Bedürfnisses wiederum mehr Unlust usf.

Es handelt sich nun aber – auch wenn wir von diesen unbedingt schädlichen, aber glücklicher Weise doch nicht in allen Fällen eintretenden Folgen regelmäßigen Genusses ganz absehen – um Beantwortung der Frage, ob die Unterdrückung der Unlustgefühle und die Herbeiführung einer künstlichen Erheiterung vorteilhaft oder auch nur statthaft ist und ob nicht gerade in dieser so heiß ersehnten Wirkung der Genußgifte der allerstärkste Beweisgrund gegen ihre Verwendung liegt.

Wie bereits früher erwähnt, benützt die Natur die Unlustgefühle, um vom Lebewesen die Erfüllung der zu seinem Bestande und Fortkommen notwendigen Bedingungen zu erzwingen. Wenn in schlechter oder unatembarer Luft – um nur ein Beispiel anzuführen – Husten, Kratzen im Halse, Kopfschmerz, Atemnot eintritt, so wird dadurch das Aufsuchen frischer Luft oder das Oeffnen der Fenster u.dgl. erzwungen; das ist im Interesse der Gesundheit, vielleicht des Lebens, notwendig. Es könnte daher ein Mittel, das jene peinlichen Gefühle unterdrückt, ohne die Ursache zu beheben, für den Organismus die schlimmsten Folgen haben, weil die aufrüttelnden Meldezeichen ausblieben, die eine Änderung der unheilvollen Verhältnisse herbeiführen sollen. Genau so liegen die Dinge auch bei dem durch die Genußgifte hervorgerufenen künstlichen Wohlbefinden: anstatt die Ursachen der Unlustgefühle zu bekämpfen, ursächliche Heilkunst zu treiben, wie die Ärzte sagen, wenn sie die Ursache einer Krankheit zu entfernen suchen anstatt sich mit der Behebung der unangenehmen Krankheitszeichen zu begnügen, wodurch dem Behandelten ein zweifelhafter Dienst erwiesen würde, ziehen die Menschen vor, sich durch Betäubung der Gehirnzellen in einen Zustand Zu versetzen, der sie die körperlichen und seelischen Qualen nicht mehr empfinden läßt, in die sie durch Mißstände inner- und außerhalb des Ichs versetzt wurden. Freilich ist dieses Mitte! einfacher und bequemer als der Kampf gegen die vielen Feinde in der Natur und Gesellschaft, die das Leben erschweren, besonders aber gegen den inneren Feind, gegen Selbstsucht, Charakterschwäche, Leidenschaft, die die ärgsten und unerträglichsten Unlustgefühle schaffen: freilich ist es ungenehmer, sich zum schäumenden Glase zu setzen, sich dort zum Helden emporzutrinken und alle Leiden und Schmerzen zu vergessen, von denen die Menschheit gepeinigt wird, als sich in die Reihen derer zu stellen, die daran arbeiten, sich und das Los der Mitbrüder zu bessern, schönere menschenwürdigere Zustände zu schaffen, in denen nicht nur eine bevorzugte Minderheit an den Segnungen der Kultur teilnimmt, sondern das ganze Volk, ja alle Völker des Erdkreises. Es ist wahr, es gibt so viel Leid auf der Welt, daß es schwer fällt, angesichts dieses Jammers fröhlich zu bleiben, daß die Flucht in das Glücksgefühl der Alkoholbetäubung verständlich wird. Aber ist diese Flucht nicht das größte Hemmnis des Besserwerdens, des Aufstiegs zu schöneren und glücklicheren Zeiten? Nur durch rastlose Arbeit Aller können diese erlangt werden: darum ist jeder fahnenflüchtig, der Zufriedenheit und Glück, die ihm aus der Arbeit, der Hingabe an die höchsten Zwecke des Menschentums erblühen sollten, in der Anheiterung, im gemeinen Rausche findet.

Umnebelung suchen die Menschen, der Hang nach ihr zieht sie zu den giftigen Genußmitteln, weiter nichts. Sie fürchten sich vor der kalten Wahrheit, vor der unerbittlichen Klarheit des grellen Sonnenlichtes, fühlen sich erst wohl in der rosenroten Dämmerung der Tabakwolken, des Weindusels, der Haschischdämpfe. Dort schwinden alle Sorgen, da gibt es weder Schmerzen, noch Kälte und Hitze, Müdigkeit und Hunger, Alter und Schwäche. Alles ist schön und gut, und, was die Hauptsache dabei, man ist seiner selbst froh, braucht sich seiner Schwäche nicht zu schämen, ist die Gewissensbisse los, die wohl sonst hie und da die Seelenruhe stören. Weg mit den Lasten und Beschwerden des Daseins, aber weg mit ihnen ohne Arbeit, ohne Mühe! Das ist der geheime Trieb, der mit so unwiderstehlicher Gewalt zu den Rauschgetränken hinzieht; er ist ein Zeichen menschlicher Schwäche, die zu überwinden harte Arbeit kosten wird, die aber überwunden werden muß, weil sie als riesengroßes Hindernis auf dem Wege zur Kultur steht, den nur starke, klarsehende, nicht durch Betäubung um ihre besten Tugenden gebrachte Völker wandeln können.


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